Vergeltung von Nochnoi (Version II) ================================================================================ Kapitel 11: Feuer ----------------- Natalias und Samuels Leben waren schnell ausgelöscht. Die beiden Vampire machten auf den Absatz kehrt, als sie den ersten Schock einigermaßen überwunden hatten, und wollten rasch das Weite suchen, aber mehr als ein paar Schritte waren ihnen nicht vergönnt. Ihre Körper gefroren mitten in der Bewegung, als würde eine unsichtbare Macht sie festhalten. Sharif spürte ihre Angst, ihre Panik. Ihre absolute Verzweiflung. Er sah, wie Natalia eine Träne die Wange herunter rann, als sie begriff, dass dies ihr Ende war. Geboren in den Straßen Londons würde sie auch nun in diesen sterben. Kein Ton kam über ihre Lippen, als ihr Fleisch zu brennen begann. Sie wollten schreien, sie wollten kreischen wie am Spieß, aber aus irgendeinem Grund war es ihnen einfach nicht möglich. Ihre Münder standen weit offen, doch kein Laut war zu hören. Sharif vernahm nur das Knistern des Feuers und das Zischen des verkohlenden Fleisches. Und schließlich waren sie nur noch Asche. Vernichtet, als wäre ihre Existenz absolut nichtig und unwichtig gewesen. Als hätten sie nichts bedeutet und wären nicht einmal die Luft wert gewesen, die sie geatmet hatten. Und Sharif fragte sich unweigerlich, ob ebenfalls solch eine Leere zurückbleiben würde, wenn er als nächstes starb. Er hatte nicht einmal reagieren können, als Natalia und Samuel in Flammen aufgegangen waren. Es war zu schnell gewesen, zu plötzlich. Und gleichzeitig war sein Körper wie versteinert gewesen. Als hätte sich sein Geist schon längst verabschiedet und bloß eine Hülle zurückgelassen, die unbeteiligt dem Todeskampf der zwei Vampire zugeschaut hatte. Er war hilflos gewesen. Und solch ein Gefühl hatte ihn schon seit einer unglaublichen Ewigkeit nicht mehr ergriffen. Er hatte sogar schon komplett vergessen gehabt, wie es sich überhaupt anfühlte. Und mit einem Mal verstand Sharif sehr gut, warum die übernatürlichen Wesen in Scharen aus London flohen. Auch er selbst spürte, wie all seine Instinkte schrien und um sich traten, wie alles in seinem Inneren sofort danach verlangte, zu fliehen und nie wieder zurückzuschauen. Wie ein tief vergrabener Urinstinkt, der sich derart selten zeigte, dass es einen schier überwältigte, wenn er sich letztlich mit voller Wucht meldete. Es war das Feuer, die Luft, die ganze Atmosphäre. Alles wirkte plötzlich dermaßen toxisch und unerträglich, dass sich Sharif tatsächlich bemühen musste, nicht die Fassung zu verlieren. Nicht vor ihm. Seth war ganz und gar nicht das, was Sharif erwartet hatte. Nach all den Geschichten hatte er sich einen hochgewachsenen, düsteren Mann vorgestellt. Ein Schatten, der dann und wann aus der Dunkelheit hervorsprang, um Vampire zu verbrennen. Aber stattdessen sah Sharif sich nun einem Jüngling gegenüber, in dessen Augen der Wahnsinn flackerte und der die Macht der Götter besaß. Eine ausgesprochen gefährliche Kombination. „Du bist jünger, als ich angenommen hatte“, meinte Sharif, fast schon lässig, als wäre er nicht von oben bis unten mit Vampirasche eingedeckt. Als würde kein übernatürliches Feuer ihn umzingeln wie ein Feind, der sich zum Angriff bereit machte. „Und du bist älter geworden, Sharif“, erwiderte Seth mit einem leichten Lächeln. „Dein Gesicht ist noch dasselbe, aber deine Augen haben so viel mehr gesehen.“ Sharif rührte nicht mal einen Muskel, als er mit aller Kraft seine Verblüffung zu unterdrücken versuchte. Offenbar hatte Seth ihn schon einmal getroffen oder zumindest auf die ein oder andere Weise wahrgenommen. Sharifs Gedanken rasten, während er mühsam versuchte, Seths Gesicht irgendwo einzuordnen. Doch es waren im Laufe der Zeit einfach viel zu viele Menschen und andere Geschöpfe gewesen, er vermochte sich beileibe nicht an alle zu erinnern. „Du hast keine Ahnung, wer ich bin, nicht wahr?