Kalte Hitze von HellyKitto ================================================================================ Kapitel 8: Nicht unterkriegen lassen! ------------------------------------- Kapitel 7: Nicht unterkriegen lassen! Jack hatte noch nie eine so wilde Achterbahnfahrt erlebt, dass er danach nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Er war auch noch nie so lange auf einem Karussell gewesen, dass ihm danach so schwindlig war, dass er für einige Zeit nicht mehr gerade gehen konnte. Und er hatte auch noch nie so viel Alkohol getrunken, dass die Welt um ihn herum zu einer einzigen, wabernden Masse wurde und er wie ein Oktopus an Land umherschwankte. Nichts, was er in seinen bisherigen Lebensjahren erlebt hatte, kam dem gleich, was er nun fühlte. Und das sollte schon etwas heißen bei ihm, er als selbsternannter Spaßkönig. Er kam zu sich, weil sein Rücken wehtat. In Anbetracht der anderen Dinge, die gerade nicht in Ordnung waren, war das aber das kleinste Problem. Er wollte die Augen öffnen, sah aber nur helle und dunkle Punkte, die um ihn herumtanzten. Jack war sich nicht einmal sicher, ob er die Augen überhaupt schon geöffnet hatte, alles sah gleich aus. In seinem Kopf drehte sich alles und er fühlte sich so matt und kraftlos, selbst das Atmen war eine unglaubliche Anstrengung. Aber er wollte wissen, wo er war und warum er auf einem so unbequemen Untergrund lag und vor allem wollte er wissen, was aus seiner Lehrerin geworden war, denn die hatte ihn ja begleitet, als er plötzlich einen starken Schwindelanfall gehabt hatte und die Stufen in den Untergrund bedrohlich näher gekommen waren. Lag er noch immer auf den Stufen? War es deshalb so wahnsinnig unbequem? Er wollte aufstehen, sich beschweren, nach Hause gehen, aber nichts war möglich. Wie spät war es? Er musste nach Hause. Emma wartete! Etwas klatschte auf sein Gesicht und blieb an Ort und Stelle liegen. Ein Grunzen kam aus seiner Kehle und er wollte seinen Kopf drehen, um den Gegenstand loszuwerden, bis er erkannte, dass es seine eigene Hand war, die in seinem Gesicht gelandet war. Er schien keine vollständige Kontrolle über seinen Körper zu haben und sein Versuch, irgendwie doch aufzustehen, war wohl ins Auge gegangen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ganz allmählich, so als hätte sie alle Zeit der Welt, klärte sich seine Sicht und es gesellten sich zu den hellen und dunklen Punkten auch ein paar farbige dazu. Ihm war elend zumute. Der Schwindel wollte nicht vergehen, alles drehte sich einfach weiter. Aber immerhin kamen nun auch andere Empfindungen zurück. Es roch seltsam dort, wo er sich befand, nicht nach U-Bahn oder vielen Menschen. Er war wohl doch nicht mehr dort auf den Treppen. Wo war er dann? Es war schwierig, das zu erkennen, wenn es keine klaren Formen und Umrisse gab. Jack wollte die Hand von seinem Gesicht nehmen und zu seiner Erleichterung schien das fast ohne Probleme zu funktionieren. Seine Hand zitterte extrem, das konnte er spüren. Oh je. Kreislaufprobleme. Das war wohl mitunter der ätzendste Zustand, in dem sich ein sonst gesunder Mensch befinden konnte. Ob er wirklich so viel Blut verloren hatte? Klar, seine Stirn hatte ganz schön ihr Ding abbekommen, und die Haut dort war ohnehin nicht sonderlich belastbar, solche Kopfwunden bluteten immer sehr stark. Gut möglich, dass er also viel Blut verloren hatte, aber gleich so viel? Da konnte nicht nur der Blutverlust dahinter stecken. Er hätte vielleicht doch mehr frühstücken sollen ... Jack versuchte erneut die Augen zu öffnen und - oh Wunder! - er konnte plötzlich sehen. Und das sogar ziemlich klar, wenn man die verschwommenen Ränder nicht beachtete. Also hatte er vorher die Augen gar nicht geöffnet gehabt, denn herumwirbelnde Punkte sah er nun nicht mehr. Endlich konnte er sich umsehen, herausfinden, wo er