Dies Irae von Yamato_ (Tag der Rache) ================================================================================ Kapitel 1: Primus Ictus Campanae: Fragrantia Noctis --------------------------------------------------- "Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er für sich selbst spricht. Gib' ihm eine Maske und er wird dir die Wahrheit sagen." -Oscar Wilde- Primus Ictus Campanae: Fragrantia Noctis Erster Glockenschlag: Der Duft der Nacht Gebiet Rose, neues Hauptquartier des Kundschafterkorps, September 850, drei Tage vor der 57.Expedition Büro des Kommandanten Ein weiteres Mal schob Erwin die Figuren über den Plan und rechnete die Zeit aus, die ein Botenreiter benötigen würde, um eine Information von der Nachhut an die Spitze des Zuges zu bringen. Da der Zug sich unaufhörlich vorwärts bewegte, war genau dies der Schwachpunkt der Nachrichtenübermittlung. Sollten sie also von hinten angegriffen werden, blieben ihnen nur noch die Signalpistolen. Damit konnte man zwar ‚Titan’ oder ‚Abnormaler’ kommunizieren, aber nicht ‚Wandler’. Der Koloss war der Einfachere von beiden. Bei seiner Größe würde man ihn problemlos ausmachen können, ganz egal von welcher Seite er angriff. Er war ungeschützt und sehr leicht verwundbar, sobald es jemandem erst gelungen war, seinen Nacken zu erreichen. Nicht irgendjemandem, verbesserte sich Erwin in Gedanken. Levi. Nur Levi konnte so schnell und gleichzeitig präzise genug zuschlagen, um den Titanen zu fällen, ohne den Menschen in seinem Nacken zu töten. Den Menschen brauchten sie lebendig. Der Gepanzerte war das weitaus größere Problem. Sein Nacken war geschützt, sie würden ihn nicht so einfach besiegen können. Aber auch für ihn hatten sie einen Plan. Ein Plan, bei dem zu viele Dinge schief gehen konnten. Erwin seufzte und hob den Blick von seinen Skizzen. Dieses Mal musste er hoch pokern, vielleicht zu hoch, aber er sah keinen anderen Ausweg. Das Korps hatte nur diese eine Chance, sich zu beweisen. Besser, er hielt die Karten in der Hand als jemand, der die Spielregeln nicht kannte. Ein Klopfen an der Bürotür riss ihn aus seinen Gedanken. „Herein.“ „Kommandant.“ Nanaba salutierte in der Tür, verschwitzt und erschöpft vom langen Reiten. Vermutlich war sie gerade erst eingetroffen und auf schnellstem Wege zu ihm geeilt. An ihrer entschlossenen Miene erkannte Erwin bereits, dass ihre Mission erfolgreich gewesen sein musste. „Wir sind zurück und haben alles vorbereitet.“ „Sehr gut, danke Nanaba.“ Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln. Mehr gab es dazu nicht zu sagen, es war zu gefährlich, die Einzelheiten hier zu besprechen. Nanaba war eine der Siebzehn und somit eine der wenigen Veteranen, die in den eigentlichen Plan eingeweiht waren. Ihre Aufgabe war es gewesen, mit ihrem Team in den Hundertjährigen Wald zu reiten und dort die Falle für den Gepanzerten vorzubereiten. Alle Soldaten, die nach dem Jahre 845 ins Kundschafterkorps eingetreten waren, glaubten weiterhin, bei der Mission handle es sich um eine Übung für den Weg nach Shiganshina. Erwin hasste es, seine Leute belügen zu müssen, aber hier mussten sie Stillschweigen bewahren. Aus einem ganz einfachen Grund. Jeder, der nach dem Jahre 845 zum Korps gekommen war, konnte ein Titanenwandler sein. „Es gibt noch weitere Neuigkeiten“, fuhr Nanaba fort. „Wie es scheint, ist einer der neuen Rekruten beim Training mit der Gear abgestürzt und hat sich leicht verletzt. Ich habe es nur zufällig mitbekommen, als ich auf dem Weg in Euer Büro war. Aber ich bin sicher, Mike kann Euch dazu Genaueres sagen.“ Erwin nickte und seine Miene verdüsterte sich. Laut Trainingsplan war Mike heute dazu eingeteilt, mit den Neuen zu arbeiten. Dabei musste der Unfall passiert sein. Hoffentlich fiel der Rekrut nicht komplett aus. Ein Botenreiter weniger. „Aber die beste Nachricht hab’ ich mir für den Schluss aufgehoben.