Anathema von Sonnenprinzessin ================================================================================ Kapitel 1: Anathema ------------------- Anathema Der Regen war sein Anathema. Jedes Mal, wenn es anfing, zu regnen, fühlte er sich verflucht und deprimiert, weil, während diese kalten Tropfen runter prasselten, er an all das Schlechte und all das, was in seinem Leben je schiefgelaufen war, erinnert wurde. Die frühste Erinnerung stammt aus seinen Kindheitsjahren, damals hatten er und seine Familie in einem kleinen Städtchen nahe Moskau gelebt. Er musste gerade mal was... sechs?, gewesen sein. Vielleicht auch sieben. Es hatte am Bahnhof stattgefunden, seine Mutter und er standen am Gleis und warteten auf den Zug. Das Gesicht der jungen Frau, die neben ihnen gestanden hatte, war in sein Gedächtnis eingebrannt - sie war hübsch gewesen. Er erinnerte sich sehr gut an ihr Gesicht, erinnerte sich sehr gut an die stummen Tränen, die ihre Wangen runter liefen. Es hatte geregnet und sie suchte keinen Schutz unter dem Glas der Überdachung, wie es alle anderen taten. Sie hatte dort draußen im kalten Regen gestanden und doch hatte er in seiner kindlichen Verständnis längst und vor allen anderen begriffen, dass sie weinte und unglücklich war. Etwas, um das sich niemand anderes zu sorgen schien... Sie alle hatten nur dann angefangen zu kreischen und schreien, als der Zug ankam, und sie alle hatten sie nur dann bemerkt, als die Bremsen ohrenbetäubend quietschten und es zu spät war für die junge, traurige Frau, die sich auf die Gleise fallen gelassen hatte. Menschen waren ignorant... aber er nahm es ihnen nicht übel. Er war genauso. Wie viele Male war er vorbeigegangen an Situationen, die sich durch sein Eingreifen vielleicht zu Besserem gewendet hätten? Gleichwohl hatte er sie einfach ignoriert. So war es viel einfacher, nicht wahr? Zu leben. Seine erste Tracht Prügel hatte er ebenfalls an einem Regentag kassiert. Er war schon immer ein kluger Bursche gewesen und damals hatte er auch eine große Klappe gehabt, weil es der einzige Weg war, sich Respekt zu verschaffen. Nicht immer natürlich und in der achten Klasse brachte ihm sein freches Mundwerk ziemlichen Ärger mit ein paar Zehntklässlern ein. Er erinnerte sich gut daran, wie das Regenwasser auf den Wunden brannte, auf der aufgeschürften Haut und den geplatzten Lippen, und auch wie glitschig sich der Bürgersteig unter seinen Händen angefühlt hatte. Es hatte auch an den darauf folgenden Tagen geregnet, den Tagen, die er auf dem Krankenhausbett verbrachte, seine wochenlange Genesung begleitet von dem sanften Weinen seiner gutherzigen Mutter und den bösen Blicken seines strengen Vaters, wenn sie zu Besuch kamen. Eltern, die ihre Kinder verstanden, waren eine Seltenheit... aber er nahm ihnen das nicht übel. Wie oft hatte er selbst denn schon offene und ehrliche Gespräche mit ihnen gesucht, anstatt sich zu verstecken und zu versuchen, mit allem alleine klar zu kommen? Es war nicht ihre Schuld. Ebenfalls gut erinnerte er sich an die Beerdigung seines damals besten Freundes kaum ein Jahr später. Eines Tages ging er Alex besuchen, so wie er es schon oft getan hatte, um einen verregneten Abend mit obligatorischem Lernen und den bei Weitem viel spannenden Videospielen zu verbringen. Er erinnerte sich auch an Alexejs Mutter sehr gut, eine ewig blasse und sehr liebenswürdige Frau. Sie hatte ihn rein gelassen und er ging nach oben, zweiter Stock, dritte Tür links: Alex' Zimmer. Er stieß die Tür auf und verharrte im Türrahmen, ausdrucklos geradeausstarrend für einen sehr langen, sehr stillen Moment. Alles, was er in seinen Ohren hallen hörte, war das stetige Trommeln