Vergeltung von Nochnoi (Version II) ================================================================================ Kapitel 28: Die Legende der Brucha ---------------------------------- Sharif schaffte es gerade noch, sich am Außenspiegel eines unverschämt großen Autos festzuklammern, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das ganze Parkhaus schien plötzlich zu hüpfen und zu tanzen, wie man es sonst nur bei den heftigsten Erdbeben erlebte. Die unzähligen ahnungslosen Fahrzeuge entwickelten ein Eigenleben und begannen, sich zu bewegen, als säße tatsächlich jemand hinter dem Steuer. Auch den überrumpelten Vampiren erging es im Grunde nicht viel besser. Sharif bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Elias ins straucheln geriet und einen Sekundenbruchteil später unangenehmen Kontakt mit dem Fußboden aufsuchte. Er war viel zu überrascht, um seine vampirische Schnelligkeit in irgendeiner Weise auszunutzen. Ebenso Annis verlor den Halt, doch Sharif konnte sie noch im letzten Augenblick packen und in seine Arme ziehen, ehe sie stürzte. Und so schnell und plötzlich, wie es gekommen war, war es auch schon wieder vorbei. Die Erde beruhigte sich wieder, das Zittern erstarb. Einige letzte Autos rutschten noch durch die Gegend, ein Feuerlöscher, der sich aus der Verankerung gelöst hatte, rollte ungebremst über den Boden und – was beileibe für das empfindliche Gehör eines Vampirs am unangenehmsten war – es drang das schrille Heulen mehrere Sirenen zu ihnen. Viele der Alarmanlagen schienen von dem kurzen Erdbeben nicht begeistert zu sein. Aus der Ferne hörte Sharif das Schreien und Weinen von Menschen, die ebenso aus ihrem Trott gerissen worden waren und nicht verstanden, was gerade eben passiert war. Und wenn der Vampir ehrlich zu sich war, wusste er das selbst nicht genau. „Was … was war das?“ Annis‘ Stimme drang an sein Ohr. Sie befand sich immer noch in seiner Umarmung, ihr Blick schweifte durch die leicht umdekorierte Parketage, wo sich nichts mehr an seinem ursprünglichen Platz befand. „Ein Erdbeben?“ Necroma löste ihren Griff von der Säule neben sich und lächelte selig, als wäre sie mit sich und der Welt völlig im Reinen. „Aber nein. Das war eine Explosion, unten im Erdgeschoß. Riechst du es nicht?“ Erst bei ihren Worten nahm Sharif den stechenden Geruch wahr, der sich offenbar in der ganzen Etage verbreitet hatte. Wie ein Unglücksbote, der sich seinen Weg bahnte. Rauch! Und wo Rauch war, da war Feuer meist nicht weit. „Eine Explosion?“ Elias war zu ihnen getreten, sehr darum bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass er soeben sehr unelegant gestürzt war. „Oh verdammt, Nec, musst du immer alles in die Luft sprengen? Hättest du nicht warten können, bis wir mit unserem Auto aus dem Parkhaus raus sind?“ „Ich?“ Necroma schnappte nach Luft. „Glaubst du wirklich, ich würde uns derart in Gefahr bringen?“ Elias brauchte nicht einmal eine Sekunde zu überlegen, als er entschieden antwortete: „Ja!“ Necroma wirkte verärgert, widersprach zur selben Zeit aber auch nicht. Sie wusste genau, dass es ein sinnloser Kampf gewesen wäre. „Na fein“, gab sie zu. „Ich sprenge ab und zu ganz gerne Sachen in die Luft.“ Eine Untertreibung sondergleichen. „Aber diesmal war es Seth, nicht ich“, erwiderte sie. „Also sei vorsichtig, bevor du vorschnell urteilst.