Ohne Titel von Momachita (Tänzer und Fotograf) ================================================================================ Kapitel 1: Ballet Blanc ----------------------- Wie das grelle Licht der Scheinwerfer den Schatten an die Wand wirft – perfekt. Der Schattenriss auf dem grauen Beton zeigt den Körper des Tänzers in einer femininen, hochgestreckten Pose. Die Finger sind geradlinig nach oben gebogen, sehen locker aus und sind doch voll Spannung. Ein Bein ist angewinkelt, auf dem anderen steht er nur noch auf dem Ballen. Durchbrochen wird das Schattenbild des schlanken, langgezogene Körpers von dem in 90 Grad abstehenden klassischen Ballett-Rock aus weißem Tüll. So wie seine Haut angestrahlt wird, hebt sich das Tutu kaum von der fein definierten, hellen Haut des Tänzers ab. Juliens Herz schlägt fest gegen seine Brust bei diesem Anblick. Es ist genau das Motiv, das er haben wollte. „Bleib genau so“, sagt er ganz leise, hebt den Sucher der Kamera vor sein Auge und drückt ab. *~* „Er schießt nicht nur ein Bild. Er fängt die Szene ein, die Atmosphäre. Die Intimität des Augenblicks. Er liebt das Spiel zwischen Licht und Schatten und genau das bringt er zum Ausdruck. Blumenfeld hat keine Scheu davor, Grenzen zu durchbrechen, Konventionen hinter sich zu lassen und Neues auszuprobieren.“ Der älternde Kunsthistoriker für Fotografie ließ mit einem lauten Klicken das Licht im Saal wieder angehen. Die an die Wand geworfene Projektion eines Fotos von Erwin Blumenfeld verblasste. Man erkannte nur noch grob die letzten Striche des Bildes, das die geschminkte Augen- und Lippenpartie einer Frau darstellte. „Für Ihr nächstes Projekt erwarte ich von Ihnen den Einsatz, den Erwin Blumenfeld zu seinen Lebzeiten an den Tag gelegt hat. Ich möchte, dass Sie sich nicht nur des Endprodukts gewahr sind, wenn Sie ein Foto für unsere kommende Ausstellung schießen. Kosten Sie den Moment, in dem Sie das Foto schießen, voll aus. Seien Sie sich des Augenblicks bewusst. Machen Sie nicht nur eine Kopie dessen, was Sie sehen, sondern versuchen Sie dem Motiv Leben einzuhauchen.“ Herr Auerbach machte eine bedeutungsschwangere Pause und schaute vielsagend in die Runde von Studenten, die ihm (mehr oder weniger) alle mit großer Aufmerksamkeit gelauscht hatten. Als er die Wichtigkeit seiner Worte in den Augen seiner Zuhörer bestätigt sah (zumeist nur eine kleine Einbildung seinerseits, aber keiner der Studenten würde jemals versuchen ihm auszureden, seine Worte wären nicht die Lebensweisheiten nach denen sie ihre Bestimmung richteten), ordnete er die vor ihm ausgebreiteten Papiere wieder zusammen und steckte sie vorsichtig in seine abgewätzte Ledertasche. „Das Thema der kommenden Ausstellung wird 'Bei Nacht' heißen. Reichen Sie Ihre Beiträge bis zum 30. April bei mir ein.“ Damit war die Vorlesung beendet. „Wie der Auerbach sich immer so begeistert. Ist ja richtig süß.“ Pascal nahm einen Schluck von dem nach Brackwasser schmeckenden Automatenkaffee und lächelte dabei seinen Freund so süffisant an, als koste er das feinste Arabica-Gebräu, während er völlig hingerissen von dem Mitte 50 Jährigen Fotografie-Dozenten schwärmte. Julien sparte sich das Augenrollen. In Pascals Anwesenheit würde er es andernfalls so oft tun, bis er Kopfschmerzen bekäme. Und das schaffte er meist auch schon ohne zusätzliche Hilfe. Schon mehr als einmal hatte ihm das Verhalten seines besten Freundes Kopfzerbrechen bereitet. „Findest du es nicht auch sexy, wenn er sich erst mal in Rage redet? Dann blitzen seine Augen immer so ungestüm hinter seinen Brillengläsern auf.“ Julien hätte vielleicht einfach verneint, denn er konnte der dick eingefassten Brille und Herrn Auerbachs dahinterliegenden schwammigen blauen Augen tatsächlich nichts abgewinnen, aber stattdessen versuchte er weiterhin die Worte seines Freundes einfach zu ignorieren. „Ich stell's mir heiß vor, wenn er dich so ansieht, während er langsam seine Kleidung abstreift...“ (Die üblicherweise karierte Stoffhose und den obligatorischen Künstlerpulli mit Rollkragen.) „Und wenn er sich dann zu dir herabbeugt, die Brille absetzt und dir ins Ohr seufzt, dass du ihn endlich ficken sollst...“ „Oh bitte, Pascal“ Julien warf seine Tasche über die Schulter und beachtete seinen Freund endlich, der wohl nie aufhören würde, in einem Fort über Herrn Auerbach zu reden, wenn er ihn nicht davon abhalten würde. „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Herr Auerbach? Wirklich?“ Pascal grinste. „Und ob es mein Ernst ist.“ Die beiden setzten sich in Bewegung, auf zur nächsten Vorlesung. „Hat dir der junge Gastdozent kürzlich nicht gereicht? Willst du den Job eines festangestellten Mitglieds der Fakultät ruinieren? Wenn das rauskommt...“ „Wird es nicht, mein viel zu besorgter Freund. Wird es schon nicht.“ Pascal ließ den noch immer halbvollen Plastikbecher achtlos in den nächsten Mülleimer fallen. „Ich bin der Meinung, dass du dich lieber auf die Aufgabe von Herrn Auerbach konzentrieren solltest, als auf seinen Arsch.“ „Ach, ich mach's wie immer: Ich schieße irgendein Bild, Herr Auerbach wird es lieben und dann werden w i r uns lieben...“ Beim letzten Satz legte Pascal kameradschaftlich einen Arm um Julien und schenkte ihm ein zweideutiges Lächeln. „Du siehst die Aufgabenstellungen sowieso immer viel zu eng.“ „Du gehst eher viel zu locker an die Sache ran“, erwiderte Julien mit vor Ernst gerunzelter Stirn. „'Bei Nacht'. Das kann alles bedeuten.“ „'Alles'?“, unbeeindruckt versuchte Pascal seinem Freund klar zu machen, dass er es sich wieder viel schwieriger machte, als es eigentlich war. „In erster Linie heißt es 'knipps ein Bild möglichst nicht bei Tageslicht', würd ich sagen.“ Doch Julien ließ sich nicht beirren. „So viele Motivmöglichkeiten...“, murmelte er leise vor sich hin. Auch wenn ihn sorgenvoll beschäftigte, was für wagemutige Beischlafpläne sein Freund wieder hegte, zermürbte er sich noch stärker über das bevorstehende Foto-Projekt den Kopf. „Und nur so wenig Zeit...“ In weniger als zwei Wochen war der Abgabetermin. Viel Zeit war das tatsächlich nicht. „Ach, du übertreibst wieder völlig. So wie ich dich kenne, hast du doch bestimmt schon ein super Konzept entwickelt und wirst alle mit deinem Bild wegrocken.“ „Wenn dem nur so wäre...