“, stellte Seth mit einem Lächeln fest. Er wirkte weder besonders erstaunt noch beleidigt, sondern eher zufrieden, als würde es ihm eine diebische Freude bereiten, Sharif dabei zuzusehen, wie er wild in seinem Gedächtnis grub. „Sei nicht gekränkt“, erwiderte der Vampir. „Scheinbar hast du bei mir keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.“ Er zuckte mit den Schultern, als wäre dieser ein absolut belangloser Umstand, der keiner weiterer Erklärung bedurfte. „Ich aber anscheinend bei dir umso mehr, nicht wahr?“ Seth wiegte seinen Kopf hin und her. „Wenn ich ehrlich bin, hätte ich dich damals in dieser Gosse in Behedet jämmerlich zugrundegehen lassen. Du kannst von Glück sagen, dass es nicht meine Entscheidung war.“ Nun vermochte Sharif sein Erstaunen nicht mehr zu verbergen. Nicht sehr viele kannten den Namen seines Geburtsortes oder wussten gar um die Umstände seines Todes. Damals, in dieser engen Gasse, vor fast dreitausend Jahren, als er sterbend in Sand und Blut gelegen hatte. Und wäre Asrim nicht an ihn herangetreten, hätte er an diesem heißen Nachmittag qualvoll sein Leben ausgehaucht. Außer seiner Familie hatte bisher niemand diese Geschichte gehört und er war sich absolut sicher, dass keiner von ihnen diese Information einfach weitergegeben hätte. Besaß Seth möglicherweise mentale Kräfte, die es ihm erlaubten, in Sharifs Gedächtnis herumzukramen wie in einem Wühltisch beim Ausverkauf? Dem Vampir wollte dieser Gedanke überhaupt nicht gefallen, auch wenn die Vorstellung, dass sich einer aus seinem Clan irgendwann einmal in Seths Gegenwart verplappert hätte, noch sehr viel unschöner war. „Du brauchst nicht so überrascht dreinzuschauen“, meinte Seth lachend. „Ich habe dich damals gesehen, als du noch ein kleiner, kümmerlicher Mensch warst.“ Sharif runzelte die Stirn. „Das ist beinahe dreitausend Jahre her!“, stellte er verwirrt klar. Seth lächelte. „Ich weiß.“ Sharif wusste nicht, was er darauf hätte antworten sollen. Es gab nur wenige Kreaturen auf der Welt, die solch ein stattliches Alter erreichen konnten, und Magier gehörten ganz klar nicht dazu. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug dreihundert Jahre, doch einige mächtigere Exemplare schafften es durchaus, mithilfe von Magie ihre Existenz für ein paar Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte zu verlängern. Der bisher älteste Magier war ein Mann aus Singapur gewesen, der es sogar auf ein stolzes Jahrtausend gebracht hatte. Allerdings waren damit sehr viel Macht und sehr viele Entbehrungen einhergegangen und es war eine absolute Ausnahme gewesen. Natürlich war es immer noch möglich, dass Seth einfach log, doch Sharif erkannte keinerlei Anzeichen in dieser Richtung. Seths Herzschlag war stetig und unerschütterlich, seine Atmung gleichbleibend. Nichts deutete darauf hin, dass er die Wahrheit verbog. Aber wenn er tatsächlich so alt war, wie er behauptete, dann handelte es sich bei ihm um ein Wesen, dem die Zeit nichts anzuhaben schien. Vampire fielen in diese Kategorie, aber davon war Seth weit entfernt. Ebenso was Dämonen anging, gab es vielerorts Gerüchte, dass sie ewig zu leben vermochten, und auch wenn Seth durchaus etwas Dämonisches an sich hatte, war er zumindest kein reinrassiges Exemplar dieser Gattung. Doch es machte beinahe den Anschein, als hätte er mit dunklen Mächten gespielt, die sein Leben unnatürlich verlängert hatten. „Warum warst du damals in Behedet?“, wollte Sharif wissen. „Was wolltest du von einem Menschen wie mir?“ Seth lächelte schief. „Ich hatte eine schwere Schuld zu begleichen. Vielleicht fragst du einfach Asrim, der kann es dir näher erklären.