Kalte Hitze von HellyKitto ================================================================================ Kapitel 2: Elsa --------------- Kapitel 2: Elsa Zum wiederholten Male ging Elsa nun schon den Lehrplan des Abschlussjahrganges durch. Morgen war ihr erster Arbeitstag an der neuen High School und schon jetzt plagten sie mehr Zweifel denn je. Was hatte sie dazu getrieben, ausgerechnet wieder als Lehrerin zu arbeiten? Ein Job im Büro wäre für alle Beteiligten so viel besser gewesen! Nicht nur für sie selber, damit sie sich sicherer fühlte und nicht von so vielen Menschen umgeben war, sondern auch für die anderen Menschen, die sich gar nicht bewusst waren, in was für einer Gefahr sie schwebten. Im Büro wäre sie die meiste Zeit für sich, nur einen PC auf einem Schreibtisch, einen Drucker, ein Telefon und einen Schreibtischstuhl - mehr würde es nicht geben, keine Deko, keine unnützen Dinge ... und vor allem keine Menschen. Menschen, die in Sicherheit wären, weil sie durch eine dicke Wand voneinander getrennt wären. Ja, so einen Job hätte sie annehmen sollen. Aber was machte sie? Stellte sich für eine Stelle als Mathematiklehrerin vor. An einer High School. Mit Menschen. Vielen, vielen Menschen. Mitten in der Stadt. Schlimmer ging es nicht. Elsa klappte den dicken Ordner zu und fuhr sich durch ihre platinblonden Haare. Noch vor einer Woche war sie so aufgeregt gewesen, dass sie wieder Lehrerin sein konnte, und nun? Nun würde sie am liebsten ... ja, was eigentlich? Fliehen? Nicht schon wieder. Sie konnte nicht andauernd fliehen, nur weil sie plötzlich einen Anflug von Nervosität verspürte! Irgendwann gingen ihr die Orte aus, an denen sie sich verstecken konnte. Nein, fliehen kam nicht in Frage! Noch nicht. Sie erhob sich von ihrem Platz auf dem billigen Sofa und lief in der kleinen Wohnung umher. Wohnung war vielleicht zu viel gesagt, es war eigentlich nur ein großer Raum, in dem alles untergebracht war, was man brauchte. In der einen Ecke stand die Küche, die wohl noch nie in den Genuss einer Reinigung gekommen war, in der anderen befanden sich ein Sofa mit niedrigem Tisch und ein kleiner Fernseher, der selbst vor fünfzig Jahren schon altmodisch gewesen wäre, in einer Ecke stand ein Einzelbett, dessen Matratze schon extrem durchgelegen war und auch der Lattenrost war mehr kaputt als ganz, und in der letzten Ecke war sozusagen das Bad untergebracht. Ein Loch im Boden stellte den Abfluss dar, aus der Wand kam ein Schlauch, aus dem nur kaltes Wasser lief - das man übrigens auch nicht abschalten konnte, es lief einfach, wie es gerade kam. Und da es frisch aus der Regenrinne kam, war es auch entsprechend eisig kalt. Elsa freute sich schon auf den Winter. Neben dem Loch im Boden stand eine Kloschüssel, die zwar eine Wasserspülung besaß, bei der man aber das Wasser von Hand nachfüllen musste. Aber sie war schon erleichtert gewesen, dass es kein Plumpsklo im Garten war, das sie benutzen musste. Da war das hier doch schon Luxus ... Sie hatte in der Zeit, in der sie nun schon hier war, das Beste aus diesem Loch gemacht. Sie hatte ein paar Blumen gekauft, Orchideen und Lilien, zwischen Bett und Sofa stand eine Palme und auf dem kleinen Tisch vor dem Fernseher stand ein kleiner Kaktus. Die paar wenigen Bilder, die sie mitgenommen hatte, hatte sie auf einem Regal stehen, das sie im Sperrmüll gefunden hatte. Dort stand auch ein Blumentopf, aus dem Efeu wuchs und sich das Regal hinab schlängelte. Im Bad hatte sie ein paar Plastikfische an die Wand genagelt und den gefliesten Boden mit Anti-Rutsch-Aufklebern verschönert. Sie