“ Julien hatte nicht eine, sondern hunderte Ideen. Aber wie sollte man sich entscheiden, wenn kaum die Zeit blieb, auch nur eine umzusetzen..? Die nächsten Tage konnte er sich kaum konzentrieren. Angeregt durch die von Herrn Auerbach präsentierten jungen Werke seines großen Idols Erwin Blumenfeld war er froh, dass sein Kopf nicht augenblicklich explodierte, so voller Inspiration wie er war. Die verschiedensten Nachtmotive schossen kreuz und quer zu jeder Tageszeit durch seinen Kopf. Er schaffte es gar nicht, alle Ideen festzuhalten. Das Thema war für ihn Segen und Fluch zugleich. Schon seit früher Kindheit war Julien fasziniert von der Nacht. Und nachts Fotos zu schießen, empfand er schon immer als schönste Herausforderungen. Wie oft hatte er nächtliche Wanderungen gemacht, allein mit seiner Kamera und einem Beutel voller Taschenlampen? Aber für dieses Projekt reichte das nicht aus. Er wollte es so professionell wie möglich machen, ohne den frischen Geist des Unberührten zu verlieren. Das Amateurhafte bewahren, wie Blumenfeld es auch in jeder seiner Fotografien bewahren wollte. Julien war so voller kreativer Ideen, dass es ihm schwer fiel, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. „Hey, Julien. Was machst du heute Abend? Wird's nicht endlich mal wieder Zeit für ein bisschen Party mit dem Passi?“ Freundschaftlich stupste Pascal Julien in die Seite. „Komm schon. Du siehst mir aus, als bräuchtest du mal eine Auszeit vom ständigen Denken. Ein bisschen Frischfleisch auf der Tanzfläche wird dir sicher gut tun.“ Doch Julien hörte ihm gar nicht richtig zu. Wie gebannt starrte er auf seine Aufzeichnungen der letzten Stunden. Mittlerweile war es Freitag geworden und er hatte nur noch 7 Tage Zeit für sein Foto. Immer noch grübelte er über das perfekte Motiv, bekam den Kopf nicht frei und konnte weder schlafen noch essen. Obwohl sie einem ziemlich interessanten Seminar beigewohnt hatten, hatte er nur verschiedenste Fotoideen niedergekritzelt und allesamt gleich wieder verworfen. Sein Hirn fühlte sich so unaufgeräumt und durchgestrichen an wie die Seiten des Collegeblocks, den er jetzt zurück in seine Tasche packte. „Nein, keine Zeit“, lehnte Julien kurz angebunden ab. „Ach, komm schon. Julien, mein Schatz.“ So schnell ließ sich Pascal nicht abwimmeln. „Das letzte mal, als wir zusammen aus waren, mussten wir uns gegen den Tyrannosaurus Rex verteidigen und kamen deswegen kaum dazu ein paar süße Typen anzuquatschen.“ Julien war schon schlechterere Witze von Pascal gewöhnt, aber mit diesem Vergleich erntete sein bester Freund einen wahrlich uneinsichtigen Blick. „Meine Antwort bleibt nein. Ich habe keine Zeit. Ich treffe mich mit meiner Schwester im Ballett.“ Pascal stemmte aufplusternd seine Arme in die Hüfte. „Oho. Und welchen Grund könnte die edle Frau Weiß haben, dich mir vorzuenthalten?“ „Karsten ist mit seiner Firma an einem Förderprogramm für regionales Ballett beteiligt gewesen und hat Freikarten für die Uraufführung bekommen. Er kann aber leider nicht selber hingehen und damit die Karte nicht verfällt und weil Bianca absolut heiß drauf ist, sich das anzusehen, hat sie mich kurzerhand gebeten, sie zu begleiten.“ Pascals Blick sprach Bände. Sein Mund formte derweil nur ein einziges Wort. „Ballett?“ Julien nickte und setzte sich in Bewegung, in der Hoffnung, sein Freund würde vor lauter Unglaube einfach stehen bleiben und ihn in Ruhe lassen. Eine vergebliche Hoffnung... „Ins Ballett? Du. Gehst. Ins. Ballett?“ „Hm.“ „Ernsthaft?“ „Ja.“ „Oh, Julien. Ich befürchte, du bist nun ernsthaft schwul geworden.“ Pascal legte theatralisch eine Hand auf seine Stirn und brachte Julien zum ersten Mal seit Tagen zum Schmunzeln. „Was du nicht sagst“, erwiderte er bloß. „Ich meine... du gehst freiwillig ins Ballett! Als Mann! Das ist doch sensationell. Wenn ich es nicht schon vorher gewusst hätte; jetzt würde es mir wie Schuppen von den Augen fallen.“ „Hör schon auf“, sagte Julien freundlich gesinnt. „Du bist doch nur neidisch, weil du nicht mitkannst. Ich habe gehört, da gibt es ein paar sehr schöne, männlicher Tänzer. Aber du bist wahrscheinlich immer noch dabei, Herrn Auerbach zu knacken.“ „Im wahrsten Sinne des Wortes, mein Lieber.“ Pascals Grinsen wuchs unaufhörlich mit jedem weiteren Wort, das Julien über sein aktuelles Ziel aussprach. „Kommen wir trotzdem nochmal zurück zu den Tänzern. Ich meine... vielleicht ist da ja endlich mal wieder was für dich dabei?“ Vielsagend zwinkerte er seinen Freund an. „Wenn schon das Ballett dich nicht endlich von deinen Sorgen über dieses Projekt befreit, dann mit Sicherheit ein heißer Fick mit einem so gelenkigen kleinen Mann im Tutu.“ „Jaja, was auch immer.“ Für einen kurzen Moment hatte Julien das Projekt sogar tatsächlich irgendwie vergessen können. Aber kaum hatte Pascal es wieder angesprochen, quälte ihn die viel zu kurz bemessene Frist. Er konnte nur hoffen, dass Pascal Recht behielt und das Ballett ihm beim Abschalten half... Am gleichen Abend noch pellte sich Julien aus seiner üblichen Studentenkleidung und zog sich seinen feinen Anzug an, den er sich im letzten Jahr extra für die Hochzeit seiner Schwester geleistet hatte. Wenigstens ergab sich so mal wieder eine Gelegenheit, das Ding vor den Kleidermotten in seinem Schrank zu retten. Zumindest für einen Abend lang. „Siehst schick aus, mein lieber Bruder.“ „Hm, danke“, gab Julien recht lustlos zurück und zupfte etwas an seinen Manschettenknöpfen. „Hey, sei mal ein bisschen aufmerksamer. Nur weil du im Stress bist, wirst du diesen Abend nicht rumstänkern, verstanden? Stattdessen wirst du tun, was Karsten sonst getan hätte.“ „Also doch rumstänkern... au!“ Julien rieb sich die Hand, gegen die seine Schwester ihm gerade ihre Perlenkette entgegengeschleudert hatte. „Nein. Du wirst mich königlich behandeln, alle fünf Minuten auf mein viel zu teures Designerkleid hinweisen und mir sagen wie toll ich darin aussehe, damit ich diesen Abend auch im vollen Zügen genießen kann.“ Bianca lächelte ihren Bruder auffordernd an. „Oh, wenn's weiter nichts ist.“ Julien steckte seine Hände in die Hosentaschen und zwang sich zu einem brüderlichen Lächeln. „Du siehst wirklich fabelhaft aus in diesem Zelt, eh Kleid... au!“ Wieder fing er sich die harten Perlen der Kette ein und pustete vorsichtig gegen die rote Stelle auf seinem Handrücken. „Pass doch auf, die brauch ich noch“, murrte er gespielt missmutig auf und erntete lediglich ein amüsiertes Grinsen seiner Schwester, die sich nun endlich dem Spiegel zuwandte um ihre Kette umzulegen. „Warte, ich helfe dir“, bot sich Julien versöhnlich an. „Danke.“ „Du siehst wirklich fantastisch aus“, sagte Julien diesmal ohne jede Häme, als sich seine Schwester wieder zu ihm drehte. Schnell hakte sie sich bei ihm unter und ging mit ihm raus, wo bereits ein Taxi auf sie beide wartete. „Vielen Dank. Und du, versuch dich heute Abend einfach mal zu entspannen. Das Stück ist wirklich fabelhaft. Ich durfte bereits einigen Proben beiwohnen und wie diese Tänzer ihre Körper einsetzen können und das ganze mit dem perfekten Einsatz von Musik... einfach wunderbar...