Nach trüben Regentagen von hungrymon (... wird die Sonne einmal wieder scheinen) ================================================================================ Kapitel 3: Werde ich mein wahres Gesicht vergessen, wenn ich so tue, als ob ich stark wäre? ------------------------------------------------------------------------------------------- Am nächsten Morgen erwachte ich, wie ich schließlich eingeschlafen war. Eingerollt, an die Decke geklammert und zitternd. Es war noch stockfinster. Schlaftrunken quälte ich mich aus dem Bett und begab mich auf direktem Weg ins Bad, wo ich mich entkleidete und dann in die Dusche stieg. Ich drehte das Wasser so heiß, dass es meine Haut beinahe verbrühte und seifte mich unter laufendem Hahn ein. Umgeben von heißem Wasserdampf kam ich danach wieder aus dem Bad. Ich griff mir die nächstbeste Hose und das nächstbeste Oberteil aus meinem Schrank und ging in die Küche. Dort blickte ich auch das erste Mal auf die Uhr und stellte voller Entsetzen fest, dass es erst fünf Uhr in der Früh war. Ich hatte für den heutigen Tag die Proben auf acht Uhr angesetzt. Dennoch machte ich mich auf den Weg. Wieder zu Fuß. Ich stapfte durch den Schnee, der sich über Nacht noch dichter auf die Straßen gelegt hatte, den noch pechschwarze Himmel über mir. In unserem Proberaum angekommen, setzte ich mich erst einmal an mein Schlagzeug. Doch egal, was ich spielte, es erfüllte mich nicht. Also machte ich mich an den Papierkram, der ohnehin seit einigen Wochen überfällig war, da Reita, der eigentlich dafür zuständig war, momentan anderweitig beschäftigt war. Mit einem erschöpften Schnauben legte ich das letzte Blatt auf den großen Stapel neben mir. Geschafft. Ein Blick auf die Uhr. Noch eine ganze Stunde, dann würden die anderen kommen. Jetzt, da ich nichts mehr zu tun hatte, brachen sie wieder über mich herein. Die quälenden Gedanken, zusammen mit dem pochendem Schmerz in meiner Brust. Ich war allein, ich hatte versagt. Ich war allein, da ich versagt hatte. Ich schluckte hart, als mir die Tränen, von denen ich gedacht hatte, dass sie bereits alle vergossen waren, in die Augen stiegen. Die erste bahnte sich ihren Weg an meiner Wange entlang. Ihr folgten weitere, während ich in meiner Verzweiflung ertrank. Würde ich auf ewig so einsam bleiben? Der Schmerz nahm mir beinahe die Luft weg. Warum hatte es nur so kommen müssen? Ich spürte, wie sich meine Finger in meine Oberschenkel gruben. Was hatte ich nur falsch gemacht? Der einzige Laut in dem leeren Raum war mein leises Schluchzen. Der nervtötende Klingelton meines Handys holte mich zurück. Das Display zeigte an, dass es Aoi war, der versuchte, mich zu erreichen. 'Krieg dich wieder ein. Professionalität ist angesagt.', redete ich mir ein, nahm einen tiefen Atemzug und hob ab. „Guten Morgen, Aoi. Was gibt’s?“, meldete ich mich. „Guten Morgen, Kai. Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich wahrscheinlich etwas später kommen werde. Hab' ein wenig verschlafen, weißt du. Entschuldige.“ „Ist okay. Bis später.“ Entsetzt und enttäuscht von meiner eigenen Schwäche, wischte ich mir dir Tränen aus dem Gesicht. Meine Kollegen sollten, nein, durften mich nicht so sehen. Bald darauf kam schon Reita herein, mit einem kichernden Ruki im Schlepptau, wie so oft in letzter Zeit. 