der Regentropfen gegen das Dach und die Fenster. Ein grausamer Soundtrack zu dem Bild des toten Körpers, der von der Decke runter hing. Das Gesicht ganz blau und die Augen, die beinahe aus ihren Sohlen herauszufallen schienen, der Mund geöffnet in einer grotesken Grimasse. Er hatte einen Brief zurückgelassen... Später hatte er dort gestanden in der trauernden Menge, an dem verregneten Tag der Beerdigung, und dachte über all die Tage nach, die er mit Alex verbracht hatte. Nicht ein einziges Mal hatte er auch nur etwas von dem Missbrauch gemerkt, den sein Freund in all der grausamen Ausführlichkeit in seinem Abschiedsbrief beschrieb. Der Vater war doch stets so freundlich erschienen... Wie oft musste es passiert sein, nachts hinter geschlossenen Türen? Wahrscheinlich hatte es dann auch geregnet... Ob er sich schuldig fühlte, wusste er nicht. Er nahm es sich selbst nicht übel, dass er es nie gemerkt hatte, aber er fand es auch nicht okay. Er wusste nur, dass dieses dumpfe, undefinierbare Gefühl immer einfach hochkam, wenn es regnete. Von der Frau auf dem Bahnhof über die eingesteckte Prügel in der Seitenstraße bis zu der von der Decke schwingenden Leiche und dem Klagegesang der Beerdigung. Das waren nur die Highlights. Zwischendurch blitzten viele andere Erinnerungen auf. Seine erste Freundin und das Schlamassel ihrer Trennung, seine endlosen Streitereien mit seinem Vater, sein erster Freund und das Schlamassel ihrer Trennung, die Auseinandersetzungen mit einem Haufen anderer Menschen, die im Laufe seinen Lebens passiert waren. Sein Großvater. Tala und die Demolition Boys. Black Dranzer. Biovolt. Die Abtei. Sogar verliebt hatte er sich an einem verregneten Tag. Ehrlich und hoffnungslos und unglücklich verliebt, zum allerersten Mal. Das Gefühl hatte Jahre gebraucht, um sich ernsthaft zu entwickeln aber die Erlangung der Erkenntnis an sich hatte dann nur wenige Monate gedauert. Und jetzt schleppte er diese Emotionen, von denen niemand wusste, mit sich rum, egal wohin er ging. Er hatte gute Freunde, enge Freunde, doch auch sie wussten nichts davon. Absolut gar nichts. Sie trainierten gemeinsam, lachten gemeinsam, gewannen Tourniere gemeinsam... aber sein Anathema und dessen Last waren sein allein. Er fragte sich manchmal, ob Alex sich genauso gefühlt hatte, auch wenn dessen Geheimnis ein viel düstereres gewesen war. Jeder führte seine persönlichen Kämpfe, von denen er meinte, dass er sie allein bestreiten musste, nicht wahr? Einige taten es, weil sie es nicht besser wussten. Andere, weil sie keine Wahl hatten. Zu welcher Gruppe gehörte er? Heute regnete es ebenfalls in Strömen und alleine in seinem trist- und leer erscheinendem Schlafzimmer zu bleiben wurde von Minute zu Minute unerträglicher. Den Taktschlägen des runterfallenden Wassers zuzuhören, während all diese Gedanken in seinem Kopf rumschwirrten... all diese höchst toxischen Erinnerungen. Also verließ er das Apartment. Ging raus so wie er war, in seinen dunkelblauen Jeans und dem weißen Hemd mit dem ordentlich gebügelten Kragen, hatte dabei seine Regenjacke und den Regenschirm außer Acht und vergessen zu Hause gelassen. Sobald er draußen war, durchnässte ihn der Regen innerhalb von Sekunden, vom silber-blauen Haarschopf bis zu jedem Stück Haut, dass nicht unter wasserfestem Stoff versteckt war und das war in diesem Falle, nun... sein gesamter Körper. Schlicht gekleidet und ohne die übliche Bemalung im Gesicht war er nur ein weiteres unbekanntes Gesicht in den Menschenmengen. Die meisten nahmen überhaupt keine Notiz von ihm, andere streiften ihn mit flüchtigen, halb-neugierigen Blicken ob der Tatsache, dass er schutzlos durch den Regen wanderte, doch