“ So durfte sich Julien die gesamte Fahrt über Lobpreisungen über die Aufführung anhören, die ihn kaum weniger hätte interessieren können. Vor dem Einlass gab es einen Sektempfang und ein paar Worte des Intendanten, in denen unter anderem mit Bedauern die Abwesenheit von Karsten Weiß kommentiert wurde, der mit seiner Firma einen Großteil an Spenden für das Projekt zugegeben hat, ohne den das Stück wohl nie in diesem Ausmaß auf die Beine hätte gestellt werden können. Bianca nahm die Dankesworte und den „ganz spontan“ zusammengestellten Blumenstrauß an Karstens Stelle entgegen, bedankte sich wiederum für die Aufmerksamkeit und wünschte allen Anwesenden einen schönen Abend mit der Aufführung, von der sie sich besonders viel verspreche, da kein geringerer als... blablabla... Juliens Aufmerksamkeit für das ständige Hin und Her lobender und einschmeichelnder Worte verflog schon in der ersten Minute und er war unheimlich froh, als die Glocken zum Einlass ertönten. Bianca und er hatten natürlich Ehrenplätze in der ersten Reihe. Damit waren Sie für Juliens Geschmack schon fast zu sehr im Geschehen. „Na, schon gespannt?“, fragte Bianca ihren Bruder mit einer vergnüglichen Aufgeregtheit. So wie sie ihn ansah, wirkte sie wieder wie das Pferdebegeisterte kleine Mädchen, das sie im Alter von 5 bis 8 mal gewesen war. Glücklicherweise kam Julien gar nicht mehr dazu darauf zu antworten. Das Licht wurde auf ein Minimum gedimmt, sodass nur noch die Bühne beleuchtet wurde und alle Stimmen um sie herum schwächten immer mehr ab, bis es schon fast unheimlich still wurde. Julien ließ sich in seinem Sitz etwas runterrutschen und schaute nur anstandshalber zur Bühne vor ihm. Dann setzte die Musik ein. Der halb durchsichtige schwarze Vorhang verdeckte noch die ersten, sich zu den Klängen der Orchesteraufnahmen bewegenden Körper, die langsam hereingetanzt kamen. Eine Vorstellung der agierenden Figuren, Andeutungen der ersten Höhepunkte und der Beziehungen zueinander. Die Körper gingen aufeinander zu, entfernten sich wieder; umschlangen sich leidenschaftlich oder sprangen voneinander weg. Einer nach dem anderen entfernte sich wieder. Mit federnden, stampfenden, kurzen, langen Schritten. Bis nur noch einer blieb. Ein männlicher Tänzer. Er stand in einer breitbeinigen, kantigen Ausgangspose, als sich endlich der Vorhang ganz öffnete. Sein Gesicht dem Boden zugewandt, die Füße auseinander gedreht, auf Zehenspitzen. Eine Musikpause. Niemand applaudierte. Als das erste Lied anfing, hob er langsam seinen Kopf. Julien hielt den Atem an. Der Tänzer stand in einiger Entfernung direkt vor ihm. Sein Blick traf als erstes in seine Augen, ehe er einen Punkt an der Wand hinter dem Publikum fixierte. Diese Ausstrahlung. Diese unglaubliche, körperliche Präsenz. Julien brauchte nur diesen Moment einzufangen, diesen Mann bei Nacht und er hätte das Bild seiner Träume geschossen... Kapitel 2: Entrée ----------------- Die mal grazilen, mal stakkatoartigen Bewegungen zu den verschiedenen Rythmen hatten Julien bald in ihren Bann geschlagen. Er hatte noch nie so ein starkes Verlangen gespürt, einen Menschen abzulichten. Er wollte, er brauchte dieses Motiv für sein Projekt. Diesen jungen Mann, der mit jedem Schritt, jeder Armbewegung, jedem Augenaufschlag höchst konzentriert war und doch im Moment zu leben schien. Julien brannte darauf diesen Mann anzusprechen und um einen Fototermin zu beten. Als es zur Pause schellte, lehnte er sich zu seiner Schwester rüber: „Bianca, geh ruhig ohne mich in die Pause. Ich würde gern sitzen bleiben und die leere Bühne auf mich wirken lassen.“ Biancas Blick verriet, dass sie ihrem Bruder nur schwerlich glauben konnte, aber sie ließ ihn in Ruhe und verließ, wie das übrige Publikum, den Vorführraum und ging zurück ins Foyer. Julien wartete noch ein Weilchen ab, drückte sich tief in seinen Sitz, als einer der Aufpasser nachsah, ob auch tatsächlich alle Besucher gegangen waren und schlich sich dann, als er sich allein im Raum vorfand, auf die Bühne und von dort aus direkt in den Backstage-Bereich. Hier war, zu Juliens großem Glück, alles in Hektik. Vor dem zweiten Teil mussten Kostüme gewechselt, Make-Up aufgefrischt und Requisiten auf ihre Positionen gebracht werden. Weil jeder mit sich selbst oder dem nächststehenden Akteur in seiner Umgebung beschäftigt war, bemerkte niemand, wie er an allen vorbeiging und zielstrebig zu einem ganz bestimmten Tänzer eilte. Der Hauptakteur, der Tänzer, der ihm sofort aufgefallen war, war von zwei Visagistinnen umgeben, die an seinem Hemd zupften und sein Gesicht neu nachpuderten. Jetzt, wo Julien fast vor ihm stand, wirkte er kleiner als auf der Bühne. Er war aber dennoch einen halben Kopf größer als Julien, war etwa in seinem Alter, hatte fein definierte Muskeln und ein markantes Gesicht. Vor allem die Kiefer- und Wangenknochen stachen hervor. Julien konnte sich schon genau vorstellen, wie er dieses Gesicht ausleuchten müsse, um seine unglaubliche Ausdruckskraft genügend zu präsentieren. Aber davor galt es den jungen Herrn überhaupt von seiner Idee zu erzählen. „Ehm, hallo...“ Julien war tatsächlich etwas nervös, nervöser, als er von sich selbst gedacht hätte. Der Angesprochene öffnete die Augen und sein Blick traf Julien völlig unerwartet. Unbewusst hielt er sofort die Luft an. Er hatte so etwas majestätisches an sich. Etwas wunderschönes... „Kennen wir uns?“, fragte der Tänzer mit einer tieferen Stimme, als Julien erwartet hätte. „Eh, nein“ Julien versuchte sich an einem Lächeln, zog aber nur unsicher einen Mundwinkel nach oben. „Mein Name ist Julien. Ich bin Fotografie-Student.“ „Aha“, erwiderte der Tänzer teilnahmslos und schloss die Augen wieder, als eine der Visagistinnen etwas Lidschatten nachtrug. Julien fühlte sich mit jeder Minute unwohler. Er konnte sich gar nicht so recht erklären, warum. Für gewöhnlich beherrschte er solche Situation viel besser, wirkte wesentlich souveräner. Aber egal wie unangenehm das Ganze war, Julien wollte diesen Mann für sein Fotoprojekt. Und er würde alles dafür geben. „Ich habe dich auf der Bühne gesehen und war begeistert von deiner Performance.“ „Danke.“ Der Tänzer rang sich tatsächlich schon mal ein Lächeln für Julien ab. Na bitte, es ging doch! „Und ich wollte, nein, ich musste einfach herkommen und dich fragen, ob du damit einverstanden wärst, wenn ich dich fotografieren dürfte. Nicht auf der Bühne, sondern allein. Für ein Fotoprojekt. Es heißt 'Bei Nacht'.