hatte eine schöne Gardine gekauft, die jetzt vor dem Fenster im Wohnzimmer hing, aber sonst hatte sie alles so belassen, wie sie es vorgefunden hatte. Sie konnte sich keine neue Küche leisten, keine neue Matratze, kein neues Sofa und erst recht keinen neuen Fernseher. Die Wohnung war billig, deswegen hatte Elsa sofort zugesagt, denn die paar Dollar konnte sie noch zusammenkratzen. Sie würde ausziehen, sobald sie das erste Gehalt als Lehrerin bekam. Elsa blieb vor dem Regal stehen, in dem sie ein paar wenige Bilder aufgestellt hatte. Eines zeigte ihre Heimat, das kalte Norwegen, mit einer kleinen Stadt direkt an einer Meeresbucht. Arendelle, so hieß das kleine Städtchen, und es lebte vom Fischfang und vom Eisverkauf. Dort war sie geboren und lebte bis vor nicht allzu langer Zeit mit ihrer jüngeren Schwester und ihren Eltern ein mehr oder weniger glückliches Leben. Ein anderes Bild war das ihrer Familie, das sie zum Weihnachtsfest hatten machen lassen. Es war alt, bestimmt schon zehn Jahre, denn Elsa sah nicht älter aus als vierzehn. Sie standen da mit geradem Rücken und aufrechter Haltung, fast so, als wären sie eine königliche Familie. Sie lächelten nicht in die Kamera, sondern waren ernst und würdevoll. Es war kein schönes Bild, es strahle keine Familiarität aus, es hätten auch genauso gut vier Fremde sein können. Doch leider war es das einzige Bild, auf dem sie alle vier zu sehen waren. Das Einzige, was sie noch als Familie identifizierte. Das letzte Bild war ihr Lieblingsbild, denn es zeigte sie und ihre Schwester Anna in ihrer Kindheit. Elsa erinnerte sich noch vage an diesen Tag. Es war der letzte Tag gewesen, an dem sie noch unzertrennlich waren. In der Nacht geschah dann das Unglück, das alles ins Rollen gebracht hatte. Elsa wandte ihren Blick von dem Bild ab und drehte sich weg. Sie wollte eigentlich nicht in der Vergangenheit schwelgen, zumal es sie absolut nicht beruhigte. Viel mehr erinnerte sie es an ihre Schwäche, an ihre Fehler, an das ganze Unglück und daran, dass das jederzeit wieder passieren konnte. Sie rieb ihre Fingerspitzen aneinander, die unter dicken, violetten Handschuhen verborgen waren. Ihr war nicht kalt, aber sie spürte die Kälte, die sich an ihren Händen entlang ausbreitete. Ganz ruhig, Elsa, sprach sie sich selber gut zu. Nicht nervös werden. Unterdrücke es. Lass es nicht raus, sperr es ein. Alles ist gut. Beruhige dich. Die Handschuhe knirschten unter dem Druck, den Elsa ausübte und langsam, ganz langsam, verschwand die Kälte von ihren Fingern und alles war wieder normal. Sie presste ihre Hände an ihre Brust, unter der ihr Herz hämmerte. Sie musste das unter Kontrolle kriegen. Wenn sie morgen in die Schule kam und nervös wurde und ihre Kräfte plötzlich ausbrachen ... Dort konnte sie sich nirgends verstecken, sie musste sich zusammenreißen! Lass sie nicht an dich heran. Das war leichter gesagt als getan. Elsa bereute es immer mehr. Warum ausgerechnet eine Schule? Elsa wollte hinaus, so brauchte frische Luft, aber sie wollte es vermeiden, unter Menschen zu sein. Sie wollte sich einschließen, die Welt ausschließen und ganz allein vor sich hin leben. Doch leider war der Kühlschrank schon wieder leer, und wenn sie nicht hungrig schlafen gehen wollte, dann musste sie sich jetzt aufraffen und zum nächsten Supermarkt laufen. Und bis dahin waren es ganze zehn Minuten zu Fuß. Aber sie kam nicht drum herum. Der Kühlschrank füllte sich nicht von alleine. Die modernen, neuen Kühlschränke, die die Lebensmittel eigenständig bestellten, die schon, aber nicht ihre alte, klapprige Ausgabe