Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 6: Anders ist manchmal besser als gut --------------------------------------------- Kapitel 6 Anders ist manchmal besser als gut Als ich nach der Arbeit nach Hause komme, gehe ich gleich duschen und stehe dann etwas unentschlossen vor meinem Kleiderschrank. Meine Klamotten bestehen in erster Linie aus schlabberigen Jeans, Shirts und Pullovern, die ihre besten Tage in einem anderen Leben hatten. Ich besitze einen einzigen Anzug. Doch den habe ich bei den Bewerbungsgesprächen getragen und ich empfinde ihn als unpassend für ein Essen. Ich blamiere sie schon allein durch den Mangel an modischen Geschmacksinn. Es ist eine schlechte Idee. Ich schelle mich für meine Zusage und lasse mich resigniert aufs Bett fallen. „Das ist deinem Einsiedlerleben geschuldet, Eleen", äffe ich meinen Bruder mit brummender Stimme nach und mir fällt ein, dass ich ihn noch zurückrufen muss. Ich starte einen neuen Versuch, stelle mich vor den Kleiderschrank und krame meine einzige schwarze Jeans und einem halbwegs vernünftigen Pullover in einem Anthrazitton hervor. Danach mache mir eine Kleinigkeit zu Essen, weil ich sonst nicht durchhalte und lasse mich eine Weile vom Fernseher berieseln. Ich schalte von einer Kindersendung mit einem sprechenden Schwamm, zu schlecht geschauspielerten Familiendramen und weiter zu den Nachrichten. Die Welt ist ein Trümmerhaufen und ich bin mitten drin. Es folgt eine Dokumentation über schwarze Löcher und Theorien über die Entstehung von Einstein-Bose-Brücken. Ich lasse mich immer tiefer in den Sog des Nichts ziehen. Die Bilder des fernen Alls faszinieren mich und als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, ist es bereits siebzehn Uhr. Ich setze mich auf und sehe zum Telefon. Wenn ich Ewan heute nicht zurückrufe, werde ich es vergessen und dann wird er sauer oder schlimmer noch, misstrauisch. Das will ich auf keinen Fall. Ich robbe zum Telefon und lasse meinen Oberkörper einen Moment missmutig über die Lehne hängen. Ich kann fast unter die Couch gucken und fahre mit dem Finger über eine hauchdünne Staubschicht. Ich verkneife mir, einmal mit der ganzen Hand drunter zufahren und richte mich auf. Zögernd nehme ich den Hörer ab. Ich starre eine Weile auf das Display, tippe die ersten fünf Stellen der Telefonnummer und lege es wieder beiseite. Ich rufe nicht gern bei ihm an. Oft geht Ewans Frau Sora ans Telefon und es entsteht dieser gezwungene Smalltalk. Sie ruft nach ihrem Mann und in der kurzen Zeit des Wartens entsteht dieses unangenehme Vakuum, das sie durch Fragen nach meinen Befinden und meinen Leben füllt. Reine Höflichkeit, denn ich bin mir sicher, dass Ewan sie auf dem Laufenden hält. Sora hat ein gespaltenes Verhältnis zu mir. In ihren Augen bin ich ein Verbrecher und obwohl ich der Onkel ihres Kindes bin, wäre es ihr am liebsten, wenn Ewan mich endlich aufgibt. Für mich wäre auch Schweigen in Ordnung, doch das habe ich ihr noch nie gesagt. Wahrscheinlich aus Angst, dass sie mir das letzte bisschen Menschlichkeit abspricht. In meinem Kopf formuliert sich das einstudierte und ausprobierte Gespräch zwischen uns. Freundlich bestätige ich, dass es mir gut geht und frage meinerseits nach dem Wohlergehen des Kindes und ihrem eigenen. Manchmal stelle ich mir ihr Gesicht dabei vor. Ihre schulterlangen, rötlichen Haare, die ein sommersprossiges