Vergeltung von Nochnoi (Version II) ================================================================================ Kapitel 29: Anash'gura ---------------------- Diesmal tauchte Larva in der Gestalt einer Frau in den Mittvierzigern auf, die den Anschein erweckte, als hätte sie noch niemals in ihrem Leben gelacht. Ihr Gesicht und ihre Augen waren dermaßen verkniffen, dass es ihrem Antlitz, das sicherlich einmal schön gewesen war, etwas Hässliches verlieh. Alec persönlich hatte die Dame noch niemals in seinem Leben gesehen, doch das verwunderte ihn kaum. Bei ihrer letzten Begegnung mit Larva hatte er diesem Geschöpf mehr als deutlich gemacht, dass sie nie wieder in der Gestalt eines Menschen auftauchen sollte, den er einst gekannt hatte. Und Larva war offenbar die Hilfe bei der Rettung ihres Meisters wichtiger als die Vampire weiterhin zu provozieren. Eve und Richard sogen jedoch scharf die Luft ein, als sie Larva in ihrem neuen Gewand sahen. „Ihr kennt sie?“, hakte Alec nach. Eve schluckte. „Das ist Vanessa Smith. Sie war die Leiterin dieses Stützpunkts vor Liam. Sie starb vor vielen Jahren an Krebs.“ „Solch ein ungewöhnlich unspektakulärer Tod für einen Jäger“, meinte Larva und strich sich über die Brust, als müsste sie den neuen Körper genau erfühlen. „Sie wollte eigentlich im Kampf sterben, habt ihr das gewusst? Ruhmreich und ehrenvoll. Stattdessen ist sie am Ende langsam vor sich hinvegetiert.“ Alec stöhnte leise auf, während er die Schmerzen, die ihn beherrschten, zu unterdrücken versuchte. Er war schon extrem lange her, dass er so etwas gefühlt hatte. Vielleicht hatte er es sogar noch nie gefühlt, denn er war sich gar nicht mal so sicher, ob er je in seinem langen Leben in einer derartigen Situation gewesen war, dass er sich vor lauter Schmerzen am liebsten selbst bewusstlos geschlagen hätte. So oder so, das unerwartete Auftauchen Larvas war für seinen Heilungsprozess nicht gerade förderlich. Im Moment hätte er eigentlich nichts lieber getan, als sich hinzulegen und sich ausschlafen, aber die unwillkommene Besucherin würde ihn wohl kaum zur Ruhe kommen lassen. „Es freut mich wirklich sehr, euch alle wohlbehalten wiederzusehen“ Larva lächelte in die Runde. Alec schenkte sie sogar ein Augenzwinkern, was der Vampir mit einem leisen, aber dennoch warnenden Knurren quittierte. Richard und Seamus musterten Larva derweil schweigend. Der Jäger wirkte, als würde er tatsächlich erwägen, seine Waffe zu ziehen, während der Historiker nicht ganz zu wissen schien, ob er fasziniert oder verängstigt sein sollte.  „Das ist übrigens Larva“, klärte Eve die beiden auf. „Sie ist … na ja, keine Ahnung. Sie borgt sich auf jeden Fall das Erscheinungsbild von Toten, weil sie anscheinend selbst keinen eigenen Körper besitzt.“ „So ist es“, stimmte Larva zu, Eves vorwurfsvollen Tonfall einfach nicht weiter beachtend. „Ihr Menschen seid so furchtbar kleingeistig, es würde eure mickrigen Gehirne überfordern, wenn ich aus dem Nichts zu euch sprechen würde. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ihr viel besser darauf reagiert, wenn ihr ein Gegenüber habt, das ihr anschauen könnt, selbst wenn es sich nur um eine Illusion handelt.“ Sie lachte auf, als hätte sie gerade den größten Witz der Welt zum Besten gegeben. Seamus und Richard schauten die merkwürdige Kreatur einfach nur irritiert an, während Alec einen Blick mit Oscar austauschte. Diesen schien Larvas Auftauchen ebenso wenig zu begeistern wie ihn. „Ihr freut euch, mich zu sehen, gebt es ruhig zu.“ Sie stemmte sich provokant die Hände in die Hüften. „Ihr habt doch gedacht, dass ihr mich nie wiedersehen würdet.“ Da musste Alec ihr Recht gegeben. Er hatte wirklich angenommen und auch sehr stark gehofft, diesem eigenartigen Wesen nie wieder über den Weg zu laufen. Aber offenbar hatten sich die Götter gegen ihn verschworen. „Na ja …“, sagte Eve zögerlich. „Ich dachte wirklich, dass du …“ „Was? Tot bin?“ Larva lächelte. „Ihr Menschen seid echt lustig, wisst ihr das eigentlich? Eure fehlende Intelligenz ist äußerst amüsant.“ Sie warf sich dramatisch ihre langen Haare in den Nacken und verteilte mit dieser Bewegung eine Kälte im Keller, die Alec in seinem Zustand nicht gerade gut tat. Er ächzte kurz auf, was Larva jedoch nicht weiter zu interessieren schien. „Wie kann ich tot sein, wenn ich keinen Herzschlag habe, keinen Sauerstoff brauche und nicht mal einen eigenen Körper besitze? Ich bin ein höheres Wesen, das keiner von euch verstehen kann. Nicht mal die brummig dreinschauenden Sa’onti dort drüben. Ich kann nicht sterben, weil ich nie geboren wurde. Ich war schon immer da und werde es auch immer sein.