Herzschlag I von DieJESSYcA (Miss Paine) ================================================================================ 007 – Das Tor zur Hölle -----------------------   Ich saß auf einer schmalen hölzernen Bank in der Stube des Schusters. Michael hatte mir von oben ein Glas Wasser gebracht und sah mich mittleidig an. "Was war denn los?" Meine Hände waren fest um das Glas geschlossen während ich meine schmutzigen Finger fixierte. "Jemand verfolgte mich." "Bist du sicher?" Er klag überrascht. "Weißt du wer es war?" Ich hob ahnungslos meine Schultern und ließ sie kraftlos zurück an ihren Platz fallen. Er schwieg unangenehm lange. Ich fragte mich, was er wohl denken mochte. Ob er sich um mich sorgte, oder ob er mich für verrückt hielt. "Wieso bist du überhaupt so spät nachts noch unterwegs?" Seine Worte klangen vorwurfsvoll. Ich erzählte ihm, was geschehen war und er wurde wütend. "Sie können dich doch nicht einfach hinauswerfen!", schimpfte er. "Offenbar können sie es", entgegnete ich ihm und versuchte nicht weiter darüber nachzudenken. "Darf ich heute Nacht hier bleiben?" Ich sah ihn flehend an und war erleichtert, als er nickte. "Aber morgen musst du weiterziehen. Ich sagte meinen Eltern, es wäre eine Bettlerin gewesen, die ich wieder fortgeschickt hätte." Ich dacht einen Augenblick über seine Worte nach, bis mir etwas klar wurde. "Ich bin eine Bettlerin." Ich hatte nichts mehr, außer der Kleidung, die ich am Leib trug. Keine Ware, die ich hätte verkaufen können. Mir blieb nur noch diese eine Möglichkeit. Betteln... Er lächelte sanft und reichte mir seine Hand. "Komm, ich bringe dich ins Badezimmer. Danach wird es dir besser gehen." Ich ließ mich von ihm führen und schloss dankend die Tür hinter mir. Meine großen Pläne hatten sich innerhalb von Minuten in Rauch aufgelöst und ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wie es weitergehen sollte. All meine Ersparnisse lagen in der Herberge und deren Eigentümer würden alles daran setzen, dass ich sie nicht zurückbekam. Könnte ich fliegen, ich würde sofort auf der Farm meines Vaters landen. Ein alberner Wunsch. Als ich das Badezimmer in einigermaßen sauberem Zustand verließ, war Michael längst verschwunden. Er hatte mir eine Decke dagelassen, mit der ich mich unten in der Werkstatt seines Vaters hinlegen durfte. Mehr konnte er mir nicht anbieten, doch es war besser als die Nacht draußen zwischen Kälte und Furcht zu verbringen. Ich legte mich auf die schmale Bank und schloss die Augen. Meine Erschöpfung tat ihr übriges und Schlaf überrollte mich mit wilden Träumen. Monsterhafte Fratzen mit knochigen Klauenfingern umtanzten mich. Schwarze Wesen von bärenähnlicher Gestalt. Ein Veitstanz, der bis zum Morgengrauen in meinem Kopf tobte und mich schweißgebadet erwachen ließ. Ich musste verschnaufen. Draußen erkannte man die ersten Umrisse der Häuser. Die Wolkendecke war seit Tagen nicht aufgerissen und auch heute wollte sich daran nichts ändern, doch es wurde allmählich heller. Ich bemühte mich, meinen Zopf noch einmal ordentlich zu flechten und wartete auf die ersten Stimmen der erwachenden Stadt. Ich stand ruhig neben der Türe und ließ meine Blicke über die Werkzeuge des Schusters wandern. Oben im Haus wurden Stühle verschoben. Ich packte eines der Ledermesser, ließ es in meiner Manteltasche verschwinden und verließ eilig das Haus. Du brauchst das und Michaels Vater hat genug davon. Du musst dich verteidigen können. Es ist in Ordnung. Mein Gewissen kämpfte mit meiner Vernunft, während ich etwas Abstand zwischen mich und den Ort meines Vergehens brachte. Ich zwang mich, nicht länger darüber