Gesicht rahmen. Kantige, scharfe Züge, die ihrem Widerstreben einen besonders starken Ausdruck verliehen. Ich finde, dass sie kein schönes Gesicht hat, aber ich muss nicht jeden Morgen neben ihr aufwachen. Und nun klinge ich, wie die Idioten auf Arbeit. Ich nehme erneut das Telefon zu Hand und tippe die restlichen Nummern ein. Es klingelt und ich setze mich auf. Mein Inneres bereitet sich darauf vor Soras Stimme zu hören, doch stattdessen vernehme ich das schüchterne Piepen meiner Nichte. „Hier bei de Faro. Wer ist am Apparat?" Vorbildlich. „Hallo Lira, hier ist Eleen. Holst du mir bitte deinen Vater ans Telefon." Als sie meine Stimme erkennt, wird ihre sicherer. Lira ist 6 Jahre alt und seit einem halben Jahr stolze Erstklässlerin. „Hallo Onkel Eleen. Mama und Papa sind in der Küche. Warte kurz." Ich höre, wie sie den Telefonhörer zur Seite legt, statt ihm mitzunehmen und in die Küche rennt. Es dauert einen Moment, doch dann höre ich Ewans strenge Stimme. „Hey", sage ich kurz. „Wo warst du gestern?" Er klingt genervt und vergisst vollkommen, dass es höflich wäre jemanden zu begrüßen. Der Wille das Gespräch freundschaftlich zu gestalten sinkt. „Einkaufen. Wenn es gerade nicht passt, dann rufe ich morgen noch mal an." Ich habe keine Lust, seine schlechte Laune abzubekommen. Am anderen Ende des Telefons höre ich es seufzen. „Nein, nein. Entschuldige, aber Sora und ich führen gerade wieder eine dieser Grundsatzdiskussionen und...na ja..." Er führt es nicht aus und ich frage nicht nach. „Okay, sag mir was bei deinem Gespräch mit dem Bewährungshelfer los war", kommt er nun auf den Punkt zurück. Ich zucke ungesehen mit den Schultern und weiß nicht, was ich ihm antworten soll. „Eigentlich nichts. Ich weiß nicht, warum er sich bei dir gemeldet hat. Meines Erachtens verlief es so wie immer." „Hast du ihm von deinem Zusammentreffen mit Richard Paddock erzählt?" „Was? Natürlich nicht. Du etwa?", frage ich erschrocken und spüre, wie mein Puls nach oben schnellt. „Nein, natürlich nicht", wiederholt er meinen erschrockenen Ausbruch. Doch mein Herzschlag wird nicht langsamer. Von meinem erneuten Zusammentreffen mit Rick erzähle ich ihm nichts. „Was war es dann?", fragt er weiter und ich zucke ein weiteres Mal mit den Schultern, obwohl ich weiß, dass er das unmöglich sehen kann. „Keine Ahnung. Ich war etwas müde, weil ich schlecht geschlafen habe. Vielleicht sah er das als Anlass, dir auf die Nerven zu gehen." „Eleen, es ist seine Pflicht mich zu unterrichten, wenn irgendwas auffällig ist." „Das ist gar nicht wahr und nur weil ich mal einen schlechten Tag habe, raube ich keine Bank aus, verdammt noch mal", gebe genervt und übertrieben von mir. „Ich glaube, dass er sich über Diebstahl weniger Gedanken macht", kommentiert Ewan und ich beiße die Zähne zusammen. Als wäre ich die Gefährlichkeit in Person. Mein Bruder weiß, dass das absurd ist. „Okay, Eleen, hör zu." Es klingt, als würde er tief Luft holen und zu einer neuen Lektion ansetzen. „Halt dich einfach von Richard fern", sagt er kurz und bündig. Weniger maßregelnd als erwartet. Trotzdem seufze ich genervt auf. „Was soll ich denn bitte machen, wenn er mit mir in der U-Bahn sitzt? Ich kann ja schlecht weglaufen und er genauso wenig. Also, was soll das? Ich hab ihn durch Zufall in der Öffentlichkeit gesehen. Mehr nicht. Ich weiß ja nicht einmal, ob er mich auch gesehen hat", lüge