“ Eve betrachtete sie eine Weile stillschweigend, ehe sie meinte: „Also eigentlich hatte ich sagen wollen, dass ich dachte, du wärst von Seth geschnappt worden.“ „Oh.“ Larva verzog kurz ihr Gesicht, offenbar etwas pikiert, dass ihre geniale Ansprache im Grunde völlig sinnlos und deplatziert gewesen war. Schließlich aber zuckte sie mit den Schultern. „Tja, der dumme Bengel hätte mich wirklich fast erwischt. Aber ich bin gewitzter als er. Schon immer gewesen.“ „Schon immer?“, hakte Eve nach. „Selbst damals, als die Brucha noch lebte?“ Alec beobachtete, wie sich auf Larvas Gesicht ein Lächeln ausbreitete, das derart grotesk wirkte, dass es selbst ihm ein bisschen mulmig wurde. „Wie ich sehe, habt ihr ein paar nette, neue Informationen ausgegraben.“ Ihr Blick glitt kurz über Seamus, der förmlich in seinem Aktenberg erstickte. „Ihr seid demnach doch nicht so unnütz und leichtgläubig, wie ich angenommen hatte. Schön für euch.“ Eve trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Und? Ist irgendetwas davon wahr?“ Larva legte ihren Kopf. „Es kommt ganz darauf an, welche Version der Legende ihr gehört habt.“ Eve schien im ersten Moment tatsächlich überrascht, dass Larva sich nicht in irgendwelchen spöttischen Kommentaren verlor. Aber rasch fasste sie sich wieder und gab eine Kurzfassung dessen, was ihnen Seamus keine zehn Minuten zuvor erzählt hatte. „Verstehe“, meinte Larva nickend. „Nun, das ist nicht die vollends wahre Geschichte. Aber sie ist auch nicht komplett falsch.“ Alec lehnte sich ein bisschen weiter nach vorne und ignorierte den Schmerz in seiner Brust, so gut es ihm möglich war. „Also hat die Brucha sehr wohl existiert?“ „In der Tat“, sagte sie daraufhin. Alec bemerkte amüsiert, wie im Hintergrund Seamus zu strahlen begann wie ein Kind an Weihnachten. „Allerdings war es niemals so, dass die Menschen ihre Schönheit angebetet haben und vor ihr im Dreck gekrochen sind. Der Teil der Geschichte ist deutlich zu ihren Gunsten ausgeschmückt worden. Im Grunde war sie bloß eine eitle und verbitterte Frau, die nicht einsehen wollte, dass ihre Zeit langsam ablief.“ „Und der Rest der Geschichte?“, wollte Eve wissen. „Es fehlen einige entscheidende Passagen“, erwiderte Larva. „Aber im Großen und Ganzen ist es nicht unwahr.“ „Also war Shadyn wirklich ihr mujan und hat sie erschlagen?“, fragte Oscar. „Sie hatte es verdient, wenn ich ehrlich bin“, meinte Larva nickend. „Die ganzen Kinderseelen, die sie uns geschickt hat, wurden irgendwann sehr lästig. Ihr Weinen und Jammern ist auf Dauer schwer zu ertragen.“ Alecs Miene verdunkelte sich bei diesen Worten. Er war ganz sicher kein Heiliger und er hatte die Bezeichnung Mörder auch mehr als verdient, aber bei Kindern hörte für ihn der Spaß ganz schnell auf. Er hatte noch nie in seinem Leben eines verletzt und ging mit besonderer Vorliebe gegen diejenigen vor, die sich genau dies zur Lebensaufgabe gemacht hatten. „Allerdings hat er sie nicht erschlagen, sondern erstochen“, erklärte Larva. „Aber das sind nur kleine Details.“ „Und der Rest der Geschichte?“, drängte Eve. „Die fehlenden Passagen?“ Über Larvas Gesichtszüge legte sich daraufhin ein dunkler Schatten. „Was? Bin ich plötzlich die Märchen-Tante? Der Rest der Geschichte wird euch kein bisschen dabei helfen, As’kyp zu finden und Shadyn zu besiegen. Warum sollte ich also jetzt meine Zeit verschwenden?“ Sie fuhr sich durchs Haar. „Ich habe nicht alle Zeit der Welt, Shadyn ist mir immer noch auf den Fersen. Und wenn du die kostbaren Minuten, in denen ich euch wirklich erzählen könnte, wie man Shadyn in die Knie zwingt, lieber damit zubringen willst, zu hören, was er vor ein paar Tausend Jahren so alles getrieben hat, dann habe ich ein Problem damit.“ Eve war einige Schritte zurückgewichen. „Aber der Fluch des Ewigen Lebens ...“ „Nichts lebt ewig!“, erwiderte sie entschieden, der Chor aus tausend Stimmen vibrierend. „Weder Shadyn noch Asrim noch der Rest der Sieben. Irgendwann werden sie alle sterben. Und gerade bei Shadyn würde ich es durchaus begrüßen, wenn dies lieber morgen als in fünfhundert Jahren geschieht.