“ Sharif hatte sich in der Zwischenzeit von Annis gelöst und wagte einen Blick hinunter auf die Straße. Necroma hatte in der Tat nicht zuviel versprochen, es machte wirklich den Anschein, als hätte eine große Explosion dort unten alles auf den Kopf gestellt. Autos waren offenbar durch die Luft geschleudert worden und in einiger Entfernung äußerst demoliert zu Boden gestürzt, ebenso wie alles andere, das das Pech gehabt hatte, sich in Seths Umfeld zu befinden, das gleiche Schicksal erlitten hatte. Auch auf die Menschen hatte der Feuerteufel keinerlei Rücksicht genommen. Sharif entdeckte mehrere leblose Körper, die unter dem Schutt von Beton und Scherben begraben waren. Ihr Leben hatte Seth anscheinend nicht im Geringsten interessiert. Und auch gegenüber den Sa’onti würde er keine Gnade walten lassen. „Dieser verfluchte Mistkerl!“, zischte Annis aufgebracht. Sie ging entschlossenes Schrittes auf die Tür zum Treppenhaus zu. „Wie kann er es nur wagen, uns ausräuchern zu wollen? Ich werde ihm eigenhändig den Hals umdrehen.“ Sie öffnete weiterhin fluchend die Tür … nur um sie im nächsten Moment sofort wieder zuzuschlagen. Ein riesiger Schwall dunkelster Rauch war ihr aus dem Treppenhaus entgegengeschlagen, begleitet vom charakteristischen Knistern eines großen Feuers. Annis wich sofort laut hustend zurück. Mochte Rauch für Vampire auch bei weitem nicht so schädlich sein wie für Menschen, kratzte er dennoch extrem unangenehm in der Kehle und brachte überdies ihre empfindlichen Augen zum brennen. „Verdammt, verdammt, verdammt!“, meinte Elias kopfschüttelnd. „Was soll das Ganze?“ Necroma zuckte unbekümmert ihre Schultern. „Seth ist sauer auf uns. Sehr, sehr sauer. Und er wird erst Ruhe geben, wenn wir alle in der Hölle schmoren.“ Sharif musterte sie eingehend. Es klang, als würde sie genau um Seths Intentionen wissen, und es juckte ihm unter den Fingernägeln, weiter nachzuhaken. Allerdings war er sich sicher, dass er sowieso keine klare Antwort bekommen würde. „Ich liebe es ja immer aufs Neue, wenn jemand mich umzubringen versucht, den ich gar nicht kenne“, meinte Elias zähneknirschend. „Dieser Seth könnte doch wenigstens den Anstand besitzen, sich vorzustellen, bevor er uns umbringt. Das verlangt die allgemeine Höflichkeit.“ Necroma lächelte unverwandt, als würde sie sich nicht die geringste Sorgen machen. „Das ist so britisch von dir. Wir können ihm ja auch noch einen Tee anbieten, wenn wir schon dabei sind.“ Annis war in der Zwischenzeit wieder zu ihnen geflüchtet. Unentwegt schob sich der immer dichter werdende Qualm unter dem Türschlitz hervor. „Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich hasse Feuer!“, sagte sie schnaubend. „Von daher würde ich vorschlagen, uns zunächst in einen sicheren Bereich zu begeben, ehe wir Seth Zentimeter für Zentimeter die Haut abkratzen und ihn dann zusammen mit fleischfressenden Insekten unter Erde und Beton begraben.“ Sie begab sich zu Sharif und stand kurz davor, einfach über den Rand drei  Stockwerke weit hinunterzuspringen. Für einen Vampir normalerweise kein Problem, aber nun spürte Sharif ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Seine Verbrennungen schmerzten wieder ungemein, als wollten sie ihn warnen. Necroma kam ihm jedoch zuvor. Sie ergriff Annis am Arm und schüttelte bloß den Kopf. Und im nächsten Moment wurde auch mehr als deutlich, wieso. Denn plötzlich schoss eine regelrechte Feuerfontäne nach oben und schien das gesamte Gebäude einzuhüllen. Der Ausblick war völlig versperrt, nur noch die tanzenden Flammen waren zu erkennen. Wie ein roter, überaus gefährlicher Vorhang. Überrascht und entsetzt traten alle Anwesenden hastig einige Schritte zurück. „Ich darf freudig verkünden, dass ich diesen Seth jetzt schon abgrundtief verabscheue, ohne ihn je wirklich getroffen zu haben“, meinte Annis einen Augenblick später. Ihr Blick war derart düster, dass es vermutlich sogar Seth für eine Weile aus der Fassung gebracht hätte. „Das ist echt eine Leistung. Das schaffen normalerweise nur Politiker und Popmusiker.