ich ihn knallhart an und bin froh, dass wir am Telefon miteinander sprechen. Ich sage ihm genau das, was er hören will und zu meinem Glück klingt es relativ glaubwürdig. „Ja, aber du weißt ganz genau das Sybilla Paddock keine Rücksicht auf den Zufall nimmt." Bei der Erwähnung von Richards Mutter wird mir eiskalt. Ich erinnere mich an ihr gramgebeuteltes Gesicht. Das feinbestickte Stofftaschentuch in ihrer Hand, mit dem sie sich im Laufe der Verhandlung wieder und wieder über die Lider tupfte. Immer dann, wenn ihr Blick auf mich fiel, wich die Trauer dem Zorn und der Wut. Mir wird noch immer ganz anders, wenn ich daran denke. Ich höre Ewan ebenso seufzen. „Ich bin doch auf deiner Seite, das weißt du. Aber ich habe mich trotzdem noch einmal über die Konsequenzen eine Zuwiderhandlung des Kontaktverbots informiert. In der Bewährung gehst du ohne Handlungsmöglichkeiten zurück ins Gefängnis. Danach wäre es je nach Schwere des Verstoßes eine Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. Also beides keine gute Alternative." Ich höre ihm schweigend zu, doch er erzählt mir nichts Neues. Ich weiß das alles. Mein Blick wandert zur Uhr. Ich muss los. „Ich bin mir dessen im Klaren." „Wirklich?" „Ja!", lauter als beabsichtigt. „Ja, und ich muss jetzt los.", setze ich ruhig hinterher. „Los? Wohin willst du?", fragt er verwundert. Ich höre im Hintergrund eine Frauenstimme sprechen, vernehme wie Ewan seine Hand auf die Sprachübertragung legt und schließe die Augen. Sie diskutieren. „Okay, ich muss auch Schluss machen. Eleen? Pass auf dich auf." „Ja", sage ich leise und drücke blind auf den roten Ausschalter des Hörers. Ich bin genervt von dem ständigen Erwähnen des Kontaktverbots. Alle tun, als würde ich nicht verstehen, was es bedeutet, doch ich verstehe es nur all zu gut. Ich möchte es nur nicht akzeptieren, weil man es uns aufgezwungen hat. Richard hat es nicht gewollt, aber seine Mutter hatte darauf bestanden. Und um unser Lügengespinst aufrecht zu halten, musste er einwilligen und ich weiß, dass es ihm das Herz zerrissen hat. Ebenso wie mir. Ein Kontaktverbot. Damit hatte damals alles angefangen. Kein rechtliches, aber ein väterliches. Ich erinnere mich gut an die Bewegung seiner schmalen Lippen. Strenge Worte, die mich innerlich zerfraßen und denen ich keinen Glauben schenken wollte. Ich konnte und wollte es nicht verstehen. Oft genug habe ich erlebt, wie er so mit Rick gesprochen hatte. Ich habe gebettelt und gebeten, aber er ließ sich nicht erweichen. Der Gedanke an die Gespräche schnürt mir die Kehle zu. Ich blicke auf die Uhr und sehe, dass es Zeit wird, loszugehen. Noch ehe ich vollständig am Arbeitsgebäude angekommen bin, sehe ich Kaley heraustreten. Sie hat sich umgezogen und trägt nun ein hellbeiges Kleid, welches auf ihrer schönen dunklen Haut zu leuchten scheint. Mein Herz rutscht mir in tiefere Regionen und ich atme tief ein, bevor sie bei mir angekommen ist. „Wow, du sieht toll aus", perlt es klischeehaft über meine Lippen, aber es entspricht der Wahrheit. Sie sieht umwerfend aus. In dem Kleid kommen ihre langen, schlanken Beine perfekt zur Geltung. Ich fühle mich schon jetzt völlig fehl am Platz. „Danke." Sie macht einen leichten Knicks und kichert anmutig. „Du auch", sagt sie und streckt ihr Hand nach meinem Pullover aus. Sie zieht sie wieder zurück. Vermutlich erinnert sie sich an das letzte Mal