nachzudenken und suchte mir stattdessen ein windgeschütztes Stück Straße, mit möglichst hohem Publikumsverkehr. Bis zum Abend brauchte ich ein paar Dollar, wenn ich nicht draußen schlafen wollte. Ich musste meine Würde niederringen, um mich auf den Boden knien zu können und meine Hände zu einer Schale zu falten. Jede Sehne meines Körpers sträubte sich gegen diese Demütigung. Ich war angekommen, am äußersten Rand der Gesellschaft. Mit schmutziger Kleidung saß ich hier und wartete auf das Mitleid der städtischen Mittelschicht. Tiefer sinken konnte ich nicht mehr und dennoch brannte jeder Penny wie Säure auf meiner Haut. Ich brauchte das Geld, nur mein Stolz wollte es nicht. Mühsam brachte ich die Worte über meine Lippen und bat die Passanten um etwas Kleingeld. Meine Taschen füllten sich langsam und ich musste hoffen, dass es gegen Abend besser laufen würde, wenn die Menschen nach getaner Arbeit nach Hause gingen und etwas mehr Zeit für eine arme frierende Bettlerin hatten. Die Kälte schien mich verzehren zu wollen. Sie war stärker geworden und die fehlenden Mahlzeiten trugen ihr Übriges dazu bei. Zu gerne hätte ich, für eine warme Suppe, meine Seele verkauft, doch selbst der Teufel schenkte mir keine Beachtung mehr. Stunde um Stunde hockte ich zwischen den dunklen Mauern bedankte mich für jede Münze und ließ meine Gedanken schweifen. Welche Möglichkeiten hatte ich noch, wenn ich hier nicht einsam sterben wollte? Vielleicht wäre es besser, doch auf Michaels Angebot einzugehen und seine Frau zu werden. Je später es wurde, desto sinnvoller erschien es mir dieses Leben zu wählen, sollte Michael mich noch immer wollen. Ein Dach über dem Kopf, warme Mahlzeiten, ein netter Ehemann und eine sichere Zukunft. Ich starrte ins Leere, während ich meine Alternativen abwägte, von denen die meisten ein grausames Ende für mich bereithielten, bis meine Blicke von einem Paar brauner Augen erwidert wurden und mein Geist hastig zurück ins Jetzt stolperte. Christina... Meine Lungen verweigerten augenblicklich ihre Dienste. Mein Herz wollte aus meiner Brust springen, als ich sie vor mir sah. Gehüllt in ihre Nonnenkluft mit einem dicken Mantel und einem Korb im Arm, stand sie in der Abenddämmerung auf der anderen Straßenseite und blickte mich an. Sie blieb stumm und auch mir waren die Worte entfallen, die ich hätte sagen können. Ich hoffte sie würde zu mir kommen, mich retten, doch sie wandte sich wortlos ab und ging weiter die Straße entlang, als hätte sie mich nicht erkannt. Es erschütterte meinen Körper und brachte ihn sofort auf die Beine. "Christina!" Ich konnte sie nicht einfach gehen lassen, doch Christina hielt nicht an. "Bleib hier!", rief ich ihr nach. Meine Füße waren taub und meine Beine kribbelten vom langen Knien. "Bitte, Christina! Ich gehe hier zu Grunde!" Sie sollte anhalten und mich trösten, doch ihre Schritte wurden schneller und ich wollte nicht wahrhaben, was ich sah. Sie rannte, als wäre ich ihr schlimmster Alptraum. "Christina, ich liebe dich! Lass mich nicht allein!" Meine Stimme zitterte. Ein drückender Schmerz umklammerte meine Brust. Ich versuchte ihr auf schlafenden Beinen zu folgen. Sie entfernte sich weiter von mir, drehte sich nicht einmal um und nach wenigen Schritten zwangen mich meine Beine gewaltsam auf den Boden zurück. Sie waren zu weich, um darauf zu rennen und ich war zu schwach um mich wieder aufzurichten. "Ich brauche dich..." Ein Flüstern, das sich über meine bebenden Lippen gestohlen hatte, als ich am Boden lag. Ich blieb liegen und schloss meine Augen. Zerplatzt wie eine Seifenblase. Der schöne Traum, der mich aufrecht