“ Elias war neben seine Schwester getreten und hatte ihr Hand ergriffen. Vielleicht zur Beruhigung, unter Umständen aus reinem Beschützerinstinkt. So oder so ließ Annis es geschehen und verstärkte den Druck sogar. „Und was machen wir jetzt?“, erkundigte sich Elias, nachdem sie noch einen Augenblick das knisternde Feuer angestarrt und sie wahrscheinlich alle irrsinnigerweise gehofft hatten, dass es in der nächsten Sekunde verschwinden würde. Sharif wusste hierauf auch keine Antwort. Er fühlte sich wieder klein und schwach und er hasste es.  „Keine Panik.“ Necroma legte Elias derweil die Hand auf die Schulter und lächelte ihm unbeschwert entgegen. „Wir gehen einfach.“ „Wir gehen einfach?“, wiederholte Annis ungläubig. „Und wie, wenn ich fragen darf?“ Necroma betrachtete gelangweilt ihre Fingernägel. „Ich bin gut.“ Und im Grunde brauchte es nicht noch mehr Erklärungen. Sie hatten alle in den letzten Jahrtausenden am eigenen Leibe erfahren, welche Macht diese unzurechnungsfähige und verrückte Frau besaß. Es wäre für sich wahrscheinlich nicht unbedingt unmöglich, sie zumindest für eine Weile vor Seths hungrigen Feuer zu schützen. Im Moment blieb ihnen wohl wirklich keine andere Möglichkeit, als Necromas Fähigkeiten zu vertrauen. Der Rauch hatte sich inzwischen schon in der halben Etage verteilt und das Treppenhaus sah wahrscheinlich hundertmal schlimmer aus. Allein der kurze Augenblick, als Annis die Tür geöffnet hatte, hatte dies mehr als deutlich gemacht. „Keine Sorge.“ Necroma drückte Sharifs Arm und lächelte ihn dermaßen zuversichtlich an, dass auch dessen Mundwinkel kurz nach oben zuckten. „Es wird alles gut.“ Das hoffte Sharifs vom ganzen Herzen. Auch wenn es im Moment nicht danach aussah, als würde die Situation ein glückliches Ende finden.       *  *  *  *  *  *  *  *  *     Richard beobachtete amüsiert, wie Eve Seamus sofort in die Arme fiel und fest an ihre Brust drückte, als dieser zu ihnen hinunter in den Keller kam. Die zahllosen Blätter und Akten, die der Historiker vor sich balanciert hatten, fielen ungebremst zu Boden, doch Eve störte sich nicht daran. Sie trat sogar einige der Papiere achtlos mit den Füßen weg. Seamus schien im ersten Moment protestieren zu wollen, aber als Eve ihre Umarmung verstärkte, ihn besorgt fragte, wie es ihm ginge, und sich mindestens hundert Mal dafür entschuldigte, ihn bei dem Feuer am Pier in Gefahr gebracht zu haben, versiegte jeglicher Widerstand. „Ist schon in Ordnung, Miss Hamilton“, meinte er beschwichtigend. „Mir ist wirklich nichts passiert.“ „Eve“, verbesserte sie ihn rasch. „Und das macht das Ganze trotzdem nicht besser.“ Richard wusste, welch schlechtes Gewissen sie hatte, dass es ihr nicht mal in den Sinn gekommen war, sich nach Seamus‘ Wohlbefinden zu erkundigen, seitdem sie wieder bei den Jägern war. Richard fand zwar, dass es mit dem, was sie in der Zwischenzeit erlebt hatte, durchaus verständlich war, aber er kannte Eve gut genug, um zu wissen, dass sie sich noch eine lange Zeit schuldig deswegen fühlen würde. „Mir kommen gleich wirklich die Tränen“, vernahmen sie alle plötzlich Oscars Stimme. Dieser stand wieder an die Gitterstäbe gelehnt und hatte die Situation gemustert, als wäre es eine tödliche Beleidigung, in seiner Gegenwart Gefühlsausbrüche zuzulassen. „Hat jemand vielleicht ein Taschentuch für mich?