“ Daraufhin sog er jedoch scharf die Luft ein und erwiderte in einem gespielt bedauernden Tonfall: „Oh nein, warte, das kannst du ja gar nicht. Du bist gleich tot.“ Er hob die Schultern. „Tja, lange müsstest du im Nachleben sowieso nicht warten, ich werde dir nach und nach deine Familie zuschicken.“ Im nächsten Moment spürte Sharif bereits, wie eine übernatürliche Macht ihn von den Füßen riss und er mit dem Rücken unangenehm auf dem harten Boden prallte. Er versuchte zwar, seine Vampir-Sinne zu aktivieren, um wenigstens die Landung einigermaßen galant hinzubekommen, doch sein Körper wollte nicht so funktionieren, wie er es gerne gehabt hätte. Statt Kontrolle spürte er nur eine beängstigende Lähmung, als wäre jeder Muskel in seinem Leib von einem Augenblick auf den anderen erschlafft. Und somit konnte er nichts weiter tun, als seine Augen aufzureißen, als sich das Feuer laut knirschend auf ihn stürzte wie ein ausgehungertes Raubtierrudel, das ihn zu zerfleischen gedachte. Irgendwo am Rande seines Bewusstseins vernahm er noch Seths mitleidsloses Lachen, doch als im nächsten Moment die Flammen seines Haut auffraßen, war dies rasch wieder vergessen. Er spürte stattdessen bloß einen schier überwältigenden Schmerz, wie er es schon seit Jahrtausenden nicht mehr gefühlt hatte. Hätte er noch die Macht über seine Körperfunktionen gehabt, hätte er vermutlich laut aufgeschrien, doch kein Ton verließ seine Lippen. Er war Seth hilflos ausgeliefert und hatte keine Ahnung, wie es soweit hatte kommen können. Und als seine Welt schließlich in Dunkelheit versank, schoss ihm bloß ein Gedanke durch den Kopf: Ich hasse London!     *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *     „Feuer ist irgendwie faszinierend“, meinte Seamus fast schon ein wenig verträumt. „So gefährlich und gleichzeitig so fesselnd.“ Eve, die den Motor ihres Wagens ausstellte, warf dem Historiker einen skeptischen Blick zu, ehe sie entschied, Seamus' merkwürdige Ansichten nicht weiter zu beachten. Es gab im Moment wahrlich Wichtigeres, als über die bedrohliche Schönheit des Feuers zu reden. Eve kletterte hastig aus dem Auto und überprüfte die Umgebung. Mehrere Löschfahrzeuge hatten sich bereits eingefunden und das Sirenengeheul in der Ferne ließ vermuten, dass noch weitere anrücken würden. Die Feuerwehrmänner gaben ihr Bestes, den stechenden Flammen Herr zu werden, doch Eve erkannte sofort, dass dies ein schwieriges Unterfangen werden würde. Das Feuer zischte zwar bei der Berührung mit dem Wasser aus den zahllosen Schläuchen, aber wirklich davon beeindrucken ließ es sich offenbar nicht. Munter knisterte es vor sich hin, schien sogar noch ein wenig zu wachsen und bereits mit den Nebengebäuden zu liebäugeln. Eve wollte gar nicht darüber nachdenken, was geschehen würde, wenn es sich weiter ausbreitete. London war schon einmal den Flammen zum Opfer gefallen. Zwar war dies schon sehr lange her, aber dennoch hatte es niemand vergessen. Auch entdeckte Eve mehrere Jäger, die in sicherer Entfernung verharrten und mit finsteren Mienen das Treiben beobachteten. Die meisten hatten ihre Waffen gezückt und wirkten über alle Maßen kampfbereit, dennoch hielten sie sich vorerst im Hintergrund. Wahrscheinlich waren sie sich noch nicht sicher, ob dies alles das Werk des Feuerteufels war oder es sich bloß um einen viel banaleren Grund – etwa ein durchgeschmortes Stromkabel – handelte. Eve hingegen war sich ziemlich sicher, dass Seth etwas mit der Sache zu tun hatte. Nicht nur, dass sie es irgendwo tief in ihrem Inneren einfach spürte, sondern auch angesichts der Tatsache, dass sich das Feuer mehr als untypisch verhielt. Es züngelte und zischte über den nassen Pierboden, als wären Wasser und Beton die perfekte Grundlage. Zwar hatte es sich auch auf ein