“ Alec konnte es sich zwar nur schwer eingestehen, aber er musste ihr Recht geben. Als niemand protestierte, kehrte Larvas überhebliches Lächeln sehr schnell zurück, als sie an den Jägern vorbeiging und an die Zellen trat. Dabei streifte sie kurz Richard am Oberarm, was diesen dazu brachte, zusammenzuzucken. Kleine Eiskristalle tauchten wie aus dem Nichts an der besagten Stelle auf, während der Jäger sich bemühte, seinen Körper nicht allzu sehr zittern zu lassen. „Eine hübsche, neue Bleibe habt ihr euch da ausgesucht.“ Larva schien der Anblick der eingesperrten Vampire sehr zu gefallen. „Eure Ansprüche waren aber noch nie besonders hoch, nicht wahr?“ Als würden sie gar nicht existieren, marschierte Larva unbeschwert durch die Gitterstäbe hindurch. Einen Augenblick löste sich ihre Gestalt auf und nur noch wabernder Nebel war zu erkennen, schließlich aber nahm sie wieder Form an. Ihre leeren Augen musterten prüfend das Innere der Zelle. „Wirklich sehr schick“, meinte sie in einem Tonfall, der ihren Hohn mehr als deutlich machte. „Was also willst du?“, zischte Alec. „Uns verspotten? Dafür hast du dann plötzlich doch Zeit?“ Larva schenkte ihm ein eisiges Lächeln. „Aber nein, kleiner Vampir, wo denkst du hin? Eure Notlage tut mir wirklich unglaublich leid. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich eure Situation nachempfinden kann.“ Oscar knurrte daraufhin bedrohlich. Er schien in Larvas Worten wohl ein großes Maß an Schadenfreude zu sehen, was Alec auch jederzeit bestätigt hätte, hätte er nicht den Gesichtsausdruck des Wesens vor Augen gehabt. Auch wenn ihre Aussage durchaus hämisch gemeint gewesen war, so steckte doch ein wenig Ernsthaftigkeit dahinter. Eine Tatsache, die offenbar niemanden mehr überraschte als Larva selbst. Vielleicht sah sie wirklich einige Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, wie ihr nun bewusst wurde. Immerhin waren sie alle von Seth ausgetrickst und in ihre Schranken verwiesen worden. „Ich hab versprochen, wiederzukommen“, fuhr sie fort, um schnell das Thema zu wechseln. Sie schien an Alecs Miene erkannt zu haben, dass dieser sie durchschaut hatte. „Ohne mich seid ihr schließlich nicht in der Lage, As’kyp und vor allen Dingen euch selbst zu retten.“ „Dann sag uns, wo wir deinen idiotischen Meister finden können und verschwinde endlich!“, fauchte Oscar ungehalten. „So einfach ist das nicht“, erwiderte Larva. „As’kyp ist an einem Ort, der … na ja, für euch irdische Wesen schwer zu erreichen ist. Nicht mal ich komme ohne weiteres an ihn heran. Ihr müsst …“ Sie hielt plötzlich inne, wandte sich Oscar zu und musterte ihn eine Weile mit solch einer Intensität, dass es den Vampir sichtlich zur Weißglut trieb. „Was ist?“, zischte er schließlich ungehalten. Larva legte ihren Kopf schief. „Wusstest du eigentlich, dass du weißes Pulver im Haar hast?“ Oscar starrte sie einen Augenblick ehrlich verblüfft an, dann aber knurrte er tief und machte damit mehr als deutlich, was er von diesem unerwarteten Themenwechsel hielt. Alec hingegen konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen. In der Tat sah Oscar immer noch aus, als hätte ihm jemand eine Ladung Puderzucker über den Kopf geschüttet. Mit dem Wasser, das man ihm in die Zelle gestellt hatte, hatte er zwar versucht, das lästige Pulver auszuwaschen, aber besonders viel gebracht hatte es nichts. Erst eine ausreichende Dusche oder ein Sprung in den nächsten See hätten wahrscheinlich Abhilfe schaffen können. „Vergiss doch Oscars Haare!“ Eve funkelte Larva von der anderen Seite der Gitterstäbe herausfordernd an. Ihr Kollege Richard stand immer noch neben ihr und sah heillos verwirrt aus. Er versuchte wohl angestrengt, die ganze Situation irgendwie zu begreifen, war aber bis jetzt offensichtlich kläglich gescheitert. Alec konnte es nachempfinden, er selbst verstand auch nicht so recht, was eigentlich genau vorging. „Was ist denn nun mit deinem Meister?“, bohrte Eve weiter nach. „Wo ist er? Wie kommen wir an ihn ran?“  „Das wird nicht einfach.“ Larva rieb sich am Kinn, als würde sie intensiv nachdenken. „Ich kann euch nicht sagen, wie man As’kyp erreicht, weil ich es selbst nicht weiß.“ Alec erkannte an ihrem Tonfall, dass es ihr offenbar sehr schwer fiel, dies zuzugeben. Es war wahrscheinlich schon lange her, dass sie eine Schwäche hatte eingestehen müssen. „Aber ich kann euch verraten, wer Seth dazu gedrängt hat, einen Totenwächter zu benutzen. Dieser Jemand weiß zufällig auch, wie man den Feuerteufel schwächen oder sogar endgültig besiegen kann.“ Nun wurde Alec hellhörig. Das klang endlich mal nach einer verwertbaren Information. „Wer ist es?“, fragte Eve wie auf heißen Kohlen. „Seinen Namen zu kennen wird euch nichts nützen, da dieser Wicht schon vor Äonen gestorben ist.