“ Eve warf ihm einen vorwurfsvollen Blick, löste sich aber bereits im nächsten Moment von Seamus und half ihm dabei, die zu Boden gestürzten Dokumente wieder aufzusammeln. Oscar währenddessen raschelte unruhig mit den Füßen und schien sie zur Eile antreiben zu wollen. Richards Blick fiel inzwischen auf Alec. Sie hatten ihm bereits Blut aus zwei weiteren Blutbeuteln eingeflößt und auch wenn er es nun schaffte, ab und zu die Augen offenzuhalten, schien er noch weit davon entfernt, auf der Höhe zu sein. Jedes Mal, wenn er von Neuem seine Lider aufschlug, schien er sich immer wieder zu fragen, was eigentlich los war. Sein Verstand hatte offenbar große Probleme, das, was um ihm herum geschah, richtig zu verarbeiten. Im Moment war er mehr schlecht als recht wach. Es interessierte ihn ebenso, was Seamus in den Tiefen des Archives gefunden hatte, doch gleichzeitig erforderte es offenbar all seine Energie, um fokussiert zu bleiben. Richard bezweifelte, dass er bis zum Ende von Seamus‘ sicherlich ziemlich weitschweifenden und enthusiastischen Vortrages durchhalten würde. „Wo ist Liam?“, erkundigte sich Eve derweil bei ihm. Ihre Stimme klang merkwürdig angespannt, als gäbe es da etwas Unausgesprochenes zwischen ihr und ihrem Anführer. „Oh, ich habe ihn direkt als Erstes informiert“, erklärte Seamus. Er legte die Blätter auf einen nahegelegenen kleinen Tisch und begann, sie zu sortieren. „Und gerade im Augenblick denkt er darüber nach, ob das, was ich herausgefunden habe, irgendwie nützlich sein kann.“ Richard spitzte die Ohren. „Und was denken Sie?“ Seamus zuckte mit den Schultern. „Es sind wirklich sehr interessante Informationen. Allerdings weiß ich nicht, ob sie uns großartig weiterbringen werden.“ Oscar räusperte sich daraufhin vernehmlich. „Leg einfach los, kleiner Mensch, bevor ich hier noch an Altersschwäche sterbe.“ Seamus musterte den Vampir eingehend, schien aber bei weitem nicht so eingeschüchtert zu sein, wie man es hätte vermuten können. Bei jedem anderen hätte man dies schlichter Unwissenheit zugesprochen, doch Seamus wusste wahrscheinlich besser über die Sieben Bescheid als sonst ein Mann in Großbritannien. Er hatte jede Einzelheit von ihnen, die er in irgendwelchen Quellen hatte finden können, aufgesogen wie ein Schwamm und sich offensichtlich letztendlich dafür entschieden, in ihrer Gegenwart nicht verängstigt zu reagieren. Richard wusste nicht, ob dies bloß eine Fassade war oder ob er sie inzwischen tatsächlich gut genug kannte, um zu wissen, dass sie beileibe nicht so schrecklich waren, wie man es überall hörte, aber so oder so fand er dies ziemlich interessant. „Zunächst einmal hat mich Mr. McCoy gebeten, auch den Namen As’kyp nachzuschlagen“, erklärte Seamus. „Immerhin war dies doch das vordergründige Ziel, bevor ... na ja, bevor es plötzlich draußen so einen Radau gab und mich ein tonnenschwerer Jäger angebrüllt hat, mich in den Tiefen des Archivs zu vergraben und unter gar keinen Umständen herauszukommen.“ Eve wechselte einen Blick mit Oscar, der Richard überhaupt nicht gefallen wollte. Es wirkte fast schon vertraut. „Und?“, hakte die Jägerin nach. „Irgendetwas Interessantes?“ „Die erste Quelle war bloß eine Auflistung von Namen ohne irgendwelchen Zusammenhang“, erzählte Seamus. „Es war leider nicht mehr festzustellen, was den Autor dazu bewegt hat, diese alle niederzuschreiben. Man vermutet zwar, dass es sich bei allen um übernatürliche Geschöpfe handelt, aber das bringt uns auch nicht viel weiter.