war und worauf er lag. Es war ein seltsamer Ort, große, schwere Schränke standen in einer eigenartigen Anordnung herum, Schränke mit unzähligen Fächern, jedes einzelne mit einem Schloss versehen. War er in einer Bank? Mit einigem Kraftaufwand wandte er seinen Kopf etwas zur Seite und er erblickte Ms Winters, die an einem solchen Schrank lehnte, ein schwarzes Smartphone in der Hand hatte und angestrengt vor sich hin starrte. Er war froh, dass sie hier war, was bedeutete, dass sie ihn irgendwohin gebracht hatte, nachdem er umgekippt war. Sie hatte wohl nicht bemerkt, wie er um sich geschlagen hatte, ihr Blick war abwesend, so als wäre sie mit ihren Gedanken ganz weit entfernt. So war sie heute den ganzen Vormittag über schon gewesen. Sehr oft hatte er sie dabei erwischt, wie sie aus dem Fenster starrte, eine ganze Zeit lang, ohne irgendetwas wirklich zu sehen. Es hatte ihn verwirrt, Ms Winters so zu sehen, da sie die letzten beiden Tage nie so abwesend gewirkt hatte. Im Gegenteil, sie war immer sehr konzentriert, immer voll bei der Sache und sehr korrekt. Seine neugierige Seite wollte erfahren, worüber sie so nachdachte, denn es schienen keine netten Dinge zu sein, die sie beschäftigten. Sie war eine mysteriöse Frau, die sich anders gab, als sie in Wahrheit zu sein schien. Ms Winters seufzte und murmelte: »Anrufbeantworter.« Jack fragte sich, wen sie wohl erreichen wollte, als er die altbekannte Liste neben ihr auf dem Boden bemerkte. Eine Liste mit Adressen und Telefonnummern der Schüler, die ihren Unterricht besuchten. Hatte sie bei ihm zuhause angerufen? Da war natürlich keiner da. Emma war noch beim Training, zumindest nach seiner Zeitempfindung, und seine Mutter würde wohl das Wochenende nicht wieder auftauchen, nachdem er sie regelrecht aus dem Haus geekelt hatte. Ms Winters ließ das Handy sinken und ihr Blick wanderte zu ihm, verweilte kurz, dann schien sie zu erkennen, dass er zurückstarrte, und sie sprang auf und kam die wenigen Meter zu ihm, die sie voneinander trennten. »Jack!«, sprach sie und Erleichterung war zu hören. Sie kniete sich neben sein Notlager und sah ihn besorgt an. Er fand den Klang seines Namens schön aus ihrem Mund. Es gefiel ihm besser als dieses überhöfliche Mr Overland. Das machte ihn so alt und setzte eine sehr distanzierte und kühle Verbindung voraus. Ihre sonst so ordentliche Frisur war etwas durcheinandergeraten und die gelösten Strähnen deuteten auf eine lange Haarpracht hin. Er war neugierig, wie sie wohl mit offenen Haaren aussehen würde. Ob sie immer so strenge Frisuren trug? »Wie geht es Ihnen? Sind Sie in Ordnung? Der Arzt meinte, Sie hätten ordentlich Blut verloren und Ihr Kreislauf wäre ziemlich im Keller. Ist Ihnen schwindlig?« Jack nickte einfach nur und sah dabei zu, wie seine Lehrerin aus ihrer Aktentasche einen Schokoriegel zauberte. Diesen hielt sie ihn hin. »Hier. Für den Anfang hilft das.« Er nahm den Riegel an, und während er den in sich hineinschob, wurde er aufmerksam von Ms Winters beobachtet. Zweifelsohne wollte sie nun wissen, was eigentlich passiert war - aber die Wahrheit würde sie ihm sowieso nicht glauben. Lehrer hielten immer zusammen, das wusste er schon, seit er klein war. Und er wollte auch nicht wie ein bockiges Kind mit dem Finger auf einen anderen zeigen und schreien »der hat mich geschubst!