als ich bei ihrer Berührung zusammen gezuckt bin. „Du musst vorangehen", sage ich und sehe dabei zu, wie sich Kaley etwas hilflos im Kreis dreht. „Ja, klar, ich glaube, wir müssen da lang..." Sie zeigt nach Süden. „Du glaubst?", frage ich neckisch. Kurz ziehe sich ihre Lippen zur Seite und grübelt über ihre vorige Aussage nach. „Doch. Ja.", bestätigt sie. Ich schmunzele und deute ihr meinen Arm zum Unterhaken an. Ein Lächeln und sie nimmt es dankend an. Während wir die Straße runtergehen, höre ich, wie hinter uns ein Auto startet. Ich wende mich nicht um, doch nichts fährt an uns vorbei. Zu unserem Glück sind wir wirklich in die richtige Richtung gelaufen und kommen nach wenigen Minuten am Restaurant an. Leise dudelige Musik empfängt uns. Ich schaue mich um. Helle, warme Farben an den Wänden. Beige- und Brauntöne. Ein Hauch Afrika. Ein Kellner kommt auf uns zu und führt uns zu einem Tisch. Ledermöbel und schwere Holztische. Viele Leute sind im Lokal und doch wirkt das Etablissement nicht überfüllt oder laut. Auch Kaley sieht sich neugierig um. „Toll", haucht sie in den Raum und sie streift ihre Jacke ab. „Ich bin das letzte Mal hier gewesen, da waren sie noch im Bau. Ich bin begeistert." Nur kurz setzt sie sich und steht nach wenigen Augenblicken wieder auf. Ich wende mich um und sehen einen großen, dunkelhäutigen Mann auf uns zukommen. Kaley lächelt. Es wird ihr Cousin sein. Ich beobachte, wie der große Mann seine muskulöse Arme um Kaleys schmale Schultern legt und ihr dabei einen sanften Kuss auf die Wange drückt. Als sie sich lösen, sehen mich beide an. „Eleen, darf ich dir meinen Cousin Kari vorstellen." Er reicht mir eine riesige Hand und es wirkt, als würden meine schlanken Finger darin untergehen. Sein Händedruck ist, wie erwartet kräftig, doch trotz meiner schmalen Glieder, habe ich ihm gut etwas entgegen zu setzen. Ich bin stärker als ich aussehe. „Hi, ein wunderschönes Restaurant haben Sie." „Vielen Dank. Wartet erstmal das Essen ab. Ich habe Ralf angewiesen, euch nur das Beste vom Besten zu servieren. Ich hoffe, ihr habt reichlich Hunger mitgebracht." Kari zeigt uns sein schönstes Lächeln. Es ist von derselben Art, wie Kaleys. „Macht es euch gemütlich. Der erste Gang kommt gleich." Er klatscht in seine Hände und verschwindet zurück in die Küche. Ich sehe ihm nach, anscheinend zu lange, denn Kaley sieht mich verwundert an. Er erinnert mich an einen Mithäftling. Ich schüttele den Gedanken von mir. „Er ist groß", sage ich lapidar und ausweichend. Kaley lacht. „Ja, wir sind alle ziemlich groß." Sie ist es auch. Ich lasse mich auf einen der Stühle nieder und überlasse Kaley damit die gemütliche Sitzbank. Je länger ich sitze, umso unwohler fühle ich mich. Ich weiß nicht, worüber ich mit ihr reden soll, denn im Grunde weiß ich nichts. Ich kenne mich mit Rohren und Heizungen aus, mit Plänen und Werkzeug, aber ich weiß nichts über Frauen oder die Welt. Ich war gerade 18 Jahre alt als ich ins Gefängnis kam und hatte vorher so gut wie keine Verabredungen oder sonstige Dinge dieser Art. Ich hatte nur Richard. Mehr habe ich nie gebraucht. Kaley lächelt mir zu als ich aufblicke. Sie stützt ihr Kinn auf die Hände ab. „Schau doch nicht so erschreckt", sagt sie lächelnd und ich schlucke. Ich setze zum Sprechen an und breche dann doch wieder ab. Ihr Lächeln ist weich und warm und es verunsichert mich nur noch mehr. Meine