“ Larva zuckte sorglos mit den Schultern, als wäre dies nichts Weltbewegendes. „Hat ein schreckliches Ende genommen, der arme Kerl.“ Alec merkte bereits im nächsten Augenblick, wie sie ihn intensiv musterte. Als müsste er den Mann, von dem sie soeben gesprochen hatte, durchaus kennen. Und er spürte, wie sich ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete. „Dir ist Shadyn vertraut, nicht wahr?“, meinte sie, direkt an ihn gerichtet. „Du kennst ihn, es liegt dir förmlich auf der Zunge, und dennoch kannst du ihn nirgendwo platzieren. Es treibt dich in den Wahnsinn, weil du einfach keine Ahnung hast, wo du ihn zuordnen sollst.“ Alec merkte, wie er automatisch nickte. „Es kommt alles zusammen“, erklärte Larva. „Vor Jahrtausenden hat zwei Männer der Hass und die Furcht vor Asrim zusammengetrieben. Der eine war besessen davon, Asrim irgendwie auszuschalten, der andere zögerlich. Und am Ende sind sie beide blind und dumm gewesen. Und die kennst sie beide, Alec. Du erinnerst dich nur nicht mehr daran, weil du dich nicht erinnern willst! Ihr Vampire seid alle viel zu stolz, um auf eure Zeit als Menschen zurückzublicken.“ Alec bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Oscar ihn aufmerksam beobachtete, als wäre er sich nicht sicher, ob der andere in der nächsten Sekunde zusammenbrach oder nicht. Alec wiederum spürte, wie sich in seinem Kopf wieder alles zu drehen begann, kaum dass von seiner Vergangenheit gesprochen wurde. Seit einer Ewigkeit hatte er nicht mehr daran gedacht, an diese Stadt voller Magier, und nun wurde er beinahe stündlich daran erinnert? Es war quälend und grausam und ganz sicher kein Zufall. „Was willst du damit sagen?“, zischte Alec. Er hasste es zwar, aber sein Verstand hatte bereits damit begonnen, die Bilder hervorzukramen, die er vor Jahrtausenden begraben hatte. Menschen, die er gekannt hatte. Die Stadt mit dem großen Palast. Und der Strand ... „Seth hat schon viele Namen und viele Gesichter getragen“, fuhr Larva fort, offenbar vergnügt, dass sie mehr wusste als er. „Damals, als du ihm begegnest bist, nannten ihn alle einen Pirat und Trunkenbold.“ Alec runzelte die Stirn, als sich Puzzleteile in seinem Kopf zusammenfügten, dass es ihm regelrecht schwindelig wurde. Mit einem Mal sah er wieder Gesichter und Namen vor sich, hörte ihre Stimmen, ihr Lachen, ihre Todesschreie. Und es hatte einen Mann gegeben. Jedermann hatte angenommen, er wäre ein Freibeuter gewesen und er hatte sich niemals die Mühe gemacht, diese Gerüchte zu dementieren. Im Gegenteil, er hatte es genossen, dass so viele farbenfrohe Geschichten über ihn im Umlauf gewesen waren. „Calvio.“ Alec wurde plötzlich ganz schlecht. Er hatte schon seit Urzeiten nicht mehr an diesen Mann gedacht, den der Mensch, der er einst gewesen war, als besten und engsten Freund bezeichnet hatte. Neyo war gestorben und damit war auch Calvio ohne jedwede Bedeutung gewesen. Doch nun rief er sich Seth vor sich. Dieses jungenhafte Gesicht, diese funkelnde Augen. Und man sah tatsächlich Calvio darin, auch wenn es über alle Maßen seltsam war. Calvio hatte ein gegerbtes Gesicht gehabt, gezeichnet von den harten Zeiten, einen Vollbart und war allgemein kein großer Freund von einem gepflegten Äußeren gewesen. Seth und Calvio schienen so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Und dennoch ... „Ich verstehe nicht.“ Alec schämte sich nicht dafür, wie dünn und zaghaft seine Stimme klang. Er bemerkte es sogar erst, als sich Oscar neben ihn auf die Pritsche setzte, als hätte er plötzlich das Bedürfnis, ihn zu beschützen. „Es gibt so vieles, was du nicht einmal ahnst, Neyo“, fuhr Larva fort und Alec missfiel es sehr, dass er zunächst nicht einmal registrierte, dass sie seinen Menschennamen benutzte. „Du würdest weinen, wenn du wüsstest, wie ahnungslos du eigentlich bist.“ Und Alec erinnerte sich daran, dass Seth genau dasselbe gesagt hatte. Immer wieder hatte er betont, dass das, woran er sich zu erinnern glaubte, nichts mehr war als eine Ansammlung von Lügen und es ihm das Herz brechen würde, würde er eines Tages je die Wahrheit erfahren. „Was hat das zu bedeuten?“, wollte Oscar wissen, nachdem Alec vollends verstummt war. „Es ist nicht meine Aufgabe, euch dies zu erzählen“, meinte Larva kopfschüttelnd. „Fragt euren Schöpfer, auch wenn dieser wahrscheinlich eher Spaß daran hätte, sich das Herz aus der Brust zu reißen anstatt es euch zu erzählen.