“ So langsam hatte Julien seine Selbstbeherrschung wieder. Er klang wieder wie sonst, wenn er vom Fotografieren, sprach: passioniert und seriös. Doch als der Tänzer seine Augen erneut öffnete, rann ihm augenblicklich ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Dabei hatte er doch gar nichts zu befürchten... „Ich soll also als Fotomodell für dich arbeiten.“ Die tiefe Stimme traf sofort diesen geschäftlichen Ton, die jedem Künstler irgendwo innewohnte. „Ja... und nein. Ich habe kein Geld, um dich zu bezahlen. Ich könnte dir aber versprechen, dass das Bild an einer Ausstellung teilnehmen wird, die mehrere hundert Leute sehen werden. Und ich würde dir anbieten, außerhalb des Projekts Bilder zu schießen, die du verwenden kannst. Ich bin sehr professionel, auch wenn ich vielleicht nicht so wirke. Ähnlich wie bei dir, wenn du auf der Bühne bist.“ „So, ich wirke also nicht professionel auf dich.“ Oh fuck! „Nein, nein, so meinte ich das gar nicht...“ Julien spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Plötzlich erklang ein Lachen, dunkel und rasselnd. „Keine Sorge. Ich verstehe schon.“ Julien spürte, wie beruhigend eine Hand auf seinen Arm gelegt wurde. Er sah hoch zu dem Tänzer und sah ihn tatsächlich lächelnd vor sich stehen. „Dein Angebot interessiert mich. Du wirkst ja sehr überzeugt, wenn du hier so einfach während der Pause reinspazierst.“ Der Tänzer ging an Julien vorbei und zog sich eine Jacke von einem der Kleiderständer. „Danke sehr“, murmelte Julien. „Vielleicht treffen wir uns demnächst auf 'nen Kaffee und sprechen dann nochmal genauer über deine Pläne, okay?“, er zog eine Zigarettenpackung aus der Jackentasche, fummelte sich eine Fluppe raus und steckte sie sich in den Mundwinkel. „Lass dir von einem der Mitarbeiter meine Nummer geben und meld dich. Mein Name ist Leo“, grinste er ihm noch abschließend zu. „Okay“, lächelte Julien zurück. „Dann wünsch ich dir noch 'ne schöne Vorstellung.“ Julien wartete nicht lange. Direkt am nächsten Morgen rief er bei Leo an. „13 Uhr? Geht klar. Kann sein, dass ich mich etwas verspäte, aber ich komme. Garantiert.“ Alles lief wie am Schnürchen. Julien packte für das Treffen voller Übermut schon mal seine Kamera ein, um eventuell ein paar Vorabaufnahmen machen zu können. Das Café lag mitten in der Altstadt. Das Wetter war eher mäßig. Es war viel windiger, als der Wetterbericht es angekündigt hatte, aber das konnte Juliens Laune heute nicht dämpfen. In froher Erwartung kam er beim Treffpunkt an und nahm Platz. Er brauchte gar nicht lange warten, als auch schon Leo eintraf. „Salut“, begrüßte er Julien mit einem galanten Handschlag und setzte sich ihm gegenüber. Allein in der Art seines Gehens und den Bewegungen seines Körpers konnte Julien den Tänzer in ihm erkennen. „Hallo“, erwiderte Julien plump. Er beobachtete Leo genau. Wie er sich schwungvoll auf den aus Messing gegossenen Stuhl niederließ, die Beine übereinenader schlug. Wie seine langen, schlanken Finger sich leicht zusammenkrümmten, als er sich durch die vom Wind zersausten Haare fuhr. Wie seine Augen ihn schelmisch anblitzten, als er bemerkte, dass Julien ihn so unverhohlen anstarrte. Leo fixierte ihn. Und Julien hielt dem Blick Stand, auch wenn er es kaum aushielt. Julien fühlte sich wie in dem Moment, als er Leo das erste Mal gesehen hatte. Diese kristallklaren blauen Augen. Wie spiegelnde Seen, umrahmt von dunklen, vollen Wimpern. Ein verschlossenes Buch, das zum Lesen einlud. Julien schossen sofort tausend Ideen durch den Kopf. Er wollte diese Augen fotografieren. Das knisternde Blitzen, das von ihnen ausging. Er griff bereits nach seiner Kamera, als Leos Finger seine Hand berührten. Ein kräftiger Herzschlag zuckte durch Juliens Körper. Dann kam der Kellner und löste die Spannung wieder, die sich zwischen ihnen beiden aufgebaut hatte. „Was darf ich Ihnen bringen?“ Leo, der auf seinem Stuhl weiter nach vorne gerückt war, während sie sich so angestarrt hatten, rutschte nun wieder nach hinten an die Lehne heran. „Für mich bitte einen Capuccino.“, flötete er. Dann richtete sich der Blick des Kellners zu Julien. „Ehm... einen Latte bitte. Also, Latte Macchiato.“ Der Kellern quittierte Juliens freudschen Versprecher mit einem amüsierten Lippenkräuseln und notierte nickend die Bestellung. „Kommt sofort“, sagte er noch während er zum nächsten Tisch ging. Julien lächelte Leo unsicher zu, als der Kellern gegangen war. „Gut, warten wir noch auf unsere Getränke oder möchtest du sofort anfangen?“ „Nein, ich warte gerne noch auf deine Latte.“ Leos Kommentar ließ Julien augenblicklich erröten. „Jiahh...“ Leo lachte. Ein tiefes, rasselndes Lachen. „Entschuldige. Von mir aus können wir direkt anfangen. Du möchtest mich also gerne als Model für dein Fotoprojekt. Warum gerade mich? Was genau hast du dir denn so vorgestellt?“ Nach seiner kurzen Erheiterung schaffte er es sagenhaft schnell wieder in seine geschäftliche Rolle zu kommen. Elegant mit geradem Rücken und überschlagenen Beinen saß er da und sah erwartungsvoll zu Julien. Julien verblüffte dieser plötzliche Themenwechsel, aber andererseits er war auch ganz dankbar dafür. „Ah jah... also, eigentlich hatte ich bisher noch keine konkreten Vorstellungen. Nun ja, bis ich dich auf der Bühen gesehen habe. Du hattest eine Ausstrahlung, die greifbar war. Und genau die will ich für mein Bild. Ich hatte sofort ein Motiv vor Augen. Eine leere Industriehalle. Durch die großen Fenster scheint das Licht herein. Und fällt genau auf dich. In einer Ballet-Pose. Eine von denen, die du bei eurem Auftritt gezeigt hast, mit starker Ausdruckskraft. Dein Gesicht der Kamera leicht weggedreht. Aber dein Blick... deine Augen sehen direkt in die Kamera.“ Julien machte eine Pause. Er war Feuer und Flamme für seine Idee, verstärkte seine Beschreibung mit seinen Händen. Und mit seinen Augen. Er musste Leo beeindrucken. Er musste ihn einfach dazu bringen, für ihn Model zu stehen. „Da das Thema 'bei Nacht' ist, wie du dich vielleicht noch erinnern kannst, werden wir die Aufnahmen auch nachts machen. Wir werden mit Scheinwerfern arbeiten müssen, weil nur das Mondlicht nicht ausreichen wird. Auch wenn das natürlich äußerst romantisch wäre. Aber das geht nun mal leider nicht. Oh, und ausgehend von den letzten Nächten wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr kalt für dich werden. Vor allem wenn du oberkörperfrei bist.