Hände liegen in meinem Schoss unter dem Tisch und ich knete sie durch. Sicher ist ihr meine Nervosität nicht verborgen geblieben. Ich habe das Gefühl sie förmlich auszuströmen. Meine Finger knacken und ein unangenehmer Schmerz fährt durch meinen Arm. Im Gefängnis habe ich mir ein paar Finger gebrochen und seither sind sie etwas schief, aber noch gut funktionstüchtig. Sie zum Knacken zu bringen, ist nicht gesund für mich. Ich nehme die Hände hoch und lege sie auf den Tisch ab. Noch immer sieht sie mich an. Mittlerweile forschend und etwas verwundert. Ich muss ihr gegenüber aufrichtig sein. „Kaley, ich will ehrlich sein. Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier mache. Ich bin weder sehr gesellig, noch bin ich ein guter Gesprächspartner. Ich kann im Prinzip nur Zuhören und Dinge reparieren.", gestehe ich und habe keine Vorstellung von dem, was Kaley von mir erwartet. Warum sucht sie meine Nähe? Ich verstehe es nicht. „Dann hast du schon mal mehr Qualitäten als alle anderen Männer, die ich kenne und je kennengelernt habe." Mir entflieht ein amüsiertes Geräusch, was einem nervösen Kichern gleich kommt und mein Gesichtsausdruck wird noch unverständlicher. „Okay, du bist ehrlich, dann bin ich es auch. Ich mag dich. Ganz einfach", erläutert sie. Ich sehe sie fragend an. In meinem Kopf bildet sich ein gigantisches Warum, doch ich sage nichts. Eigentlich kennen wir uns kaum. Die wenigen Mal, die wir uns belanglos auf Arbeit unterhalten haben, können kaum einen bleibenden Eindruck hinterlassen habe. Das eine Mittagessen. Nichts worauf man eine solche Gefühlsregung schließen kann. Mein Gesicht muss die Fragen widerspiegeln, denn sie setzt zu erneuten Erklärungen an. „Hör zu, du findest es sicher komisch. Ich meine, wir sind ja mehr oder weniger Arbeitskollegen, aber du warst von vornherein netter und freundlicher zu mir. Kein dummes Anmachen. Keine dämlichen Sprüche. Du bist anders und das finde ich angenehm." „Normalerweise legt man mir das nicht als positiv aus", antworte ich auf ihre Feststellung. „Du kommst nicht viel unter Menschen, oder?" Kaley stützt ihren Kopf auf ihre Hände. Ihre langen, grazilen Finger mit den unscheinbar manikürten Nägeln. Sie bewegen sich in einem stillen, langsamen Takt, den nur sie zu kennen scheint. „Merkt man das?", frage ich und mache ein gespielt überraschtes Gesicht. Ihre Mundwinkel gehen nach oben und wieder blitzen die schönen, weißen Zähne hervor. Ihre Lider schließen sich für einen Sekundenbruchteil. Ich erkenne deutlich ihre langen, getuschten Wimpern. Danach sehen mich ihre warmen, braunen Augen forschend an. „Nur ein bisschen." Ein weiteres Lächeln. Sie fragt mich nicht nach dem Grund. Ich atme unbewusst erleichtert aus. Ein Kellner kommt und wir bestellen etwas zu Trinken. Für mich Wasser und für Kaley ein Glas Weißwein. Ihren Hinweis, dass ich nichts bezahlen muss, nicke ich ab, aber es ändert nichts an meiner Bestellung. Mit den Getränken stellt uns der jungen Kellner auch Brot mit verschiedenen Aufstrichen hin. Wir beäugen die verschiedenfarbigen Pasten kritisch. Während Kaley mutig ein Stück Brot mit der grünen Paste bestreicht, erzählt sie mir, dass ihr Cousin in diesem Restaurant die typischen Gerichte ihrer beider Nationalitäten vereinen will. Ihre Familie stammt aus Äthiopien. Ich weiß nur, dass das in Afrika liegt. Ich sehe dabei zu, wie sie kaut und