Der Sohn des Leuchtturmwärters von Shunya ================================================================================ Kapitel 1: Der Leuchtturm ------------------------- Am Bahnhof auf Westerland angekommen warten wir neben unserem Gepäck auf Jannes' Vater, der zu unserem Leidwesen ziemlich lange auf sich warten lässt. Mit der Pünktlichkeit hat er es aber noch nie so genau genommen. Ich sitze auf meiner Tasche, die ich sonst immer für den Sportunterricht benutze und trinke eine Cola aus dem Automaten. Tom, neben mir, knabbert wie ein Nagetier an seinem Käsebrötchen. „Meinst du, er hat uns vergessen?“, fragt er mit vollem Mund. Ich schüttele den Kopf und strecke meine Beine aus, ziehe sie allerdings eilig wieder an meinen Körper als eine Reisegruppe an uns vorbei hastet. „Ah, da ist er!“, rufe ich und stehe winkend auf. Jannes' Vater entdeckt mich und läuft erleichtert auf uns zu. „Hallo, Jungs! Tut mir leid, ich musste noch ein paar Besorgungen machen und habe darüber hinaus ganz die Zeit vergessen!“ „Kein Ding. So lange warten wir noch gar nicht“, erwidere ich schulterzuckend und greife nach meiner Tasche. Auch Tom steht auf und folgt uns mit seinem Gepäck. Wir verstauen unsere Taschen in dem silbernen Mercedes und setzen uns auf die Rückbank. „Wie läuft's bei euch?“, frage ich meinen Onkel, der sich ans Steuer setzt und den Motor startet. Er fährt vom Parkplatz und reiht sich in den Straßenverkehr am Bahnhof ein, vorbei an den Taxis und direkt auf die Hauptstraße Richtung Hörnum. „Oh, prima. Das Strickzeug deiner Tante verkauft sich inzwischen auch wie warme Semmeln, seit Jannes uns diese Homepage eingerichtet hat.“ „Cool!“ erwidere ich. „Wollt ihr heute noch an den Strand?“ „Ja, das Wetter ist super. Wäre toll!“ „Na, Jannes kann euch sicher ein paar schöne Stellen zeigen, die nicht so ein Besuchermagnet sind.“ „Das hoffe ich doch mal.“ Ich sehe grinsend zu Tom, der sich noch ein wenig schüchtern zurück hält. Er lächelt und schaut dann neugierig aus dem Fenster. Die Landschaft zieht an uns vorüber und da mein Onkel das Fenster ein Stück heruntergekurbelt hat, riecht es im Wagen nach der salzigen Meerluft. Wie habe ich diesen Geruch vermisst. Das erlebt man bei uns nur direkt an der Elbe, allerdings wohne ich leider ein ganzes Stück davon entfernt. Ich lehne mich an die Kopfstütze und schließe die Augen, genieße den frischen Wind, der mir die Haare zerzaust und die salzige Luft, die mir in die Nase steigt. Das Wetter ist super und das wird ein toller Sommer, da bin ich mir sicher. Nach etwa 20-30 Minuten erreichen wir endlich den Süden der Insel und somit das Haus von der Familie Fendel. Wir steigen aus und zufrieden sehe ich mich um. Zum Glück hat sich hier nichts geändert seit meinem letzten Besuch. Das rote Backsteinhaus aus den 30er Jahren sieht immer noch ziemlich beeindruckend aus und bietet viel Wohnraum, allerdings bewohnt die Familie Fendel nur einen Teil davon, da sie es gemietet haben. Im Garten stehen noch immer die kunstvoll errichteten Stein-Skulpturen. Ein Fenster im Dachgeschoss öffnet sich und dann lugen auch schon Jannes dunkelbraune wilde Locken heraus. „Hi! Lasst ihr euch auch mal blicken?“, brüllt er fröhlich zu uns herunter. Ich grinse. „Wo ist unser roter Teppich?“, frage ich feixend. „Warte, Markus! Ich komme runter!“ Jannes verschwindet und währenddessen holen Tom und ich unser Gepäck aus dem Kofferraum. „Wir grillen heute im Garten!“, verkündet mein Onkel und schließt den Kofferraumdeckel. „Echt? Geil!