benachbartes Lagerhaus ausgebreitet und fraß das Gebäude regelrecht auf, doch gleichzeitig war klar, dass dies nicht den Ursprung des Feuers darstellte, sondern stattdessen bloß eine Begleiterscheinung war. Die Feuerwehrmänner konzentrierten sich zumindest vorrangig auf die Lagerhalle, aber Eve erkannte an ihren Gesten und Mienen, dass sie das Verhalten des Feuers durchaus verwirrte. Es schlängelte über den Boden, als wäre es lebendig, ein selbstständig denkender Organismus, der sich nicht an irgendwelche Grenzen zu halten hätte. „Das ist wirklich erstaunlich“, meinte Seamus beeindruckt. Der Schein der Flammen spiegelte sich in seinen Brillengläsern, während er das Schauspiel fasziniert beobachtete. „Es ist Kontrolle und zur gleichen Zeit vollkommenes Chaos.“ Eve spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Die Luft knisterte und das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Über kurz oder lang würde sie Deckung suchen müssen, um nicht irgendwann hustend und keuchend zusammenzubrechen. Ihr Blick schweifte derweil unentwegt über den Schauplatz. Sie suchte nach Schatten, nach Gestalten, nach ihm. Doch alles, was sie erblickte, waren Funken und Flammen und der Gewissheit, dass sich niemand, der sich von ihnen gefangen nehmen ließ, entkommen würde. „Wir sollten uns vielleicht ein wenig zurückziehen“, schlug Seamus vor. Seine Aufmerksamkeit ruhte auf den Jägern in der Ferne, die auf dem Dach eines bisher noch unberührten Lagerhauses eine gute Übersicht über das Spektakel hatten. „Am Ende werden wir noch gegrillt und ehrlich gesagt wollte ich so früh noch nicht mit meinem Leben abschließen.“ Er hielt kurz inne und verbesserte sich schließlich selbst: „Obwohl es mich davor bewahren würde, die Hausarbeiten der diesjährigen Erstsemeser korrigieren zu müssen. Das ist niemals ein Spaß.“ Eve warf ihm daraufhin einen argwöhnischen Blick zu, beließ seinen Kommentar jedoch ohne Reaktion. Sie fühlte sich gerade nicht danach, irgendwelche Scherze zu reißen. „Ich kann einen schnellen Tod gerne für Sie arrangieren, wenn Sie das wollen“, erklang plötzlich eine Stimme direkt hinter ihnen. Beide wirbelten sie alarmiert herum. Dort stand Seth, an eine Hauswand gelehnt und beobachtete vergnügt das knisternde Feuer. Der Schein der Flammen spiegelte sich in seinem Gesicht und gab ihm ein fast schon unheimliches Aussehen. Seine Haut wirkte völlig blass, beinahe fahl, aber seine Augen stachen überdeutlich hervor. Eve holte hastig ihre Waffe hervor, die sie noch vor ein paar Tagen Alec an die Brust gehalten hatte. Flüchtig blickte sie zu den anderen Dämonenjägern herüber, doch keiner schien von ihrer kleinen Gruppe Notiz zu nehmen. Immer noch starrten sie gebannt auf das Feuer und warteten darauf, dass etwas Übersinnliches geschah. Eve war für einen kurzen Moment verleitet, lauthals ihre Aufmerksamkeit zu erringen, doch sie verwarf diesen Gedanken recht schnell wieder. Im allgemeinen Getümmel hätte Seth unter Umständen fliehen können und immerhin gab es noch etwas, dass Eve unbedingt von ihm wissen wollte. „Wusstest du, dass das ein historischer Schauplatz ist?“ Seth schaute hinüber zu dem brennenden Gebäude und grinste breit. „1890 wurde an diesem Ort ein Tor zum Reich der Dämonen geöffnet. Du hättest das Blutbad sehen sollen, das war selbst für mich schon fast zu viel.“ Eve erinnerte sich deutlich, dies in ihren Recherchen aufgeschnappt zu haben, doch sie antwortete Seth nicht darauf. Sie war gewiss nicht hier, um über vergangene Ereignisse zu reden, auch wenn Seamus den Eindruck erweckte, als hätte er liebend gern das Thema noch weiter vertieft, Feuer hin oder her. „Ein anderes Mal kannst du mir gerne eine Geschichtslektion erteilen“, erwiderte sie zischend. „Aber jetzt wäre es wirklich zu gütig, wenn du mir einige Fragen beantworten könntest.