gehalten hatte. Es würde kein glückliches Ende für uns beide geben, dessen war ich nun sicher. Sie war gegangen. Ohne ein Wort war sie verschwunden und hatte mich zurückgelassen, wie einen dreckigen Straßenköter, auf das er endlich sterben möge. "Steh auf, Megan." Jemand packte mich fest am Arm und zog mich hoch. Ich kannte diese Stimme, doch ich wusste nicht woher. "Mit dir ist es bergab gegangen, seit unserer letzten Begegnung." Ich blinzelte und mein Blick schärfte sich. Vor mir stand die Frau, die mir fünf Dollar für eine meiner Geschichten gegeben hatte. "Ich hatte vermutet, deine Geschäfte würden hier florieren", sagte sie, während sie mich eingehend betrachtete. "Offenbar tun sie es nicht." Ich schüttelte den Kopf und kämpfte um Fassung. "Du hast wohl auch keine weiteren Geschichten mehr bei dir, oder?", fragte sie, "Jedenfalls siehst du nicht sehr bepackt aus." Wieder verneinte ich ihre Frage mit einem Kopfschütteln. "Schade. Ich hätte gerne noch ein paar davon gelesen." Ich holte tief Luft und sammelte Kraft, um ihr zu antworten. "Ich kann nicht mehr schreiben. Und... ich bin auch nicht mehr lange hier." Sie sah mich enttäuscht an. "Das ist sehr bedauerlich." "Eigentlich ist es das nicht." "Wie kommst du darauf?" "Außer Ihnen interessiert es niemanden." "Das denkst du?" Ich nickte und strich die Tränen aus meinem Gesicht. "Das denke ich." "Verstehe." "Es tut mir leid." Sie schenkte mir ein mildes Lächeln. "Nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest." Ein leises Seufzen entspannte meine Nerven. "Danke fürs Aufheben." "Sehr gerne. Erzählst du mir dafür eine Geschichte?" Ich sah verblüfft in ihr freundliches Gesicht. Sie wollte nicht locker lassen, doch mir war nicht nach Geschichten. "Das kann ich nicht. Mir fällt nichts mehr ein." Ich wollte meine Ruhe. "Gar nichts?" Sie klang bestürzt. "Dann erzähle mir eben deine Geschichte." Meine? Wollte sie tatsächlich hören, wie ich so tief gesunken war? Als wäre es eine alte Geschichte, erzählt von einer betagten Frau, die ihr Leben gelebt hatte und friedlich in ihrem Schaukelstuhl vor dem Kamin saß. Mein Leben war gelebt, doch fehlte mir der Schaukelstuhl, um eine solche Geschichte zum Besten geben zu können. "Du hast doch sicher einiges erlebt, nicht wahr?" "Einiges", bestätigte ich. Meine Hände spannten sich um meine Arme und ich bemühte mich ruhig zu bleiben. Konnte diese Frau mich nicht einfach in Frieden lassen? "Aber ich möchte nicht darüber sprechen", fügte ich hinzu, als sie mich weiterhin erwartungsvoll anblickte. "Das habe ich befürchtet", seufzte sie. "Es ist wirklich mehr als tragisch. Man findet selten solch gute Geschichten wie deine." Verspottete sie mich? "Sie müssen sich jemand anderen suchen, der Ihnen Geschichten erzählt, Miss..." "Volkova", klärte sie mich auf. "Sofia Volkova." Sie reichte mir ihre Hand. "Megan Paine", antwortete ich knapp, als ich ihre Hand schüttelte. "Das weiß ich, es steht unter dem Titel deiner Geschichte." "Gut, dann noch einen schönen Abend." Ich wollte endlich meine Ruhe haben. Es erschien mir lächerlich, dass diese Frau sich so brennend für mich interessierte. Ich konnte ihr dieses Interesse nicht abkaufen. "Das wünsche ich dir ebenfalls", sie lächelte, "und such dir besser bald einen Unterschlupf. Ich hörte von Mädchen, die des Nachts von den Straßen gestohlen wurden." Ich betrachtete prüfend meine Umgebung. Noch immer waren Menschen unterwegs. Es war höchstens achtzehn Uhr und dennoch fröstelte ich bei dem Gedanken an letzte Nacht. "Das werde ich." Sie ging und war schnell hinter einer Straßenecke verschwunden. Eine merkwürdige