« oder was auch immer. Er wusste nicht wirklich, warum er letztendlich gestürzt war, er hatte plötzlich einen Widerstand am Boden gespürt, welcher für seinen Sturz verantwortlich gewesen war. Der einzige, der neben ihm in der Tür stand, war Mr Westergard gewesen, also lag der Schluss ziemlich nahe, dass sein Geschichtslehrer etwas mit der ganzen Sache zu tun gehabt hatte. Aber warum? Ein Versehen vielleicht, aber dann ohne Entschuldigung? Jack wusste, dass der nach außen hin charmante Lehrer schon immer etwas gegen ihn hatte, er hatte ihn noch nie leiden können. Er wurde nicht schlau aus der Aktion, aber er wusste, dass, wenn der Rektor das wusste, dann wäre der Lehrer mit Sicherheit seinen Job los. Aber er hatte keine Beweise. Ms Winters schien nichts gesehen zu haben, und so würde Aussage gegen Aussage stehen. Seiner Meinung nach war Mr Westergard der Schuldige, und Jack wusste, dass der Lehrer am Montag sein blaues Wunder erleben würde. Er würde dieses Attentat auf sich nicht sitzen lassen. Er würde schon dafür sorgen, dass dem schmierigen Lehrer das Lachen verging. Und hinzu kam ja auch noch, dass er es offensichtlich auf Ms Winters abgesehen hatte, sie sich aber absolut nicht wohl fühlte bei ihm. Und Mr Westergard war zu dämlich, um das zu schnallen. Vielleicht kapierte es aber doch und genau das war es, was ihn störte? Was, wenn Mr Westergard durch das Fenster der Tür gesehen hätte und die kleine Szene mitbekommen hätte, als er und Ms Winters so nah beieinander waren, während sie sich erneut hatte provozieren lassen? Wahrscheinlich wollte Mr Westergard selber, dass ihn Ms Winters so nah kam, freiwillig, ungezwungen. Jack konnte sich nicht vorstellen, dass Ms Winters freiwillig zu Mr Westergard ging. Sie war vor ihm zurückgewichen, sie hatte sich von ihm weggedreht, und das sagte mehr als tausend Worte. Das Zittern seiner Hand ließ etwas nach, nachdem das Zucker in sein Blut übergegangen war. Sein Kreislauf schien sich wieder zu stabilisieren und Jack konnte sich aufrichten, ohne Gefahr zu laufen, gleich wieder umzukippen. Ms Winters sah ihn noch immer an, aufmerksam und wachsam, so als traute sie dem Frieden nicht ganz. Sie legte den Kopf leicht schief, er sah, dass ihr etwas auf der Zunge lag, dass sie etwas sagen wollte, aber sie tat es nicht. Sie wusste wohl nicht, ob und wie sie es ausdrücken sollte. »Sie sind blass«, meinte sie. »Warten Sie.« Ms Winters stand auf und verließ den Raum mit den vielen Schränken durch eine unscheinbare Tür, die sich kaum von der Wand abhob. Ihre Abwesenheit gab ihm die Möglichkeit sich umzusehen und gegebenenfalls herauszufinden, wo genau er sich befand. Aber die dunkelbraunen Schränke gaben keinerlei Auskunft, die Aufschriften waren so kompliziert, dass er sie nicht einmal richtig lesen konnte. Die Tür öffnete sich wieder und Ms Winters kehrte mit einem Glas zurück, in der dunkel glänzend eine rote Flüssigkeit schwappte. Es sah aus wie Blut. »Hier. Trinken Sie das. Das hilft dem Körper neues Blut zu bilden.« Sie reichte ihm das Glas und Jack nahm es äußerst skeptisch an sich. Er roch an der Flüssigkeit und es roch tatsächlich wie Blut. Angewidert rümpfte er die Nase. »Was ist das für’n Zeug? Das riecht schrecklich!« »Das ist ein Eisenpräparat. Keine Sorge, es wird Sie schon nicht umbringen.« Jack hielt die Luft an und nahm dann einen Schluck des Saftes, der absolut widerwärtig schmeckte. Sehr langsam trank er nach und nach das ganze Glas leer und wirklich besser fühlte er sich danach zwar nicht, aber da es seiner Lehrerin wichtig schien, tat er es. Sie lächelte, als sie ihm das Glas wieder abnahm. Hm. Das war es wert. »Ich habe eben ein Taxi bestellt, dass Sie nach Hause bringen wird. Ich habe versucht Ihre Eltern zu erreichen, aber es schien keiner da zu sein. Sie sollten sich unbedingt ausruhen und es ruhig angehen. Solange Sie noch wenig Blut in sich haben, sollten Sie auf keinen Fall übertreiben. Das kann gefährlich werden.« »Danke«, antwortete Jack. »Dass Sie mir helfen.« Sie machte ein überraschtes Gesicht. »Ich dachte, das sei meine Pflicht, nachdem mich ein äußerst aufmerksamer Schüler darauf hingewiesen hat.