“ Hastig holte er aus seinem Papierberg ein Blatt hervor. „Die zweite Quelle allerdings ...“ Richard spürte, wie die Neugierde ihn packte. „Was steht dort?“ Seamus richtete seine Aufmerksamkeit auf den Text. „Wenn ich einfach mal vorlesen darf: Und am Ende ihres Lebens wandte sich die Brucha ihrem alten Freund As’kyp zu. Sie hieß seine Arme zwar nicht willkommen, wehrte sich jedoch nicht, als er sie in die Anderswelt hinüberzog.“ Daraufhin verstummte der Historiker und schaute neugierig in die Runde. Richard währenddessen hatte nicht den blassesten Schimmer, wie man diese Passage einordnen sollte, abgesehen davon, dass angedeutet wurde, dass As’kyp in Verbindung mit dem Jenseits stand. Auch Eve und Oscar wirkten nicht viel schlauer als er selbst. „Und das ist interessant weil?“, fragte Eve nach. „Die Brucha!“, erklärte Seamus, als müsste ihnen allen klar sein, was es damit auf sich hat. „Niemand weiß bis heute, ob das ein Name ist oder bloß eine Bezeichnung, aber das spielt im Grunde für uns auch gar keine Rolle. Wichtig ist nur, dass die Legende der Brucha nicht unerheblich scheint.“ Richard runzelte die Stirn. „Die Legende der Brucha?“ Seamus nickte enthusiastisch. „Sehr, sehr alt und inzwischen schon längst in Vergessenheit geraten. Außerdem war sie sehr lokal begrenzt, irgendwo in dem hintersten Winkel des heutigen Serbiens. Eine typische Gruselgeschichte, die man Kindern erzählt, damit sie sich anständig verhalten und ihren Eltern gehorchen.“ Erneut fischte er einige Blätter hervor. „Und interessanterweise wird in dieser uralten Legende auch der Name Shadyn erwähnt.“ Nun waren sie alle auf der Stelle hellhörig, selbst Alec, der seinen Oberkörper in eine halbwegs vertikale Position hochgerappelt hatte und offenbar alles daransetze, nicht wieder das Bewusstsein zu verlieren. „Sie wollen damit also sagen, dass As’kyp und Shadyn in derselben Geschichte vorkommen?“, hakte Eve erstaunt nach. „Das kann ja wohl kein Zufall sein.“ „Wie lautet die Legende?“, erkundigte sich Richard. Seamus räusperte sich: „Einst lebte die Brucha, die wohl schönste Frau des Landes. Sie wurde verehrt und gefeiert und jedermann verliebte sich in sie. Es gab niemanden auf der Welt, der nicht alles für sie getan hätte. Zahllose Poeten bewunderten ihr rabenschwarzes Haar, ihre himmelblauen Augen und ihr Lächeln, das selbst Schnee zum Schmelzen bringen konnte. Sie war der Mittelpunkt zahlreicher Lieder und jeder einzelne Mann und jede einzelne Frau warben um ihre Gunst. Wollten sie als Freundin, als Vertraute, als Geliebte, als Gemahlin. Doch nur die wenigsten wussten, wie dunkel und hässlich sie im Inneren war. Sie sahen nur den Schein, die Fassade. Sie ließen sich blenden von ihrem Antlitz und ihrer samtweichen Stimme. Ließen sich verführen von ihrem Lachen und dem Funkeln in ihren Augen. Niemand sah ihre wahre Natur hinter der Lüge. Und die Brucha genoss es, mit ihnen zu spielen, als wären sie willenlose Puppen. Doch die Jahre vergingen und irgendwann musste die Brucha einsehen, dass ihre Schönheit nicht ewig halten würde. Selbst ihre eigene, von den Göttern gegebene Macht würde sie von den Zeichen der Zeit nicht ewig retten können. Und sie konnte mit der Vorstellung, eines Tages nicht mehr jung und begehrenswert zu sein, einfach nicht leben. Ihre Seele wurde von Tag zu Tag schwärzer und grausamer, als sie schließlich ihre schrecklichen Pläne spann. Und so geschah es, dass die Quelle ihrer Schönheit die Jüngsten selbst wurden. Zunächst verschwanden nur vereinzelt Kinder, aber rasch waren ganze Dörfer plötzlich von einem