dann abwiegend nickt. „Gut, aber scharf", sagt sie und nimmt einen großen Schluck Wein. Sie keucht auf. Es scheint kaum besser geworden zu sein. Das 'Scharf' weckt meine Neugier und ich stelle fest, dass ich es gar nicht als scharf empfinde. Feine Süße tanzt auf meiner Zunge, die sich nach und nach wärmend über meine Geschmacksknospen ausbreitet. Das Kribbeln der Schärfe. Ich mag es. Die anderen Aufstriche probiere ich nicht. Es folgen drei Gänge. Eine Suppe aus Kürbis und Kartoffel. Wieder mit einer feinen Schärfe, die durch Ingwer eine zitronige Note erhält. Eine typisch äthiopische Hauptspeise, die aus verschiedenen breiförmigen Komponenten besteht und zusammen mit einem Fladenbrot gereicht wird. Ihr Cousin nimmt sich die Zeit und erklärt uns jedes Mal, was wir auf den Teller haben. Ich fühle mich überfordert, aber verspüre ebenso Neugier über die vielen neuen Dinge, die sich mir hier bieten. Die fremden Speisen harmonieren mit den verschiedenen europäischen Begleitern und behalten dennoch ihre exotische Wirkung bei. Die Gerüche sind atemberaubend. Vielfältig und erregend. Alles ist unterschiedlich scharf und Kaley bestellt sich zwischendurch ein Glas Milch. Freizügig erzählt sie über ihre Familie. Ihr strenger Vater ist bereits verstorben und ihre Mutter kümmert sich nun allein um ihre beiden jüngeren Geschwister. Zwei Brüder. Der eine ist noch in der Schule und der Ältere beginnt dieses Jahr sein Studium. Ich denke an meine Brüder, sage aber nichts. „Oh man, wie bekommst du das so leicht runter?" Sie keucht auf und wedelt sich mit ihren Händen kühle Luft in den Mund. „Stahlmagen", sage ich plump und stecke mir ein Stück Brot mit einer besonders scharfen Paste in den Mund. Das weniger gute Gefängnisessen hat mich abgehärtet. Ganz dem Klischee geschuldet, war es geschmacksneutral und farblos. Die wenigen Lebensmittel, die wir auf unseren Zimmern aufbewahren konnten, waren meist Konfitüren oder andere Dinge, die keine Kühlung bedurften. Meines war Senf. Während ich darüber nachdenke, greife ich mir an den Hals. Ich spüre die kühle Kette und an meiner Brust. Der Ring von Rick. Das Bedürfnis, ihn anzurufen, kribbelt seit dem Morgen heiß in mir. Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, doch wieder und wieder schleicht sich er in meinen Kopf. Die verschiedenen Geschmacksrichtungen des Essens tanzen auf meiner Zunge und ich versuche erneut, mich an das Aroma seiner Lippen zu erinnern. „Oh, unglaublich" Kaley verzieht das Gesicht und ich trinke mein Glas Wasser leer. Vom Dessert, einem selbst gemachten Eis mit Ingwer und Lakritze, koste ich nur ein bisschen und lasse es dann aus verschiedenen Gründen stehen. Ich bin satt und kein Fan der Süßholzwurzel. Ich lehne mich zurück und fasse mir an den flachen Bauch. Kaley sieht lächelnd über den Tisch und isst fleißig an ihrem Nachtisch weiter. Der silberne Löffel schiebt sich zwischen ihre Lippen und während sie ihn wieder herauszieht, dreht sie ihn um, so dass sie die Kuhle mit der Zunge auslecken kann. Ich versuche sie nicht anzustarren und schaue auf meine Finger. „Erzähl mir was von dir, Eleen. Ich habe dich jetzt den ganzen Abend mit meiner Familiengeschichte vollgetextet, aber von dir weiß ich noch immer nicht mehr, als deinen Namen." Eine freundliche Aufforderung und trotzdem fühle ich mich sofort verunsichert. Es gibt nichts zu erzählen, aber ich