von vor über fünfzig Jahren. Die lief gerade mal mit Strom. Manchmal. Wenn sie Lust dazu hatte. Elsa zog sich ihre Schuhe an und warf sich einen Mantel über, denn es war sehr neblig draußen. Sie hatte nichts gegen Kälte, solange es schöne, trockene, richtige Kälte war. Aber nasse Kälte, wie von feinem Regen oder Niesel oder Nebel oder Schneeregen, die war eklig. Sie zog sich eine graue Mütze über den Kopf und stopfte ihre Haare darunter. Jetzt hatte sie zwar einen Beulenkopf, aber das war ihr egal. Es war ihr egal, was die Leute dachten, wenn sie sie sahen, sie hatte sowieso nicht vor, oft unter die Leute zu gehen. Da konnte sie auch wie ein Idiot aussehen. Langsam öffnete sie die Tür und spähte hinaus. Kalter Nebel erhielt Einzug in ihre Wohnung und fast wollte Elsa die Tür schon wieder schließen, bis ihr der Kühlschrank einfiel - und sie nach draußen musste. Ob sie nun wollte oder nicht. Also trat sie mit einem Seufzer nach draußen und war heilfroh, dass sie zunächst keine Menschenseele antraf. Sie schloss die Tür ab und ging die Treppe nach unten, wobei sie sich am Geländer festhalten musste, um nicht auszurutschen, denn durch den Nebel war alles mit einem feuchten Film umgeben. Ihre Wohnung befand sich am Rande der Stadt und es dauerte gute zwei Stunden, um das andere Ende zu erreichen, zumindest, wenn man zu Fuß unterwegs war. Die Schule, an der sie ab morgen unterrichten würde, lag im Zentrum der Stadt, und zu Fuß war man eine gute Stunde unterwegs, wenn man einen strammen Marsch hatte. Zum Glück befand sich in der Nähe ihrer Wohnung eine U-Bahn-Station, und die U-Bahn, die dort hielt, brachte sie fast bis ins Zentrum. Zwischendurch musste sie zwar zweimal umsteigen, aber das war keine große Sache. Immerhin musste sie keine Stunde zu Fuß laufen. Aber wenn sie so darüber nachdachte, dann war ihr so ein Fußmarsch lieber als eine halbe Stunde in der U-Bahn fahren. Wenn man bedachte, wie voll solche U-Bahnen waren ... Definitiv kein Ort, an dem sie sich lange aufhalten sollte. Große Menschenmengen und ihre unheimlichen Kräfte waren keine gute Kombination, wie sie selber erfahren hatte. Die Straßen waren zwar nicht wie ausgestorben, aber es war auch nicht sonderlich viel los. Passanten begegneten ihr kaum welche, und wenn, dann tat Elsa ihr Möglichstes, um ihnen nicht in die Augen zu sehen. Sie hielt den Kopf gesenkt, vergrub die untere Hälfte ihres Gesichtes im Mantel und stopfte ihre Hände in die Manteltaschen. Nur nicht auffallen. Bisher gelang es ihr ganz gut, keiner schenkte ihr auch nur einen Funken an Beachtung. Jeder lief an ihr vorbei, die Nase entweder ins Smartphone oder in einen eBook-Reader gesteckt - war das überhaupt eine gute Idee, elektrische Geräte bei dichtem Nebel zu verwenden? -, jeder kümmerte sich um seinen eigenen Kram. Kurz fragte sie sich, wann die Welt begonnen hatte, so kalt zu werden, doch schon im nächsten Augenblick musste sie über sich selbst den Kopf schütteln. Konnte ihr doch nur recht sein! Sie bog um eine Ecke - die Letzte vor dem Supermarkt, innerlich jubelte sie auf -, als sie von einem Kind umgerannt wurde. Sie spürte einen harten Gegenstand, der gegen ihren Bauch prallte, und erschrocken stolperte sie nach vorne, verhedderte sich in ihren eigenen Beinen und in denen des Kindes und landete nicht sehr elegant auf der Nase. »Oh, Gott, das tut mir so leid!