Person. Volkova. Klang, als wäre sie nicht von hier, doch einen ausländischen Akzent hatte ich nicht ausmachen können. Es war auch nicht weiter wichtig woher sie kam und wer sie war. Ich würde sie ohnehin nichtmehr wiedersehen. Meine Idee, Michaels Gemahlin zu werden, hatte ich in dem Moment verworfen, als ich Christina begegnet war und nun, da ich keine drei Dollar in der Tasche hatte und allmählich die Nacht hereinbrach, würde ich mit Sicherheit Erfrieren, Verhungern, oder einem Verrückten in die Hände fallen. Ein feines Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Mir war nicht zum Lachen zu Mute, doch diese absurde Situation ließ mich kichern. Es war tatsächlich kein Pfad mehr übrig, der mich aus meiner Tragödie herausführen konnte. Und jetzt, am Ende aller Wege, was blieb mir noch, außer es gebührend zu beenden und meinen Schmerz zu ertränken? Ich wollte darauf anstoßen, das es nun vorbei sein würde, wollte mich betäuben, um am Morgen kalt und regungslos gefunden zu werden. Wenn das alles war, was mich erwartete, dann wollte ich es mir so leicht wie möglich gestalten. Ich brauchte Wein und ich kaufte mir eine Flasche von meinem erbettelten Geld, um sie genüsslich am Brunnen auf dem Marktplatz zu leeren und in einen todbringenden Schlaf zu sinken. Es schmeckte scheußlich und hinterließ einen fahlen Geschmack auf meiner Zunge. Ein Rätsel, weshalb die Menschen ihn tranken. Sicher war es nicht aufgrund des Aromas, doch ich ahnte nach einer halben Flasche, welche Gründe hinter dem Konsum dieses Getränks steckten. Ich fühlte mich leichter und schwindelig. Er ließ mich meine Sorgen vergessen und ich schwebte wie auf Wolken. So hatte ich es mir vorgestellt. Beschwingt und vergnügt dem Ende entgegen. Vielleicht sollte ich Michael noch einen Besuch abstatten. Das Haus seines Vaters war nur einmal quer über den Marktplatz. Nicht weit und auch auf wackligen Beinen zu erreichen. Ich rutschte vom Rand des Brunnens und hielt mich an meiner Flasche fest, während ich hinüber zum Schuster stolperte. Ich klopfte an die Türe. "Michael...?" Meine Zunge war schwer geworden. "Bist du da?" Ich wartete, während ich Halt am Türrahmen suchte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich die Türe geöffnet wurde und ein bekanntes Gesicht mich begrüßte. "Megan?" Michael klang überrascht. "Was tust du hier? Ich sagte doch, du müsstest gehen." Ich hob unkoordiniert meinen Zeigefinger. "Das weiß ich." "Bist du betrunken?" Er wirkte entsetzt. "Ein kleines bisschen", nuschelte ich und hob die Flasche, die zu zwei Dritteln geleert war. Ich musste lachen, als er mich in die Stube zog und hielt mich an ihm fest, um nicht zu stürzen. "Ich wollte mich...", ich überlegte kurz, "verabschieden. Ich verschwinde..." "So kannst du nicht verschwinden", entgegnete er mir mit strengem Ton und drückte mich auf die hölzerne Bank, auf der ich letzte Nacht geschlafen hatte. "Doch. Genau so", bestätigte ich  und wollte wieder aufstehen. Vergebens. Er drückte mich zurück nach unten. "Was tust du da?", fragte ich kichernd. Er nahm mir die Flasche Wein aus der Hand, bevor er antwortete. "Dich vor Dummheiten bewahren. Was hast du denn vor? Willst du dich tottrinken?" Ich grinste unwillkürlich. "So ungefähr. Also...", ich griff nach meiner Flasche, "gib sie mir zurück." "Nein." Wackelig zog ich mich an der Tischkante hoch und sah ihm fest in die Augen. Ich hielt ihm meine offene Hand hin. "Gib sie mir. Ich habe sie bezahlt und ich werde den Wein trinken. Du kannst Blumen an mein Grab stellen, wenn du etwas für mich tun willst." "Du bist doch verrückt!", entgegnete er mir und