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Human's Gears - Der Menschen Zahnräder

von

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Markttag

„Fin.“ Ich rühre mich nicht. „Fin!“ Diesmal hat die Stimme mehr Nachdruck. „Fineas!“ Widerwillig schlage ich die Augen auf. „Aufstehen.“ Es ist die Stimme meiner Mutter, die gerade wieder meiner Zimmer verlässt.

Eigentlich will ich nicht aufstehen. Ich liege in meinem weichen, zerwühlten Bett und habe etwas wunderschönes geträumt, auch wenn ich nicht mehr weiß, was es war. Trotzdem schlage ich die Decke zurück und schwinge die Beine aus dem Bett.

Meine Arbeitsklamotten liegen noch genau dort, auf meinem Stuhl, wo ich sie gestern hingelegt habe. Ich überlege kurz, ob ich für die Schule etwas anderes anziehen soll, aber da ich heute keine Zeit habe noch mal nach Hause zu fahren, entscheide ich mich dagegen. Rasch schlüpfe ich in das dunkle, verwaschene Achselshirt, die ausgebeulte braune Latzhose und die schweren Stiefel mit den Stahlkappen. Als ich die Treppe runter stampfe, binde ich mir noch mein ausgewaschenes Halstuch um, die Schweißerbrille setze ich mir auf das wuschelige Haar.

In der Küche hat meine Mutter bereits das Frühstück gemacht und öffnet grade das Fenster mit dem Kupferrahmen, um den Dampf und den Geruch nach gebratenen Speckstreifen und Weißbrot hinauszulassen. Mein Vater sitzt bereits am Tisch und sieht meiner Mutter auf den Hintern, während sie durch die Küche huscht.

„Dad.“, sage ich genervt.

„Guten Morgen, Sohn.“ Er schaut mich nicht einmal an. Blind tastet er mit der Gabel auf seinem Teller herum, noch immer nach meiner Mutter gaffend. Sie stellt mir grade einen Teller und eine Tasse Tee hin, als ich Geschrei von oben höre. Mom schaut mich besorgt an.

„Fin, hast du heute Morgen schon nach deinen Schwestern gesehen?“, fragt sie besorgt. Ich unterdrückte den Drang mit den Augen zu rollen. Jeden Morgen das selbe Theater.

„Nein.“, antworte ich wahrheitsgemäß. Eigentlich ist es mir auch egal. Wenn die beiden sich die Köpfe einschlagen, weil sie sich mal wieder darum prügeln, wer als Erstes ins Bad darf, dann ist das wirklich nicht mein Problem. Minutenlang ist es ruhig und ich wende mich meinem Frühstück zu. Mein Vater hat es inzwischen geschafft, die Hälfte von seinem über den Tellerrand zu verteilen, so sehr begafft er meine Mutter, während sie den Abwasch macht und den Gasherd putzt. Es poltert im Obergeschoss, ein spitzer Schrei ertönt. Mutter dreht zu mir und schaut besorgt und halb flehend.

„Ich gehe dann mal nachsehen.“, sage ich genervt. Ich habe es gar nicht eilig, als ich die Treppe wieder hinauf stapfe.

Wie erwartet stehen meinen beiden Schwestern vor der Badezimmertür am Ende des Flures und haben sich wortwörtlich in den Haaren. Milly, mit sechszehn Jahren die ältere von den beiden, hat ihre Hand gefährlich tief in Meredith's Haaren vergraben. Meredith keift mit ihrer viel zu hohen dreizehnjährigen Stimme ein paar sehr unschöne Schimpfwörter in Millys Gesicht. Sie bemerken mich gar nicht, bis ich sie jeweils am Kragen packe und mit einem entschiedenen Ruck auseinander ziehe.

„Hört auf damit.“, sage ich ruhig aber bestimmt.

„Sie will mich nicht ins Bad lassen!“, empört sich Meredith, Milly sieht sie vernichtend an.

„Ist mir egal. Wenn ihr nicht sofort aufhört euch gegenseitig die Haare auszureißen, schneide ich sie euch beiden in der Nacht ab.“ Beide sehen mich völlig entsetzt an, ich bleibe unberührt.

„Fin, heute ist Markttag!“, quängelt Milly. Ich seufze.

„Okay. Milly, du gehst zu erst.“ Sie macht einen triumphierenden Gesichtsausdruck. „Du hast genau fünf Minuten. Keine. Sekunde. Mehr.“ Meredith macht einen höhnischen Gesichtsausdruck, der von Milly verwandelt sich in Entsetzen. Ich verdrehe genervt die Augen. „Noch ein einziges, falsches Geräusch und keiner von euch geht mehr ins Bad. Dann gehe ICH und lasse mir eine ganze Menge Zeit.“ Es wirkt. Ich drehe mich um und gehe kopfschüttelnd nach unten. Eigentlich habe ich die beiden ja sehr lieb – wären sie nur nicht so anstrengend.

Mich meinem Frühstück widmend, lasse ich meine Gedanken kreisen. Vor allem auch, weil ich meinen Vater ausblenden will. Wir sind alle so unterschiedlich. Millicent und Meredith haben beide das dicke, goldene Haar meiner Mutter geerbt und es ist ihr ganzer Stolz. Meredith hat jetzt schon weiblichere Formen als, was ihr ganz schön zu schaffen macht. Mutter sagt immer, ihre jüngste käme mehr nach meiner Grandma Grace und wie Tante Ruth, sie selbst sei genauso spät gewesen wie Millicent. Dann ist da noch mein Vater, mit denhängenden Schultern und dem fliehenden Kinn. Er hat genauso schlammbraunes Haar wie ich, aber ich habe Moms schmale, aschgraue Augen und bin groß geraten. Weil ich auf der Arbeit oft schwer tragen und mich viel bewegen muss, bin ich recht muskulös. Ich glaube, es stört meinen Vater, dass ich stärker bin und mit meinem Job neben der Schule fast so viel verdiene wie er als Lehrer, aber meine Mom ist stolz auf mich.

Als ich nach dem Frühstück meinen Teller wegräume, kommen Milly und Meredith endlich die Treppe runter. Mom beginnt zu strahlen und stellt vor Milly ein Stück Kuchen auf den Tisch; sie streicht ihr durch das lange, glatt gebürstete Haar und lässt die Hände auf ihren Schultern liegen.

„Heute ist ein großer Tag!“, verkündet sie feierlich. „Millicent ist ab heute Nachmittag offiziell auf dem Markt.“ Meredith schmollt, weil sie auch ein Stück Kuchen haben will, aber Millys Wangen werden rosa. Ihr Blick findet mich und wird etwas höhnisch.

„Vielleicht bin ich ja dann die Erste in der Familie, die sich bindet.“ Sie lächelt. Ich weiß, dass sie es nicht halb so böse meinte, wie ich es ihr nehme, und ich weiß auch, dass die Retourkutsche für die Drohung von heute morgen war, aber allein, dass sie davon anfängt, nervt mich tierisch. Ich bin seit mittlerweile drei Jahren auf dem Markt und obwohl ich neunzehn Jahre alt bin, habe ich absolut keine Ambitionen zu heiraten und eine Familie zu gründen. Ich weiß, dass ich in einem Jahr etwas von meiner Marktwertigkeit einbüße, wie jeder ledige Mensch mit zwanzig Jahren, aber es ist mir völlig gleich. Deshalb stehe ich auf, wuschle Milly mit einem aufgesetzten, zuckersüßen Lächeln durch das Haar und stapfe ins Bad um Zähne zu putzen. Ich hole meine Schultasche und verschwinde, eigentlich viel zu früh, aus der Tür.

Etwas abseits unseres kleinen Hauses habe ich in den Garten einen Unterstand für mein Hoverbike in die Erde geschlagen. Es sind nur vier Holzpfosten und ein Wellblechdach, doch es reicht um das Bike vor dem Schlimmsten zu schützen. Ich bin der einzige in der Familie, der ein eigenes Transportmittel hat, alle anderen fahren jeden Morgen mit dem Zug in die Schule und auf die Arbeit. Ich schwinge mich auf das Hoverbike, trete den Kickstarter, höre grinsend wie die Düsen anspringen und presche im nächsten Moment aus dem Garten und über den rissigen Asphalt.
 