dort gipfelte ihr Interesse, bevor sie weiter ihrem Weg entlang hasteten, wohin dieser auch immer zu führen vermochte. Wahrscheinlich raus aus dem Regen, zu irgendeinem Ort, wo es warm und trocken war. Sie sorgten sich nicht um ihn und er sorgte sich nicht um sie. Obschon er vielleicht eines mit den meisten von ihnen gemeinsam hatte. Er wollte, dass der Regen aufhört. Regen war sein Anathema. Nicht ein einziges Mal in seinem ganzen Leben war irgendetwas Gutes an einem Regentag passiert. Insofern hegte er auch für heute keine Hoffnungen oder Erwartungen. Deswegen, wenn plötzlich jemand seinen Namen rief, war er fast dazu geneigt zu glauben, dass sie jemand anderen ansprachen, wäre da nicht der schlichte Fakt, das die Stimme eine sehr vertraute war. "Kai?" Er hielt an, drehte sich jedoch nicht sofort um. Er war ohne Ziel gewandert und auch ohne sich großartig umzusehen. Er hatte einfach nur vor die eigenen Füße geschaut, wie sie einen Schritt nach dem anderen machten, demzufolge hatte er auch gar nicht gemerkt, dass sie ihn nahe dem Stadtzentrum getragen hatten. Geschäfte und Cafés überall, Menschen en masse und genauso farbenfroh angezogen, wie das Meer aus Regenschirmen über ihren Köpfen. Eins solcher Regenschirme von sanftgrauem Farbton erschien plötzlich über seinem Kopf. Kai wandte selbigen zu dem Besitzer des Regenschirms und rang sich ein leichtes Lächeln ab. "Hey... Ich habe nicht gedacht, dass ich heute um diese Uhrzeit und bei dem Wetter draußen ein bekanntes Gesicht antreffe." Es wurde langsam dunkel und die Zeiger näherten sich der Zahl Neun auf dem Ziffernblatt. Sein Gegenüber lächelte ebenfalls, unbeschwert und ausgelassen wie immer, obzwar er seiner Gesamtverfassung gegenüber durchaus nicht blind war. Es kam jedoch kein Kommentar dazu, lediglich ein Nicken in Richtung des Cafés, vor dem sie standen. "Ich hab dich durchs Fenster gesehen. War mir zuerst auch fast nicht sicher, ob's wirklich du warst." Kai blickte kurz durch den verglasten Teil der Wand in das nette Ambiente dahinter. Es sah gemütlich aus, mit gedämmten Licht und kleinen Tischen, auf denen mittig platziert Teelichter in feinen Väschen brannten. Hinter einen von diesen Tischen sah er eine junge Frau, die er recht schnell erkannte und genauso schnell wandte er seinen Blick wieder ab. "Deine Cousine ist zu Besuch?" Super. Jetzt dachte sie sicherlich, dass er ein Spinner war, der ziel- und schutzlos im Regen herumvagabundierte. Er hatte sie nur ein paar Mal getroffen, denn auch wenn sie es nicht immer schaffte, versuchte sie bei großen Turnieren da zu sein, um ihren Cousin und sein Team anzufeuern. Kai wusste, wie viel es dem Jungen vor ihm bedeutete. "Yep. Sie war in der Gegend und hat die extra zwei Stunden Busfahrt auf sich genommen, um vorbeizuschauen. Das letzte Tournament liegt immerhin schon fast ein halbes Jahr zurück, also hatten wir uns so einiges zu erzählen. Willst du mit rein kommen und uns Gesellschaft leisten?" Dranzers Meister schüttelte kurz den Kopf. "Nein, ist schon gut. Außerdem..." Er schaute zur wortloser Emphase kurz an sich runter. Durchnässt von Kopf bis Fuß war er sicherlich nicht der meisterwünschte Kunde. "Ich... lauf einfach mal weiter." Woandershin. Irgendwohin. "Wohin bist du denn unterwegs?" Er zuckte kurz die Schultern und versuchte, sorglos zu klingen. "Nicht wirklich irgendwohin. Einfach nur... ein kleiner Spaziergang, schätze ich." Er fühlte den prüfenden Blick auf sich und es bereitete ihm Unbehagen. Als könne der Andere geradewegs durch seine hauchdünne Fassade, die er vor sich aufzurichten versuchte, hindurchsehen. "Weißt du was? Gib mir 'ne Minute. Ich verabschiede mich kurz von Sayu