« Jack war so verdutzt, dass er glatt vergaß zu lachen. Hatte Ms Winters ihn gerade aufgezogen? Eigentlich war das sein Gebiet! Ms Winters lachte, wahrscheinlich wegen seinem dämlichen Gesicht, und ihr Lachen war so melodisch und ansteckend, dass er mit ihr lachte. Es ging ihm viel besser, die Ablenkung tat gut und der Schwindel war nicht mehr ganz so präsent, wenn er nicht daran dachte. Er ließ sich von der Lehrerin aufhelfen und er stand sogar einigermaßen sicher, hangelte sich von Schrank zu Schrank der Tür entgegen und als er diese öffnete, erkannte er endlich, wo er war: in einer Apotheke. Die Verkäuferin erkundigte sich nach seinem Befinden und Jack grinste sein übliches Grinsen. »Bestens!«, sagte er voller Überzeugung und für den Moment war das auch gar nicht so verkehrt. Draußen vor der Apotheke stand bereits ein Taxi und der braun gebrannte Fahrer lehnte sich schon genervt aus dem Fenster. Mit fürchterlichem Akzent forderte er Jack dazu auf, sich endlich in das Taxi zu setzen. Ms Winters öffnete ihm die Rücksitztür, verabschiedete sich mit »Wir sehen uns am Montag« und schloss die Tür wieder, als er sich in den Wagen gekämpft hatte. Sie winkte noch, als der Fahrer aufs Gas trat und im halsbrecherischen Tempo durch die Stadt düste. Jack grinste vor sich hin, die gesamte Fahrt über. Es war unglaublich, wie sehr sich seine Meinung über seine neue Mathelehrerin verändert hatte und das innerhalb eines Vormittags. Gestern noch hatte er sie verflucht, weil sie ihm ein F eintragen wollte, da er die Hausaufgabe nicht gemacht hatte, die obendrein auch noch benotet worden war, und sich fürchterlich über sie geärgert. Gut, er war zu spät gekommen, ganze fünfzehn Minuten, aber er hätte es noch rechtzeitig geschafft, wenn er diesen blöden Umweg nicht hätte nehmen müssen. Aus irgendeinem Grund war gestern die U-Bahn zwischen seiner und Emmas Schule nicht gefahren und er hatte auf andere Mittel zurückgreifen müssen. Bis er es dann geschafft hatte, war es schon zu spät gewesen, hatte sich einen eisigen Blick von Ms Winters eingefangen und hatte dann den Rest des Unterrichts gestreikt und nichts gesagt, auch wenn er gefragt wurde. Und heute war seine Lehrerin plötzlich menschlich gewesen. Sie hatte gezeigt, dass sie auch andere Emotionen hatte, beziehungsweise, dass sie überhaupt welche besaß. Sie war nachdenklich gewesen, melancholisch, dann meinte sie, sie würde nicht denken, dass er sich geprügelt hatte. Sein blaues Auge war schon etwas abgeheilt und sah nicht mehr ganz so schlimm aus wie gestern. Es hatte ihn überrascht, dass sie das dachte. Er hätte sonst was darauf verwetten können, dass sie, wie alle anderen auch, dachte, er hätte sich eine Schlägerei eingehandelt. Ausgerechnet sie, die so schlecht auf ihn zu sprechen gewesen war, war diejenige, die am wenigsten schlecht von ihm dachte. Das hatte ihn überrascht. Und dann hatte sie sich erneut von ihm provozieren lassen, auch wenn er es dieses Mal nicht darauf ausgelegt hatte, es bis an die Spitze zu treiben. Sie war darauf eingegangen und eben vorher hatte sie sogar gestichelt. Ob es das Wochenende war? Vermutlich war sie nur an ihren eigentlich freien Tagen etwas lockerer drauf. Er seufzte und lehnte sich zurück. Wirklich schade, dass sie während des Unterrichts nicht so sein konnte. Das würde alles viel einfacher und spaßiger machen. Im Radio des Taxis lief ausländische Musik, etwas, das sehr nach türkisch oder etwas dergleichen klang. Der Fahrer grölte lauthals mit und Jack konnte sich nicht entscheiden, welcher der beiden schlechter sang: der Fahrer oder der Typ von der CD. Erleichtert stieg er eine halbe Stunde später aus, als der Taxifahrer vor dem Haus hielt. Er warf ihm ein paar Geldscheine hin, ließ sich das Wechselgeld herausgeben und verzichtete darauf, dem Fahrer Trinkgeld zu geben. Er wankte auf die Wohnungstür zu, der Schwindel nahm wieder zu, und er war froh, dass er es irgendwie schaffte, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken. Den Weg die Treppe nach oben