“ Ein kurzes Lächeln huschte über Nanaba’s Gesicht. „Levi und sein Team sind zurück.“ ~*~ Gebiet Rose, neues Hauptquartier des Kundschafterkorps, Stallungen, selbe Zeit „Kümmer’ dich um Résistance.“ „Ja, Captain.“ Levi’s Stimme klang wie immer, auch seine Bewegungen strahlten die übliche Ruhe aus. Doch mittlerweile kannte Eren ihn gut genug, um zu wissen, dass er angespannt war. In den vier Wochen, die sie gemeinsam auf der Burg verbracht hatten, hatte Levi sein Pferd immer persönlich versorgt. Dass er das jetzt ihm, Eren übertrug, musste bedeuten, dass er so schnell wie möglich zum Kommandanten wollte. Es war auch nicht weiter verwunderlich, schließlich hatten sie in der letzten Zeit nur wenig Kontakt zur Außenwelt gehabt und es gab sicherlich viel zu besprechen. Andererseits war es auch ein Vertrauensbeweis, dass der Captain ihm sein Pferd überließ, oder etwa nicht? Eren blickte Levi einen Moment lang hinterher, bevor er sich den Pferden zuwandte und beide am Sattelplatz anband. ‚Reiß dich zusammen’, ermahnte er sich selbst. ‚Du kannst ihn nicht anschmachten wie ein verliebtes Fräulein.’ Jetzt, wo sie im neuen Hauptquartier waren, würde er noch weitaus vorsichtiger sein müssen, denn schließlich befanden sie sich wieder unter Leuten. Vielleicht würden ihm schon bald Mikasa und Armin über den Weg laufen. Eren zweifelte nicht daran, dass sie ihren Schwur wahr gemacht und sich für das Kundschafterkorps entschieden hatten. Er konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Mit einem Schnauben tat Rebellion seinen Unwillen kund, als Eren zuerst Résistance absattelte. Er streichelte dem Hengst beruhigend über die Nüstern. „Hab’ dich nicht vergessen.“ Sättel und Zaumzeug wanderten an die Haken, zuerst waren die Tiere dran. Sie waren zügig geritten und beide Pferde waren ziemlich verschwitzt. Gab es überhaupt einen Grund vorsichtig zu sein? Levi hatte ihm nicht gesagt, wie es jetzt weitergehen würde und Eren hatte nicht gewagt, zu fragen. Vielleicht hatte der Captain gar nicht vor, diese Sache fortzuführen. Er konnte sie jederzeit beenden, so wie Eren selbst auch. Das hatte Levi ihm schon in der ersten Nacht gesagt, als er gewisse Regeln festgelegt hatte. Davor, nicht danach. Er hatte ihm sehr deutlich klar gemacht, dass es eine Welt vor und eine Welt hinter der Schlafzimmertür gab, und dass beide so unterschiedlich waren wie die Welt vor der Mauer und die Welt hinter der Mauer. Vor der Tür waren sie ein Rekrut und sein vorgesetzter Offizier. Hinter der Tür waren sie – ja was eigentlich? Dass es nichts mit einer Liebesbeziehung zu tun hatte, verstand Eren. Liebesbeziehungen waren etwas für normale Leute, die heirateten, Ehen führten, Kinder bekamen, ihr Leben zusammen verbrachten. Die Möglichkeit eines solchen Lebens hatte er längst aufgegeben. Er hatte sein Leben dem Kampf gegen die Titanen verschrieben. So wie Levi ebenfalls. Was also waren sie in der Welt hinter der Tür? Zwei Menschen, die versuchten, den Tod und die Zerstörung um sich herum zu vergessen und ohne Alpträume einzuschlafen? „Kümmer’ dich um Sturm.“ Mit einer lässigen Geste, die wohl nach Levi aussehen sollte, es aber nicht tat, kam Orlo über den Platz geschlendert und drückte Eren die Zügel seines Hengstes in die Hand. Eren war einen Moment lang versucht, mit einem spöttischen „Jawohl, Captain“ zu antworten, aber Petra kam ihm zuvor. „Was bist du, ein Idiot oder ein Faulpelz? Lass den Quatsch, Orlo und versorg’ dein Pferd selber. Eren ist nicht dein Dienstmädchen.“ Eren grinste in sich hinein. Die beiden konnten es nicht lassen mit ihren Kabbeleien. Selbst ein Blinder konnte sehen, dass Orlo bis über beide Ohren verliebt war. Hinter seiner ruppigen Art war er echt in Ordnung, aber in Petra’s Gegenwart benahm er sich immer wie ein Trottel. „Brauchst du Hilfe mit Résistance?“, fragte Petra, während sie Morgentau, ihre eigene Stute, absattelte, doch Eren schüttelte den Kopf. „Das ist kein Problem, danke. Macht Euch keine Umstände, Petra.