« Der Junge sprang auf und zerrte an Elsas Arm, um sie wieder auf die Beine zu bringen. »Hast du dir wehgetan? Das wollte ich nicht! Ich habe nicht aufgepasst und -« Er wurde jäh unterbrochen von einer Frau, die wütend um die Ecke gestampft kam. Der Junge, der Elsa gerade dabei half aufzustehen, ließ die junge Frau erschrocken los und Elsa, die so schnell gar nicht schalten konnte, kippte wieder um. Ihr Laut des Protestes ging völlig in dem Gezeter der anderen Frau unter. »Jamie Bennett! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht so einfach abhauen sollst?! Du kannst deine Schwester nicht einfach so im Supermarkt stehen lassen! Und außerdem - was tust du da?« Ihr Blick glitt von dem Jungen zu Elsa, die sich langsam aufrappelte. Sie konnte gar nicht sagen, was ihr mehr wehtat: ihr Kopf, den sie sich am Boden gestoßen hatte, ihr Bauch, in den der Junge gerannt war, oder ihre Nase, die heftig pochte. »Nichts passiert«, brachte Elsa hervor. Ihre Stimme war nur gedämpft zu hören, da sie sich die Hand über die Nase gelegt hatte. Blutete sie? »Das tut mir ja so leid!«, wiederholte die Frau die Worte des Jungen, der wahrscheinlich ihr Sohn war. »Er sollte eigentlich auf seine Schwester aufpassen, aber er hat sie einfach im Laden stehen lassen und - wo ist Sophie überhaupt?« Die Frau blickte sich um und Elsa kam es so vor, als sei sie ein wenig vergesslich. Hatte sie jetzt ihre Tochter verloren? »Mum«, grummelte Jamie und kratzte sich am Kopf, »hast du Sophie im Supermarkt gelassen?« »Sie war doch eben noch hinter mir! Ganz sicher! Sophie!« Die Frau rief den Namen ihrer Tochter so laut sie konnte. »Sophie!« Kinderlachen war zu hören und die Frau drehte sich um und im gleichen Moment fiel ihr eine Last von der Schulter. Das kleine Mädchen, welches gerade um die Ecke gehüpft kam, war dann wohl Sophie. Ja, die Drei waren eindeutig miteinander verwandt. Braune Haare, braune Augen und irgendwie waren alle drei etwas ... eigenartig verplant. »Kinder«, meinte die Mutter freudlos lachend an Elsa gewandt, »sie treiben einen in den Wahnsinn, aber letztendlich kann man nicht auf sie verzichten.« »Äh ...« Elsa wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, also beließ sie es bei diesem äußerst intelligenten Laut und drehte sich um, um endlich in diesen doofen Supermarkt zu kommen, als sie von einer Kinderhand zurückgehalten wurde. Jamie, der Junge, hatte einen Zipfel ihres Mantels ergriffen und sah sie aus seinen riesigen, braunen Augen heraus an. Etwas zu ruppig entriss Elsa ihren Arm und drehte ihm halb den Rücken zu. »Verzeihung ... Magst du Schokolade? Hier, die habe ich von meinem Taschengeld gekauft, aber da ich dir wehgetan habe, bekommst du sie.« Jamie hielt ihr freundlich lächelnd eine Tafel Schokolade hin. Elsa schaute ihn mit großen Augen an und lächelte dann leicht. Sie nahm die Schokolade vorsichtig entgegen und war froh, dass ihre Hand nicht zitterte, als sie danach griff. »Danke«, sagte sie lächelnd und Jamie strahlte. Dann drehte er sich um und folgte seiner Familie, die inzwischen schon einige Meter weitergelaufen waren. Auch Elsa setzte ihren Weg fort, aber erst, nachdem sie sich ein kleines Stückchen der Schokolade in den Mund geschoben hatte. Schokolade ... Wie lange hatte sie schon keine mehr gehabt? Während sie lief, dachte sie angestrengt darüber nach und konnte sich nur noch daran erinnern, dass sie sich meistens mit Anna um die Schokolade gestritten hatte, und da sie meistens nachgegeben hatte und Anna die Schokolade immer selber gegessen hatte, wusste sie schon gar nicht mehr, wann sie selber das letzte Mal in den Genuss gekommen war. Dabei liebte sie Schokolade so sehr ... Noch ehe sie den Supermarkt erreichte, war die Tafel nichts weiter als Erinnerung und sie warf das Papier enttäuscht in einen