“ Eine Pause entstannd. Julien spürte wie nervös ihn Leos Augen machten. Durch keine Bewegung, weder durch das Zucken seiner Mundwinkel noch eine Veränderung in seinem Blick ließ er erkennbar machen, wie er zu der Idee stand. Julien fing vor Nervosität leicht an, am Saum seines Hemds zu fummeln. „Und? Was meinst du?“, fragte er schließlich geradeheraus, als er nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch keine Reaktion bekommen hatte. Zum ersten mal, seit Julien begonnen hatte, ihm seine Vorstellung von dem Bild zu schildern, bewegte sich Leo und rutschte auf dem Stuhl etwas näher. „Wie ich es finde...“, begann er, als gerade der Kellner wiederkam. „Einen Capuccino und einen Latte. Et voilá.“ Julien bemerkte das Zwinkern des Kellernes gar nicht, als er ihm den Macchiato vor die Nase schob. Er war völlig auf Leos undurchschaubares Gesicht konzentriert. Nachdem der Kellner endlich wieder verschwunden war und Leo an seinem Capuccino genippt hatte, öffnete er auch wieder den Mund und Julien lauschte gespannt jedem einzelnen Wort. „Ich muss schon sagen, du sprichst sehr passioniert von deinem Plan. Das schätze ich sehr. Du hattest recht, als du sagtest, du bist professioneller als du wirkst.“ Leo schmunzelte angesichts seines Seitenhiebs, kam aber, wie zuvor schon, schnell wieder auf den Punkt. „Deine Idee... wurde also inspiriert durch mich?“, fragte er. Julien nickte. „Na dann.“ Leo lehnte sich wieder zurück und nahm einen Schluck. Während er die Tasse wieder abstellte, glitt sein Blick in die Ferne. Er war die Ruhe selbst. Ganz im Gegensatz zu Julien, den es in den Fingern juckte von Leo endlich eine konkrete Antwort zu bekommen. „'Na dann' was?“, fragte er schließlich, als er das Warten nicht mehr aushielt. Leo schaute augenblicklich wieder zu ihm. Er schmunzelte. „Na dann ist es mir eine Ehre mit dir an diesem Bild zu arbeiten. Als Muse und als Model. Ich bin gerade meine nächsten Termine durchgegangen. Leider habe ich wohl erst nächste Woche Mittwoch wieder Zeit. Davor bin ich komplett ausgeplant. Reicht dir die Zeit?“ Julien hätte vor Freude aufspringen können. „Ja klar. Das passt schon!“ Auch wenn es zeitlich wirklich sehr knapp war - denn nächste Woche Freitag musste das fertige Projekt bereits abgegeben werden – hatte Julien eine Zusage seines Wunschmodels. „Vielen Dank.“ „Keine Ursache.“ Julien grinste über beide Ohren. „Der Kaffee geht auf mich.“ Kapitel 3: Contretemps ---------------------- Juliens Höhenflug hielt nicht lange an. Jeden Tag hatte er der Realisierung seines Projekts gewidmet. Er hatte Skizzen notiert, Leute angerufen, Materialien abgeholt. Bis alles bereit war und nichts in ihm größer war, als die Vorfreude auf den Shooting-Termin mit Leo. Er hatte sein Model, er hatte das Equipment klar gemacht und er hatte eine Location, die genau die Atmosphäre brachte, die er sich für sein Foto wünschte. Aber plötzlich hatte er keinen Teamkollegen mehr. Pascal hatte ihm nur eine Stunde bevor sie aufgebrochen wären, abgesagt. „Tut mir leid. Meine Schwester bekommt gerade ihr Kind. Und meine Oma ist gestorben. Und das alles auf einmal...“ „Ach, halt's Maul Pascal. Ich weiß doch, dass heute Abend 'Dirty Dancing' Nacht im Ü-40 Club angesagt ist. Ich dachte nur, du könntest einmal für mich deine merkwürdige Neigung für ältere Herren vergessen und mir helfen. So als mein bester Freund.“ „Julien, wenn es so einfach wäre. Weißt du... Herr Auerbacher wird da sein, das weiß ich aus sicherer Quelle.“ „Vergiss es einfach. Wir sehen uns Freitag.“ Julien legte entnervt auf. Wieso nur hatte er den unzuverlässigsten Typen der Welt zum besten Freund? Wie er sah, brachte ihm das gar nichts. Nur große Enttäuschung. Julien war völlig in seinen negativen Gedanken verfangen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Beim Hochschauen blickte er direkt in zwei kristallene Seen. „Hey, ist doch halb so wild. Dann ziehen wir das eben zu zweit durch. Lass uns am besten jetzt schon losfahren.“ Leo sah klasse aus. Julien wusste nicht, womit der Tänzer seine letzten Nächte verbracht hatte, dass er vorher keine Zeit gehabt hatte, aber er war hellwach und topmotiviert. „Okay.“ Dann würden sie eben nur zu zweit sein. Das machte das ganze nicht weniger stressig, aber damit mussten sie wohl jetzt leben. Nach der ganzen Arbeit würde er noch ein schönes Wörtchen mit Pascal zu reden haben. Aber vorerst konzentrierte er sich auf das Bild. Auf Leo und sich. Und die kleine Überraschung, von der er sich bisher immer noch nicht getraut hatte, sie bei Leo anzusprechen... „Was ist das?“ Julien und Leo waren etwa eine halbe Stunde zu dem verlassenen, ehemaligen Industriegrundstück gefahren und waren gerade dabei die Sachen rauszuholen. Julien hievte einen Baustrahler nach dem anderen raus und erstarrte zur Salzsäule, als er Leos Frage hörte. „Julien... ist es das, was ich denke?“ Ganz langsam nur drehte sich der Fotograf auf den Hacken zu seinem Model um. „Ehm, jah..?“ Leo hielt etwas hoch. Etwas aus weißem Tüll, wie man trotz des bereits fehlenden Lichts unschwer erkennen konnte. „Ein Tutu?“ Julien nickte langsam. „Jah, ich hatte überlegt, wir könnten vielleicht das Tutu als klischeehaftes Stilelement verwenden..., um den Bruch zwischen...“ „Ich soll das anziehen? Wie eine Primaballerina?“ Julien schluckte. Leo sah nicht begeistert aus über diese Idee. Wenn er Julien jetzt absprang, wäre sein Fotoprojekt völlig gelaufen. Note Sechs. Egal, es hieß Augen zu und durch. „Ja.“ Stille. Julien und Leo starrten sich beide unverwandt an. Ein Blickduell von solcher Intensivität, dass Julien unbewusst den Atem anhielt. Schließlich wandte Leo als erster den Blick ab. „Okay.“ Julien blinzelte überrascht. „Okay?“ „Ja, ich mach's.“ Seine stechend blauen Augen trafen erneut auf Juliens. Diesmal jedoch mit diesem schlemischen Aufblitzen, das ihnen manchmal innewohnte. Als hätte Julien es gewusst, begann Leo direkt sich auszuziehen. Er wandte den Blick ab und schaute erst wieder hin, als er keine Geräusche von fallender Kleidung mehr wahrnahm. Julien ließ den Blick erst vorsichtig über den Boden schweifen, wo er Hose und Hemd nebst Schuhen und Socken achtlos auf den Boden geworfen vorfand. Weiter höher erblickte er Leo. Nackt. Bis auf das weiße Tutu, das wie ein weißer Zensurbalken genau auf Hüfthöhe hing. Juliens Augen glitten über Leos Körper, als scannte er jede noch so kleine Stelle. Als wolle er den Körper, den er gleich fotografierte, erst genau studieren. Jedes Detail kennenlernen, ehe er es zu einem Teil seines Kunstwerkes machte. Er starrte ihn unverwandt an – und Leo ließ es regungslos über sich ergehen. Obwohl sich ihm ein für Außenstehende unwahrscheinlich komischer Anblick bot, machte Julien keinerlei Anstalten zu lachen. Nicht mal ein Schmunzeln legte sich auf seine Lippen. Sein Mund öffnete sich lediglich zu einem stummen „Ah“. Fasziniert betrachtete er sein Model. Der menschliche Körper vor ihm war nun nichts mehr als eben dies: ein Modell, ein Motiv, das es abzulichten galt. „Licht. Wir müssen noch das Licht aufstellen.