möchte ihr auch nicht vor den Kopf stoßen. Meine Finger werden immer interessanter. Ich verschränke sie ineinander und atme kurz tief ein. „So viel gibt es da nicht zu erzählen. Ich habe auch zwei Brüder, aber sie sind älter und haben bereits Familie. Ich habe nicht allzu viel Kontakt zu ihnen." Ich sehe auf und blicke direkt in zwei aufmerksamen Augen. Mittlerweile hat sie ihr Dessert aufgegessen und der gründlich abgestrichene Teller steht vor ihr. In ihren Fingern hält sie noch immer den Löffel. „Und deine Eltern?" Ich denke an meine Mutter und in meinem Magen bildet sich ein Stein. Seit einem Jahr habe ich sie nicht mehr gesehen. Sie war dabei, als mich Ewan aus dem Gefängnis abgeholt hat. Ich erinnere mich an ihr eingefallenes, ausgemergeltes Gesicht. Ihr Blick war abwesend. Ihre Berührungen waren zurückhaltend und man hat gemerkt, dass es ihr schwer fiel. Noch immer sehe ich ihre kühlen, kurzen Finger vor mir, die leicht zuckten und unaufhörlich über ihre unbehaarten Arme strichen. „Na ja, meine Mutter lebt in der Nähe von meinen Brüdern und meinen Vater kenne ich nicht." Ihre braunen Augen wandern mein Gesicht ab und scheinen jede noch so kleine Regung aufzusaugen. Sie schließt ihre Lider als würde ihr in diesem Moment deutlich, was meine ausweichenden Antworten zu bedeuten haben. Die volle Bandbreite meines Alleinseins. Ich habe das Bedürfnis, etwas zu erklären. „Weißt du, es hat seine Gründe, warum ich anders bin. Aber das ist okay. Ich möchte es nicht anders, denn ich komme gut damit zurecht." Ich war schon immer irgendwie allein, aber das hat mir nie etwas ausgemacht. Als jüngster, unter zwei Brüdern, haben die beiden anderen nie wirklich etwas mit mir anfangen können und meine Mutter hat sich nie davon erholt, dass ich nicht das erwünschte Mädchen geworden bin. Ich war auch früher eher ruhig und verschlossen. Erst mit Richard habe ich gelernt, wie wunderbar es ist, jemanden an seiner Seite zu wissen. Wir hatten eine intensive und himmlische Zeit. Voller Freude, Freundschaft und Liebe. Das Gefängnis und der Verlust von Richard gab dem Ganzen eine ganz andere Dimension. Doch trotz aller Widrigkeiten, habe ich mich nie einsam gefühlt. Der Gedanke an Rick lässt mein Herz pulsieren. Die Wärme kehrt in meine kühlen Fingerspitzen zurück und ich lächele. Meine Hand wandert zu dem Ring um meinen Hals und ein sanftes Lächeln umspielt meine Lippen. „Ich würde gern wissen, woran du gerade denkst und was dich gerade zum Lächeln gebracht hat, aber du musst es mir nicht sagen." Kaleys Stimme ist ein Flüstern. Sie schmunzelt und in diesem Moment taucht ihr Cousin hinter uns auf. Er schnappt sich den Stuhl neben mir und lässt seine massigen Arme auf den Tisch fallen. „Und, was sagt ihr?" Er sieht erst Kaley und dann mich an. Seine aufmerksamen Augen glänzen. „Scharf, scharf, scharf, aber sehr lecker", sagt sie und Kari sieht gespannt zu mir. „Also ich stehe auf scharf, daher wirklich gut. Es alles sieht toll aus, riecht wunderbar und schmeckt auch so." Ihr Cousin scheint zufrieden und kurz legt er mir seinen schweren Arm um die Schultern. „Okay, dass ist zufriedenstellend. Wie habt ihr euch kennengelernt?", fragt er in die Runde und ich schaue automatisch zu Kaley. „Wir arbeiten zusammen", sagt sie lächelnd und trinkt den letzten Schluck ihres Weines aus. „Oh, du Ärmster, musst du auch dem Chef den Mist hinterher