und dann gehen wir zu mir." Sein Herz setzte kurz aus und seine Hand schnellte vor, um den Jüngeren am Arm zu erwischen und ihn in seinem Vorhaben zu hindern. "Takao, warte, das brauchst du nicht. Es ist alles gut, wirklich." Verdammt, er hätte Zuhause bleiben sollen. Er hätte wissen müssen, dass von einem Regentag nichts Gutes kommen würde. Für einen kurzen Moment zogen sich jene Gesichtszüge zu einem ernsten Ausdruck zusammen. "Kai, es wird dunkel, es ist kalt und du bist bis auf die Knochen durchnässt." Damit schien die aufkeimende Diskussion auch schon beendet zu sein und Kai konnte sich kein wirkliches Konterargument abgewinnen. Vielleicht... wollte er es irgendwo auch einfach nicht. Und jetzt wo seine Sinne sich langsam wieder zurückmeldeten, bemerkte er doch, dass er fror und sich allgemein ziemlich elend fühlte. Mit einem milden Grinsen drückte Takao ihm den Regenschirmgriff in die Hand. "Lauf mir nicht weg, ja?" Das quittierte Kai mit einem milden, obligatorischen Stirnrunzeln, zusehend wie sein Teamkollege zurück ins Café huschte. Er schaute durch das tadellos klare Glass zu, wie der Andere neben dem Tisch anhielt und seiner Cousine in einem für den Kapitän unhörbaren Dialog kurz die Situation schilderte. Sie nickte und blickte kurz zum Fenster, um ihm, der auf der anderen Seite stand, ein sanftes Lächeln zu schenken. Sie hatte ein schönes Lächeln, merkte er für sich nebenbei an, und erwiderte es mit einem verhaltenen Anheben der eigenen Mundwinkel. Sie wandte sich dann ihrem Cousin zu und stand auf, um ihm eine warme Umarmung und einen Kuss auf die Wange zu geben. Kai wusste nicht, warum, aber beim Anblick jenes liebeswürdigen Bildes zog sich sein Herz gepeinigt zusammen. Er drehte sich weg und starrte stattdessen unbewegt in die Ferne. Der Regen hörte nicht auf. Raus aus dem Café und mit seiner Jacke in der Hand, fand Takao seinen Freund genauso vor: mit einem geistesabwesenden Blick und eher abgesenkten Schultern dastehend, nasse Haare im Gesicht und nasse Kleidung am Körper, und irgendwie sah er fast schon... verlassen aus. Er trat näher und berührte den jungen Russen leicht an dem strammen Oberarm, was Kai aus seiner momentan ziemlich schwermütigen Gedankenwelt holte. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Hände von der Kälte ganz leicht zitterten. "Lass uns gehen. Das schöne, warme Dojo ist nicht weit!" Mit diesen aufheiternden Worten nahm Takao den Regenschirm wieder an sich. Das Problem, welches dadurch entstand, leuchtete Kai ein erst nachdem besagtes Objekt die Besitzer gewechselt hatte. Ein Regenschirm, zwei Leute. Jetzt duften sie also wie ein kleines Pärchen durch die Straßen latschen... auch wenn er wusste, dass das nur seine verzerrte Wahrnehmung war. Immerhin... Er schielte kurz zu dem jüngeren Blader, der sich an der Aussicht herzlich wenig zu stören schien und munter vorwärts schritt, während Kai für den Augenblick einfach stehen blieb. Takao warf einen Blick über die eigene Schulter und zog eine Augenbraue hoch. "Was ist? Komm schon." Etwas an dem Lächeln, welches sich just dann auf die Lippen des Jüngeren legte, war... merkwürdig. Nicht in einem negativen Sinne, eher... es war gleichzeitig einladend und enigmatisch. Doch vielleicht war auch das nur einmal mehr Kais verzerrte Wahrnehmung. Immerhin... Er schüttelte kurz den Kopf und somit auch die unwillkommenen Ideen, die er sowieso nicht einmal haben sollte, ab. Er setzte zum Gehen an und schritt bald wortlos neben seinem langjährigen Freund, unter dem schützenden Material über ihren Köpfen. Sie waren nah, so nah, dass sich manchmal ihre Arme berührten, was er geflissentlich zu ignorieren versuchte. Er hatte