machte keine Anstalten, mir meinen Wein zurückzugeben. "Michael! Gib mir meinen Wein!", schimpfte ich. "Das gehört sich nicht für eine Dame", erklärte er mir, wie ich mich zu verhalten hätte. "Ist mir egal! Du hast kein Recht, mir Vorschriften zu machen!" Ich würde mich nicht so einfach geschlagen geben. Ich hatte meine Entscheidung getroffen und auch Michael würde mich nicht davon abhalten können. "Gib sie-" Ich erstarrte, als er die Flasche auf den Kopf stellte und der Wein sich auf den Boden ergoss. Fassungslos beobachtete ich, was er tat. "Du solltest heute Nacht hier bleiben, um nüchtern zu werden", empfahl er mir mit ruhiger Stimme und stellte die leere Flasche auf den Tisch neben mich. "Morgen kannst du verschwinden, sobald dein Geist wieder klar ist." "Ha! Witzig." "Überhaupt nicht." Ich sank zurück auf die Bank und legte meinen Kopf auf die hölzerne Tischplatte. Wieder hatte man meine Pläne durchkreuzt. Es wurde allmählich zur Gewohnheit und ich spürte deutlich, dass ich momentan nicht in der Lage war, etwas dagegen zu unternehmen. Ein kurze Verschnaufpause würde mir sicher gut tun. In meinen Kopf drehte sich alles und vielleicht hatte Michael Recht und morgen würde alles besser aussehen. Wenn nicht, musste ich mir etwas anderes überlegen. Doch bis es soweit war, wollte ich etwas ruhen. Mein Körper war so unfassbar schwer geworden, als hätte man mir Steine in die Taschen gesteckt. Ich konnte nicht mehr aufstehen, selbst wenn ich es wollte. Michael sagte noch ein paar Worte, doch ich verstand sie nicht und kniff die Augen fest zusammen. Ich konnte hören, wie er den Raum verließ und die Stufen nach oben ging. Wenigstens musste ich heute Nacht nicht draußen schlafen.   Stunden später erwachte ich. Der Mond schien matt durch das Fenster. Mein Kopf schmerzte, als ich ihn hob. Ich konnte nichts sehen, doch ich hörte jemanden über den Boden schlurfen. "Michael?", fragte ich leise. "Nein", kam die Antwort. Es war eine männliche Stimme. "Wer ist da?" Ich versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen, doch mehr als eine dunkle Gestalt war nicht zu sehen. Sie kam zu mir herüber. "Die Frage ist, wer bist du, dass du unerlaubt in meinem Haus nächtigst?" Zwei Hände donnerten vor mir auf das Holz. "Sag schon!", schnauzte er mich an. "Ich... ich bin Megan, Sir." Ich wich zurück, als er sich zu mir hinunterbeugte. "Megan also", er schnaubte verächtlich, "das Mädchen, das mit meinem Sohn spielt." "Ich spiele nicht", korrigierte ich ihn. "Er hat mir nur geholfen." Der Schuster brummte tief. Er klang verstimmt und beängstigend. Ich wagte nicht, noch mehr hinzuzufügen. Stattdessen rückte ich langsam weiter nach hinten, zum anderen Ende der Bank, um mit größtmöglicher Entfernung an ihm vorbeizukommen und zur Türe zu gelangen. "Ich werde einfach verschwinden", flüsterte ich, während ich mich zum Ausgang bewegte. Der Mann machte keinen Mucks und ließ mich gehen. Ich drückte die Klinke und wollte den Schlüssel drehen, doch er steckte nicht mehr. Wo ist denn ..? "Suchst du etwas?", fragte der Schuster. "Den Schlüssel. Ich wollte gehen." "Er ist hier." Ich drehte mich um und erkannte die dunkle Silhouette des Mannes, die mir einen Arm entgegenstreckte. "Hol' ihn dir." Meine Nerven wurden unruhig und ich verharrte still an meinem Platz. Eine gefährliche Spannung lag in der Luft. Wie eine Katze lauerte er darauf, dass ich mich seiner Falle näherte. "Na los. Worauf wartest du?" Ja, worauf wartete ich? Er würde ihn mir sicher nicht bringen. Ich holte tief Luft, redete mir gut zu und trat nach vorn, um den Schlüssel entgegenzunehmen. Es erwies sich