Mülleimer. So eine Schokolade hielt wirklich nicht lange. Elsa betrat den Supermarkt und überlegte, was sie denn alles bräuchte, während sie durch die Gänge schlich. Sie hatte sich immer noch nicht so wirklich an die amerikanischen Speisen gewöhnt und das Sortiment überforderte sie ein wenig. Zwischen all den unbekannten Sachen fand sie etwas, das wie eine Spezialität aus ihrer Heimat aussah - trockenes, sprödes Fladenbrot. Innerlich jubelte sie und packte sich gleich drei Packungen davon in den Einkaufskorb. Sie deckte sich außerdem mit Fisch ein - nichts ging über Fisch! Hering, Kabeljau, Seelachs, und ihr Herz weinte vor Freude. Sie würde sich Stockfisch machen, sofern sie das noch auf die Reihe brachte und davon würde sie sich einige Zeit lang ernähren können. Ein paar Kartoffeln packte sie auch noch ein, ein paar Flaschen Mineralwasser - sie dachte noch nicht daran, dass sie das alles selber nach Hause tragen musste - und ein paar Dosen Bier. Sie befürchtete zwar, dass das amerikanische Bier längst nicht so gut war, wie das, was in Arendelle gebraut wurde, aber sie wollte auch nicht darauf verzichten. Sie schob den Einkaufswagen in Richtung Kasse und stellte sich hinten an. Die Schlange war nicht besonders lang, und doch zog sich dieser eigentlich einfache Akt unnötig in die Länge. Das war anscheinend ein Problem, mit welchem die ganze Welt zu kämpfen hatte: Rentner. In Verbindung mit einer Kassiererin, die alle Artikel in Zeitlupe über das Lasergerät zog, die Hälfte wurde natürlich nicht erkannt und sie musste ihre ganzen Supermarkt-Kollegen per Durchsage an die Kasse rufen, damit diese ihr den Preis der Artikel sagen konnten. Zu allem Überfluss funktionierte das EC-Kartenlesegerät nicht und ein Kunde, der vor Elsa an der Reihe war, regte sich furchtbar darüber auf. Es dauerte eine Ewigkeit, ehe die Kassiererin den Herrn dazu gebracht hatte, bei der nahegelegenen Bank etwas Bargeld abzuheben. Voll Unverständnis stapfte der Mann nach draußen und die Kasse stand still. »Entschuldigung«, meinte die Kassiererin mit einem beschämten Ausdruck im Gesicht, »aber ich kann leider erst weitermachen, wenn der Kunde bezahlt hat.« »Keine Sorge«, kam es von einem Mann, der hinter Elsa stand, und dessen Stimme sie äußerst angenehm fand, »Sie können ja nichts dafür. Das ist eben das Problem mit der Technik von heute, so fortschrittlich sie auch ist, kaputtgehen kann sie trotzdem.« Unauffällig drehte Elsa ihren Kopf und tat so, als würde sie den Zeitschriftenständer neben der Kasse bewundern, aber aus den Augenwinkeln musterte sie den Mann. Er war groß - na gut, für sie war jeder groß, denn sie war eher kein Rekordbrecher in Sachen Größe - und hatte ein kantiges, aber schönes Gesicht. Seine Augen waren grün, soweit sie das sehen konnte, und seine Haare hatten einen leichten Rotstich. Der Mann sah gut aus, das konnte sie nicht leugnen. Und seine Freundlichkeit war wohl eine Seltenheit hier, denn die Kassiererin schien sehr erleichtert, dass sie nicht dafür verantwortlich gemacht wurde. Nach einer kleinen Ewigkeit kam der Mann schließlich mit Bargeld zurück und bezahlte wenig erheitert den offenen Betrag. Unfreundlich knallte er ein paar Scheine auf das Band und wartete nicht auf das Wechselgeld. Zum Glück gingen die Türen automatisch auf und zu, sonst hätte er die wahrscheinlich noch zugeknallt wie ein pubertierender Jugendlicher. Die Kassiererin murmelte stetig Entschuldigungen vor sich hin, während sie Elsas Einkauf Artikel für Artikel über das Lasergerät schob. Elsa stopfte alles nach bestem Können in zwei braune