nicht erwartet, an diesem tristen Tag in jemanden, den er kannte, rein zu rennen. Mehr noch... Es hatte unbedingt Takao sein müssen. Keiner von ihnen sagte etwas, nicht, dass Kai gar wüsste, was er überhaupt sagen sollte. Diese ganze Situation war... Er unterdrückte ein Seufzen. Sein Geist wurde bereits von drückenden Erinnerungen geplagt, obendrauf wurde jetzt noch sein Herz von drückenden Gefühlen gelastet. Nichtsdestotrotz war ein Teil von ihm eigentlich... dankbar. Für die Gesellschaft, fürs Nichtalleinsein. An Tagen wie diesen wollte er Gesellschaft. Nur, dass er nie diesem Wunsch entsprechend handelte, weil... vielleicht fürchtete er, nicht verstanden zu werden. Vielleicht wollte er nicht verstanden werden. Oder vielleicht wollte er das Verständnis von nur einem Menschen. Er wollte nicht, dass mehrere Leute alles über ihn wussten, oder ihn verstanden oder ihm Geborgenheit schenkten. Einer würde reichen. Nur einer. Es dauerte nicht lange, bis sie am Dojo ankamen, wo er prompt mit einem Sportanzug versorgt und ins Gastbadezimmer gescheucht wurde. Der Anzug gehörte anscheinend Hiroshi, Takaos älterem Bruder, der mal wieder ins Ausland verreist war und die Klamotten sicherlich nicht missen würde. Sie waren zwar eine Nummer zu groß, das störte Kai aber recht wenig, vielmehr machte es sie eigentlich noch bequemer im Tragen. Er ließ sich nicht allzu viel Zeit unter der heißen Dusche und schritt wenig später ins Wohnzimmer. Der Grund dafür war der Kamin, der sich dort befand - zwar würde er es nie offen zugeben, aber genau das mochte er an Takaos Zuhause am meisten. Er wusste nicht, ob das Feuer schon länger brannte oder ob sein Gastgeber fürsorglich genug gewesen war, es extra anzuzünden, denn irgendwo hatte Kai das Gefühl, dass ihr Mannschaftswirbelwind seiner geheimen Vorliebe auf die Schliche gekommen war. Wie dem auch sei, Kai ließ sich auf die Couch nieder und kuschelte sich in die Ecke dieser ein, um das Frohlocken der Flammen zu beobachten. Es hatte eine beruhigende und entspannende Wirkung auf ihn, als ob die kleinen Feuerzungen für eine kleine Weile auch alle unangenehmen Gedanken und Gefühle wegleckten. Das leise Knistern des brennenden Holzes überschattete zu einem gewissen Grad das stetige Prasseln des Wassers draußen vor den Fenstern und alles in allem erschien das Ende dieses Abends nicht ganz so schlecht. Soweit. "Hab mir schon gedacht, dass ich dich hier finden würde." Die von sanfter Belustigung untermalte Stimme, die erklang, holte ihn - abermals - aus seinen trägen Denkereien und sein Blick wanderte zur Seite, wo Takao gerade neben ihm Platz auf dem Sofa nahm. Sein Freund und Teamkollege hatte anscheinend auch ein kleines Badeabenteuer hinter sich gebracht, seine nachblauen Haare waren nass und im üblichen Zopf zusammengehalten, auch wenn die heißgeliebte Kopfbedeckung absent war. Leger mit einfacher Hose und Shirt bekleidet, sah er irgendwie, auf eine ganz simple und natürliche Weise... anziehend aus. Schon wieder. Gedanken, die er gar nicht haben sollte. Kai unterdrückte abermals ein geschlagenes Seufzen. Es war echt hoffnungslos, huh...? Er wandte seinen Blick ab und fixierte ihn wieder auf das Feuer. "Und... wirst du nicht nachforschen?" Auf diese leise gestellte Frage erhielt er eine sanftmütige Antwort: "Möchtest du, dass ich es tue?" Wollte er das? Kai wusste es nicht. Es war ein inneres Tauziehen; er wollte darüber reden doch gleichzeitig... gab es diese Blockade tief drin, die so schwer zu überwinden war. War es wirklich so wichtig, zu teilen? Er wollte nicht, dass es einfach irgendjemand wusste. Das war nicht genug, er traute nicht soeben irgendjemandem, es zu wissen. Doch