'Professionalität.' Ich erhob mich von meinem Platz und begrüßte die beiden mit einem strahlenden aufgesetzten Lächeln. Das unübersehbare Glück der beiden war das geringste Übel, das ich diesen Tag ertragen würde müssen. Als Uruha den Raum betrat festigte ich mein Lächeln und verwickelte ihn sogar in ein kurzes Gespräch über eine Choreographie für den Jubiläums-Auftritt. Doch als Aoi schließlich kam, spürte ich deutlich, wie mir die Züge entglitten. Für einen Moment herrschte komplette Stille in meinem Kopf, dann heilloses Durcheinander. Seine wundervolle Person zusammen mit den unbeschreiblichen Schmerzen brachten mich für diesen Moment an den Rand des Wahnsinns. Entweder sie hatten es nicht bemerkt oder sie sahen darüber hinweg, denn es folgte kein peinliches Schweigen. Aoi wurde von allen fröhlich begrüßt und auch ich bemühte mich: „Guten Morgen. Schön, dass du nun da bist.“ Wie sollte ich diesen Tag nur überleben? Aber ich brachte es irgendwie auf die Reihe. Irgendwie schaffte ich es, nicht vor Neid zu platzen, wenn sich die Turteltauben ihre schmachtenden Blicke zuwarfen. Irgendwie schaffte ich es, diese unbändige und doch unberechtigte Wut Uruha gegenüber zu unterdrücken. Irgendwie schaffte ich es, nicht vor Schmerz zu zergehen, wenn ich Aoi ansah oder ansprach. Und am erfolgreichsten schaffte ich es, die mitleidsvollen Blicke meiner Kollegen zu ignorieren, die ich zugeworfen bekam, wenn sie glaubten, ich sähe gerade nicht hin. Nach sechs äußerst produktiven Stunden verabschiedete ich mich von allen mit dem gleichen aufgesetzten Lächeln, mit dem ich sie begrüßt hatte, und begab mich auf den Heimweg. Das Bento, das Reita mit mir geteilt hatte, nachdem ein lautstarkes Knurren verraten hatte, dass ich noch nichts gegessen hatte, lag mir schwer im Magen. Miyavi kam gerade aus seiner Wohnung, als ich auf den Gang trat. Sofort erhellte sich sein Gesicht und er kam auf mich zu. Doch je näher er mir kam, desto düsterer wurde es wieder. „Hey, Kai. Wie geht es dir?“, fragte er und musterte mich dabei besorgt. „Gut soweit. Dir?“, gab ich automatisch zurück und wollte an ihm vorbei zu meiner Wohnung. Doch er hielt mich am Arm zurück. „Kai. Bitte. Lüg' mich nicht an.“ Ich drehte mich langsam zu ihm um. „Tu' ich nicht. Mir geht es gut.“ Die Tränen, die sich bei seinem sorgenerfüllten Blick in meinen Augen sammelten, hielt ich erfolgreich zurück. Miyavi seufzte geräuschvoll auf, ließ mich aber los. „Wenn du irgendetwas brauchst, komm zu mir, ja?“, bat er noch. Ich nickte stumm, dann ging ich. Gerade, als ich mich erschöpft in meinen Sessel fallen lassen wollte, klingelte mein Telefon. Mein Kopf voller unausgedachter Gedanken und verdrängtem Schmerz fesselte mich an Ort und Stelle. Ich wollte einfach nur allein sein. Nein! Das war eigentlich das, was ich am allerwenigsten wollte. 'Du musst dich damit abfinden und wieder aufstehen.' Das Klingeln hörte auf. Ich atmete tief ein. Nein, ich durfte nicht zulassen, dass ich an meiner Verzweiflung zugrunde ging. 'Womöglich hab ich mich auch ein wenig in die Sache hineingesteigert.' Langsam atmete ich wieder aus. Mit dem Plan, mir erst einmal etwas anständiges zu essen zu machen, ging in die Küche. Da klingelte es erneut. 'Muss wohl doch wichtig sein.', dachte ich mir und unterbrach meine Arbeit, um ans Telefon zu gehen. Ich kam nicht einmal dazu, mich zu melden. „Kai? Kai, bist du da? Es geht um Piccolo! Es geht ihm sehr schlecht!“ Meis Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. „Piccolo? Ich komme sofort!“ Alles stehen und liegen lassend schnappte ich mir meine Jacke und hetzte hinaus. In einem Affenzahn fuhr ich zum Tierheim hinüber und fiel Mei, die mich bereits erwartete beinahe in die Arme. „Komm schnell, er ist hier drüben!“ Sie zog zu dem Zwinger. Unterwegs begann sie mir zu erklären: „Wir haben keine Ahnung, was auf einmal los ist. Bis vor wenigen Stunden ging es ihm noch wirklich gut, um nicht zu sagen erstaunlich gut. Er hat brav gegessen und hat ganz vergnügt mit Jo und Hime gespielt. Aber heute nach dem Spaziergang hat er sich plötzlich in seinem Korb verkrochen und sich nicht mehr geregt. Wenn man sich ihm nähert, knurrt und schnappt er. Aber er wird immer schwächer. Ich habe bereits nach Fuyu-sensei rufen lassen, doch ich dachte mir...