Einkaufstüten und stapelte die Wasserflaschen darauf. Mit beiden Händen würde sie das schon bis nach Hause bringen, zum Glück waren es ja nur zehn Minuten. Sie bezahlte den Betrag und hievte die Tüten hoch, versuchte eine einigermaßen stabile Position zu finden, und ging dann aus dem Supermarkt. Penibel achtete sie darauf, sich ja nicht zu bewegen, was dazu geführt hätte, dass entweder die Wasserflaschen, eine Tüte oder gleich alles zu Boden fallen würde. Nach nur ein paar Metern tat ihr schon der Rücken weh. Sie sollte sich wohl etwas beeilen. »Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?« Die Stimme erschreckte sie so, dass ein Ruck durch ihren Körper ging und die Wasserflaschen zu Boden purzelten. In dem Versuch, sie noch aufzufangen, beugte sich Elsa viel zu weit nach vorne und der Inhalt der beiden Tüten ergoss sich weitläufig über die Straße. Der Mann lachte leise und kniete sich neben ihr nieder, als sie begann, die Sachen wieder aufzulesen. »Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Elsa blickte auf. Nein, seine Augen waren nicht grün, jedenfalls nicht nur. Seine Augen waren um die Pupille herum braun. Ein Braun, das in wundervoller Art und Weise in ein Grün überging, welches sie nur von Zuhause kannte. Dort waren die Wiesen und Wälder so saftig grün, dass man sich einfach nicht sattsehen konnte. Völlig perplex starrte Elsa den fremden Mann an, der ihren Einkauf einsammelte und völlig überrascht innehielt, als er das staubtrockene Fladenbrot in den Händen hielt. Er schien die Verbindung zwischen dem Fladenbrot, dem ganzen Fisch und ihr zu begreifen, denn er fragte: »Sie sind nicht von hier, nicht wahr?« Endlich fand Elsa ihre Stimme wieder. »Nein«, gab sie zu. »Das dachte ich mir. Das hier sieht mir nicht typisch amerikanisch aus. Das ist eher etwas für die harten Nordeuropäer.« Elsa holte überrascht Luft und der Mann lächelte freundlich, woraufhin sich zwei kleine Grübchen neben seinen Mundwinkeln bildeten. »Mein Name ist Hans Westergard. Ich bin aus Dänemark.« »Ich bin Elsa, Elsa Winters. Norwegen.« Hans lachte. Er stand auf und reichte ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Zögernd griff Elsa nach der Hand und ließ sich hochziehen. Hans stapelte ihren Einkauf auf seinen Armen. »Nun, Fräulein Winters, es wäre mir eine Ehre, Sie im Namen unserer Heimat nach Hause begleiten zu dürfen. Es ist gegen jede Regel eines Gentleman, eine Frau irgendetwas tragen zu lassen, was schwerer ist, als ein Paar Schuhe.« Elsa blickte unsicher zur Seite. »Nun ja, also, um ehrlich zu sein ... Das kann ich auch alleine, wirklich. Ich bin nicht so schwach, wie ich vielleicht wirke.« Sie griff nach ihren Einkaufstüten, doch Hans drehte sich weg. »Ich halte Sie nicht für schwach«, stellte er klar, »aber es gibt Sachen, die gehören sich nicht für eine Frau. Tüten tragen, zum Beispiel, keine Frau auf der Welt sollte Tüten tragen. Das ist die Aufgabe von uns Männern. Die Hände einer Frau sind viel zu schön und viel zu zart, um sich davon schmutzig machen zu lassen.« Elsa fummelte an ihren Handschuhen herum. Na gut ... Was war schon so schlimm daran, wenn Hans ihr die schweren Sachen nach Hause trug? Es musste ja auf nichts hinauslaufen, wahrscheinlich würden sie sich sowieso nie wieder begegnen. Also gab sie nach, seufzte, und lief etwas vor Hans nach Hause. Hans behielt den kleinen Abstand zwischen ihnen bei. Den ganzen Weg über sagte er keinen Ton, und auch Elsa legte wirklich keinen Wert darauf, mehr von sich preiszugeben. Schlimm genug, dass sie ihm ihren Namen verraten hatte, auch wenn er