“ Tom und ich werfen uns Blicke zu, die eindeutig darauf hinweisen, dass wir durchaus noch etwas zu Essen vertragen könnten. Die Haustür öffnet sich und Jannes rennt uns entgegen. Wir umarmen uns stürmisch und auch Tom bleibt nicht vor einer herzlichen Umarmung verschont. Wir schleppen unser Gepäck ganz nach oben in das Haus, direkt auf den Dachboden. Dort hat Jannes sein Reich. Für uns liegen bereits Matratzen bereit und ich kann mir denken, dass wir nicht wirklich viel Schlaf finden werden. Jannes ist ein Wirbelwind und dieser Sommer wird garantiert nicht langweilig, so viel steht schon mal fest. Ich lasse meine Tasche auf den Boden fallen und gehe ans Fenster. Im Sommer kann es hier oben schon mal wie in einer Sauna kochen, aber der Ausblick ist wirklich klasse. Man kann richtig weit auf das Meer hinaus sehen. Der Vorteil ist dass, nicht wie in der Stadt, lauter Häuser die Sicht versperren. Ein wahres Inselparadies. Ich sehe zu den Jungs und beobachte wie Tom Jannes stolz seine neuen Spiele für die PS Vita zeigt. „Was steht denn heute an?“, frage ich neugierig. Jannes sieht zu mir auf. „Hm, nachher wird erst mal im Garten gegrillt und heute Abend...“ Jannes sieht uns verschwörerisch an und grinst schelmisch. „Jetzt sag schon!“, fordert Tom ihn ungeduldig auf. „Heute Abend machen wir eine Nachtwanderung!“, meint Jannes. „Meine Eltern wissen nichts davon, also müssen wir uns leise aus dem Haus schleichen.“ Ich lache und auch Tom fällt mit ein. Jannes ist wirklich für jedes Abenteuer zu haben. Es hat aber auch seinen Reiz die Insel bei Nacht zu erkunden. „Ich habe noch eine Taschenlampe gefunden. Sie funktioniert auch. Die können wir heute Nacht gut gebrauchen!“, erzählt Jannes. „Glaubst du denn wir erleben hier überhaupt etwas Aufregendes?“, fragt Tom nachdenklich. „Ich meine, hier auf der Insel scheint nicht so das Nachtleben zu toben wie in der Stadt und so weit außerhalb glaube ich kaum, dass wir auch nur annähernd etwas spannendes zu Gesicht bekommen werden.“ „Stimmt, da hat er Recht!“, stimme ich Tom zu. Jannes verzieht seinen Mund zu einer Schnute. „Das sagt ihr jetzt, aber man kann nie wissen!“ „Jungs! Kommt runter! Wir schmeißen den Grill an!“, vernehme ich die Stimme meiner Tante von unten. Wir laufen nacheinander die steile Treppe hinunter, dann eine Weitere und gelangen schließlich durch die Küche hinaus auf die Terrasse und in den Garten. Tom läuft ein Stück hinaus und besieht sich die Skulpturen. Meine Tante umarmt mich fest und drückt mir einen Kuss auf die Wange. „Schön, dass du uns mal wieder besuchst, Markus!“, meint sie erfreut und entlässt mich endlich aus ihrem Klammergriff. Lächelnd lasse ich mich auf einem Gartenstuhl nieder. Der Tisch ist voll gedeckt mit Kartoffelsalat, Nudelsalat und Maisalat. Mein Onkel steht bereits am Grill, dessen Grillkohle er entzündet hat und legt die ersten Steaks und Würstchen auf das Gitter. Meine Tante drückt uns Spieße in die Hand, so dass wir unsere selber zusammen stellen können. Vor uns stehen lauter Schüsseln mit Pilzen, Paprika, Zwiebeln, Hühnchenstücken und noch einigen weiteren Zutaten. Tom der sich inzwischen zu uns gesellt hat, bestückt einen seiner Spieße komplett mit Fleisch. Grinsend tun Jannes und ich es ihm gleich. „Und du bist ein Klassenkamerad von Markus?“, will mein Onkel wissen. Tom nickt. „Habt ihr schon Pläne, was ihr machen wollt? Studium oder Ausbildung?“ „Wir suchen uns Ausbildungsplätze. Für das Studium haben wir kein Sitzfleisch!“, erzähle ich lachend. Tom nickt grinsend. „Ach ja? Was wollt ihr denn machen?“, fragt Jannes mit hochgezogenen Augenbrauen. „Kennst mich doch, ich will an Autos herumschrauben.