-“ Der Mopsrüde lag zusammengekauert und zitternd in seinem Korb. Als er mich witterte hob er ein wenig den Kopf und winselte traurig. Ich riss die Zwingertür auf und eilte zu ihm. „Piccolo! Ach, mein Kleiner. Alles wird gut. Alles wird gut.“, sprach ich ihm gut zu und und trat vorsichtig an ihn heran. Ein halbherziges Knurren kam aus seiner Kehle. Ich ging in die Hocke und streckte eine Hand nach ihm aus. Piccolo winselte. „Alles wird gut. Alles wird gut, mein Kleiner.“, sprach ich und strich ihm immer wieder über den zitternden Rumpf. Er schien sich etwas zu beruhigen. „So ist's gut.“, murmelte ich. Da erklang eine Stimme hinter mir: „Yutaka-san, darf ich Sie bitten, zurückzutreten?“ Sofort schreckte Piccolo zusammen und begann wieder leise, aber deutlich bedrohlicher zu knurren. Ich drehte mich halb um und hob meinen Kopf. „Ich glaube, er möchte, dass Kai bei ihm bleibt.“, meinte Mei. Fuyu-sensei legte die Stirn in Falten. Für einen kurzen Moment wich dem gewohnt professionellem, strengen Blick einer voller Sorge und Mitgefühl. „Dann bringen Sie ihn bitte in mein Behandlungszimmer.“, erklärte sie sich, die Augen hinter der dicken Brille zusammenkneifend, bereit. Ich nickte. „Piccolo. Du musst mir nun vertrauen.“, flüsterte ich dem zitternden Bündel zu meinen Füßen zu. Dann griff ich behutsam in den Korb und holte ihn heraus. Er wehrte sich nicht, lag ganz ruhig in meinen Armen, während Mei und ich ins in Richtung des Behandlungszimmers begaben. „Legen Sie ihn einfach auf den Tisch.“, wies mich die Tierärztin an. Ich tat, wie mir geheißen. „Dann wollen wir mal sehen...“, nuschelte Fuyu-sensei und trat an den Tisch heran. „Mein Kleiner. Du musst nun ganz stark sein. Aber ich bin bei dir.“, versprach ich ihm und strich ihm ein letztes Mal über den Kopf. Der Kleine blickte mich aus ängstlichen Augen an, doch er wehrte sich nicht, als ihn die Tierärztin mit ihren behandschuhten Fingern abtastete. Voller Ungeduld folgte ich ihren Bewegungen. „Und?“ „Ich befürchte, die Medikamente haben doch nicht so gut gewirkt, wie wir gedacht haben.“ „Was heißt das?“ „Ich habe die Befürchtung, dass sich einige Metastasen in seinem Bauchraum gebildet haben und so die Funktionen einiger Organe einschränken. Genaueres ließe sich nach einer ausführlichen Untersuchung feststellen, doch...“ Die ältere Frau warf mir einen unsicheren Blick zu. „... das wären nur viele unnötige Stunden der Schmerzen für das Tier. Es mag hart klingen, doch wir können in diesem Zustand kaum mehr für ihn tun, als ihm möglichst Schmerzen zu ersparen und ihm noch eine schöne Zeit zu machen.“ „Also gibt es gar keine Hoffnung?“, fragte ich. Doch ich musste Fuyu-senseis bedauerndes Kopfschütteln gar nicht sehen. Natürlich nicht. So etwas wie Hoffnung hatte es doch nie gegeben. Meine nächste Frage war nicht mehr als ein Flüstern: „Wie lange noch?“ Da zuckte die Ärztin mit den Schultern. „Heute in der Früh noch gab ich ihm noch über einen Monat. Doch nun... eine Woche? Vielleicht auch zwei.“ Ich blickte hinunter zu Piccolo, der sich erschöpft hechelnd und zitternd auf dem Behandlungstisch wand. Und erneut traten mir die Tränen in die Augen. Der kleine Hund sah mich aus seinen großen, braunen Augen an und winselte kläglich. Schluckend legte ich ihm eine Hand auf den Bauch und streichelte ihn sanft. „Mein Kleiner, ach mein süßer, kleiner Piccolo. Alles wird gut. Alles wird gut.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)