Die Schule ist ein riesiger Gebäudekomplex, ein Überbleibsel aus älteren Zeiten. Die Mauern sind dick und die Fenster Arkadenförmig. Die Einrichtung ist unterteilt in den Komplex für die Unterklässler, von fünf bis sechzehn Jahren und einen zweiten für die Oberklässler bis zwanzig Jahre. Die Unterklässler werden geschlechter-getrennt unterrichtet, sehen sich aber ansonsten in der Pausenhalle, wo sie auch auf uns Oberklässler treffen.

Ich steige von meinem Hoverbike und schiebe es die letzten Meter in die Scheune, die direkt neben der Schule steht. Die große Uhr an der vorderen Fassade der Schule, mit den langen verschnörkelten Zeigern, zeigt dass ich noch fast eine halbe Stunde zu früh bin. Also setze ich mich auf die Treppe, die zum Haupteingang hinauf führt, stecke mir eine Zigarette aus dem Etui in meiner Tasche zwischen die Lippen und warte, bis meine Freunde eintrudeln.

Keine drei Minuten später trudelt Ako ein. Sie ist eine dickliche junge Frau in meinem Alter, mit wuscheligem rotbraunen Haar und etwas zu großen Augen. Sie verzieht das Gesicht, als sie sieht, dass ich rauche. Demonstrativ schnicke ich die halb gerauchte Zigarette weg und grinse. Sie setzt sich neben mich auf die Treppenstufe und ich lege einen Arm um ihre Schultern.

„Bereit für das absolute Chaos?“, frage ich sie grinsend. Ako verdreht die Augen.

„Ist des schon wieder so weit?“, fragt sie genervt. „Markttag?“ Ich nicke. Jedes Jahr, wenn alle Sechzehnjährigen ihre Anerkennung als Erwachsene erhalten, bricht an der Schule die Hölle aus. Es gibt eine Zeremonie in der großen Pausenhalle, mit Reden und dem ganzen Pipapo und einer anschließenden feierlichen Verlesung aller Namen aller, die damit auf den Markt gehen. Zur Krönung des ganzen bekommen sie alle das Zeichen der Volljährigkeit eintattoowiert. Meine Schwester ist ab heute eine von ihnen, und ich komme mir vor, als wäre mein Markttag schon Jahrzehnte her.

„Sieh's positiv.“, sage ich leichthin. „Dafür fallen die dritte und die vierte Stunde aus und wir dürfen früher gehen.“ Ako verdreht noch mal die Augen und schiebt meinen Arm von ihren Schultern. Ich erinnere mich, dass sie schon damals unsere Zeremonie als viel zu überzogen erachtet hat. „Als ob man dafür irgendwas tun muss. Nein, man wird einfach sechzehn und die feiern das, als hätte man die verdammte Welt gerettet.“, hatte sie damals gesagt.

Kurz vor acht trudelt dann endlich der Rest der Gruppe ein, zusammen mit allen anderen, die mit dem Zug kommen. Grey, der mit mir arbeitet und deshalb die selben Klamotten anhat wie ich, Vico, der ein Auge auf Ako geworfen hat und Nym, der, klein, dürr und mit einer viel zu großen Brille für sein Gesicht, zwischen uns nie auffällt. Wir schlurfen zu fünft die Treppen hinauf.

Ein Knacken ertönt und aus den kupfernen Lautsprechern erklingt knarzend und verzerrt die Stimme des Rektors.

„Liebe Schülerinnen und Schüler.“, näselt er in das Mikrofon. „Wie Sie sicher alle wissen ist heute alljährliche Markttag. Wie immer wird die entsprechende Zeremonie in der dritten und vierten Stunde in der großen Pausenhalle stattfinden und ist verpflichtend für alle. Nach der fünften Stunde in der Unterricht aufgrund der Feierlichkeiten für alle Schüler beendet.“ Mit einem weiteren Knacken ist es wieder still und meine Freund ich setzen den Weg zu Maschinenkunde im vierten Obergeschoss fort.
 

Kurz vor der dritten Stunde herrscht bereits absolutes Chaos auf den Gängen. Vico und ich bahnen uns unseren Weg durch die Aufgeregt schnatterndes Sechzehnjährigen, die kreuz und quer durch die Schule rennen um ihre Freunde und Bekannten zu treffen, bevor es dann in die Pausenhalle geht. Ako, Nym und Grey sitzen hoffentlich schon dort und haben uns Sitzplätze freigehalten. Ich schaue mich im Gang halbherzig nach meiner kleinen Schwester um – und entdecke sie zu meiner Überraschung tatsächlich.

Sie steht zusammen mit ihrer besten Freundin an einer Ecke, reibt sich nervös den Oberarm und sieht gar nicht mehr so glücklich aus wie heute morgen. Ich bedeute Vico, dass er schon mal vorgehen soll und ich gleich nachkomme und gehe direkt auf meine Schwester zu.

Sie hat sich richtig chic gemacht, mit einem engen Kleid mit Unterrock und Spitze im Ausschnitt. Ihr goldenes Haar hat sie hochgesteckt und mit einem kleinen Spitzenhut gekrönt, eine lange Feder dekoriert sie. Sie sieht aus wie eine richtige Lady und erinnert mich an Mom.

„...wenn sie recht hat, und mich tatsächlich niemand haben will? Und wenn ich arbeitslos werde?“, höre ich Millys hohe Stimme. Gerade als ihre beste Freundin – Betty oder Tess oder so ähnlich – dazu ansetzt, etwas zu erwidern, erreiche ich meine Schwester und lege ihr eine Hand auf die Schulter.

„Hey, Mil.“, sage ich und Betty zuckt zusammen. Sie dreht sich und sieht mich mit riesigen, ehrfürchtigen Augen an.

„Fin.“, sagt Milly und ringt sich ein Lächeln ab. Ich weiß, dass es unecht ist.

„Nervös?“, frage ich. Sie nickt und weicht meinem Blick aus. „Wieso freust du dich nicht?“ Sie will mir nicht antworten, aber ich sehe sie so lange an, bis sie es tut.

„Na ja... Leslie Morrows hat gesagt, dass mich eh niemand haben will, und dass ich wahrscheinlich bis zur dritten Abwertung arbeitslos bin, und dass ich dann als Küchenhilfe arbeiten muss, bis ich tot bin.“ Ich lache.

„Milly, das ist absoluter Schwachsinn.“ Sie wird noch ein Stück kleiner. „Es ist scheiß egal, was eine Leslie-wer-auch-immer über dich sagt. Nimm das Kinn und zeig der Welt deine wunderschönen Augen.“ Ich stupse ihr Kinn nach Oben. „Wenn du dauernd nach unten guckst, siehst du gar nicht, dass sich hier grade drei Kerle fast auf die Nase gelegt haben, weil sie dich so ansabbern mussten.“ Sie sieht mir in die Augen und ein Lächeln kämpft sich auf ihre vollen Lippen. „Pass' mir nur auf, dass du nicht heute schon einem Kerl das Herz brechen musst.“ Jetzt lächelt sie aufrichtig, während Tess mich noch immer anstarrt als sei ich ein faszinierendes Phänomen. Ich schaue auf die Uhr an der Wand und lege meinen Arm um Millys Schultern. „Wenn ihr euch nicht langsam auf den Weg macht, verpasst ihr eure eigene Zeremonie.“ Bessy macht große Augen, als ich meinen Kopf drehe und unter dem Halstuch mein Volljährigkeitstattoo hervor blitzt.

„Tut es weh, wenn sie es stechen?“, fragt sie und wird knallrot.

„Höllisch.“, antworte ich und schiebe sie beide vorwärts. „Und jetzt los!“
 

Ich finde meine Freunde im Meer der Stühle und versuche so wenig Lärm wie möglich zu machen, als ich mich hinsetze. Der Direktor hat gerade mit der Rede begonnen.

„Wo warst du?“, flüstert Grey, der eine Reihe weiter vorne neben Vico sitzt.

„Unterwegs in geheimer Mission.“, antworte ich, während mein Blick über die hunderten von Sitzreihen streift, die normalerweise an langen Tischreihen stehen. Ich sehe Milly, in einer der vordersten Reihen, sie lacht. Dann sehe ich meinen Dad und mir vergeht die gute Laune.

Er tuschelt leide mit einer der neuen Lehrerinnen, während der Rektor, gekleidet in einem Brokatgehrock, mit Zylinder auf dem schmalzigen Haar und mit Gehstock, in seiner Rede an die stets anhaltende Bedrohung durch die Retronen erinnert, die entschieden gegen unsere Technik und unsere Fortschritt sind. Die Lehrerin kichert hinter vorgehaltener Hand.