Tag auf den anderen völlig kinderlos. Sie lockte die Unschuldigen zu sich, mit falschen Versprechen und dunkler Hexerei. Sie erzählte von einem besseren Leben ohne Kummer und Sorgen und fraß im selben Atemzug ihre kleinen Seelen. Über viele Jahre lang hörte man das Weinen und Schreien der Kinder. Die Eltern versuchten alles, um sie zu retten, doch die Macht der Brucha war einfach zu groß. Sie lachte und blickte von oben verächtlich auf sie herab, während sie gar nicht zu bemerken schien, dass sie selbst zu einem Dämon geworden war. Sie labte sich am Leid und an den Qualen der Menschen wie ein gefühlskaltes Monster. Ihr Innerstes war verkümmert und eingegangen und hatte bloß eine schöne, aber falsche Hülle zurückgelassen. Es interessierte sie nicht einmal, dass das, was sie einst an ihrer Schönheit so begehrt hatte – die Aufmerksamkeit und die blinde Liebe – in Angst und Hass umgeschlagen war. Es fand alles erst ein Ende, als ihr mujan Shadyn es nicht mehr ertragen konnte. All die Zeit hatte er es erduldet und sich ihrem Willen gebeugt, doch dann kam der Augenblick, als das Weinen der unschuldigen Kinder zu viel für ihn wurde. Er lockte die Brucha mit einem falschen Lächeln zu sich und erschlug sie schließlich hinterrücks. Er wollte frei sein von ihr, von ihrer Macht und ihren Zwängen. Er wollte keine Kinder mehr schreien hören, sondern einfach nur noch das gottverlassene Land hinter sich lassen und niemals zurückblicken. Doch er hatte zu lange gewartet. Der Einfluss der Brucha war inzwischen zu stark und niemals im Leben und auch im Tod würde sie ihm das geben, wonach er sich sosehr sehnte. Und somit erhielt er Fesseln anstatt Freiheit. Der Fluch des Ewigen Lebens band ihn für immer an die irdische Welt und er war dazu verdammt, bis in ans Ende der Zeit alleine zu sein und für seine Tat zu büßen. Selbst im Tod würde die Brucha ihn nicht entkommen lassen.“ Seamus hob seinen Blick. „Na ja, und dann kommt noch die kurze Passage mit As’kyp.“ Lange Zeit sagte niemand etwas, sondern versuchte, dass soeben Gehörte irgendwie zu verarbeiten und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Richard konnte nun gut nachvollziehen, warum sich Liam seitdem in sein Büro zurückgezogen hatte und erpicht war, das Ganze irgendwie zu sortieren. „Was heißt mujan?“, war Eve nach einer gefühlten Ewigkeit die erste, die wieder ihre Stimme erhob. Seamus zuckte nur mit den Schultern, es war dann jedoch Oscar, der eine Antwort hatte: „Es ist ein wirklich sehr altes Wort aus der Dämonensprache, das schon seit dem Aufstieg der Römischen Republik eigentlich kaum noch verwendet wird. Es bedeutete Partner oder Geliebter.“ „Oder Pferd“, ergänzte Alec mit leiser und brüchiger Stimme. Dennoch lag dabei ein Schmunzeln auf den Lippen. „Stimmt“, meinte Oscar nickend, während er seinem Bruder einen entnervten Blick zuwarf. „Aber ich denke, diese Übersetzung kann man in dem vorliegenden Kontext sicherlich ausschließen. Denkst du nicht auch?“ Alec verzog sein Gesicht wie ein Fünfjähriger, der soeben Rüge erhalten hatte. „Momentan würde ich wirklich gar nichts ausschließen.“ Bevor die beiden anfangen konnten, sich in einer Diskussion zu verlieren, mischte sich Eve rasch ein: „So, ist diese Geschichte wahr? Ich meine, dass sowohl Shadyn als auch As’kyp erwähnt werden, kann ja wohl kein Zufall sein. Und bisher hatten wir auch noch keine vernünftige Erklärung, warum Seth schon so alt ist.“ „Eine vernünftige Erklärung?“, hakte Richard ungläubig nach. „Der Fluch durch eine Hexe, eine Dämonin oder was auch immer diese Brucha war, bezeichnest du tatsächlich als vernünftig?