“ Hochprofessionell schnappte sich Julien die Baustrahler und platzierte sie genau dort, wo er sie haben wollte. Als Leo Anstalten machte, ihm zu helfen, fuhr er ihn laut an: „Bleib genau da stehen, wo du bist! Keinen Zentimeter rühren!“ Und obwohl der Fotografiestudent einen Kopf kleiner und deutlich schmächtiger war, als sein Model, lag in seiner Stimme eine solche Schärfe, dass Leo es nicht ein zweites Mal wagte, sich ohne Aufforderung zu rühren. Julien war in seinem Element. Er räumte noch schnell Leos Kleidung beiseite und betätigte dann den Kippschalter, der den Strom auf die Baustrahler leitete. Leo wurde von dem grellen Licht so stark angestrahlt, dass er blinzeln musste. Julien holte seine Kamera hervor und ließ Leo erst mal Zeit, sich an die unnatürliche Helligkeit zu gewöhnen. Während er seine Kamera einstellte, registrierte er nichts mehr, was nicht mit ihm selbst direkt zu tun hatte. Als er dann Leo fixierte, war er völlig von diesem Moment, den er gleich aufnehmen würde, in Bann geschlagen. „Geh bitte noch ein bisschen näher an die Wand heran. Jah, genau... und jetzt... Ballett-Pose. Wie besprochen... Gut.“ Klick. „Bleib so.“ Klick. Klick. „Gesicht mehr zur Wand. Augen weiterhin zu mir.“ Klick. „Augen schließen.... und öffnen!“ Klick. „Jaah, das ist es. Nächste Pose.“ Klick. Klick. Auf diese Weise arbeiteten sie fünf verschiedene Posen durch. Alle entnommen aus dem Ballett, das Leo mit aufgeführt hatte. Und obwohl Julien mehrmals Worte wie „genial“, „grandios“ und „klasse“ rausrutschten, war doch keines der Bilder dabei, das ihn so überwältigte, wie er es sich wünschte. Leo machte gerade eine kleine Pause und machte ein paar Dehnübungen, da er ohne Bewegung bei den nächtlichen Außentemperaturen langsam etwas auskühlte. Julien sah derweil seine bisherigen Aufnahmen durch. Sie waren klasse. Weit über dem Durchschnitt, den Herr Auerbacher für dieses Projekt wohl von den anderen Studenten abgeliefert bekäme. Aber Julien wollte mehr. Er wollte das Gefühl haben, ein Meisterwerk geschossen zu haben. Eines, dass Blumenfeld würdig war. Und, was ihm noch schwieriger fiel, was seinen eigenen Ansprüchen nicht nur gerecht wurde, sondern sie regelrecht übertrumpfte. Plötzlich spürte er zwei Hände, die sich auf seine Schultern legten und begannen, sie vorsichtig, aber dennoch mit viel Kraft durchzukneten. Julien blickte überrascht von seiner Kamera auf und sah direkt in Leos strahlend blaue Augen. Er lächelte ihn an. „Vielleicht täte dir ein Motivwechsel ganz gut. Ich meine, das ist eine wahnsinnig schöne Location und man fühlt sich als Model auch sehr wohl mit deinen Anweisungen... aber noch wohler wäre mir, wenn ich wüsste, dass du bald zufrieden dein Bild geschossen hast und ich mich wieder anziehen darf.“ Julien rang sich ein müdes Lächeln ab. „Tut mir leid. Ich habe dich jetzt schon wie lange in Anspruch genommen? Sorry... manchmal vergesse ich ein wenig die Zeit, wenn ich richtig drin bin.“ Er seufzte und schloss die Augen, um die Massage noch besser genießen zu können. „Das ist eigentlich auch kein Problem. Ich finde das sogar sehr faszinierend an dir. Dass du dich so reinsteigern kannst in diese ganze Sache. Ehrlich gesagt, habe ich eher die Befürchtung, dass es wegen mir nicht so recht funktioniert.“ Verwirrt öffnete Julien wieder die Augen. Leo hörte auf, ihn zu massieren und stellte sich wieder vor ihn. Im Augenwinkel sah Julien , dass er das Tutu mit seiner Hose ausgetauscht hatte. „Du willst dieses Bild unbedingt mit Leben füllen. Mit einer Verbindung zwischen Fotograf, Kamera und Motiv. Aber vielleicht hast du dir dafür einfach das falsche Motiv ausgesucht. Ich stehe zwar vor der Kamera, gehe in die Posen, die du haben möchtest, aber ich glaube, ich fühle es nicht so sehr wie du.“ Leos Einwand klang auf seine Weise logisch. Dennoch wollte Julien nicht so recht daran glauben. „Nein, ich habe es aber doch gespürt.“ „Was gespürt?“ „Na, als du auf der Bühne warst. In deinem Blick, als du mich angesehen hast. Ich habe genau das gespürt, was ich mir für dieses Foto wünsche. Du musst nur...“ „Als ich dich angesehen habe? Daran kann ich mich gar nicht erinnern, wenn ich ehrlich bin.“ Leo war nur ehrlich. Aber diese Tatsache traf Julien wie einen scharfen Gegenstand in der Brust. Natürlich hatte er ihn nicht angesehen. Nicht direkt jedenfalls. Es war Zufall gewesen, purer Zufall. Julien hatte mehr in die ganze Sache rein interpretiert, als da eigentlich war. Es tat weh. Diese Wahrheit tat ihm mehr weh, als er gerne zugegeben hätte. „Tut mir leid, wenn dich das jetzt enttäuscht. Aber wenn man auf der Bühne steht, ist es eigentlich fast unmöglich jemanden zu fixieren, der im Publikum sitzt. Vor allem, wenn man die Person nicht kennt. Man selber wird so sehr vom Licht angestrahlt, dass man nichts sehen kann. Es passiert öfter, dass Leute im Publikum sitzen und meinen, man hätte sie angesehen. Aber meistens ist das völlig unbeabsichtigt. Man sucht sich einen Orientierungspunkt an der Wand und... hey, Julien?“ Warum ihm jetzt die Tränen kamen, wusste er nicht. Vielleicht war er einfach fertig von dem ganzen Druck, den er sich selber aufgebaut hatte. Oder er war enttäuscht, weil er es nicht geschafft hatte seine Erwartungen zu erfüllen. Julien spürte nur, dass es gut tat, jetzt von Leo im Arm gehalten zu werden. Kapitel 4: Pirouette -------------------- Er weinte nicht lange. Stumm ließ Julien die Tränen auf seinem Gesicht trocknen und starrte über Leos Schulter hinweg ins Nichts. Der Tänzer hielt ihn fest umarmt. Es war schön so gehalten zu werden, aber gleichsam brachte es einen bitteren Beigeschmack mit sich. Julien war sich einer plötzlichen Wahrheit bewusst, die ihn sehr schmerzte, jetzt da er sie erkannt hatte. „Wieder in Ordnung?“, fragte Leo und löste sich wieder von Julien. Nein, nichts war in Ordnung. Im Gegenteil. Alles war auf einen Schlag kompliziert geworden. Nur durch diesen einen Moment. Aber er nickte. „Ja, es geht wieder. Ich bin wohl einfach nur emotional zu sehr mitgenommen von... dem ganzen Projekt.“ Leo lächelte ihm aufmunternd zu. „Du bist schon ein komischer Typ. Aber auf eine sympathische Art. Bewundernswert, wie sehr du dich in deine Sache so reinsteigern kannst.