“ Ich strecke ihm frech die Zunge heraus. „Und du, Tom?“ „Er hat einen Blog und veröffentlicht dort seine Entwürfe für Games!“, falle ich dazwischen. „Die sehen richtig geil aus! Vielleicht bekommt er die Chance als Designer für eine Firma zu arbeiten.“ „Mhm, mal sehen...“, meint Tom zurückhaltend. „Ich hatte überlegt ob ich Design studiere, aber ich bin mir nicht sicher. Ich werde wohl was anderes machen. Bürokauffmann oder so, ganz sicher bin ich mir noch nicht.“ „Ihr habt ja noch eine Weile Zeit es euch zu überlegen.“ Meine Tante klopft Jannes auf die Schulter. „Unser Jannes weiß auch noch nicht was er machen will. Er kann sich einfach nicht entscheiden.“ „Was soll ich machen?“, fragt Jannes missmutig. „Es gibt so viele Sachen, die ich tun möchte, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich solche Jobs auch jahrelang durchhalten kann.“ „Du hast ja noch Zeit.“ „So, wer will Würstchen? Die Steaks brauchen noch ein wenig!“, fragt mein Onkel dazwischen. Sofort schnappen wir uns die Pappteller und belagern ihn. Papp satt gehen wir nach dem Essen runter zum Strand. Barfuß lasse ich meine Fußzehen tief im warmen Sand verschwinden. Tom und Jannes rennen zum Wasser und planschen fröhlich darin herum, bespritzen sich gegenseitig und halten Ausschau nach Muscheln. Ich lasse den Blick über den Strand gleiten und höre das laute Rauschen des Wassers. Der Wind peitscht mir stürmisch ins Gesicht und zerrt an meiner Kleidung. Ich geselle mich zu den Jungs ins Wasser und schubse Tom munter hinein. Schreiend fällt er hin und noch im selben Moment greift er nach meiner Hand und zieht mich mit sich. Lachend landen wir im Wasser und auch Jannes lässt nicht lange auf sich warten und springt mitsamt seinen Klamotten einfach ins Nass hinein. „Habt ihr eigentlich eine Freundin?“, fragt Jannes nach einiger Zeit, als wir am Strand sitzen und sieht uns neugierig an. Ich betrachte die rötliche raue Schere in meiner Hand, die eindeutig von einem Krebs stammt. Fragt sich bloß von welcher Sorte. „Was? Nee!“, meint Tom abwehrend und lacht. „Die wollen doch nur die coolen Jungs daten!“ „Echt?“, fragt Jannes überrascht. „Ich dachte, ihr habt bessere Chancen, immerhin lebt ihr beide in der Stadt!“ „Schon, aber das ist nicht so leicht.“ Ich öffne die Schere und klappe sie wieder zu. Ich schaue zögerlich zu Tom, der mich kurz ansieht und dann aufs Meer hinaus. „Wir haben einfach kein Glück bei den Weibern!“, meint er deprimiert. „Hier ist es auch nicht einfach jemanden zu finden.“ Jannes seufzt. „Da ist zwar ein Mädchen, aber ich habe bestimmt keine Chance bei ihr.“ „Vielleicht ja doch?“ Ich sehe aufmunternd zu ihm und lächele. Jannes nickt und zuckt gleichzeitig mit den Schultern. „Mal sehen...“ Ich mustere ihn und schaue dann wieder auf meinen Fund. Vielleicht sage ich es ihm lieber doch noch nicht? Muss er es überhaupt wissen? Ich schaue kurz zu Tom, der sich in den Sand gelegt hat und die Arme hinter dem Kopf verschränkt hat. Mein Blick fällt aufs Meer und kurzerhand lege ich mich ebenfalls in den warmen Sand und kurz darauf schauen wir alle drei zum Himmel hinauf, während jeder seinen eigenen Gedanken nachhängt. „Habt ihr alles?“, fragt Jannes grinsend und testet ob die Taschenlampe auch wirklich funktioniert. Das Abenteuer soll ja schließlich nicht enden bevor es überhaupt erst angefangen hat. „Klar, wir brauchen ja nicht wirklich was.“ Ich sehe zu Tom und gemeinsam mit Jannes schleichen wir uns zur Luke am Dachboden, öffnen sie und laufen barfuß die Treppe herunter. Jannes Eltern scheinen zum Glück schon zu schlafen. Wir trippeln auf Zehenspitzen zur Tür, die nicht abgeschlossen ist und verlassen das Haus. „Ihr schließt die Tür nicht ab?