“ Alec spürte einen Knoten im Hals und fragte sich, wann er das letzte Mal das Bedürfnis gefühlt hatte, sich zu übergeben. „Warum ...?“ Alec holte einmal tief Luft. „Er war schon Jahre vor Asrim in ... in der Stadt.“ Er brachte es einfach nicht über sich, den Namen auszusprechen. „Hat er ... hat er Asrim Bescheid gesagt ... über mich?“ Oder hatte Calvio gar irgendwelche anderen Intentionen verfolgt? Was war damals sein Motiv gewesen, um sich mit Neyo abzugeben? „Du warst Fügung, mein Junge“, erklärte Larva kryptisch. „Nicht mehr und nicht weniger.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Was Shadyn damals nach Rashitar getrieben hat? Jener Mann, der ihm beigebracht hat, sich der Macht des Todes zu bedienen, um allmächtig zu werden. Jener Mann, der Shadyn so stark und gleichzeitig so verwundbar gemacht hat.“ Alec wusste mit einem Mal ganz genau, von wem sie sprach. Deutlich sah er wieder dessen Gesicht vor sich, hörte dessen Stimme. Neyo hatte diesem Mann gegenüber Respekt empfunden, aber ebenso Angst und Hass. Und für Alec war er nur ein unbedeutendes Insekt gewesen, das es zu zerquetschen gegolten hatte. „Te-Kem.“ *  *  *  *  *  *  *  *  *  * Rashitar, Frankreich (825 v. Chr.): „Du siehst aus, als hätte ein Geist aus der Vergangenheit dich heimgesucht.“ Te-Kem zuckte kurz zusammen, als er die amüsierte Stimme hörte. Nachdem vor einer gut halben Stunde einer der Diener ihm ein Tablett mit etwas Essbaren auf den Tisch gestellt hatte, welches der Magier bisher keines einziges Blickes gewürdigt hatte, und letztlich wieder verschwunden war, war Te-Kem absolut allein in dem weitläufigen Salon gewesen. Schnell hatte er seine Gedanken daraufhin schweifen lassen und schon bald die ganzen wichtigen und unwichtigen Regierungsangelegenheiten vergessen, die er eigentlich hätte bearbeiten sollen, aber bisher weder die Energie noch die Lust dazu gefunden hatte. Er vermochte sich sowieso auf nichts anderes zu konzentrieren als auf die allgegenwärtige Gefahr. Selbst wenn er versuchte, sich zu zwingen, Asrim nicht unter seine Haut kriechen zu lassen, war dies meist nur allzu kurz von Erfolg gekrönt. Die Sorge und die Angst fraßen ihn förmlich auf und hatten ihn schon seit Tagen nicht mehr schlafen lassen. Jeden Moment rechnete er damit, dass irgendetwas aus dem Schatten auftauchte und ihn attackierte, während er gleichzeitig wusste, dass Asrim sich vermutlich sogar noch eine Weile Zeit dafür lassen würde, um ihn weiter zu quälen und dabei zuzusehen, wie seine Unsicherheit ihn in den Wahnsinn trieb. Er war schon immer ein Taktier gewesen, ein Spieler. Es ging ihm nie darum, möglichst schnell zuzuschlagen, sondern im Gegenteil möglichst viel aus der Situation herauszuholen. „Bist du offiziell hier oder hast du dich einfach hereingeschlichen?“, fragte Te-Kem resigniert seinen Besucher. Anfangs hatte ihn die Dreistigkeit dieses Mannes extrem aufgeregt, inzwischen aber hatte er gelernt, sich irgendwie damit abzufinden. Er vermochte immerhin sowieso nichts daran zu ändern. „Hereinschleichen klingt nach einem solch bösen Wort“, meinte der andere belustigt. „Außerdem hast du mich rufen lassen, nicht wahr? Demnach würde ich das Ganze schon als offiziell bezeichnen.“ Te-Kem richtete seinen Blick auf den Mann, der inmitten dieses prachtvollen und reich ausgestatteten Raumes absolut fehl am Platz wirkte. Seine Kleidung war abgetragen, seine Haare ungepflegt und sein breites Grinsen derart spöttisch, dass es Te-Kem eiskalt den Rücken herunterlief. Dieser Kerl kannte keinen Respekt und nicht einmal die Definition von Anstand. Jyliere war er unter dem Namen Calvio bekannt, doch Te-Kem war klar, dass es sich darum bloß um eine falsche Identität handelte. Zwar hatte er dies nie wirklich dem Magier gegenüber bestätigt, aber einst hatte er angedeutet, dass er schon unzählige Leben gelebt hätte. Er war ein Mann, dessen wahre Natur schon längst vergangen und vergessen war. „Niemand weiß, dass du hier bist“, erwiderte Te-Kem mit Nachdruck. „Bei allen Göttern, niemand weiß, dass wir uns überhaupt kennen.“ „Was wirklich eine Schande ist“, entgegnete Calvio. Er trat an das Essenstablett heran und nahm sich schamlos ein Stück Käse. „Ich könnte dich zu ein paar netten Glücksspielchen mitnehmen und ein paar Freunden vorstellen. Die wären begeistert von deiner ... Persönlichkeit.