Takao war nicht einfach nur irgendjemand... oder so wollte Kais Herz ihn glauben lassen. Das Problem war... Kai traute auch seinem eigenen Herzen nur sehr selten. "Ich weiß es nicht," entgegnete er schließlich sachte und ehrlich. Takao drehte sich etwas seitlich, um den älteren Blader besser sehen zu können, ungeachtet dessen, dass Kai stur weiter geradeaus in die fröhlich lodernden Flammen blickte. "Dann lass es uns herausfinden." Den Ellenbogen auf die Rückenlehne abstützend lehnte er seinen Kopf gegen die leicht angewinkelten Finger seiner Hand. "Warum bist du heute draußen im Regen herumgewandert, Kai?" Es war eine ernst gemeinte Frage, jedoch hatte es irgendetwas an sich... einen gewissen Unterton, teilnahmsvoll und warm. Fürsorglich. Takao sorgte sich. Kai wusste nicht, ob es die Atmosphäre war oder genau dieser eine Unterton, der ihn dazu ermuntert hatte... doch nach einer kleinen Pause... fing er an, zu sprechen, bedacht und leise und etwas distanziert, als wären die Erinnerungen gar nicht seine eigenen. Er erzählte es dem Anderen. Alles. Über den Regen und dessen Anathema, über die Frau am Bahnhof, über die Schlägerei in der Gasse und Alexejs Beerdigung. Über den Brief und die Wahrheit. Über die schlimmen Dinge, die immer an regnerischen Tagen passierten, über die Erinnerungen, die sich in jedem Tropfen versteckten, in dem bloßen Geräusch des runterfallenden Wassers, als es vom Himmel auf die Erde stürzte. Konnte man es 'sich öffnen' nennen? Er wusste es nicht. Er wusste auch nicht, ob er sich nun - danach - unbedingt besser fühlte. Eher einfach nur... erschöpft. Er fühlte sich müde. Als ob das ständige Herumtragen dieses Gewichts, welches über Jahre hinweg mit jedem neuen unglücklichen Ereignis schwerer und schwerer wurde, ihn komplett ausgelaugt hätte. Ein langer Moment der Stille legte sich um sie, bis Takaos Stimme einen leisen, ernüchternden Satz erklingen ließ: "Ich habe das alles nie über dich gewusst..." All die Jahre, in denen sie sich gekannt, zusammen Abenteuer erlebt und alle Art Kämpfe bestanden hatten, hätte er sich nie vorgestellt, wie viele dunkle Flecken sich auf dem Ölgemälde von Kais Lebens befanden. Sicherlich wusste er Bescheid um das Gröbste und Wichtigste, was sich nicht wirklich verbergen ließ, wie die Sachen mit seinem Großvater, Biovolt und der Abtei. Natürlich hatte er sich das ein oder andere mehr oder minder gedacht, insbesondere in Anbetracht von Kais Charakter und Verhaltensweise, der Verschlossenheit und des unbeugsamen Stolzes, des Willen, alles alleine zu schaffen und zu überwinden. Aber etwas vermuten und es wirklich von der Person zu hören... waren zwei grundverschiedene Dinge. Ein etwas bitterliches Lächeln umspielte Kais Lippen. "Es gibt immer noch eine ganze Menge Dinge, die du von mir nicht weißt." Den Kopf gesenkt, schüttelte er diesen leicht - fast schon verzagt. War es überhaupt möglich für jemanden, jemand anderen komplett und gänzlich zu kennen, zu verstehen? Sogar Freunde, die jahrelang fast jeden Tag miteinander verbrachten und Familien, die Ewigkeiten unter dem selben Dach lebten, konnten völlig blind gegenüber Sachen sein, die direkt unter ihrer Nase passierten. War Alex nicht dessen bestes Beispiel? "Nicht zu glauben, dass ich heute ausgerechnet dir begegnen würde," sinnierte er leise heraus, immer noch fixiert auf das Feuer vor ihm, die Flammen, die das Rubinrot seiner Augen untermalten und noch kräftiger erscheinen ließen. "Das Leben schikaniert mich wirklich gern. Und es regnet... also habe ich keine großen Hoffnungen, dass das hier gut geht." Takao zog leicht die Augenbrauen zusammen, mehr aus Neugierde denn Verwirrung. "Dass was gut