“ „Ich finde es ja bewundernswerter, wie man sich so verbiegen kann wie du“, erwiderte Julien scherzend. Leo lachte leise auf. „Haha, dir scheint es ja echt schnell wieder besser zu gehen. Super. Also, was meinst du? Wagen wir noch einen Versuch, oder willst du es bei den Fotos belassen?“ Julien überlegte. Ihm kam eine abwegige und sehr, sehr dumme Idee. Und zu seinem Unglück war seine Zunge, wie es eigentlich nicht oft passierte, schneller als sein Kopf. „Wie wärs, wenn du dich für ein paar letzte Aufnahmen ganz ausziehen würdest?“ Leo sah ihn entgeistert an. „Ein Scherz. Nur ein Scherz“, wandte Julien schnell ein und versuchte seine dreiste Aufforderung mit einem Lachen wieder wett zu machen. „Natürlich musst du dich nicht komplett ausziehen. Das wäre ja irrsinnig.“ Eine kurze Zeit lang sagte Leo gar nichts. Aber als er die Stimme wieder erhob, klang er sogar sehr überzeugt von Juliens Idee. „Ach, warum eigentlich nicht? Ein nacktes Gebäude und ein nackter Ballettänzer. Passt doch“, und er streifte sich seine Hose ab, stand auf einmal in seiner bloßen Nacktheit vor Julien. „Ich stell mich wieder ins Licht und du schaust, ob du tatsächlich ein paar Bilder machen willst. Ich hab damit kein Problem.“ „Okay.“ Juliens Stimme war nur ein Hauchen. Nur ganz langsam hob er den Sucher seiner Kamera vor sein Auge. Aber dann machte er doch noch ein paar Fotos von Leo, ehe sie alles wieder einpackten und schweigend die Rückreise antraten. Gegen zwei Uhr hatte Julien Leo zuhause abgesetzt. Um halb drei hatte er den Wagen vor seinem elterlichen Haus abgestellt, die Baustrahler in die Garage gebracht und sich auf sein Bett gesetzt, um die Bilder auszusortieren. Es war schon halb vier durch, als er beim nächsten Mal auf die Uhr sah. Er saß immer noch auf seinem Bett und konnte nicht einschlafen. Seine Augen waren festgenagelt auf dem Display seines Laptops. Zum wievielten Mal er sich die Bilder von Leo ansah, wusste er schon längst nicht mehr. Aber mehr als einmal, das wusste er nur zu genau, hatte er sich zusammenreißen müssen, um sich nicht einen runterzuholen beim Anblick der Nacktbilder, die er geschossen hatte. „Scheiße“, murmelte Julien und klappte schlussendlich seinen Laptop zu. Er hatte sich verknallt. In nicht weniger als fünf Tagen hatte er sich erfolgreich in einen Ballett-Tänzer verknallt, der ihn sehr wahrscheinlich für einen „komischen Typen“ und nach den heutigen Begebenheiten mit Sicherheit auch für eine Heulsuse hielt. Es war dieser Blick gewesen. Dieser Blick, bei dem er geglaubt hatte, er wäre bewusst an ihn gerichtet gewesen. Zwei Augen, blau wie die See, die in seine schauten. Wenn er an den Moment zurückdachte, kribbelte sein ganzer Körper. Aber gleich darauf wurde ihm schlecht, weil da eigentlich nichts gewesen war. Er hatte sich alles nur eingebildet. Leo wollte nichts von ihm. „Na, ich hab dir ja von Anfang an gesagt, dass bei diesen Tänzern vielleicht der Richtige für dich dabei ist.“ Pascal wirkte auf Julien viel zu wenig mitfühlend, nachdem er ihm von seiner Erkenntnis berichtet hatte. Stattdessen freute er sich auch noch, dass er sagen konnte, er hätte Recht behalten. Aber das hatte er nun mal. „Und was wirst du jetzt machen, um sein Herz zu erobern?“ Julien war irritiert und brachte seine Verwirrung nonchalant zum Ausdruck: „Häh?“ „Na, du wirst doch sicherlich nicht den Rest deines Lebens wie ein Trauerkloß hier rumsitzen und darüber wehklagen, dass du dem Tututänzer nie gesagt hast, was du für ihn empfindest.“ „Ich weiß nicht...“, erwiderte Julian unmotiviert und sackte noch mehr in sich zusammen als ohnehin schon. „Ich denke, ich kann mich ganz gut mit so einer Zukunft als Trauerkloß anfreunden.“ „Ach Schwachsinn“, schmetterte ihm Pascal direkt entgegen und warf eins der Sofakissen nach Julien. „Du als Künstler solltest lieber keinen allzu düsteren Gedanken nachgehen, sonst liebäugelst du noch mit dem Strick als letzten Ausweg. Dabei solltest du viel lieber mit dem knackigen Tänzerhintern liebäugeln.“ Pascal bekam das Kissen mit voller Wucht zurückgeschmissen, was ihn nur dazu brachte, Julien breit anzugrinsen. Der grunzte nur genervt zurück und drehte sich mit seinem Schreibtischstuhl mit dem Rücken zu Pascal. Beide schwiegen sich an. Aber nach kaum einer Minute erhob sich eine leise, wieder etwas hoffnungsvoller klingende Stimme. „Und was für eine tolle Idee hast du?“ „Naja, dich auf jeden Fall nicht selbst umzubringen.“ „Ich meine für die Herzeroberungsnummer.“ „Genau die gleiche: keinen Selbstmord begehen. Für den Rest muss ich mir noch was ausdenken.“ „Dann denk schneller.“ „Nur nicht ungeduldig werden. Amor hat Eva und Adam auch nicht mit dem ersten Pfeil getroffen.“ Julien sparte sich die Frage zu diesem absurden Vergleich. „Wir brauchen eine Begegnung. Denn eins ist klar: wenn du hier wirklich den Trauerkloß spielst und deinen hübschen Hintern nicht aus deinem Zimmer bekommst, wirst du den Tänzer so oder so nie wieder sehen. Wo also könntet ihr euch treffen? Möglichst ungezwungen. Ein öffentlicher Ort, aber nicht zu viele Menschen... hmm...“ Während Pascal noch grübelte, hatte Julien schon den zündenden Einfall. „Die Ausstellungseröffnung unserer Zwischenergebnisse.“ „Das ist ja echt super ungezwungen...“ „Du hast nichts von ungezwungenem Kleiderstil gesagt.“ „Mir geht’s dabei nicht mal um die Kleiderordnung. Aber das ist doch DAS Medienspektakel unserer Uni.“ Julien zuckte mit den Schultern und Pascal gab schließlich nach. „Schön und gut. Und wie bekommen wir ihn da hin?“ Julien rollte mit dem Stuhl an seinen Arbeitstisch, legte den Laptop auf seinen Schoß und drehte ihn so, dass Pascal die Bilder sehen konnte. „Damit!“ „Keine schlechte Idee. Aber die Nacktbilder würd ich Herrn Auerbach lieber nicht vorzeigen.“ Pascal lachte laut, als Julien den Bildschirm des Laptops sofort wieder wegdrehte. „Haha! Das hatte ich nämlich schon vor. Damit er so richtig scharf auf mich wird und wir es noch am gleichen Abend miteinander auf der Studententoilette treiben.“ Julien ließ es nicht dazu kommen, darauf weiter einzugehen. Er hatte einen Plan. Jetzt galt es nur noch ihn umzusetzen. Und um alles andere in die Wege zu leiten, musste er jetzt von dem Fotoshooting mit seinem Traumtänzer nur noch das perfekte Bild heraussuchen. Kapitel 5: Attitude ------------------- „'Ohne Titel'.“ Pacal betrachtete eingehend den kleinen weißen Zettel, der neben Juliens eingerahmter Fotografie an der Wand klebte. „Das ist nicht dein Ernst, Julien. Gehörst du etwa auch zu diesen einfallslosen Künstlern, die ihren Werken keine Namen geben?“ Julien seufzte. „Ja.