“ Und wahrscheinlich von meinem Wohlstand, dachte er bitter. Zudem er ganz sicher niemanden kennenlernen wollte, den Calvio als seinen Freund bezeichnete. Te-Kem schnaubte, während er sich nicht zum ersten Mal fragte, warum er diesem Mann überhaupt gestattete, derart mit ihm umzuspringen. Rein gesellschaftlich betrachtet stand Calvio weit unter ihm, selbst Te-Kems Diener hätten ohne Mühe auf ihn herabsehen können. Er war das Sinnbild einer Ratte aus der Gosse und tat alles, um diese Vorstellung aufrecht zu erhalten. Auch wenn Te-Kem absolut keine Ahnung hatte, warum. Denn tief im Inneren gehörte er vielleicht zu den mächtigsten Menschen auf dieser Welt und hätte es sich demnach leisten können, in einem schicken Palast zu leben und Reichtümer anzusammeln. Er hätte alle Möglichkeiten dazu gehabt, aber aus irgendeinem Grund legte er überhaupt keinen Wert darauf. Er reagierte sogar mit Unverständnis, wenn Te-Kem ihn darauf ansprach, als wäre das Ganze einfach nur unvorstellbar. Und der Obere wusste nicht, ob er sich einfach bescheiden gab oder eine andere, sehr viel wichtigere Erklärung existierte, weshalb er es vorzog, im Dunkeln zu leben. So oder so hatte er es sich nicht nehmen lassen, vor gut zwanzig Jahren an Te-Kem heranzutreten, als er damals neu in Rashitar angekommen war. Te-Kem hatte ihn zunächst herauswerfen wollen, hatte aber schnell gemerkt, dass Calvio über Talente weit jenseits seiner Vorstellungskraft verfügte. Er war ein einzigartiges Geschöpf, selbst in ihrer magischen Welt. Te-Kem hatte es nicht für sich behalten wollen, besonders gegenüber Jyliere, der in Calvio immer noch einen einfachen Mann sah, den er damals aus reiner Herzensgüte bei sich aufgenommen hatte. Doch Calvio hatte dem Oberen zu verstehen gegeben, dass er besser schweigen sollte, wenn er Wert darauf legte, dass gewisse Geheimnisse weiterhin gehütet würden. Und somit hatte Te-Kem den Mund gehalten. Denn noch schlimmer, als seinen Freund zu belügen, wäre es gewesen, hätte er in dessen schockiertes Gesicht schauen müssen, hätte er je irgendwann die Wahrheit erfahren. „Ich darf einmal annehmen, dass du mich wegen Asrim hierherbestellt hast?“, hakte Calvio nach. Er begutachtete interessiert eine bunte Vase und schien abzuwägen, welchen Preis sie auf dem Markt erzielen würde. „Er muss dir wunderschöne Albträume bescheren, nicht wahr?“ Te-Kem zog seine Mundwinkel nach unten. Er hasste es, dass Calvio das Ganze als dermaßen unterhaltsam und vergnüglich ansah. Ihn störte es nicht einmal im Geringsten, dass es um Menschenleben ging. Woher Calvio und Asrim sich überhaupt kannten, wusste Te-Kem nicht. Auf seine wiederholten Fragen hatte der andere immer bloß mit einem geheimnisvollen Lächeln geantwortet und sich nicht einmal die Mühe gemacht, Worte zu formulieren. „Weiß er, dass wir beide uns kennen?“, wollte Te-Kem schließlich wissen. Calvio legte seinen Kopf schief. „Ich persönlich habe es ihm nicht gesagt, als ich ihn vor ein paar Tagen getroffen habe.“ Er schmunzelte, als er bemerkte, wie Te-Kem bei diesen Worten erschauerte. „Aber andererseits ist es Asrim und es würde mich nicht allzu sehr wundern, wenn er zumindest eine Ahnung hat. Er weiß, dass ich viel zu neugierig bin, um keinerlei Interesse an dir zu haben.“ Erneut konnte Te-Kem ein Erzittern seines Körpers nicht verhindern. Er befürchtete, dass er bald an der Grenze seiner physischen Belastbarkeit angelangt wäre. „Also, worum geht es?“ Leichtfüßig ließ sich Calvio auf eines der gepolsterten Sofas fallen, als befände er sich nicht gerade zufällig in den Gemächern des obersten Magiers des Landes. Te-Kem hätte es nicht einmal verwundert, wenn er im nächsten Moment seine Stiefel abgestreift und es sich bequem gemacht hätte. „Musst du das wirklich fragen?“, hakte der andere seufzend nach. Er hasste es, wie Calvio gerne auf allem herumritt, das Te-Kem auch nur ansatzweise unangenehm war, und ihn zwang, Dinge auszusprechen, die er eigentlich lieber für sich behalten hätte. „Ich werde dir nicht helfen, Asrim umzubringen, falls das deine Bitte sein sollte“, erklärte Calvio daraufhin. Te-Kem spürte, wie ihm bei diesen Worten das Herz gleich ein bisschen schwerer wurde, auch wenn er im Grunde nicht damit gerechnet hatte, dass sein Gegenüber sich sofort frohen Mutes ohne jedwede Diskussion in den Kampf geworfen hätte. Es lag gewiss nicht in Calvios Natur, sich einer Sache zu verschreiben, wenn nicht irgendetwas dabei für ihn heraussprang. „Was verlangst du?“, fragte Te-Kem somit geradeheraus. Calvio aber schüttelte den Kopf. „Es geht nicht um irgendeinen Preis“, erwiderte er. „Bei allen Göttern, du könntest mir hier und jetzt dein Königreich anbieten und ich würde dir trotzdem nicht helfen. Du hast mir rein gar nichts anzubieten, das mich auch nur im Entferntesten dazu bringen könnte, mich gegen Asrim zu stellen.