räumen?" Er grinst breit. „Nein, ich bin nur ein einfacher Techniker im Facility Management." Seine eindringlichen Augen sind mir unangenehm. Wahrscheinlich fragt Kari sich gerade, warum sich Kaley mit einem dummen Hausmeister abgibt. Ich frage mich das auch. „Eleen rettet uns ständig vor dem Erfrieren. Er ist mein Held." „Na dann ist er auch meiner. Darf ich euch noch einen Espresso oder Digestif anbieten?" Kurz tätschelt er mir die Schulter. Ein leichtes Klopfen und ich weiß nicht, was es ausdrücken soll. Mit dem Kaffeeangebot steht er auf. Kaley verneint, aber ich stimme zu. Als ihr Cousin weg ist, lehne ich mich auf den Tisch und blicke sie an. „Ich glaube, ein Immobilienmakler wäre ihm lieber", sage ich nur halb ernst, doch Kaleys Lächeln ist ausweichend. „Na ja, er ist wie eine Art großer Bruder und die müssen so sein.", plaudert sie. Ich verstehe die Aussage nicht. Da sie aber nichts mehr dazu sagt, nicke ich es einfach ab. Kari kommt mit dem Espresso zurück und wir unterhalten uns über das Restaurant, während ich das Getränk genieße. Als wir fertig sind, bringe ich Kaley zu einem der naheliegenden Taxistände. Sie bedankt sich für meine Begleitung und ich bedanke mich für die freundliche Einladung. Bevor sie in das Auto steigt, sieht sie mich einen Moment eindringlich an. Doch kein weiteres Wort verlässt ihre Lippen. Nur ein sanftes Lächeln. Sie beugt sich vor und haucht mir einen Kuss auf die Wange. Ich brauche einen Moment bis ich meine Gefühle geordnet habe. Fast automatisch wandert meine Hand zurück an die Kette um meinen Hals und meine Gedanken zu Richard. Meine Sehnsucht ist stark, vor allem in diesen Momenten, in denen ich einfach nicht weiß, was richtig und was falsch ist, in denen ich nicht weiß, was ich empfinde. Eine Freundschaft zu Kaley. Ich weiß nicht, wie man ein guter Freund ist. Die einzige Freundschaft, die ich je hatte, ist die zu Rick, doch das war anders. Das zwischen uns war vieles mehr. Will Kaley eine Freundschaft? Ich weiß es nicht. Noch immer sehe ich dem mittlerweile verschwundenen Taxi nach. Ich atme die kühle Nachtluft ein und sehe mich um. Ich laufe zurück zu meiner altbewerten U-Bahnstation. Meine kalten Finger schiebe ich beim Laufen in die Hosentaschen und meine Gedanken wandern immer weiter davon. In die Vergangenheit. Ich könnte ihn anrufen. Mein Herz explodiert augenblicklich. Es wäre falsch. Die Explosion stagniert und mein Herz zieht sich zusammen. Neben der Treppe zur U-Bahn steht ein junger Mann. Die Zigarette in seiner Hand qualmt. Er saugt den Rauch tief ein und das Ende färbt sich leuchtend orange. Ich sehe, wie er mir mit den Augen folgt. Ich ziehe unwillkürlich meine Schultern höher und damit auch den Kragen meiner Jacke. Am Bahnsteig sind nur noch wenige Menschen. Es ist bereits spät. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und blicke auf die Uhr. Mein Daumen streicht über das Display und meine andere Hand greift erneut an meine Brust. Ich spüre den Ring nur minimal unter dem Stoff des Pullovers. Ein Zug fährt ein, doch ich bleibe stehen und ziehe die Kette hervor. Der Ring rotiert in meinen Fingern und ich lese flüsternd die eingravierten Zahlen vor. Unbewusst präge ich sie mir ein. Zahl für Zahl. Bis sie sich in meinen Kopf gebrannt haben. Mein Daumen tanzt dabei über das Display meines Telefons. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)