„Dieser schwanzgesteuerte Idiot.“, murmle ich wütend. Ako, die neben mir sitzt, folgt meinem Blick.

„Ist das nicht dein Dad?“, fragt sie mich leise. Ich nickte mit bitterem Gesichtsausdruck. Mit verschränkten Armen lehne ich mich in meinem Stuhl zurück und lausche halbherzig den Reden von Schülervertretung, Vertrauenslehrern und dem Bürgermeister, während meine Freunde sich flüsternd über die Redner lustig machen.

Nach den langen, meist langweiligen Reden, tritt der Rektor zurück auf die Bühne und rollt ein langes Pergament aus.

„Und nun bitte ich alle, die heute marktfähig werden und die ich nun aufrufe, einzeln auf die Bühne.“ Er beginnt in alphabetischer Reihenfolge bei A.

Vico streckt sich demonstrativ und schielt hinüber zu Ako links von mir. Es gefällt ihm nicht, aber ich bin überzeugt, wenn er einfach mit ihr über seine Gefühle reden würde, hätten die beide eine realistische Chance. Inzwischen ist sie allerdings meine beste Freundin und scheint mich interessanter zu finden als ihn.

Ich nestle an meiner Schweißerbrille und versuche meinen Vater auszublenden. Da höre ich ihren Namen.

„Dice, Millicent Amber.“ Meine Freunde und ich springen auf, klatschen lauter als der Rest und jubeln, während Milly schüchtern auf die Bühne schleicht. Ich sehe zu Vater hinüber. Er sieht zwar zur Bühne, dich er tuschelt noch immer mit der Lehrerin, die ihn neckisch anstößt. Ich habe das Bedürfnis, ihm eine zu verpassen.

Milly schüttelt dem Rektor die Hand, wir setzen uns wieder. Sie gesellt sich zu den anderen, bereits aufgerufenen, die jetzt gespannt darauf warten, ihre Tattoowierungen zubekommen. Keiner hat so einen lauten Beifall bekommen wie sie und sie sieht glücklich aus.

Nach der Zeremonie dürfen die frisch Marktfähigen in der Halle bleiben und feiern. Eigentlich müssen wir Oberklässler jetzt zurück in den Unterricht, aber ich lasse mir Zeit. Nym, Vico, Ako und Grey stellen sich zu mir an die Tür.

„Leute, geht ruhig schon mal vor.“, sage ich.

„Kommst du dann noch?“, fragt Ako. Ich setze eines meiner schiefen Grinsen auf.

„Mal sehen.“, antworte ich und schiebe sie raus. Ako macht ein Peace-Zeichen und sie verschwinden mit der Masse. Ich lehne mich direkt an die Wand neben der Tür, verschränke die Arme. Als mein Vater an mir vorbei gehen will, er tuschelt noch immer und sieht mich deshalb nicht, stoße ich mich von der Wand ab.

„Vater!“, sage ich betont deutlich, damit die Lehrerin versteht, was Sache ist. Sie ist eigentlich ganz hübsch, aber ihre Hüfte ist zu breit und ihr Haar zu dünn. Sie ist vielleicht ein paar Jahre älter als ich. Fakt ist, mein Vater ist nun mal verheiratet und hat seine Finger bei sich zu behalten.

Er ist alles andere als erfreut, mich zu sehen.

„Lass' uns später weiter reden, Felicitas. Wir sehen uns dann geich im Lehrerzimmer.“, sagt er mit einer ekelhaft schmeichelnden Stimme, dass mir die Galle hoch kommt. Felicitas lächelt mir schüchtern zu und nickt.

„Bis dann, Ray.“ Damit verschwindet sie und ich ziehe meinen Vater unsanft bei Seite.

„»Ray?«“, spucke ich angewidert aus. „Was bist du für ein Vater, dass du nicht einmal an der wichtigsten Zeremonie im Leben deiner eigenen Tochter deine Triebe vergessen kannst?“, fahre ich ihn wütend an. Ich sehe, dass er das Bedürfnis hat mich zu schlagen. Er tut es nicht. Nicht etwa wegen der vielen Menschen um uns herum. Ich bin größer und auch stärker als er.

„Fineas, was in aller Welt gibt dir das Recht so mit deinem eigenen Vater zu reden?“, bellt er, so laut, dass einige Leute um uns herum stehen bleiben und gucken. Sein Gesicht wird puterrot. Es beeindruckt mich nicht.

„Du sagtest einmal, hier in der Schule bist du nicht mehr mein Vater sondern nur Mr. Dice, der Geschichtslehrer.“, knurre ich leise. „Und ich bin sicher, dass Lehrer, die dazu noch Ehemann und Vater sind, ein gutes Vorbild sein sollten!“ Er tippt mir mit dem Finger auf die Brust. Obwohl die Luft um uns herum knistert, ist es nicht besonders furchteinflößend, wenn man sich überlegt, dass er fast den Kopf in den Nacken legen muss um mich anzusehen.

„Das ist nicht deine Angelegenheit. Glaube ja nicht, dass du mir vorschreiben kannst, wie ich mich zu benehmen habe! Ich bin ein erwachsener Mann!“ Ich lache bitter und schiebe seinen Finger von meiner Brust.

„Dann solltest du dich auch entsprechend benehmen.“, knurre ich und lasse ihn stehen. Inzwischen bin ich so wütend auf ihn, dass ich zittere. Die letzte Unterrichtsstunde spare ich mir und gehe stattdessen hinaus um eine Zigarette zu rauchen.

Als ich mich etwas beruhigt habe, überlege ich mir nach Milly zu suchen. Ich stapfe zurück in die große Pausenhalle, wo nun zehn Tattoowierer die frisch auf den Markt gepurzelten versorgen. Milly steht etwas abseits und sieht mich, als ich durch die Tür komme. Mit einem breiten Grinsen läuft sie auf mich zu, ich lächle und nehme sie stolz inden Arm.

„Und?“, frage ich und suche nach der Tattoowierung. „Wo hast du sie?“ Sie hält mir ihr linkes Handgelenk entgegen, das mit Folie eingewickelt ist. Unter dem durchsichtigen Material prangt nun das verschnörkelte, noch etwas blutige Symbol der Volljährigkeit, das ich auch ich trage.

„Es hat höllisch wehgetan.“, sagte sie stolz. „Patricia Burton ist sogar ohnmächtig geworden und Leslie Morrows hat geschrien.“ Ich lache.

„Und du warst natürlich archaisch.“, sage ich grinsend. Sie nickt.

„Keinen Ton habe ich gemacht.“ Ich streiche ihr über den Nacken. Sie umarmt mich und sieht über die Schulter. „Beth ist auch gleich dran.“ Beth. So heißt ihre beste Freundin. „Ich glaube, sie ist voll verknallt in dich.“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch.

„Sie kennt mich doch gar nicht.“ Milly schnaubt, als hätte ich etwas absolut lächerliches gesagt.

„So viel wie sie immer von mir über dich wissen will, könnte sie ein Buch über dich schreiben.“ Jetzt ziehe ich noch die andere Augenbraue hoch.

„Gut zu wissen, wie du die Privatsphäre deines Bruder wahrst, Millicent.“ Jetzt lacht sie und ich merke, dass sie richtig glücklich ist. Wahrscheinlich hat sie nicht mal gesehen, dass Dad besseres zu tun hatte, als ihr zuzusehen und ich werde es ihr sicher nicht sagen. Ich drücke sie noch einmal an mich.

„Ich hoffe, du hast einen schönen Tag.“, sage ich und meine es so. „Wenn ich heute Abend von der Arbeit komme, können wir ein paar Pfannkuchen essen gehen, wenn du willst.“ Sie rollt die Augen, aber sie lächelt dabei.

„Ich bin nicht Meredith, Fin. Pfannkuchen mag ich schon lange nicht mehr.“ Sie wendet sich ab und geht zurück, wo Beth grade mit Folie versorgt wird. „Außerdem gehe ich heute mit Beth und ein paar anderen weg.“ Ich grinse zum Abschied und kann es mir nicht nehmen lassen, Beth zuzuzwinkern. Sie wird knallrot.

Mit den Händen in den Hosentaschen stapfe ich zurück zu meinem Hoverbike, um dort auf Grey zu warten.