“ „Na ja, zumindest einigermaßen plausibel“, entgegnete Eve nun ein wenig kleinlaut. „Du weißt doch genauso gut wie ich, welche Macht Flüche haben können.“ „Aber jemanden ewiges Leben zu schenken, ist wirklich ein riesiges Ding!“, erwiderte Richard sofort. „Das passiert nicht einfach mal zwischen Tür und Angel.“ Solch ein Unterfangen hätte so eine Macht erfordert, dass es Richard schon eiskalt den Rücken hinunterlief, überhaupt daran zu denken. Er war sich nicht einmal sicher, ob Asrim – nachweislich eines der mächtigsten Wesen auf diesem Planeten – dazu imstande gewesen wäre. „Verflucht, ewig zu leben.“ Eve schnaubte. „Klingt irgendwie falsch.“ Richard musste zugeben, dass es im ersten Moment tatsächlich eher wie ein Segen klang. Aber er arbeitete inzwischen lange genug in dem Geschäft mit dem Übernatürlichen, um sehr wohl zu wissen, dass dem nicht so war. Er hatte bereits Vampire getroffen, die ihres langen Lebens derart müde gewesen waren, dass sie ihn förmlich angefleht hatten, sie zu töten. Und gerade Untote waren eigentlich dafür prädestiniert, sich mit der Ewigkeit zu arrangieren. Wie mochte es da erst für jemanden sein, den es unerwartet traf? Der sich zunächst über seine neugewonnene Langlebigkeit freute, nur um dann schnell festzustellen, dass ein Großteil der Welt nun mal nicht ewig existierte. Der dabei zusehen durfte, wie nach und nach alle um ihn herum starben. Menschen, die ihm etwas bedeutet hatten. Menschen, die er geliebt hatte. Richard wusste, dass, wäre er in solch einer Position gewesen, sich sicherlich irgendwann entschieden hätte, niemals mehr zu lieben, damit der Schmerz einigermaßen erträglich wäre. „Na ja, Legenden sind Legenden“, erhob Seamus wieder seine Stimme. „Ich denke nicht, dass wir jedes Wort von der Geschichte auf die Waagschale legen können. Allerdings heißt es ja so schön, dass in jeder Geschichte ein Körnchen Wahrheit steckt. Und dass Shadyn und As’kyp hier zusammen Erwähnung finden, ist Beweis genug, dass wir diese Legende nicht einfach ignorieren sollten.“ Richard vermochte bloß zuzustimmen. Er wusste zwar nicht, inwieweit sie diese neuen Informationen vorantreiben würden, aber es wäre ein großer Fehler gewesen, es nicht weiter zu verfolgen. „Ich habe versucht, etwas tiefer zu graben, aber bisher war ich noch nicht sonderlich erfolgreich“, gab Seamus zu. „Es gibt eine Randnotiz, dass durchaus mehrere Versionen der Geschichte existieren – für solch alte Texte wirklich nichts Ungewöhnliches –, aber hier im Gebäude findet sich nichts mehr. Ebenso das Internet spuckt auch nur diese Variante hier aus, wobei es sich wahrscheinlich um die am meisten verbreitete Version handelt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich kann gerne in meinem privaten Archiv nachschauen, da finden sich viele verborgene Schätze. Außerdem habe ich Mr. McCoy schon Bescheid gesagt, dass er sich am besten mit anderen Stützpunkten in Verbindung setzen und alle Mühlen zum mahlen bringen sollte. Irgendwo wird sich bestimmt etwas finden lassen.“ Seamus lächelte, als wäre er ein Kind auf einer Schnitzeljagd. Und für ihn war es vermutlich auch so. „Und ihr habt von dieser Legende noch niemals gehört?“, wandte sich Eve an die beiden Vampire. „Als ihr an den Knochen einiger römischen Soldaten genagt habt, zum Beispiel?“ Während Oscar sie für diesen Kommentar mit einem düsteren Blick bedachte, schüttelte Alec nur leicht den Kopf. „Noch nie. Aber nicht weiter verwunderlich, wenn diese Legende nur so lokal begrenzt war.