mit dem Namen allein herzlich wenig anfangen konnte. Und die Chancen waren auch ziemlich gering, dass ausgerechnet Hans, der so hilfsbereit und freundlich und charmant und elegant war, einer von den Leuten war, die Elsa in Norwegen auf die Schliche gekommen waren. Sie hoffte, dass er keiner von denen war. Schließlich standen sie vor dem Haus, in dem Elsa wohnte, und Hans stellte höflich die Tüten vor dem Gartentor ab. »Ich danke Ihnen, Herr Westergard«, meinte sie, während sie leicht ihren Kopf neigte. »Es war mir eine Ehre, Fräulein Winters. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend und ich hoffe, wir werden uns eines Tages wiedersehen.« Elsa sagte nichts, sondern lächelte nur. Hoffentlich nicht. Sie war froh, dass Hans keine Gedanken lesen konnte. Lächelnd nickte er ihr noch einmal zu und drehte sich dann um, um seines eigenen Weges zu gehen. Elsa wartete, bis er außer Sicht war, dann beeilte sie sich, nach drinnen zu kommen. Sie verräumte ihre Einkäufe und begann damit, ihre Fische einzulegen. Die würde sie über Nacht in der Lösung lassen und morgen dann zum Trocknen ans Fenster hängen. Sie befürchtete, dass jemand kommen und die Fische klauen würde, wenn sie sie nach draußen hängen würde. Mit dem Geruch würde sie wohl eine Weile zu kämpfen haben danach, aber sie hätte für die nächsten Wochen etwas zu essen, also war ihr das ganz recht. Bevor sie schlafen ging, überflog sie noch einmal den Lehrplan des Abschlussjahrganges. In ein paar Stunden würde es losgehen. Aber sie war zu müde, um noch ernsthaft nervös zu werden, und so ließ sie sich in ihr durchgelegenes Bett nieder, dachte noch einmal an Hans und an seine wundervollen Wald-und-Wiesen-Augen und schlief dann ein. **** Überpünktlich stand sie am nächsten Morgen vor dem Büro des Schuldirektors. Es war noch eine halbe Stunde bis Unterrichtsbeginn und Elsa war erleichtert, dass sie am ersten Tag nicht schon zu spät kam. Dafür war sie extra früh aufgestanden und hatte sich auch beeilt, wenn sie umsteigen musste. Den Weg zur Schule kannte sie schon fast auswendig, da sie die letzten Tage viel damit verbracht hat, ihn immer und immer wieder abzugehen. Jetzt stand sie hier und wartete darauf, dass der Schuldirektor sie hineinrief. Dann, endlich, ging die Tür auf. Heraus kam er, der Rektor, Nicholas St. North, ein großer, unheimlich aussehender Mann mit weißem Rauschebart und strahlend blauen, aber kleinen Augen. Elsa hatte beim ersten Mal schon gedacht, dass dieser Mann zur Weihnachtszeit bestimmt einen der Weihnachtsmänner in den Kaufhäusern spielte. Er sah wirklich täuschend echt aus. »Cha!«, machte er, als er Elsa erblickte und diese wich erschrocken etwas zurück. »Da ist sie ja!« Sein russischer Akzent war nicht zu überhören und er klopfte ihr fest auf die Schultern. Leicht keuchend knickte sie ein, doch sie stand schnell wieder gerade, sie wollte ja Haltung bewahren. »Cheute erster Tag, was? Keine Sorge, wird schon schiefgehen!« Aufmunternd lächelte er ihr zu und übergab ihr in feierlicher Manier ihren Stundenplan. Wow, der sah ganz schön voll aus ... Nach einer kurzen Erklärung, was die Abkürzungen zu bedeuten hatten, zeigte der Rektor ihr noch die Richtung, in der ihr Klassenzimmer lag, und überließ sie dann ihrem Schicksal. Etwas ratlos machte sich Elsa in die Richtung auf, in die der Rektor gezeigt hatte. Neben den Zimmertüren standen zum Glück auch die Nummern, das Fach und der unterrichtende Lehrer. Aber irgendwie fand sie alles, außer das Zimmer, in dem sie gleich unterrichten sollte. Die Schule war verdammt groß, über die vier