Zufall

Ich stelle mein kupfernes Hoverbike zu den anderen in den Unterstand, neben das Automobil meines Chefs. Diese Maschinen sind selten, nur Menschen die eine Menge Geld verdienen können sich die Mobile leisten, die mit dem teuren Perodiesel angetrieben werden. Die meisten Maschinen laufen durch Dampfmotoren, oder andere, wie Hoverbikes und Turbinenrucksäcke, durch das billige Chlorkerosin.

Grey streicht sich sein fast schulterlanges, aschblondes Haar glatt. Er liebt es, mit mir zusammen auf dem Bike zu fahren, aber er hat sich selbst nie die Zeit genommen, einen Hoverschein zu machen. Er grinst und fischt sich die Stechkarte aus der Brusttasche. Kaum haben wir unsere Karten angestochen, bellt eine laute Stimme unsere Namen durch die Maschinenhalle.

„Pennyworth, Dice!“ Neben der Stechuhr ist das Regal mit den Arbeitshandschuhen, von denen sich Grey und ich je ein Paar nehmen und überstreifen. Unser Chef kommt mit schweren, langsamen Schritten auf uns zugewatschelt. McCoy ist dick und schmierig, sein Haar dünn und farblos und seine Nase ist so groß wie eine Kartoffel. Hinter seinem Rücken nennt ihn jeder McTato, was nicht nur seine Nase, sondern auch sein Gemüt recht treffend beschreibt.

„Sir?“, fragt Grey höflich.

„Kommen Sie mit, ich habe einen Auftrag für Sie.“ Ich sehe Grey fragend an, doch er zuckt mit den Schultern. Wir folgen McTatos wabbelndem Hinterteil, das so fett ist, dass er fast seine Hose sprengt, auf Anweisung wartend, doch unser Chef schnauft nur laut.

Er führt uns einmal quer durch die ganze Maschinenhalle. Überall verlaufen Kupferrohre, Kabel und Drähte, die Halle ist voll von dampfenden Maschinen, die Metall biegen und weich und verarbeitsfähig machen, damit wir sie anpassen können. Zahnräder rattern und die Glühbirnen flackern. Es ist alles wie immer.

McCoy führt uns an den großen Legierungskesseln vorbei, deren Ventile immer pfeifen. Dort an einer der Wände, die aus grob zusammengenieteten, angelaufenen Kupferplatten bestehen, hängen Blaupausen an einem Blackboard.

„Wir haben einen neuen Schienen-Auftrag.“, brummt McTato und kratzt sich an seinem fettigen Backenbart. „Die Strecke zwischen dem Outlandhighway und der Innenstadt soll ausgetauscht werden, die Schienen dort sind wohl nicht mehr funktionsfähig.“ Ich trete näher an die Blaupausen heran und beäuge sie genau, während ich ihm zuhöre. „Die Strecke ist bereits gesperrt, das heißt Sie müssen noch heute mit der Arbeit anfangen. Die neuen Schienen stehen schon bereit.“

„Das sind nicht die normalen Schienen.“, stelle ich fest, den Blick auf das Papier mit den Schemazeichnungen darauf. „Diese hier sind schmaler und haben eine anders geformte Fixierungskerbe.“ Ich fahre mit dem kleinen Finger die Form lang, von der ich spreche. „Die Räder der Eisenbahnen werden nicht passen, die Fixierung war abrutschen.“ McTato stiert mich an und ich sage: „Sir.“

„Das ist nicht unser Problem.“, belehrt er mich und für ihn ist es nun ein ungeschriebenes Gesetz. „So haben wir den Auftrag bekommen und die Schienen hergestellt. So wird es auch gemacht.“ Ich weiß, dass er es hasst, wenn man ihm widerspricht oder Fragen stellt. Trotzdem beherrsche ich mich nicht.

„Sind denn neue Züge geplant, Sir?“ Grey stößt mich unauffällig an, doch ich ignoriere ihn.

„Dice!“, bellt McTato. „Wenn Sie keine weiteren Fragen betreffend Ihrer Arbeitsweise haben, halten Sie gefälligst die Klappe und tun, wofür ich Sie bezahle!“ Ich sehe, wie eine Ader an seinem Hals anschwill und rasch zu schlagen anfängt. Ein innerer Impuls stößt mich dazu an, zu sehen wie weit ich ihn reizen kann, doch ich gebe nach.

„Ja, Sir.“, gebe ich klein bei.

„Gut!“, schnauft er und tupft sich mit einem angelaufenen gepunkteten Stofftaschentuch die Stirn ab. „Dann Abflug. Jetzt.“
 

Grey und ich sind wohl die Einzigen, die McTato mit dem Auftrag betraut hat. Wir sind mit dem Hoverbike an die Gleise gefahren. Die Stelle, an der wir anfangen sollen ist nicht schwer zu finden, denn jemand hat eine der Schienen einen Arm breit grellrot angesprüht. Dort, wo wir arbeiten, stehen die Schienen auf hohen Stelzen, bestimmt fünfzehn Meter hoch. Grey und ich haben uns Turbinenrucksäcke und alle nötigen Werkzeuge, wie das Hochdruckbrecheisen, das Schweißgerät und die Druckluftnietenpistole aus der Maschinenhalle mitgenommen.

Wir schweben auf angenehmer Höhe neben den Schienen und entnieten zu Zweit mit dem Hochdruckbrecheisen die erste Schienenstrebe.

„Ich meine ja nur.“, nehme ich meinen Satz wieder auf, nachdem mich das Brecheisen mit seinem lauten Zischen unterbrochen hatte. Grey zieht die Gondel mit den neuen Schienen bei. „Andere Schienen impliziert für mich, dass es auch neue Züge, oder zumindest neue Räder und Befestigungsmechanismen gibt. Aber sowas kann sich unsere Stadt nie und nimmer leisten.“ Grey sieht in die Gondel und hebt eine der neuen Schienenstreben mit Leichtigkeit hoch.

„Die Schienen reichen nie und nimmer für die ganzen zehn Meilen. Eigentlich kann uns das egal sein, denn diese Strecke wird doch sowieso so gut wie gar nicht genutzt.“ Ich halte in meiner Arbeit inne und betrachte die alte Schienenstrebe genau, bevor ich sie in die zweite, leere Gondel lege.

„Die sind noch gut in Takt. Kaum abgefahren. Wieso sollte jemand die Gleise einer Strecke erneuern, die kaum befahren ist und deren Qualität noch bestimmt zehn Jahre gehalten hätte?“ Grey legt eine neue Strebe an und beginnt mit dem Vernieten, während ich sie fest halte.

„Vergiss es, Fin. Wir dürfen doch keine Fragen stellen.“ Ich verziehe das Gesicht. „Und du solltest doch langsam verstanden haben, dass es bei McTato keinen Sinn hat, mit ihm über vollendete Tatsachen zu diskutieren. Du machst dir nur Ärger, und wir wissen beide, dass du den Job brauchst.“ Ich schweige. Obwohl ich es nicht zugeben will, hat Grey leider recht.
 

Mein Blick schweift über die Stadt. Der Himmel über meiner Heimatstadt ist grau, schon seit ich denken kann. Die Sonne scheint nur schwach durch den grauen Schleier, der schon seit jeher über uns schwebt. Ich weiß, dass er von den Maschinen kommt, die überall dampfen und uns mit Strom und Wasser und Energie versorgen. In der Ferne sehe ich einen Zeppelin, dessen großer, grauer Zapfenkörper sich durch den Schleier kämpft.

„Meinst du, das mit Vico und Ako wird noch mal was?“, holt mich Grey aus meinen Gedanken. Ich grinse.

„Vielleicht wenn Vico irgendwann mal ein paar Eier wachsen.“ Grey lacht.

„Ich mache bei Ako schon immer Andeutungen, aber sie will sie anscheinend nicht verstehen.“ Ich sehe ihm kurz ernst in die Augen und eine weitere Niete springt aus ihrer Verankerung.

„Lass' das mal schön bleiben. Ako wird es von keinem andere verstehen und es auch nicht wollen.“ Er lächelt schwach.

„Na ja, ich dachte einfach... Vico ist ein guter Mensch. Es wäre schön für ihn.“ Eine weitere Niete springt aus der Halterung. „Außerdem wären dann mal zwei von uns vom Markt.“ Ich halte mit der Arbeit inne und sehe ihm direkt in die Augen.