“, flüstere ich Jannes ins Ohr. Er runzelt die Stirn. „Wir wohnen hier am Arsch der Welt. Wer sollte hier schon einbrechen?“ „Hast Recht.“ In einer Reihe trotten wir hintereinander her. Der Wind hat sich etwas gelegt, braust uns jedoch immer noch um die Ohren. Es ist auch ein klein wenig kühler geworden. Stockduster ist die Nacht und mithilfe der Taschenlampe laufen wir über die sandige Düne. Ich spüre die Gräser an meinen Beinen und schaue in die Ferne. „Ob wir vielleicht ein paar Hexen sehen?“, fragt Jannes lachend. „Hexen?“ „Ja, angeblich heißt es sie würden über die Dünen tanzen. Vielleicht gibt es ja tatsächlich noch Hexen hier?“, vermutet Jannes. „Das hast du dir ausgedacht!“, meint Tom und gibt ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Du verrückter Spinner!“ Jannes lacht bösartig. „Muahahahaha~...“ Ich lächele und folge den beiden. Der Lichtschein der Taschenlampe huscht unkontrolliert über den Weg vor uns. Ich sehe auf das mondbeschienene Meer und höre es rauschen. „Kennt ihr die Geschichte von dem Dikjendälmann?“, fragt Jannes. „Hä? Wem? Dicker was?“ „Der Dikjendälmann!“, wiederholt Jannes belehrend und boxt Tom in die Rippen. „Wer ist das?“, frage ich meinen Cousin. Er schaut zu mir zurück, leuchtet sich ins Gesicht und schneidet dabei eine unheimliche Fratze. „Es heißt, er soll noch immer hier herumlaufen und manch einer meint ihn sogar gesehen zu haben!“ „Red' keinen Quatsch!“ Trotzdem läuft mir eine Gänsehaut über die Arme. Ich verschränke sie vor der Brust und sehe mich unsicher in der Finsternis um. „Es wird gesagt, dass er angeblich in einer Nacht im Jahr 1713 im Dünental Dikjendäl gestrandet ist. Nur er und ein Geldkasten, den er bei sich hatte. Er hat die gefährlichen Strapazen in einer stürmischen Nacht auf sich genommen und hoffte einen Landsmann zu finden, der ihm wohlgesonnen war und ihm helfen würde. Dieser arme Trottel. Strandläufer haben ihm aufgelauert. Sie hatten ihn entdeckt und auch seinen Geldkasten und sie wollten ihn haben, diese gierigen Unmenschen. Die Strandläufer schlugen den Mann zu Boden und verscharrten ihn im Sand. Der Sterbende richtete sich auf, doch diese Monster traten mit Gewalt seinen Kopf in den Grund. Sie schlugen ihm die immer wieder aufrichtende Hand ab und machten sich mit dem Geldkasten davon.“ Jannes sieht langsam von mir zu Tom. Ich schlucke nervös. „Seitdem soll er mit seinem empor gerichteten Armstumpf über das Dünental laufen. Ein Geist, der Gerechtigkeit fordert. Jede Nacht, dort wo der Mord geschah, soll er ruhelos umherwandern. Deswegen wird er der Dikjendälmann genannt.“ Wir schweigen. Nichts außer der Windbrise und dem Meer ist zu hören. „Das hast du dir ausgedacht, nicht wahr?“, frage ich lachend. Das mit den Hexen hat immerhin auch nicht gestimmt. Oder doch? „Hm, wer weiß?“ Scheinheilig lächelt Jannes mich an. „Ach was! Wer hat schon Angst vor Geistern?!“, meckere ich laut und linse trotzdem über die Düne, den Strand entlang. War da eben etwas oder habe ich mir das nur eingebildet? Man, Jannes und seine blöden Geschichten! Das sind doch alles nur dumme Ammenmärchen! Jannes leuchtet mit der Taschenlampe langsam durch die Dunkelheit. „Aber was ist, wenn es doch wahr ist? Einige meinen ihn wirklich gesehen zu haben...“ „Ach was! Die wollen doch nur angeben!“, wirft Tom aufgebracht ein. Wir laufen langsam weiter, aber mittlerweile fühle ich mich doch etwas unwohl in meiner Haut. Was ist, wenn es ihn tatsächlich gibt? Ich glaube eigentlich nicht an solchen Humbug, aber es gibt ja auch Leute, die angeben sie hätten die Geister von ihren Vorfahren oder verstorbene Familienmitglieder gesehen. Paranormale Wesen oder sonst was... „Seht ihr das?