“ Er hielt kurz inne und auf seine Züge legte sich etwas Seltsames. „Asrim ... er hat sich und uns immer von Serbien ferngehalten.“ Richard musste zugeben, dass diese Information durchaus interessant war. Auch Seamus‘ Kopf kam bei diesen Worten wieder aus den Tiefen der Papiere hervorgelugt. „Und warum?“, fragte Eve nach. „Hat er euch irgendeine Erklärung gegeben?“ Alec wirkte, als müsste er wirklich angestrengt in den hintersten Winkeln seines Gedächtnisses graben. „Ich ... ich bin mir nicht sicher“, gestand er ein. „Er ... er hat ...“ „Die Region hat uns sowieso nie großartig gekümmert“, warf sich Oscar dazwischen. „Ich kann mich ehrlich gesagt nur an eine Begebenheit erinnern, als wir überlegt hatten, in diese Richtung zu reisen, und uns Asrim davor gewarnt hat. Er hat irgendetwas von Kriegen erzählt und uns ermahnt, einen Bogen darum zu machen.“ „Und Necroma ...“, meinte Alec plötzlich, als wäre ihm aus heiterem Himmel wieder etwas eingefallen. Oscar musterte ihn einen Augenblick verwirrt, dann aber legte sich Verständnis auf seine Züge. „Oh ja, richtig. Sie hat uns mal gesagt, wir sollten uns prinzipiell von dieser Gegend fernhalten. Unter allen Umständen.“ Er hob die Schultern. „Ich habe mir nie etwas dabei gedacht. Wie gesagt, das serbische Hinterland steht auf meiner Prioritätenliste ganz sicher nicht weit oben, von daher war’s mir eh egal. Aber jetzt ...“ Richard wechselte einen Blick mit Eve. „Soll das heißen, dass Necroma vermutlich Bescheid weiß? Oder auch Asrim?“ „Falls du jetzt vorschlägst, sie einfach mal zu fragen, dann vergiss es sofort!“, erwiderte Oscar. „Asrim wird nicht reden und Necroma redet viel zu viel, aber man versteht sie nicht. Das wäre zwecklos.“ Eve verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn die beiden es aber tatsächlich darauf angelegt haben, euch von diesem Ort fernzuhalten, könnte an der Legende vielleicht etwas dran sein. Das ist zumindest ein weiteres Indiz dafür, das mehr dahintersteckt als bloß Zufall. Und womöglich solltet ihr einfach mal – ach verdammt!“ Richard warf ihr angesichts dieses undamenhaften Fluches einen verwirrten Blick zu und merkte, dass sich ihre Aufmerksamkeit in Richtung Tür bewegt hatte. Er folgte ihrem Fingerzeig und realisierte im nächsten Moment überrascht, dass sich weißer Nebel unter dem Türschlitz durchzog. „Da hat wohl jemand irgendwo ein Fenster offengelassen“, meinte er zähneknirschend. „Ich regel das.“ Doch Eve packte ihn an der Schulter, bevor er überhaupt die Möglichkeit erhielt, einen Fuß vor den anderen zu setzen. „Bleib hier!“ Richard runzelte irritiert die Stirn. „Aber ... warum?“ Eves Miene wurde daraufhin sehr ernst. „Das ist kein Nebel.“ Ihr Druck verstärkte sich. „Aber es ist vielleicht eine Antwort.“ Richard hatte das Gefühl, etwas sehr Wichtiges verpasst zu haben. Er schaute zu den Vampiren, die demselben harten Gesichtsausdruck aufgesetzt hatten wie Eve, und schließlich zu Seamus, der zu Richards großer Erleichterung genauso verunsichert aussah, wie Richard sich fühlte. „Was ist denn los?“, verlangte er zu erfahren. „Das ist Larva“, meinte Eve in einem Tonfall, als wäre dies Erklärung genug. „Und es würde mich nicht wundern, wenn sie mehr über die Brucha und Shadyn weiß als wir.“ Richard hatte zwar nicht die geringste Ahnung, wovon Eve sprach, aber als er in der nächsten Sekunde beobachtete, wie der Nebel sich aufbäumte, als handelte es sich um ein lebendes Wesen, entschied er sich, erst einmal einfach seinen Mund zu halten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)