„Pennyworth.“, beginne ich und unterlege damit, wie ernst ich es meine. „Unser Alter ist keine Galgenfrist.“ Anscheinend habe ich den Nerv getroffen, auf den er angespielt hat.

„Aber mit Zwanzig sind wir auf dem Markt weniger wert.“, murmelt er und weicht meinem Blick aus. Ich fixiere ihn noch immer.

„Willst du lieber nach deiner Wertigkeit oder deinen Gefühlen heiraten?“ Natürlich habe ich mir darüber auch eine Menge Gedanken gemacht. Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass meine Wertigkeit absolut nichts mit meinen Gefühlen zu tun hat. Nächstes Jahr wird McTato mich in der Maschinenhalle fest übernehmen, und dann kann ich anfangen nach einer Frau zu suchen. Ich fühle mich einfach nicht dazu in der Lage, eine Familie zu versorgen. Eigentlich glaube ich, dass es Grey nicht anders geht.

Er seufzt und streicht sie mit dem behandschuhten Handrücken eine Strähne aus der Stirn.

„Natürlich will ich nach meinen Gefühlen heiraten, Fin.“ Er nestelt an seiner Latzhose herum. „Aber was, wenn das nicht so einfach ist?“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch und er setzt nach: „Wenn mich meine Auserwählte nicht mehr will, weil ich abgewertet bin? Oder wenn sie jemand anderen will?“ Ich sehe ihn direkt an. Er ist aber so damit beschäftigt meinem Blick auszuweichen, dass er mit dem Druckluftnietenpistole daneben schießt. Eine Niete schießt nach unten, prallt mit einem lauten Knall von einem der Stützpfeiler ab und saust in Richtung Erdboden.

„Wer ist sie?“, frage ich und versuche mir ein Grinsen zu verkneifen. Ich kenne Grey seit inzwischen sechs Jahren. Er kann mir nichts mehr vormachen.

„Was? Niemand!“, antwortet er etwas zu schnell, ich weiß, dass er lügt.

„Ist es Katelyn?“, bohre ich weiter. „Oder die Schwarzhaarige, die in Völkerkunde neben dir sitzt? Selina?“ Endlich sieht mir Grey in die Augen.

„Nein, es... Okay. Okay, okay. Ich sage dir jetzt etwas, was ich dir eigentlich nie und nimmer sagen wollte.“ Er nestelt jetzt wieder an den Knöpfen an seiner Latzhose herum, ich bin froh, dass er nicht mehr zu vernieten versucht. „Ganz vielleicht... Eventuell...“, stammelt er. „Möglicherweise...“ Ich beuge mich vor und boxe gegen seine Schulter. „Autsch! Schon gut! Ich glaube, ich hab mich in Milly verguckt.“ Sein Blick wird wehleidig und ich starre ihm bloß mit offenem Mund an.

„Milly.“, sage ich skeptisch. „Meine Schwester. Millicent.“ Er nickt und kann mich jetzt noch weniger ansehen. Ich denke darüber nach und frage mich, wieso mir nie aufgefallen ist, wie er immer interessiert die Augenbrauen hebt, wenn etwas von ihr erzähle. Grey kratzt sich verlegen am Hinterkopf.

„Sie ist jetzt auf dem Markt und... Na ja, ich werde nächstes Jahr abgewertet.“ Ich habe das Gefühl, er würde sich am liebsten rar machen.

Gerade, als ich etwas erwidern will, höre ich ein undefinierbares Geräusch in der Ferne, gefolgt von einem Klang, ganz ähnlich dem der Turbinenrucksäcke. Ich sehe mich um, genau wie Grey, der es anscheinend auch gehört hat.

In der Ferne, etwa hundert Meter entfernt von uns und damit mitten auf den neuen Gleisen, rast irgendetwas heran. Soweit ich es erkennen kann, sieht es ähnlich aus wie ein Hoverbike, aber es ist an die Schienen gekoppelt. Ich lenke den Turbinenrucksack etwas höher um besser sehen zu können.

„Sagte McTato nicht, der Abschnitt sei gesperrt?“, frage ich Grey, der hektisch nickt.

„Ich habe die Absperrung gesehen. Da kommt eigentlich nichts und niemand durch.“ Ich starre auf das seltsame Bike, das immer näher kommt.

„Heeey!“, rufe ich laut und wedle mit den Armen. „Anhalten!“ Die Schiene, an der das Bike gekoppelt ist, ist nicht fertig. Zwischen der neuen und der Alten klafft ein Loch von einem Meter fünfzig, dort, wo Grey und ich noch keine neue Strebe gelegt haben. Das Bike wird nicht langsamer, aber Zeit um die Strebe zu legen haben wir auch nicht mehr.

„Es wird nicht anhalten.“, sagt Grey schockiert. „Fin, es wird entgleisen.“ Das Bike ist inzwischen so nahe, dass ich sehe, dass der Fahrer des Bikes nicht aufrecht sitzt, sondern eher darauf hängt... Als sei er nicht bei Bewusstsein.

Grey stützt voran und versucht irgendwie die neue Strebe zu vernieten. Ich weiß, dass die Zeit nicht reichen wird, packe ihn an seinem Turbinenrucksack und reiße ihn zurück. Das Bike ist gleich auf meiner Höhe. Wenn Grey dabei noch seine Hände an den Schienen hat, wird er sie verlieren.

„Sei kein Dummkopf!“, sage ich und schiebe ihn bei Seite. „Verschwinde!“ Er scheint zu verstehen, was ich vor habe und zögert.

„Fin, das ist... Das ist Wahnsinn!“ Ich stoße ihn bei Seite. Ich weiß, ich habe nur einen Versuch. Ich muss den Fahrer unbedingt von dem Bike bekommen, bevor es entgleist. Grey ruft meinen Namen, aber ich ignoiere ihn. Nur noch wenige Meter trennen mich von dem heranrasenden Gefährt. Ich zähle in Gedanken die Sekunden runter.

Drei.

Zwei.

Eins.

Instinktiv springe ich vorwärts und erwische den Fahrer an seiner Jacke. Ich werde mit einem so starken Ruck vorwärts gerissen, dass mir ein starker, brennender Schmerz durch die Schulter des rechten Armes fährt. Ich versuche den Turbinenrucksack gegenzusteuern und schaffe es auch. Im selben Moment, als ich den Fahrer richtig zu packen bekommen, erreicht die Verankerung des Bikes das Schienenende, entgleist und stürzt in die Tiefe.

Die Maschine zerschellt am Asphalt.

Mein Herz schlägt so schnell, dass ich es in meinen eigenen Ohren höre. Ich ziehe den bewusstlosen Fahrer an mich und halte ihn so fest ich kann. Eigentlich sind die Turbinenrucksäcke nur für eine Person ausgelegt und sogar noch mehr, genau auf unser Körpergewicht eingestellt. Ich verliere plötzlich rasch an Höhe. Nach unten starrend versuche ich abzuschätzen, wie hart ich auf dem Boden aufkommen werde und lege mir zurecht, wie ich am Besten reagieren kann.

Grey steht bereits wieder mit beiden Beinen auf dem Boden und sieht zu mir hinauf. Eine der Turbinen meines Rucksackes knallt auf einmal laut und beginnt zu qualmen. Jetzt falle ich noch etwas schneller. Ich stütze den in einem Helm steckendes Kopf des Bewusstlosen mit meiner Hand und komme hart mit den Füßen auf dem Boden auf. Meine Beine geben nach und meine Knie schmerzen schrecklich, doch Grey ist sofort zur Stelle und verhindert, dass ich umfalle wie ein Sack Kartoffeln. So schnell er geht drückt er den Notausschalter an meinem Turbinenrucksack und reißt ihn von meinem Rücken, damit er nicht explodiert. Ich lege den Bewusstlosen vorsichtig auf den Boden.

„Du bist doch lebensmüde!“, presst Grey hervor. „Völlig irre!“ Ich ignoriere meine schmerzenden Knie und die schmerzende Schulter und ziehe dem Bewusstlosen vorsichtig den Helm vom Kopf. Mir bleibt überrascht der Mund offen stehen.

Es ist eine Frau.

Grey späht mir über die Schulter, er ist mindestens genauso überrascht wie ich. So sehr, dass er aufhört zu fluchen.