geht?" Er spürte beinahe schon, worum es hier gehen könnte, jedoch wagte er es nicht, irgendwelche Vermutungen anzustellen. Letztendlich drehte Kai sich zu ihm, um ihn anzuschauen und trotz all der Dinge, die er gerade von sich preisgegeben hatte - oder vielleicht gerade wegen ihnen - erschien Dranzers Meister gleichzeitig so stark und so... verwundbar. Etwas, was Kai wahrscheinlich nicht mal leugnen würde. Er war stark angesichts der Herausforderungen, die das Leben ihm ständig entgegen schleuderte, doch er verwundbar in ihren Nachwirkungen. Er benötigte keine Hilfe, wenn er seine Kämpfe ausfocht... doch das hieß nicht, dass er auch danach keinen Rückhalt brauchte. Etwas, das die Stärke wieder aufbauen und eine kleine Zuflucht sein würde, wo er sich erholen und die Wunden der gewonnen Schlacht verheilen lassen konnte. So oder so, er hatte noch nie einen Rückzieher gemacht und das Hier und Jetzt war nicht anders. Also flüsterte er ein sanftes "Das..." in einer etwas verspäteten Replik, lehnte sich vor und neigte den Kopf in dem einen perfekten Winkel, während seine Augen sich ganz von alleine schlossen ob der warmen, bedächtigen Berührung ihrer beider Lippenpaare. Er hielt den Atem an, als könne dies den Moment einfrieren, als könne es festhalten die Art und Weise, wie sein Herz raste und das Kribbeln, das sich durch sein gesamtes Sein verbreitete. Simpel und wunderschön; ganz gleich welche Konsequenzen seine Handlung zu haben vermochte, er war dankbar für diesen einen, einzigen Augenblick. Wie lange es andauerte, wusste er nicht, bis der Atemzug, den er in seiner Brust versiegelt hielt, dieser behutsam und zittrig entfloh, als er diese arglose Berührung löste. Seine Erwartungen hinsichtlich der Auswirkungen seiner wagemutigen Handlung rangierten zwischen unangenehmer Stille und einem möglichen Schlag ins Gesicht und in allen Fällen zog er es vor, seine Augen geschlossen zu halten, die innere Aufruhr herunterzuschlucken und zu warten. Das, was er nach einigen starken, wilden Herzschlägen fühlte, war die vorsichtige Berührung weicher Fingerkuppen auf seinem Gesicht, just an seiner Kinnpartie. Sie strichen behutsam höher, bis die dazugehörige, warme Handfläche sich an seine Wange schmiegte und ihn sachte einem weiteren Kuss entgegen zog. Einen Moment lang war er ziemlich perplex, als er einmal mehr die weiche Textur jener Lippen an den seinigen spürte. Das Netz aus halbmondförmigen Wimpern flatterte einen Spalt auseinander, um ihn einen Blick auf das hübsche Antlitz, das so nah war, zu gewähren. Jene rehbraunen Augen waren ebenfalls nur einen kleinen Spalt geöffnet und was auch immer er in den unergründlichen Tiefen dieser dunklen Iriden spiegeln sah, ließ ihn die eigenen Augen wieder schließen. Damit erlaubte er es sich, diesen zweiten Kuss vollends zu genießen und sich gänzlich auf das wundersame Gefühl zu konzentrieren, welches es in ihm auslöste. Er spürte Takaos freie Hand, die sich leicht gegen seine Brust stemmte und die langen Finger, die sich sachte in dem Stoff auf dieser verkrallten, um Kai instinktiv und kaum merklich noch näher an sich zu ziehen. Und er wollte es, diese Wärme, die jede Faser seines Daseins umhüllte und alle Gedanken zum Verstummen brachte, bis sie zu nichts mehr als einer flauschiger, verwischt Unklarheit verschwammen und sich letztendlich gänzlich auflösten. Draußen rieselten die Wassermassen immer noch in Strömen vom nächtlichen Himmel herunter... und zum ersten Mal in seinem Leben konnte Kai sie weder bemerken noch beachten. Der Regen war sein Anathema, doch heute... war der Fluch vielleicht endlich gebrochen worden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)