“  „Dann frag, meine Hübsche!“, sagte Seth gutgelaunt. „Vielleicht antworte ich, vielleicht aber auch nicht.“ Eve schnaubte, während sie den Griff um ihre 45er noch mehr verstärkte. Ihr Gegenüber schien zwar in keiner Weise davon beeindruckt zu sein und sie vermutete, dass ihre Waffe so oder so keinen großen Schaden anrichten würde, aber gleichzeitig hätte sie sich ohne sie unbewaffnet und nackt gefühlt. Eve machte sich mental bereit, Seth zu konfrontieren und ihm zur Not mit List und Tücke eine Antwort zu entlocken, doch noch bevor sie ihren Mund geöffnet hatte, kam Seamus ihr zuvor. Offenbar schien er gleich begriffen zu haben, dass es sich bei Seth um keinen Geringeren als den in den Zeitungen vielerwähnten Feuerteufel handelte. „Wer ist in diesem Gebäude?“, wollte er wissen. Seth lachte auf. „Niemand. Nur ein paar Ratten, die aber noch rechtzeitig das Weite suchen konnten, falls das euch beruhigt.“ Er legte seinen Kopf schief. „Die Vampire am Pier allerdings ...“ Eve spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief, als sie daran dachte, wie er stolz verkündet hatte, dass er die Sa’onti auslöschen würde. Hatte es bereits begonnen? „Was hast du getan?“, verlangte sie zu erfahren. Seth schien amüsiert. „Du wirkst, als hätte ich ein Kapitalverbrechen begangen. Sind ein paar tote Vampire nicht genau das, was deinen Tag versüßt?“ Eve sog scharf die Luft ein. Selbstverständlich würde sie einem Untoten keine Tränen nachweinen, aber wenn er es tatsächlich gewagt haben sollte, sich an einem Sa’onti zu vergreifen, dann würde die Rache wirklich absolut grauenhaft ausfallen. Und zwar nicht nur für Seth allein, sondern auch für jeden, den er je in seinem Leben getroffen hatte. Es würde Blut und Schmerz nach sich ziehen und das war selbst ein toter Vampir nicht wert. „Sag mir bitte nicht, dass du einige der Sieben ...“ Sie vermochte den Satz nicht mal zu Ende zu sprechen, viel zu schrecklich war die Vorstellung, was für verheerende Konsequenzen dies nach sich ziehen würde. „Bloß einer“, erwiderte Seth, als würde dies etwas in irgendeiner Weise besser machen. „Er war lediglich ein unhöflicher, aufgeblasener Ägypter, der schon vor Jahrtausenden hätte sterben sollen. Ich habe nur die Natur wieder ins Gleichgewicht gebracht.“ Eve schloss kurz ihre Augen. Sharif ... Das war ganz und gar nicht gut. „Hast du überhaupt die leiseste Ahnung, was du angerichtet hast?“, zischte sie aus zusammengebissenen Zähnen. Es gab viele Geschichten und Gerede über diesen besonderen Vampir, der zu den ältesten Wesen auf der Welt gehörte. Während Asrim mehr ein Schatten war, eine Legende, die nur wenige je zu Gesicht bekommen hatte, war Sharif sehr viel realer. Er galt als Kopf der Sieben, als der Anführer, als die vielleicht einzige Stimme der Vernunft in einer Gruppe aus extravaganten und unberechenbaren Geschöpfen. Und Eve befürchtete stark, dass ohne ihn all dies zerfallen würde. „Warum tust du das alles?“, wollte sie wissen. „Und vor allen Dingen, wieso tust du es allein? Du hättest zu uns kommen können, wir hätten dir zugehört.“ Seth lachte jedoch nur spöttisch auf. „Ich hätte euch meine gesamte Macht demonstrieren können und dennoch wärt ihr noch zu feige gewesen, euch mit den Sieben anzulegen.“ Er schüttelte entschieden den Kopf. „Ihr wart euch schon immer einig darin gewesen, diese Vampire niemals anzufassen. Du siehst mich ja gerade im Moment so an, als würdest du mich für völlig wahnsinnig halten. Niemand von euch hätte mir jemals zugehört!