Sie hat schwarz gemalte Lippen und eine schmale, kantige Nase. Ihre Lider sind geschlossen und ebenfalls schwarz geschminkt, ihre Wimpern lang und ihre Augenbrauen haben in der Mitte einen charismatischen Knick. Sie ist schön, so weit ich das beurteilen kann, denn ihr Gesicht ist mit Blut verschmiert, das wohl aus ihrer eindeutig gebrochenen Nase stammt. An dem schmalen, spitzen Kinn, hat sie eine fiese, blutige Schramme.

Souverän ertaste ich den Puls an ihrer Halsschlagader, der fest und regelmäßig schlägt.

„Wir sollten sie zu deiner Mom bringen.“, schlägt Grey vor. Ich nicke.

„Aber vorher musst du mir helfen.“ Ich stehe auf und weiß, dass ich gleich immense Schmerzen haben werde. Mom hat mir bestimmt hundert Mal gezeigt, wie man ein Gelenk richtig einrenkt. Ich lege Greys Hand auf meine Schulter und meine auf seine. Allein das Ausstrecken meines Arms tut schon höllisch weh. Ich zeige ihm, wie er mich fest halten soll.

„Das wird jetzt wehtun.“, sage ich und grinse gequält. „Schon festhalten.“ Mit einem festen Ruck ziehe ich meinen Oberkörper zurück, ein hässlichen Knacken ertönt und ich spüre wie mein das Gelenk zurück in die Pfanne springt. Der Schmerz ist so heftig, dass mir Tränen in die Augen schießen. Grey starrt mich entsetzt an.

„Scheiße, Fin, wieso lässt du das nicht deine Mom machen?“, fragt er besorgt, sein Gesicht hat jegliche Farbe verloren. Ich wische hastig die Tränen weg und bewege prüfend meine Schulter.

„Es geht schon.“, sage ich. „Los, hilf mir.“ Er hilft mir, die bewusstlose Frau auf das Hoverbike vor mich zu setzen und setzt sich dann hinter mich. „Halte ihre Arme etwas fest, ja?“ Er nickt.

„Bist du sicher, dass du fahren kannst?“ Ich grinse, trete den Kickstarter und lege einen Arm um sie.

„Festhalten.“, ist die einzige Antwort, die er von mir kriegt.
 

Grey stößt vor mir die Haustür auf, ich trage die Bewusstlose ins Haus. Wir machen uns so schnell es geht auf den Weg nach oben. Meredith kommt aus ihrem Zimmer um zu sehen, wer hier so laut poltert.

„Fin, wer ist das?“, fragt sie überrascht.

„Keine Ahnung.“, erwidere ich wahrheitsgemäß.

„Wieso ist sie bewusstlos?“, fragt sie weiter und streicht sich mit einer Geste, die sie sich von Milly abgeguckt hat, das blinde Haar aus dem Gesicht.

„Red.“, sagte ich entschieden und habe es inzwischen bewerkstelligt die Tür zu meinem Zimmer zu öffnen. „Hol' Mom, okay? Grey, hilf den beiden doch bitte beim Tragen.“ Grey nickt, und ich sehe über die Schulter, wie Meredith die Nase rümpft, weil sie gar keine Lust hat, Mom zu suchen. Er legt ihr eine Hand auf die Schulter und bewegt sie mit sanfter Gewalt dazu, mit zu kommen. Ich lege die Frau vorsichtig auf mein Bett und nehme mir einen Augenblick Zeit sie zu mustern. Ihre weibliche Figur ist unter der Lederkluft eindeutig zu erkennen. Ihre Beine sind lang und ihr Becken ist schmal, unter der dicken Lederjacke sind ihre Schultern breit. Erst jetzt fällt mir auf, dass ihr kinnlanges Haar nicht schwarz, sondern dunkelblau ist.

Als meine Mutter mit Grey und Meredith in mein Zimmer kommt, habe ich der Bewusstlosen bereits die schweren schwarzen Stiefel ausgezogen und die Möbel, die neben meinem Bett stehen, bei Seite geschoben um etwas Platz zu machen.

„Fin, Liebes.“, sagte sie und streicht mir mit einer liebevollen mütterlichen Geste übers Kinn. „Grey hat mir erzählt, was du geschafft hast.“ Sie klingt stolz. „Wie geht es deiner Schulter?“ Ich nicke vielsagend und lächle bei dem Gedanken, dass ich mich glücklich schätzen kann, dass meine Mutter die Oberkrankenschwester im Krankenhaus ist – und einen weit über die Stadtgrenzen hinaus gehenden Ruf hat, der ihr vorauseilt. Red sieht mich mit großen Augen an.

„Bist du echt zehn Meter gefallen?“, fragt sie.

„Mery, Liebes, hol doch bitte eine Schale Wasser und ein paar saubere Tücher aus dem Küchenschrank.“, kommt Mom mir zuvor. Ich grinse. Meredith schmollt, tut aber, worum sie gebeten wurde. Mutter ertastet den Puls und misst Blutdruck.

„Es scheint ihr ganz gut zu gehen.“ Ihr Blick wandert hinaus in das Gesicht der Bewusstlosen. „Die Nase ist gebrochen, aber das kriege ich hin. Grey, stellst du meine Tasche hier ab, bitte?“ Er nickt und stellt die Tasche neben sie, tritt dann wieder zurück. „Ich werde sie auf weitere Brüche untersuchen, wenn ich sie umziehe.“, sagt Mom bedeutungsschwer und lächelt. Ich verstehe, dass sie mich und Grey bittet, das Zimmer zu verlassen. „In der alten Truhe auf dem Dachboden sind noch meine Klamotten von früher. Vielleicht sucht ihr unserer Patientin ein paar nette Sachen raus, in Ordnung?“ Meredith kehrt zurück und kniet sich neben Mom. Ganz selbstverständlich beginnt sie ein Tuch ins das Wasser zu tauchen und vorsichtig die Stirn der Bewusstlosen abzutupfen. Mom schenkt uns eines ihrer wunderschönen, gütigen Lächeln, ich zupfe an Greys Ärmel. Er kann sich nur schwer vom Anblick der Bewusstlosen losreißen. Sein Blick wirkt etwas glasig, als wir die Sprossen zum Dachboden erklimmen.

„Ist dir aufgefallen, wie wunderschön sie ist?“, fragt er geistesabwesend. Ich schiebe ein paar alte Möbel und Kisten bei Seite um mir einen Weg zu bahnen.

„Findest du?“, frage ich grinsend. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass du solche Gefühle für meine Mom hegst.“ Er scheint aus seiner Trance zu erwachen und hilft mir einen ausgesonderten Schrank bei Seite zu stemmen.

„Ich rede nicht von Mrs. Dice sondern von der bewusstlosen Frau!“ Ich verkneife mir nur schwer ein Lachen. „Was meinst du, wie alt sie ist?“ Ich sehe mich nach Mutters alter Kleidertruhe um.

„Keine Ahnung. Aber sie wird nicht viel älter sein als wir, oder?“

„Ob sie verheiratet ist?“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch.

„Langsam wirkst du verzweifelt, Pennyworth.“ In der hintersten Ecke des Dachbodens finde ich die Truhe und stoße sie auf. „Und über die Sache mit Milly reden wir noch.“ Er wird rot und zieht den Kopf zwischen die Schultern. „Allerdings nicht jetzt. Hilf mir mal.“
 

Bewaffnet mit einer beigefarbenen Bluse, einen braunen Leinenveste und einem Brokatrock verlassen wir den Dachboden. Es ist ein seltsames Gefühl vor meiner eigenen Zimmertür zu stehen und zu warten, bis ich hineingebeten werde.

Mutter bittet uns hinein. Sie hat die Bewusstlose zugedeckt und ihre Kleider feinsäuberlich auf meinen Stuhl gelegt.

„Habt ihr etwas passendes gefunden?“ Ich präsentiere unsere Beute, während Greys Augen an dem zugedeckten Körper kleben. Mutter hat ein Fixierungspflaster auf den Nasenrücken der Bewusstlosen geklebt. Meredith tupft die letzten Blutreste unter der gebrochenen Nase weg, Mutter beäugt grade etwas, was mir noch nicht aufgefallen ist.

Drei von den Fingern an der rechten Hand der Bewusstlosen sind biomechanisch, kupferne Knöchelchen mit Zahnrädern in den Gelenken und fein verkabelt. Hatte sie vorher Handschuhe an? Ich stoße Grey an und zeige mit dem Blick auf das Phänomen. Ihm fällt vor Staunen die Kinnlade hinab.