als grauenvoller Fehler. So hastig ich versucht hatte, den Schlüssel an mich zu nehmen, so schnell war der Schuster aufgesprungen und zog an meinem Arm. Blut schoss in meinen Kopf, als er mich herumzerrte und auf den Tisch warf, seine Hand fest um meinen Hals gespannt. Die Leisten auf dem Tisch drückten sich in meinen Rücken, doch viel qualvoller war die Hand dieses Mannes, die an meiner Kleidung riss. "Aufhören!" Ich schrie ihn an. Schlug nach ihm, so fest ich konnte, doch meine Hiebe waren machtlos, gegen die rohe Kraft des Schusters. Ich erwehrte mich verbissen seiner kalten Hände, die mir unter Bluse und Rock fuhren. Er presste mich mit seinem Körper fest an den Tisch und ich spürte ein widerliches Pochen an meinen Schenkeln, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war tausendfach schlimmer, als die eisigste Kälte, die mich draußen um den Schlaf bringen würde und zehrender als jeder Hunger. Ich stemmte mich gegen ihn, krallte mich in seinen Hals und kassierte eine schallende Ohrfeige, die mir für einen Moment die Sicht stahl. Ich blinzelte einige Male, bevor ich weiter um mich schlug. Er durfte mich nicht berühren. Ich flehte und heulte, er möge von mir ablassen, doch alles was ich bekam, waren Schläge, die mich zum Schweigen bringen sollten. Er beschimpfte mich. Miststück. Hure. Dann rührte ich mich nicht mehr. Ich blieb ruhig, während er seinen Gürtel öffnete und sich die Hose abstreifte. Er lag auf mir. Ein abscheulicher Teufel, der nun sein Opfer verspeisen wollte. Jemand musste ihn aufhalten! Ich fand etwas in meiner Tasche und wandte den Blick in sein Gesicht. Seine niederträchtigen Augen funkelten gierig. Jetzt war nicht der Moment, um zu zögern. Ich spannte meine Hand um den hölzernen Griff des Schustermessers, kniff die Augen fest zusammen und riss es aus meiner Jackentasche, dem Schuster entgegen. Für einen Augenblick geschah nichts. Ich hatte die Luft angehalten und zuckte zusammen, als das warme Blut des Schusters auf mich niederregnete. Es sprudelte mir aus seinem Hals entgegen und durchtränkte meine Kleidung, ehe der Schuster röchelnd und japsend vom Tisch rollte. Er sank auf dem Boden zusammen, während sein Blut die hölzernen Dielen in einen schimmernden Teich verwandelte. Ich saß auf dem Tisch und beobachtete, wie es sich langsam ausbreitete. Meine Blicke waren starr auf den Schuster und seine letzten Lebenszeichen geheftet. Erst als ich sicher war, dass er nicht mehr lebte, erfasste mich ein mächtiges Zittern. Ich sah mich eilig nach dem Schlüssel um, doch so sehr sich meine Augen bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ich konnte ihn nicht finden. Mein Atem ging mit jedem Zug schneller. Ich wollte von hier verschwinden. Sofort. Es gab nur einen Ort, an dem ich nicht nach dem Schlüssel gesucht hatte. Die Taschen des Schusters. Ich näherte mich langsam. Mir wurde heiß und ich merkte, wie die Luft zum Atmen immer knapper wurde. Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, als ich mich hinunterkniete und seine Taschen durchsuchte. Er hatte den Schlüssel zurück in seine Jackentasche gesteckt, bevor er mich überfallen hatte und ich holte ihn mir. Es war nicht einfach, das Schlüsselloch zu treffen. Meine Hände waren unruhig. Sie klebten voller Blut und gehorchten mir nicht mehr. Beruhige dich. Schließ auf und verschwinde. Ich musste mich zusammenreißen, um die Türe öffnen zu können. Als sie aufschwang, stürzte ich hinaus auf den Marktplatz, wo kalter Wind mir entgegenpeitschte. Die Nässe, die sich über Gesicht und Hals ausgebreitet hatte, trocknete schnell und spannte auf meiner Haut. Ich