“ „Eren.“ Petra rollte die Augen. „Wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen, dass du mich ruhig duzen kannst. Ich bin nicht deine Vorgesetzte, sondern deine Teamkameradin.“ „Entschuldigung.“ Eren spürte eine leichte Hitze auf seinen Wangen. In den vier Wochen, in denen sie soviel Zeit miteinander verbracht hatten, waren Petra, Orlo, Erd und Günther zu engen Vertrauten für ihn geworden. Da sie ihm jedoch soviel älter und erfahrener schienen, hielt er sich stets an das respektvolle ‚Ihr’ wenn er sie ansprach. Vielleicht würde sich das noch ändern, wenn sie länger als Team zusammenarbeiteten. Eren hoffte das sehr, doch wusste er auch, dass er nur auf Probe beim Kundschafterkorps war und dass sich alles noch ändern konnte. Deshalb wollte er sich lieber nicht allzu sehr in Hoffnungen verlieren. „Kein Problem.“ Petra lächelte ihn an und führte ihre Stute an ihm vorbei in den Stall. Ihr Lächeln hatte etwas Seltsames an sich, fast so, als mache sie sich Sorgen um ihn. Im nächsten Augenblick wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Was, wenn Petra über die Sache mit Levi Bescheid wusste? Sie hatte ein unheimlich feines Gespür für die Dinge, die um sie herum vorgingen. Und er selbst war nun wirklich kein Meister darin, seine Gefühle zu verbergen. Nein, mit Sicherheit bildete er sich das nur ein. Wahrscheinlich sah er überall Gespenster, weil er insgeheim Angst hatte, jemand könne es herausfinden. Laut den offiziellen Vorschriften des Militärs waren sexuelle Beziehungen zwischen einem Soldaten und seinem oder ihrem direkten vorgesetzten Offizier verboten. Genauso wie Bestechungsgelder, Glücksspiele und Alkohol im Dienst. Eren wischte die unruhigen Gedanken in seinem Geist beiseite und versuchte sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren. Beide Pferde mussten in ihre Boxen geführt, mit Stroh abgerieben und gefüttert werden. Zum Glück trugen die Boxen Namensschilder, so war es nicht allzu schwer, die richtigen zu finden. Rebellion hatte seinen Platz ganz hinten im Stall, neben einer neugierigen Stute namens Charlotte, die sofort versuchte, an Eren’s Haaren herum zu knabbern. Résistance stand weiter vorne zwischen Sturm und Morgentau, die gemächlich am Heu kauten. Orlo und Petra waren nicht mehr zu sehen, vermutlich waren sie bereits in die Sattelkammer gegangen, um Sättel und Zaumzeug zu pflegen. “Gleich gibt’s was”, versprach Eren, während er die Stute trockenrieb. “Wenn du brav bist und mich deine Hufe überprüfen lässt, hab’ ich vielleicht sogar eine Möhre für dich.” “Gut, dass du zurück bist, Levi”, erklang plötzlich eine Stimme aus dem Mittelgang zwischen den Boxen. “Ach... du bist es, Eren.” “Einheitenführer Zacharias.” Erschrocken ließ Eren das Stroh fallen und salutierte. “Falls Ihr Captain Levi sucht, er ist gerade beim Kommandanten.” “Mike reicht. Bis jemand „Einheitenführer Zacharias“ übers Schlachtfeld gebrüllt hat, haben die Titanen schon mindestens fünf Leute gefressen”, gab Mike mit einem Grinsen zurück und kippte den Eimer Wasser, den er gerade trug, in eine der Pferdetränken. “Wie war die Rückreise? Haben sie euch wieder ‘Ketzer’ hinterhergerufen?” “Nein, mir ist nichts aufgefallen.” Eren überlegte kurz, aber eigentlich hatten sie keine Schwierigkeiten gehabt. Genaugenommen waren sie unterwegs auch nicht vielen Leuten begegnet. “Gut, dann gab’s keinen Ärger.” Mike nickte zufrieden und nahm den leeren Eimer wieder an sich. “Oh, und Eren? Du solltest Résistance keine Möhren versprechen, wenn du keine bei dir hast. Pferde haben eine ausgesprochen feine Nase, vergiss das nicht. Sie erkennen alles und jeden am Geruch, das ist ihre Spezialität.” Mit diesen Worten wandte er sich um und ging in Richtung des Tores zurück. Tsuzuku... to be continued Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)