„Geht doch schon mal in die Küche hinab und setzt Tee für uns alle auf. Dann können Mery und ich unsere Patientin in Ruhe anziehen.“
 

Ich leere gerade meine zweite Tasse Tee, als Mom und Red endlich hinunter kommen. Grey ist tief in Gedanken versunken. Fragend sehe ich meine Mutter an und gieße noch zwei weitere Tassen ein.

„Sie hat keine weiteren Verletzungen, außer der gebrochenen Nase und ein paar Schrammen.“

„Hast du etwas bei ihr gefunden? Einen Ausweis vielleicht?“ Mutter nippt an ihrem Tee und stellt die Tasse auf den Tisch. Red setzt sich neben Grey und beobachtet uns.

Mutter lächelt, als sie sich hinter mich stellt und mir den Latz von der Schulter streift.

„Vier, um genau zu sein.“, antwortet sie. „Alle mit einem anderen Namen.“ Ihre Hände sind kalt, als sie meine Schulter beäugt. „Schatz, war deine Schulter ausgekugelt?“ Ihre Stimme klingt besorgt. Ich nicke.

„Was heißt das, mit vier verschiedenen Namen?“, frage ich weiter.

„Sie liegen oben auf deinem Schreibtisch, du kannst sie dir ja ansehen.“

„Außerdem hatte sie eine Pistole dabei!“, platzt es aus Meredith heraus. Mutter sieht sie leicht anklagend an und meine Schwester nippt an ihrem Tee, als sei nichts geschehen. Grey verschluckt sich fast an seinem Tee.

„Eine Pistole?“, fragt er überrascht.

„Um genau zu sein war es Revolver. Der geladen war.“, stellt meine Mutter richtig und bewegt meine Schulter prüfend. „Fin, hast du sie dir selbst eingerenkt?“ Ich nicke wieder, wische die Hände meiner Mutter von meiner Schulter und ziehe den Latz zurück an seinen Platz.

„Vergiss es, Mom.“ Sie seufzt, nimmt den Eispickel von der Wand und geht auf die Knie vor dem Eisschrank, um etwas Eis von dem Block abzuschlagen. Grey und ich sehen uns fragend an.

Die Wohnungstür wird aufgestoßen und wenige Momente später kommen Milly und Dad gemeinsam in die Küche. Wenigstens hat er sie nach der Schule mit nach Hause begleitet.

„Guten Abend.“, sagt er in die Runde. Mom richtet sich grade auf, wickelt das abgeschlagene Eis in ein Küchentuch und drückt es auf meine Schulter. Ich rolle mit den Augen. Sie gibt ihm einen Kuss auf die Wange und drückt Milly voller Stolz fest an sich.

„Hey, Mr. Dice.“, sagt Grey freundlich. „Hey, Milly.“ Seine Wangen werden plötzlich einen Hauch rosiger und ich trete ihm unter dem Tisch auf den Fuß.

„Zeig es mir!“, verlangt Meredith von Milly. „Ich will dein Tattoo sehen!“
 

Grey bietet sich an, die Nacht über zu bleiben, da er sich bei der Rettung nicht verletzt hat. Meine Mutter wehrt ihn mit gutmütigen Worten ab. Wir haben den Abend zusammen in der Küche verbracht und es ist spät, als Milly die Treppe hinunter kommt. Sie trägt einen kurzen Rock und ein Mieder, ihr Haar ist locker frisiert. Ich sehe, wie Grey in ihrem Anblick versinkt.

„Ich gehe dann mal.“, verkündet sie und strahlt in die Runde.

„Soll ich dich rasch begleiten? Ich wollte mich grade auf den Heimweg machen.“

„Ich will nur zu Beth, das ist nur die Straße runter.“, antwortet Milly, doch meine Mutter ist begeistert.

„Ich finde, das ist eine wundervolle Idee. Vielen Dank, Grey.“ Er grinst schief.

„Kein Problem.“ Bevor sie aus der Tür verschwinden, schenke ich Grey einen „Mach ja keine Dummheiten“-Blick. Er grinst breit.

Ich hole mir Bettzeug vom Dachboden und richte mir auf dem Teppich vor meinem Bett ein kleines Schlaflager ein. Eigentlich haben wir auch ein Gästezimmer, aber Mom sagte, ihr wäre es lieber, jemand bleibt Nachts bei der Bewusstlosen, falls sie aufwacht und ich finde, sie hat recht.

Als ich fertig bin, nehme ich mir Zeit, sie und all ihre Sachen, die Mutter auf meinem Schreibtisch verteilt hat, zu mustern. Die Ausweise liegen in einer Reihe und ich nehme den ersten auf.

„Helen Slaitor.“, lese ich leise. Auf dem kleinen Bild, das den Ausweis schmückt, ehe ich, dass ihre Augen hellblau sind; so hell, dass sie auf den ersten Blick fast weiß aussehen. Auf den anderen Ausweisen ist immer genau das gleiche Bild, doch andere Namen: Samantha Evans, Laurie Amerant und Caroline McMillan. Ich beäuge auch den Revolver. Ich habe noch nie eine Waffe aus der Nähe gesehen und nehme ihn die Hand um ihn von allen Seiten genau zu betrachten. Der Lauf und die Beschläge sind aus Bronze, das Magazin aus angelaufenem Kupfer. Der Griff besteht aus poliertem Rotholz. Ich entdecke eine kleine Prägung unter dem Abzug.

„E.C.“ Wer sie wohl ist, dass sie eine geladene Waffe mit sich herumträgt? Dass drei von acht ihrer Finger ersetzt werden mussten? Dass so bewusstlos und mit gebrochener Nase auf einem an Schienen gekoppelten Hoverbike beinahe in den Tod rast?

Woher kam sie überhaupt? Sie war einfach plötzlich auf den Schienen. Als sei sie aus dem Nichts gekommen.

Ich setze mich zu ihr auf das Bett und ihre Finger ziehen meinen Blick auf sich. Zeige-, Mittel- und kleiner Finger wurden durch funktionsfähige Protesen ersetzt. Sie sind aus poliertem Kupfer, so weit ich das beurteilen kann, hat jemand das Metall direkt an den noch vorhandenen Knochen der Hand befestigt. Die Fingerspitzen sind kleine, polierte, gewölbte Plättchen, mit denen sie bestimmt gut greifen kann. Ich kann mich nicht entscheiden ob ich ihre künstlichen Finger abschreckend, gruselig oder wunderschön finden soll.

„Irgendetwas ist seltsam an ihr.“, sagt meine Mutter und ich zucke zusammen. Sie steht in der Tür, die Stirn in tiefe Falten gelegt.

„Mom.“, sage ich überrascht.

„Ihre Finger sind ein Phänomen. Ich habe etwas derartiges noch nie gesehen.“ Ich schaue zurück auf die Finger, die friedlich über der Decke auf dem Bauch der Bewusstlosen ruhen. Ich verstehe, was sie meint. Eine seltsame Aura umgibt E.C.

„Aber du hast doch auch schon biomechanische Prothesen gesetzt.“, erwidere ich. Mutter kommt zu mir an das Bett und ihre Fingerspitzen gleiten über die metallenen Fingerglieder der Bewusstlosen.

„Ja, einige.“, antwortet sie. „Aber diese hier sind anders. Sie sind viel feiner und nicht verblendet. Die Kabel verbinden die Finger direkt mit den Nerven. Sieh' mal.“ Sie nimmt das Handgelenk von E.C. In ihre Hand und drückt mit dem Zeigefinger auf die Sehnen am Unterarm.

Wie bei einer normalen Hand beugen sich die biomechanischen Finger beim Druck auf ihre Sehnen. Ich mache große Augen. „Unsere biomechanischen Prothesen sind meist grob und haben nur eingeschränkte Funktionen. Versteh' mich nicht falsch, die anderen Schwestern und ich versuchen immer unser Bestes. Aber das hier... Dazu würde ich sie gerne befragen.“ Ich lächle. Der unbändige Wissensdurst meiner Mutter. Daher habe ich ihn also.

Sie scheint aus ihren Gedanken aufzuwachen, sieht mich an, lächelt und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.

„Was du da geschafft hast, war wirklich heldenhaft.“ Sie tätschelt mir vorsichtig die Schulter. „Du solltest dringend schlafen. Dein Tag war lang und anstrengend.“ Zum Abschied streicht sie mir über das wuschelige Haar.