musste es abwaschen. Rasch ging ich zurück zum Brunnen, doch der Wasserpegel war zu niedrig. Es war unmöglich, sich hier zu reinigen. Hast trieb mich durch die Straßen, auf der Suche nach einem Trog, einer Gießkanne oder einem Eimer mit Wasser. Eine Pfütze war alles, was ich fand doch die Tage an denen ich wählerisch war, waren längst vergangen, ich wollte es nur abwaschen. Wollte loswerden, was geschehen war. Ich rieb und kratzte über meine Haut, versuchte in der Pfütze meine Schuld abzuwaschen. Michaels Vater war tot. Ich hatte ihn umgebracht. Mir wurde schlecht. Ich war nicht nur arm und verkommen, ich war auch eine Mörderin. Ein Monster mit langen blonden Haaren, dass bittere Tränen über seine Taten vergoss. Ich konnte es sehen. Mein Gesicht spiegelte sich in der Pfütze. Es war blutverschmiert und ich erkannte mich nicht mehr. Ich war mir fremd geworden. So sah man also aus, wenn einem die Seele abhanden gekommen war. Wenn niemand mehr über einen wachte und ein tiefer Abgrund einen erwartete. Ich schloss die Augen und bedeckte sie mit meinen Händen, doch des Teufels Schergen umkreisten mich noch immer. Sie schoben und zerrten mich, bis ich in die Hölle blicken konnte. Ich musste nur springen, dann wäre alles vorbei. Gott würde mich ohnehin nicht mehr wollen, dann konnte ich es auch selbst tun. Ich hatte das Messer mitgenommen, unbewusst musste ich es zurück in meine Tasche gesteckt haben,  und es bedurfte nur zweier kleiner Schnitte. Ich zwang mich ruhiger zu werden und konzentrierte mich. Ich hatte lange genug gekämpft, war tiefer gefallen als ich es für möglich gehalten hatte und jetzt konnte ich nicht mehr weitergehen. Es gab kein Ziel mehr, nur noch Furcht. Ich atmete aus und zog die Klinge mit Druck durch meine Haut. Brennender Schmerz strahlte meinen Arm entlang. War das wirklich was ich wollte? Ich umfasste mein blutendes Handgelenk und presste es an meine Brust. Es schmerzte höllisch und ich hoffte, dass es genügen würde und ich nicht auch meinen anderen Arm verletzen musste, um diese Welt verlassen zu können. Zusammengekauert in einer engen Seitenstraße erwartete ich mein Ende. Ich war bereit zu gehen. Meine Gedanken führten mich fort, während ich wartete. Ich stellte mir vor, einen langen hohen Gang entlangzugehen. Geradeaus auf eine dunkle Pforte zu. Meine Schritte hallten über den glatten Marmor. "Was tust du hier, Kind?" Erwarteten sie mich etwa nicht? Ich setzte zum Antworten an, bis ich erkannte, dass die Worte nicht meiner Fantasie entsprungen waren. Vorsichtig öffnete ich die Augen und riskierte einen Blick. Sofia kniete vor mir. "Wolltest du dir nicht einen sichern Unterschlupf suchen?" Sie fragte nicht was ich getan hatte, doch sie musste sehen, dass etwas nicht stimmte. Es war unmöglich, dass sie es nicht sah und ich wünschte, sie würde einfach wieder verschwinden. Ich wollte nicht gefunden werden solange ich noch lebte und wandte mich wortlos ab. Sie würde es verstehen. "Du bist heute nicht sehr gesprächig", stellte sie trocken fest und erhob sich. Sie seufzte und ich war froh über ihren resignierten Tonfall. Im Augenwinkel beobachtete ich sie und hoffte, dass sie endlich gehen würde, doch stattdessen streifte sie ihren Handschuh ab und hielt mir ihre nackte Hand entgegen. "Komm mit mir." Ich zögerte. Wohin würde sie mich bringen? Spielte es eine Rolle? Ich griff nach ihrer Hand. Sie war warm und ihre Haut war sanfter, als ich es erwartet hatte. Es war anders als gestern Abend, als sie sich vorgestellt hatte. Kraftvoller. Sie zog mich hoch und nahm mich mit sich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)