“ „Fürchtest du ihn so sehr?“ Te-Kem vermochte es ihm nicht zu verübeln, er selbst war seit der Erkenntnis, dass Asrim noch lebte, obwohl sein eigener Vater vor gut einem Jahrhundert standhaft das Gegenteil behauptet hatte, einfach nur ein nervliches Wrack und kurz davor, vollkommen den Verstand zu verlieren. Es war durchaus verständlich, dass Calvio es nicht riskieren wollte, Asrims Aufmerksamkeit irgendwie negativ zu beeinflussen. Auch wenn sich Te-Kem gar nicht so sicher war, ob dies tatsächlich der Grund war, warum der andere sich zurückhielt. Etwas in der Art und Weise, wie Calvio über Asrim sprach, ließ durchaus vermuten, dass es nicht nur Angst und Respekt waren, die ihn zurückweichen ließen. „Ist er dir womöglich überlegen?“, hakte der Magier nach. Wenn es etwas gab, das Calvio nicht ausstehen konnte, dann war es, wenn jemand seine Talente anzweifelte. Zumindest wenn es von Leuten kam, die eigentlich um seine wahre Macht Bescheid wussten und ihn nicht nur für einen gewöhnlichen Piraten hielten. Calvio lächelte jedoch leicht. „In manchen Dingen ist er mir tatsächlich überlegen, in anderen wiederum habe ich die Überhand“, gab er zu. „Wenn wir uns tatsächlich eines Tages entscheiden sollten, uns gegeneinander zu stellen, könnte ich nicht sagen, wer als Sieger hervorgeht.“ „Und wenn du einen Vorteil hättest?“ Interessiert beobachtete er, wie Calvios Miene sich ein wenig verdüsterte. „Schlägst du tatsächlich vor, das zu tun, was ich denke, das du mir vorschlägst?“ Er schnaubte abfällig und hätte wahrscheinlich sogar noch verächtlich auf den Boden gespuckt, wenn sein Mund nicht mit schmackhaften Trauben gefüllt gewesen wäre. „Asrim hat dich offenbar das letzte bisschen Verstand gekostet.“ „Und warum?“, fragte Te-Kem. „Ich würde es selbst tun, wenn ich könnte, aber ich habe nicht die Macht dazu. Du hingegen schon.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Zugegeben, man sieht es dir vielleicht nicht an, aber ich spüre deutlich, was in dir brodelt. Du könntest mich und wahrscheinlich alle anderen Magier, die sich in diesem Gebäude befinden, mit einem Schlag auslöschen, nicht wahr?“ Calvio sagte hierauf nichts, aber man merkte, dass es ihn sehr viel Überwindung kostete, nicht stolz zu grinsen und Te-Kems Frage enthusiastisch zu bejahen. „Ich verlange von dir doch gar nicht, Asrim umzubringen“, stellte Te-Kem klar. „Ich ... ich will nicht, dass er stirbt.“ Trotz alledem, was der Vampir bereits getan hatte und auch vermutlich noch tun würde, wenn niemand ihn aufhielt, vermochte Te-Kem den Gedanken, an seinem Tod Schuld zu sein, nicht zu ertragen. Nicht schon wieder. „Ich will ihn bloß aufhalten“, sagte er entschieden. Calvio legte seinen Kopf schief. „Vielleicht versuchst du es einfach mal mit ein paar netten Worten“, schlug er vor, während sich seine Lippen zu einem anzüglichen Lächeln verzogen. „Das könnte unter Umständen seine Meinung ändern.“ Anstatt wie so oft verärgert auf seine Anspielung zu reagieren, erwiderte er bloß trocken: „Glaub mir, wenn ich wüsste, dass es irgendetwas bewirken würde, würde ich es sogar tun. Mit dem allergrößten Vergnügen.“ Amüsiert beobachtete er daraufhin, wie Calvio von seiner offenen Antwort derart überrascht war, dass er es nicht einmal schaffte, angemessen zu reagieren. „Aber was ich, was mein Vater, was wir alle ihm angetan haben ...“ Te-Kem schloss kurz die Augen. „Du hast keine Ahnung ...“ „Oh doch, die hab ich“, fiel ihm Calvio ins Wort. Seine Miene war ungewöhnlich ernst. „Ich weiß ganz genau, was ihr ihm gestohlen habt. Und es erstaunt mich wenig, dass es ihn wahnsinnig vor Hass macht! Im Grunde ist es sogar überraschend, dass er bisher noch nicht die gesamte Stadt zerstört hat.“ Er zuckte lapidar mit den Schultern. „Aber das mag vielleicht noch kommen.“ Te-Kem spürte, wie sich sein Innerstes zusammenzog. Inzwischen war es ihm fast schon einerlei, was mit ihm geschah. Aber Reann und die Bewohner Rashitars – sie alle hatten solch ein Schicksal absolut nicht verdient. „Du kannst dem ein Ende setzen!“, meinte er mit Bestimmtheit. „Wenn du deine Macht mit der des Todes vereinst, wirst du schier unbesiegbar! Du könntest Sharif in Flammen aufgehen lassen und Asrim für immer und ewig aus der Stadt verbannen.“ Calvio schnaubte. „Ein Anash’gura, ja?