“ Eve knirschte mit den Zähnen, musste ihm jedoch stillschweigend Recht geben. Es hatte in der Vergangenheit einige Überlegungen gegeben, sogar zum Teil richtig gute und ausgeklügelte Pläne, aber keiner davon war letztlich jemals in die Tat umgesetzt worden. Die Angst vor der Rache war einfach viel zu groß gewesen. Immerhin musste man nicht nur alle sieben Vampire erwischen, sondern auch Asrim selbst, um einigermaßen sichergehen zu können, dass man lebend aus der Sache wieder herauskam. Und das war einfach ein Ding der Unmöglichkeit. „Warum tust du ihnen das an?“, wiederholte sie ihre Frage, nun zwar etwas leiser, aber gleichzeitig absolut sicher, dass Seth sie verstehen würde. „Was haben sie dir angetan, dass sie solch ein Schicksal verdient haben?“ Seths Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch es wirkte gequält. Man erkannte einen uralten Schmerz, etwas, dass seine Seele sosehr verletzt hatte, dass vielleicht nicht einmal die Zeit selbst es irgendwann würde heilen können. Und es machte deutlich, dass er nicht eher ruhen würde, bis alle Vampire tot wären, selbst wenn dies seinen eigenen Tod bedeutet hätte. Womöglich war dies das einzige, was ihn überhaupt noch am leben hielt. „Du könntest nicht einmal ansatzweise begreifen, was sie mir angetan haben“, erklärte er mit einem unterdrückten Zorn in der Stimme, dass es Eve eiskalt den Rücken herunterlief. „Ich habe all diese Jahrhunderte ihre Existenz geduldet, habe mich zurückgehalten, aber jetzt ...? Sie sind einfach viel zu weit gegangen!“ Sein Blick glitt plötzlich auf etwas direkt hinter Eve, während er seine Hände zu Fäusten ballte und rief: „Hast du gehört, Alec? Ihr seid zu weit gegangen!“ Eve gefror für einen Augenblick das Blut in den Adern. Nur ganz langsam und mit Bedacht – beinahe, als würde sie ein sündhaft teures Teeservice in Händen halten – drehte sie sich um. Und Alecs Anblick ließ sie sofort wieder wünschen, sie hätte sich erst gar nicht zu ihm umgewandt. Nichts erinnerte mehr an den Vampir, dem sie begegnet war. Kein überlegener Gesichtsausdruck, kein freches Lausbubengrinsen. Stattdessen war da nur Dunkelheit. Eve hatte in ihrem Leben schon viele aufgebrachte Vampire gesehen, aber keiner von denen hatte ihr je solch einen Schrecken eingejagt. Alec hatte nicht mal mehr eine Spur von Menschlichkeit an sich. Er wirkte wie ein Dämon, der soeben der Hölle entsprungen war. Seine Raubtieraugen leuchteten dermaßen intensiv, dass es Eve einen kalten Schauer über den Rücken jagte, und aus seiner Kehle drang ein Knurren, welches ohne Probleme ein ganzes Wolfsrudel in die Flucht geschlagen hätte. Eve wich automatisch ein paar Schritte zurück und merkte, dass Seamus es ihr nachtat. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er den Untoten an, der wirkte, als wollte er jeden, der ihm zu nahe kam, erbarmungslos direkt hinunter in die Hölle ziehen. Seth hingegen ließ keine Spur von Angst erkennen. Gefasst und in keinster Weise eingeschüchtert erwiderte er Alecs Mörderblick, als würde er mit so etwas jeden Tag konfrontiert. „Wie schön, dass du auch zur Party erscheinst“, sagte er schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit mit einem kalten Schmunzeln. „Es wäre wirklich tragisch gewesen, wenn du sie verpasst hättest.“ Eve spürte, wie ihr Puls immer weiter in die Höhe stieg. Und hätte sie nicht mit eigenen Augen gesehen, wie dieser Mann, dieses Wesen, einen Vampir ohne Kraftanstrengung in Flammen hatte aufgehen lassen, hätte sie ihn für komplett und abgrundtief wahnsinnig gehalten. Alec erwiderte derweil nichts, sondern starrte Seth einfach nur mit einem Blick an, der jeden anderen sofort in die Flucht getrieben hätte. Er machte sich zum Angriff bereit. Darauf, diesem Mann, der es gewagt hatte, Hand an seine Familie zu legen, gnadenlos das Herz aus der Brust zu reißen. Und Eve wusste mit einem Mal, dass, wenn in den nächsten Minuten nicht noch ein Wunder geschah, niemand das Ganze heil überstehen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)