“ Er hatte keine Geduld, Pascal eine ausführlichere Antwort zu geben. Vor allem nicht heute. Er war so aufgeregt wie sonst nie. Seine von außen hin coole Ausstrahlung stimmte überhaupt nicht mit seinem zerwühlten Inneren überein. In ihm tobte sein Herz, machte tausend Sprünge und hatte mindestens genauso viele Aussetzer. Er war das reinste Nervenbündel und das schon seit dem Tag, als Herr Auerbach verkündet hatte, welche Kunstwerke ausgestellt werden sollten. Er hatte es also doch noch geschafft. Mit einem seiner unperfekten Bilder war er einer der besten des Jahrgangs und wurde von Herrn Auerbach dementsprechend mit einem Platz bei der alljährlichen Osterausstellung der Uni geehrt. Das allein machte Julien aber nicht so nervös. Er hatte schon früher zu den ausstellenden Künstlern gehört, er kannte den Trubel, den die Kunstinteressenten um ihn und andere Studenten machten und war daran gewöhnt, an das Händeschütteln, das Dauerlächeln und die pseudo-kunstwissenschaftlichen Analysen, die zu seinen Bildern zum Besten gegeben wurden. Nein, nervös machte ihn das schon lange nicht mehr. Etwas anderes ließ ihn so unruhig sein, dass er einfach nicht dazu kam, den Orangensaft in seinem Sektglas zu trinken, weil er es ständig in seiner Hand drehte. Etwas, oder eher gesagt, jemand anderes... „Oh, steht er nicht da hinten?“ Pascals bewusst laut formulierte Frage ließ Julien kurz zusammenzucken. Sofort folgte er Pascals Blick und sah... „Ja, stimmt. Da ist Herr Auerbach!“ Pascal grinste Julien nicht ohne eine Spur grausamer Freude an, ehe seine langen Beine ihn zu ihrem gemeinsamen Professor brachten. Julien seufzte und schloss die Augen, massierte sich mit zwei Fingern die Schläfe und schalt sich selbst einen zappeligen Dummkopf, der sich endlich mal beruhigen sollte. Natürlich hoffte er darauf, dass Leo sich hier blicken ließ. Direkt nachdem Julien erfahren hatte, dass sein Bild bei der Ausstellung dabei sein würde, hatte er Leo eine kurze SMS mit einer Einladung für die Ausstellungseröffnung geschickt. Leos Antwort war ebenso kurz ausgefallen. „Danke für die Einladung. Ich schau mal, ob ich's einrichten kann.“ Den tränenreichen Vorfall am Tag ihres Shootings hatten sie nicht mehr zur Sprache gebracht. Julien war es unangenehm und er wollte es, wenn überhaupt, persönlich mit Leo besprechen. Wie es Leo mit der Sache ging, konnte er nur erahnen. Ebenso wie er nur hoffen konnte, dass Leo sein Bild gefiel. Julien hatte bis zur letzten möglichen Sekunde an dem Bild gearbeitet. Er hatte sicherlich schon fünf verschiedene Fotos komplett bearbeitet, bis er sich schließlich dafür entschieden hatte, gar keine Manipulation vorzunehmen. Er wollte die reine, unverfälschte Aufnahme des Moments nehmen. Ganz im Sinne von Blumenfeld. Schließlich hatte er sich für eins der Motive entschieden, auf denen Leo direkt in die Kamera geschaut hatte. Der Blick, den er dabei eingefangen hatte, löste auch jetzt noch eine Gänsehaut bei ihm aus. „Oh, Brüderchen, da hast du dir aber einen geangelt.“ Julien schreckte auf und löste seine Augen von seiner Aufnahme. Bianca hatte sich hinter ihn gestellt und betrachtete nun sein Bild. „Was machst du denn hier?“ „Ich freue mich auch immer wieder dich zu sehen.“ Julien war zu perplex, um etwas zu erwidern. Und seine Schwester fuhr fort, indem sie statt des Bildes nun ihren Bruder fixierte: „Ich denke ein Dankeschön wäre angebracht.“ Auf Juliens verwirrtes Kopfzucken hin grinste sie. „Na, ohne mich hättest du deinen neuen Lover doch nicht kennen gelernt.“ Jetzt verstand Julien sofort. „Pascal... was hat er dir erzählt?“ „Dass du ganz verschossen bist in einen Balletttänzer und ihn hierher eingeladen hast, damit du ihm vor deinem fotografischen Meisterwerk deine Liebe gestehen kannst.“ Ja, das klang nach Pascals Worten... „Und? Ist er schon da gewesen?“, fragte Bianca ganz unverhohlen. „Nein“, gab Julien resigniert zu und widmete sich wieder seinem Bild. Der Leo auf dem Bild sah ihn direkt an. Er durchbohrte ihn fast mit seinem Blick. Mit diesen kristallklaren blauen Seen... Und in Wirklichkeit schaute er nur durch ihn hindurch. Julien spürte eine Hand an seiner Schulter. Leo? Nein. Bianca, die ihren Bruder mitfühlend anlächelte. „Er wird schon noch auftauchen. Bestimmt.“ Julien nickte. Bestimmt... Er war nicht gekommen. Julien war geblieben, bis ganz zum Schluss. Er war geblieben bis der letzte geladene Gast gegangen war. Er hatte beim Aufräumen der liegen gebliebenen Plastikgläser und der bekrümelten Servietten geholfen. Er hatte Herrn Auerbauch verabschiedete, der sonst immer der letzte war, der ging und hatte die sonderbare Bemerkung über seinen Kommilitonen, den 'süßen Passi', überhört. Schlussendlich hatte Julien sogar den Hausmeister bestochen, damit er ihm die Türen offen ließ und nicht einsperrte oder – noch schlimmer – ihn nach Hause schickte. Da wollte er nicht hin. Zuhause wartete seine Familie auf ihn. Seine stolzen Eltern, seine glückliche Schwester und sein Laptop mit den hunderten von Bildern von Leo. Lieber blieb Julien hier, allein, nur mit dem einen, fast perfekten Bild und hielt diesen Augenblick so lange fest, wie er konnte. Und zusammen mit ihm die Hoffnung, die dem Moment inne wohnte. Die Hoffnung, dass er nicht allein bleiben würde... Epilog: -------- Es war schon weit nach Mitternacht und die einzigen Lichter, die noch brannten, waren die, die die Ausstellungswerke ausleuchteten. Julien stand direkt vor seinem Bild. 'Ohne Titel'. Es hätte keinen passenden Titel gegeben. Mit keinem Wort dieser Welt hätte Julien ausdrücken können, was dieses Bild für ihn bedeutete. Das hatte Pascal mit Sicherheit verstanden. Auch wenn er oft ganz plump tat, verstand er Julien, besser als jeder andere, auch ohne Worte. Den ganzen Abend über hatte Pascal ihn aufzumuntern versucht. Und auch Bianca, das wusste er, stand voll auf der Seite ihres jüngeren, bis über beide Ohren verliebten Bruders. Dennoch: all die Zuversicht hatte nichts gebracht. Außer dass Julien jetzt hier stand und Leo betrachtete. Er war so versunken in seinen Gedanken, dass er die Schritte erst gar nicht hörte. Doch plötzlich – da war doch was! Es waren klare, zielgerichtete Schritte. Julien hatte Angst, traute sich aber nicht, den Blick von seinem Bild zu lösen. Das Echo der hallenden Schritte ließ Julien glauben, die Halle wäre unendlich groß. Und unendlich lange zog sich der Moment hin, in dem er den Atem anhielt und einfach nur die Schritte hörte. Ein Schritt nach dem anderen. Tap. Tap. Tap. Und stop. Julien kniff die Augen zusammen und atmete zittrig aus. „Hallo Julien.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)