„Gute Nacht, Mom.“, sage ich lächelnd, als sie die Tür hinter sich schließt.

Ich schalte das Licht aus und schäle mich aus meinen Arbeitsklamotten. Beim Gedanken an die Arbeit verziehe ich das Gesicht. McTato wird toben vor Wut und ich werde Überstunden ohne Ende schieben müssen, um den Turbinenrucksack zu bezahlen. Aber er wird mich nicht feuern, denn an seinen Schienen ist nicht passiert, da bin ich sicher. Im Grunde weiß ich, dass er meine – und Greys – Arbeit im Grunde sehr schätzt, auch wenn er das nie zugeben würde. Wenn dem nicht so wäre, hätte er uns nie alleine die neuen Schienen legen lassen.

Ich pfeffere die Arbeitsklamotten in meinen Wäschekorb und stehe in Boxershorts im Raum. Eigentlich schlafe ich immer so, aber eigentlich habe ich auch keine bewusstlose Frau in meinem Bett liegen. Ich greife in meinen Schrank und schlüpfe in das nächstbeste T-Shirt, obwohl ich genau weiß, dass ich heute Nacht darin schwitzen werde.

Ich verdränge den Gedanken, nicht allein im Raum zu sein ziemlich gut und die Anstrengung des Tages wiegt mich rasch in den Schlaf.
 

Ich habe das Gefühl, nicht einmal fünf Minuten geschlafen zu haben, als mich etwas kaltes an der Stirn aufweckt. Ich schlage die Augen auf, erschrecke und zuckt zusammen.

E.C. Ist wach. Nicht nur das, sie hält mir ihren Revolver an die Stirn, kniet auf meinen Oberschenkeln und stiert mich wütend an.

„Wer zum Donner bist du?“, fragt sie böse. Ihre Stimme ist melodisch und erinnert mich an schwarzen Samt. „Und wo bin ich hier?“ Ich merke, dass ich unter dem Shirt geschwitzt bin und meine Glieder bleischwer sind. Weil ich mich so erschrocken habe, rast mein Herz, mit erhobenen Händen starre ich sie an.

„Ich habe dich gerettet...!“, fällt es mir aus dem Mund. „Hey, ich bin dein Freund, okay? Nimm mir doch bitte den Revolver aus dem Gesicht!“ Aber ich sehe, dass sie mein Gestammel nicht überzeugt.

„Wer bist du?“, fragt sie noch mal.

„Fin.“, antworte ich nervös. „Fineas Dice. Ich habe dich heute von den Gleisen gefischt, andernfalls wärst du wahrscheinlich zu Tode gestürzt. Du warst bewusstlos...“ Ich sehe, wie sie darüber nachdenkt, mich mustert und schließlich ihre Augenbrauen mit dem Knick entspannt.

„Na ja. Wie ein Entführer oder eine Bedrohung siehst du nicht grade aus.“, stellt sie fest, sichert ihre Waffe und lässt sie dann sinken. Ich lache nervös.

„Ich bin Schüler und Metallarbeiter.“ Ich lasse meine Hände sinken, die ganz schwitzig sind. „Meine Mom ist Krankenschwester, sie hat dich auch wieder zusammengeflickt.“ Trotz der Spannung und des Schreckens, beobachte ich neugierig, wie sich ihre biomechanischen Finger um den Griff der Waffe gelegt haben. Vorhin habe ich den Revolver als schwer empfunden, doch E.C. Hält ihn, als wiege er gar nichts. Sie sieht an sich herunter und scheint jetzt erst wahrzunehmen, dass sie nicht ihre eigenen Sachen anhat.

„Sind das ihre Klamotten?“, fragt sie. Ich nicke.

„Ich weiß, sie sind etwas zu weit für dich, aber Mom hat darauf bestanden. Sie will deine Klamotten waschen.“ Ich merke, dass ich plappere, richte mich auf und sammle mich. „Hast du Hunger?“ Endlich mal ein sinnvoller Satz, danke Gehirn.

„Ich verhungere.“, antwortet sie, mit einer Hand auf ihrem Bauch und deutet ein Lächeln an. Ich grinse.

„Komm', wir gehen in die Küche und ich mache dir ein Sandwich.“ ich versuche nicht dauernd über die Schulter zu schielen, als ich sie die Treppe hinunter in die Küche führe. Sie sieht sich um, interessiert, neugierig, als hätte sie schon lange kein normales Haus mehr gesehen.

„Hast du auch einen Namen?“, frage ich lächelnd und suche alles nötige für ein Sandwich zusammen.

„Nenn' mich Copper.“, antwortet sie. Copper also. Ob das wohl ihr richtiger Name ist? Ich will nicht danach fragen. „Wohnst du hier?“ Ich nicke und schmiere Sandwichsoße auf ein Weißbrot.

„Mit meinen Eltern und meinen zwei Schwestern.“

„Es ist echt nett.“ Ich lache.

„Es ist klein und schief.“, sage ich. „Aber es ist eben mein Zuhause.“

„Es ist mehr, als ich jemals hatte.“ Sie legt ihren Revolver vor sich auf den Tisch und setzt sich. Anscheinend vertraut sie mir noch nicht so ganz.

„Woher kommst du?“, frage ich und schichte Wurst und Käse auf das Brot.

„Du würdest es nicht glauben, wenn ich es dir erzähle.“ Gespannt beobachtet sie meine Bewegungen. Ich lege eine zweite Scheibe Weißbrot als Deckel auf das Sandwich, schneide es in der Hälfte durch und schiebe es ihr über den Tisch zu.

„Möchtest du einen Tee?“, frage ich und sie nickt. Ich lächle und setze Wasser auf.

Ich habe noch nie jemanden so schnell ein Sandwich verspeisen sehen. Obwohl ich weiß, dass es unhöfflich ist, erwische ich mich imer wieder dabei, wie ich auf Coppers Finger starre, die sie so selbstverständlich bewegt, als seien es keine Prothesen. Ich verstehe das Interesse meiner Mom.

„Woher... Hast du die?“, frage ich vorsichtig. Copper sieht von ihrem halb verspeisten Sandwich auf und dann auf ihre Finger. Sie lässt sie kurz wackeln und ich höre, wie sie ganz leise klimpern, wenn sie einander berühren.

„Lange Geschichte.“, antwortet sie. Sie wirkt nicht, als wäre ich ihr zu nahe getreten, deshalb wage es wieder zu atmen. All ihre Antworten sind so vage. Und obwohl sie inzwischen einen Namen hat, ist sie ein Mysterium für mich.

Der Kessel mit dem Teewasser pfeift, ich gieße ihren Tee auf und schiebe ihn ihr zu. Sie dagegen schiebt ihren leeren Teller ein Stück von sich weg und reibt sich den Bauch.

„Das war köstlich.“, sagt sie zufrieden.

„Es war nur ein Sandwich.“, lache ich. Sie zuckt mit den Schultern.

„Ich habe gelernt, auch triviale Dinge im Leben zu schätzen.“ Diese Frau ist mir in der Tat ein absolutes Rätsel. Ich habe so viele Fragen an sie und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich will auch nicht unhöflich sein. Leider gewinnt die Neugier gegen die Etikette.

„Wieso hast du vier verschiedene Ausweise dabei?“, sprudelt es aus mir heraus. „Und einen Revolver??“ Sie verzieht das Gesicht. Ich schäme mich, dass ich sie so überfalle. „Entschuldige bitte meine Neugier.“, setze ich nach.

„Hör zu, Fin.“, beginnt sie und faltet ihre Finger. „Du bist nett. Aber es gibt genug Menschen, die das nicht sind. Ich werde dir nicht erzählen, wer ich bin und woher ich komme. Damit musst du klar kommen.“ Sie sieht mir fest in die Augen und ich bin völlig fasziniert, wie schön sie ist.

„Verstehe.“, sage ich und das scheint sie zu überraschen. „Wenn du deinen Tee getrunken hast, zeige ich dir noch das Badezimmer, dann solltest du noch etwas schlafen. Morgen stelle ich dir dann meine Familie vor. Vor allem meine Mom, der du zu verdanken hast, dass deine Nase wahrscheinlich wieder grade zusammen wächst.“ Ein Lächeln breitet sich über ihr Gesicht aus und sie hat keinerlei Einwände.



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