“ Er konnte bloß den Kopf schütteln. „Zunächst einmal ist das nur Theorie. Ich habe bisher noch von keinem Fall gehört, in dem das irgendwie funktioniert hätte. Ich wüsste nicht einmal, wo ich genau anfangen sollte.“ „Ich könnte es dir zeigen“, bot Te-Kem an. Calvio runzelte daraufhin verwundert die Stirn. „Du kennst die Magie dahinter?“ Te-Kem zuckte mit den Schultern. „In meiner Familie gibt es einige Geheimnisse.“ Er beobachtete, wie Calvios Gedanken zu rasen begannen. Es war ein Risiko, ein absolutes Wagnis, aber gleichzeitig war eine Neugierde geweckt, die man nicht einfach wieder schlafen legen konnte. Calvio war durch und durch ein Wesen der Magie und geradezu versessen darauf, alles zu erlernen, alles zu wissen. Für ihn war dieses Anregung derart reizvoll, als hätte Te-Kem ihm soeben ein Vermögen und ein Leben ohne Kummer und Sorgen geboten. „Bei allen Göttern, du bist so ein verfluchter Verführer, Te-Kem!“, fauchte Calvio ungehalten. Man sah den inneren Kampf, den er ausfocht, und der Obere kam nicht umhin, triumphierend zu lächeln. „Hast du eine Ahnung, was ich damit alles anstellen könnte, sollte ich dies tatsächlich beherrschen?“ Te-Kem nickte. „Ich weiß.“ „Aber es könnte mich töten“, erwiderte Calvio, klang jedoch von diesem Gedanken gar nicht so abgeschreckt, wie man hätte denken können. „Es könnte mich vollkommen zugrunderichten.“ Te-Kem biss sich auf die Unterlippe. „Ich weiß.“ „Und es würde dich wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise kümmern, ob ich sterbe oder nicht, nicht wahr?“, hakte Calvio nach. Te-Kem legte den Kopf schief. Er hätte natürlich das Blaue vom Himmel herunterlügen können, aber er wusste, dass Calvio ihn kein einziges Wort geglaubt hätte. „Ob du lebst oder stirbt, ist mir eigentlich relativ einerlei. Allerdings würde ich es durchaus bevorzugen, wenn du erfolgreich bei dem Ganzen bist.“ Calvio kaute auf seiner Unterlippe herum, schien absolut hin- und hergerissen. Es war Macht und Wissen, das Te-Kem ihm anbot, und diese zwei Dinge standen bei ihm über allem anderen. Anash’gura waren Wesen der Anderswelt, mächtig und geheimnisvoll. Man wusste nicht allzu viel über sie und im Grunde begegnete kein Normalsterblicher jemals solch einem Geschöpf, aber jemanden wie Calvio wäre es sicherlich irgendwie gelungen, einen Wächter der Toten aufzuspüren. Es hätte Te-Kem sogar nicht einmal wirklich verwundert, wenn er bereits den ein oder anderen persönlich kannte. Und mit den Fähigkeiten eines Anash’guras hätte er Asrim eine ernsthafte Gefahr werden können. Vampire waren dem Tod so nahe und gleichzeitig so fern wie keine andere Kreatur auf der Welt. „Ich soll also mein Leben riskieren, weil Asrim deines bedroht?“, hakte Calvio nach. „Was lässt dich denken, dass ich auf solch einen Handel eingehen würde?“ Te-Kem legte seinen Kopf schief. „Weil ich dir das Wissen nur gebe, wenn du mir versprichst, mir zu helfen“, erklärte er mit Nachdruck. „Ansonsten nehme ich es mit in mein Grab und du wirst so schnell wahrscheinlich keinen zweiten finden, der es dir beibringen kann.“ Calvio wirkte plötzlich derart gequält wie ein geprügelter Hund. „Langsam verstehe ich wirklich, was Asrim damals an dir gefunden hat“, meinte er zähneknirschend. „Selbst wenn du mir den beinahe sicheren Tod versprichst, bleibe ich hier sitzen und höre dir zu. Das ist eine Kunst, die nicht viele beherrschen.“ Te-Kem genehmigte sich ein schadenfrohes Lächeln. „Also was sagst du? Willst du dir diese einmalige Chance entgehen lassen?“ Calvio massierte sich unruhig die Hände. „Ich hätte Macht über den Anash‘gura“, meinte er. „Seine Kraft wäre die meine und ich könnte die Regeln von Leben und Tod zu meinen Gunsten verformen. Ich könnte allen das Fürchten lehren und niemand würde mich aufhalten können.“ Sein breites Grinsen erlosch. „Aber das Blatt vermag sich schnell zu wenden. Das Ganze ist ein zweischneidiges Schwert. Der Anash’gura hätte ebenso Macht über mich und wenn ich nur einen Augenblick unaufmerksam bin, wäre meine Kraft die seine. Und er könnte mich in die Tiefen der Unterwelt ziehen.“ Te-Kem nickte. „Das sind die zwei Optionen“, sagte er. „Und? Bist du zu vorsichtig und zu feige, um das Wagnis einzugehen? Oder versprichst du mir, Asrim und Sharif aus der Stadt zu vertreiben?“ Calvio blickte auf und Te-Kem beobachtete, wie das letzte bisschen Zweifel in sich zusammenbrach. Das, was ihm angeboten wurde, war einfach zu verlockend, um es zu ignorieren. Und somit sagte er: „Wir sind im Geschäft, Oberer.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)