“, fragt Tom nach einiger Zeit. Ich laufe beinahe in ihn hinein, als er plötzlich abrupt stehen bleibt. „Was ist?“, fragt Jannes und auch ich sehe ihn verwundert an. „Da drüben. Da war ein Lichtschein, glaube ich.“ Tom deutet mit der Hand in die Richtung. „Ah, ja. Da hinten steht der alte Leuchtturm. Er ist verlassen, soweit ich weiß.“ Jannes deutet mit der Taschenlampe dorthin. „Sollen wir hingehen?“ „Klar, warum nicht? Oder Markus?“, meint Tom und sieht mich abwartend an. Mir ist das ganze immer noch nicht richtig geheuer, trotzdem lasse ich mir nichts anmerken und nicke entschlossen. Ich mache mir doch nicht vor den beiden in die Hose! Soweit kommt es noch! Was ist schon dabei? Es ist nur ein oller Leuchtturm. Soll der mir etwa Angst einjagen? Mit einem mulmigen Gefühl laufen wir zu dem Leuchtturm. Der Weg erscheint mir endlos lang zu sein und immer wieder sehe ich mich nervös um. Was ist, wenn der Geist doch plötzlich auftaucht? „Er ist ein Geist! Der kann mir nichts antun!“, flüstere ich gereizt. „Hast du was gesagt?“, fragt Tom und schaut zu mir. Hastig schüttele ich den Kopf und laufe an ihm vorbei. Die sollen ja nicht denken ich hätte schiss. Der Leuchtturm wird langsam immer größer, je weiter wir uns ihm nähern und auch der Lichtschein wird heller und erleuchtet nicht nur das Meer, sondern auch die unmittelbare Umgebung. In einiger Entfernung bleiben wir unschlüssig stehen. „Ist er wirklich verlassen?“, frage ich Jannes misstrauisch, woraufhin er nickt und wie gebannt den Leuchtturm anstarrt. „Kann man ihn betreten?“, will Tom neugierig wissen. „Glaub schon. Ich war da noch nie drin.“ Jannes zuckt mit den Schultern und so bleibt es eine unausgesprochene Entscheidung zwischen uns dreien, dass wir der Sache auf den Grund gehen werden. Wäre wirklich toll, wenn wir ihn betreten könnten. Ich würde zu gerne mal ganz nach oben gehen. Ist bestimmt eine tolle Aussicht. Fragt sich nur, ob wir auch bei Nacht etwas erkennen können. „Wo ist denn der Eingang?“, frage ich. Wir stehen direkt vor dem Leuchtturm und zielstrebig geht Jannes um ihn herum. Tom und ich folgen ihm. Wir bleiben vor einer rostigen Tür stehen, die schon mal bessere Tage gesehen hat. „Da ist ein Schloss vor.“ Jannes leuchtet mit der Taschenlampe darauf. „Sieht neu aus.“ „Hä? Du hast doch gesagt, dass hier keiner mehr ist.“ Stirnrunzelnd sehe ich meinen Cousin an, der den Lichtschein der Taschenlampe langsam an der Fassade nach oben gleiten lässt. „Ja, dachte ich auch...“ „Na ja, vielleicht ist hier jemand von den Feriengästen eingebrochen und hat irgendeinen Mist verzapft. Wahrscheinlich hat jemand die Tür verriegelt, damit das nicht noch mal passiert.“ Toms Vermutung klingt plausibel und macht durchaus Sinn. Ich greife nach dem Türschloss. Es liegt schwer in der Hand und ist kalt. Mein Blick fällt auf die Tür. Sie ist zwar rostig, sieht aber nicht danach aus, als würde sie irgendwann den Geist aufgeben. „Die kriegen wir nicht auf...“, murmele ich und lasse von dem Vorhängeschloss ab. „Schade, ich dachte, wir könnten mal einen Blick hinein werfen.“ „Können wir sie nicht aufbrechen?“, fragt Jannes. Überrascht sehen Tom und ich ihn an. Ausgerechnet der fromme Insulaner will etwas kriminelles machen? Tom und ich sehen uns grinsend an. Was ist schon dabei? Wahrscheinlich bekommen wir die Tür ohnehin nicht auf. Ich greife nach dem Schloss und zerre daran. Der Karabiner an der Tür ist zwar rostig, gibt aber nicht nach. Leider hat er auch keine Öffnung, so dass wir auch nicht das Vorhängeschloss entfernen können. Auch der Türgriff gibt nicht nach. Da tut sich rein gar nichts. „Für so etwas braucht man wohl einen Schneidbrenner!