Stockwerke lagen an die fünfzig Klassenzimmer verteilt. Und da sollte sie möglichst schnell ihr Zimmer finden, denn sie hatte nur noch ein paar Minuten, ehe sich die Gänge füllten und die Schüler hineinströmten. Sie befand sich gerade in einem Gang, in dem es viele Räume für die Naturwissenschaften gab. Für jedes Fach gab es zwei Räume, wohl der Anfängerkurs und der Fortgeschrittenenkurs. Ob es für die Mathematik auch verschiedene Räume gab? Jedenfalls befand sich ihr Zimmer nicht in diesem Bereich der Schule, also machte sie eine Kehrtwende und ging den Gang zurück. Inzwischen waren die Gänge gefüllt mit Schülern, die sich lachend unterhielten. Kaum einer schenkte ihr Beachtung, und wenn doch, dann waren es meistens die männlichen Schüler, die einen prüfenden Blick über ihren Körper wandern ließen. Na, das dürfte ja lustig werden. Fast überlegte sie, ob sie versuchen sollte, das Rektorat wiederzufinden, als sie angesprochen wurde. »Verzeihung. Kann ich Ihnen behilflich sein?« Diese Stimme! Elsa wirbelte herum und erblickte Hans, der sie erst fragend, dann breit lächelnd ansah. »Fräulein Winters! Was für eine schöne Überraschung! Was tun Sie hier?« Auch Elsa lächelte erfreut, ein bekanntes Gesicht gefunden zu haben. »Ich suche mein Klassenzimmer. Kennen Sie sich hier aus?« »Ihr Klassenzimmer? Sie sind doch keine Schülerin, oder?« »Nein, ich ... Ich bin ab heute Lehrerin für Mathematik.« Hans sah aus, als hätte ihn ein Stein getroffen. »Natürlich!«, rief er. »Winters, Elsa Winters! Die Ersatzlehrerin für Mrs Black! Warum ist mir das nicht gestern schon eingefallen? Wo bin ich nur mit meinen Gedanken! Verzeihung, verehrte Kollegin, aber nun ist es mir eine ganz besondere Ehre, Sie in der Schule offiziell willkommen zu heißen. Ich unterrichte Geschichte.« »Kollegen? Na das ist ja ein Zufall ...« So viel zum Thema den sehe ich niemals wieder. »Ich zeige Ihnen sehr gerne das Klassenzimmer. Und wissen Sie, was noch wirklich Zufall ist? Ihr Zimmer ist genau gegenüber von meinem.« »Was Sie nicht sagen ...«, lächelte Elsa und folgte Hans. Sie freute sich wirklich, dass es jemanden gab, den sie schon kannte, das machte den Start einfacher, und irgendwie fand sie es auch gar nicht so schlimm, dass dieser jemand Hans war. Er war nett, höflich, charmant und sah auch ganz gut aus. Sie würde es bestimmt nicht bereuen, wenn sie ihn als Bekannten hatte. Kurze Zeit später standen sie vor dem Klassenzimmer. Zum Unterricht hatte es eben erst geklingelt, aber die Gänge waren wie ausgestorben. Elsa blieb vor der Tür stehen und sah unsicher auf das Holz. Neben der Tür stand T325, Mathematik, Mrs C. Black, in Vertretung: Ms E. Winters. Ihr Name stand an einer Tür. Ein seltsamer Anblick, aber er war doch angenehm. Sie drehte sich zu Hans, der nun vor seinem eigenen Zimmer stand und ebenfalls zu ihr sah. Neben seiner Tür stand T324, Geschichte, Mr H. Westergard. »Vielen Dank - schon wieder.« »Es war mir eine Ehre - schon wieder.« Er öffnete die Tür und das Reden, was zuvor zu hören war, verstumme sofort. Ob sie ihre Schüler auch so unter Kontrolle haben würde? Hinter ihrer Tür war es ebenfalls laut, es wurde gelacht und geredet. Sie legte die Hand auf die Türklinke. Sie holte einmal tief Luft, versuchte nicht darauf zu achten, dass ihre Nervosität ganz nach oben schoss, nahm Haltung an, und dann drückte sie die Klinke nach unten. Die Tür schwang auf, es wurde leise im Raum. Mit wild klopfendem Herz betrat Elsa schließlich den Raum und augenblicklich lagen zwanzig Augenpaare auf ihr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)