“, vermute ich. „Habt ihr so etwas?“, fragt Tom. Jannes wiegt den Kopf bedächtig hin und her. „Möglich. Ich bin mir nicht sicher.“ Unschlüssig stehen wir vor der Tür herum. „Und jetzt? Wir müssten den ganzen Weg zurücklaufen, um das Ding zu suchen.“ „Wir haben wohl keine andere Wahl.“ Ich sehe an dem Leuchtturm hinauf. Draußen weht etwas. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und versuche zu erkennen, um was es sich dabei handelt. Es ist nur in der Dunkelheit schwer zu erkennen. Eine Flagge? Oder ein Tuch? Dort oben scheint jedenfalls ein Fenster offen zu sein, aber es sieht nicht aus wie ein einzelner Gegenstand. „Gib mir mal die Taschenlampe!“, fordere ich Jannes auf, der sie mir nur ungern überreicht. „Mach sie nicht kaputt, Markus! Sonst bringt mein Vater mich noch um!“, raunt er mir zu. „Ja, ja, mache ich schon nicht.“ Ich halte die Taschenlampe nach oben, aber es ist schwierig etwas zu erkennen, da die Batterien bereits nachlassen und der Schein trüber wird. „Was ist da oben?“, fragt Tom und tritt neben mich. „Keine Ahnung! Ich dachte, da wäre eine Flagge oder so etwas...“, murmele ich zögernd. Der Lichtstrahl kommt nicht ganz hinauf, aber es sieht eindeutig nicht nach einer Flagge aus. „Was ist das?“ Jannes steht neben mir und wie gebannt sehen wir alle hinauf. „Jedenfalls keine Flagge, so viel ist schon mal sicher.“ „Leute, findet ihr nicht auch, dass es aussieht wie Haare?“, fragt Tom ungläubig. Jannes und ich sehen ihn verdutzt an. Ich schaue genauer hin. Tom hat Recht. Was mich irritiert hat, waren einzelne Stücke. Ich habe erst gedacht, es wäre eine zerschnittene Piratenflagge oder ein kaputtes Handtuch, aber wenn es wirklich Haare sind, dann... Ich schlucke aufgeregt. Es scheinen wirklich einzelne Haarsträhnen zu sein, die leicht vom Wind hinausgetragen werden. Ich halte die Taschenlampe mit dem ausgestrecktem Arm über meinen Kopf, um mehr erkennen zu können. Mir gefriert das Blut in den Adern. Mit schreckgeweiteten Augen sehe ich hinauf. Die Dunkelheit gibt nicht viel Preis, aber was ich sehe, lässt mich erstarren und einen Schritt zurückweichen. Ein Gesicht starrt mich an. Mit großen Augen. Die halbe Gesichtshälfte ist nicht zu erkennen, liegt in der Finsternis und es sind eindeutig Haare, die herab hängen. Ich bewege mich keinen Zentimeter vom Fleck, starre hinauf in das Gesicht und bin wie gelähmt. „Leute, das ist ein Mensch oder?“, flüstert Jannes hysterisch. Wie ein wildes Tier starrt die fremde Person auf uns herab. Der Anblick ist grauenvoll und unheimlich. Ich erschaudere, als mir eine Gänsehaut über den Körper rinnt. „L-lebt der?“, fragt Tom und greift nach dem Saum meines Shirts. Als das Fenster vom Wind gegen die Fassade des Leuchtturms schlägt, haben wir alle drei genug gesehen, regen uns und flüchten über den Strand zur Düne. Wir rennen so schnell wir können ohne uns noch einmal umzusehen. Ich spüre den Blick auf mir, habe das Gefühl irgendwo könnte noch der Dikjendälmann in der Dunkelheit um uns herum lauern und mit einem Mal möchte ich nur noch Zuhause in meinem warmen Bett liegen. Zuhause bei meiner Familie. Ich sehe die weit aufgerissenen Augen dieser Person vor meinem inneren Auge und ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Mensch noch sehr lebendig ist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)