nahm er nicht, er bog vorher ab und schmiss sich im Wohnzimmer auf das Sofa. Dort blieb er liegen und döste vor sich hin, dachte über alles und gleichzeitig nichts nach. Sein Gesicht lag in den weichen Kissen verborgen und es war angenehm dunkel, wenn er die Augen schloss. Mit einer Hand tastete er blind nach einer der Fernbedienungen, die auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa lagen, erwischte, wie er hoffte, die für die Musikanlage und drückte auf den obersten Knopf, den er ertasten konnte. Die Musikanlage sprang an und spielte automatisch die CD an der Stelle weiter, an der sie das letzte Mal aufgehört hatte. Es war eine CD seiner Schwester, die auf diese Art von Musik stand. Ruhig, melodisch, ab und zu eher poppig, rhythmisch und mit tiefsinnigen Texten, zumindest meistens. Die Musik vertrieb die Stille des Raumes und brachte seine Gedanken zum Schweigen. Er ließ sich berieseln, genoss diesen Augenblick, der so friedlich war, dass Jack schon befürchtete, dass gleich irgendetwas passieren würde. Er hörte, wie einige Zeit später die Haustür geöffnet wurde. Anscheinend war seine Schwester vom Training zurück. Wie war sie wohl nach Hause gekommen? Emma lachte und jemand lachte mit, aber durch die vielen Kissen, die um ihn herum lagen, konnte er nichts Genaueres sagen. Aber die Stimme war tief und maskulin. Emma und ein Mann? Das konnte nicht sein. Jack stemmte sich hoch, da die Angst von Donnerstag wieder hochkam und er befürchtete, dass Emma schon wieder mit diesem fremden Mann gefahren war, obwohl sie ihm versprochen hatte es nicht zu tun. Er erklomm die Lehne des Sofas und er wünschte sich, dass er liegen geblieben wäre. Nicht nur wegen der Übelkeit, die mit einem Schlag wieder da war, da er sich zu schnell erhoben hatte. Nein, die war in dem Moment völlig vergessen. Jack starrte auf die Frau, die er für Emma gehalten hatte, die einen fremden Mann küsste und so, wie er das sah, waren die beiden ganz schön bei der Sache. Jack schnürte es den Hals zu und er war nicht fähig sich bemerkbar zu machen. Die beiden sahen auch nicht auf, um nachzusehen, warum denn die Musik spielte. Der Fremde drehte seine Mutter ein wenig und presste sie gegen die Wand, sodass er nun nur noch diesen ekligen Mann sehen konnte. Nun wurde Jack so richtig übel, als seine Mutter begann den Mann zu entkleiden, und er langte erneut nach der Fernbedienung, schaltete die Musik ab und sah mit Freuden, wie der Fremde von seiner Mutter zurückwich und erschrocken ins Wohnzimmer starrte. Seine Mutter kam um die Ecke, halb entkleidet, auch sie starrte ihn geschockt an. Jack starrte eisig zurück und er erhob sich. Er war froh, dass er einigermaßen gerade stehen konnte, auch wenn sich nun auch sein Magen bemerkbar machte. »Jack! Was machst du denn schon hier? Ich dachte, samstags bist du immer in der Schule ...« Anscheinend ja nicht. Nein, heute hatte Jack sich selbst entschuldigt und die Jahrbuch-AG geschwänzt. Es gab sowieso nichts Wichtiges zu sagen, er hätte nichts verpasst. Und in seinem Zustand würde er wohl kaum in der Schule sitzen. »Entschuldigung«, meinte Jack mit falscher Höflichkeit, die so übertrieben war, dass es auch dieser unterbelichtete Idiot von Lover bemerken musste. »Ich wollte euch bei eurem Techtelmechtel nicht stören. Wie wäre es, draußen ist es noch nicht so kalt, stellt euch doch in den Garten, wo euch noch mehr Leute sehen können!« Er wandte sich an seine Mutter, die sich hastig wieder ankleidete und ihrem Lover einen entschuldigenden Blick zuwarf. Ja! Er war ja auch derjenige, bei dem sie sich entschuldigen musste! Nicht etwa Jack, ihr Sohn, den sie gerade völlig überrumpelt hatte. Nein, bei ihm musste sie sich doch nicht entschuldigen. Was dachte er sich nur! »Sei froh, dass Emma das nicht mit angesehen hat.« »Hey, du Jungspund, wie redest du denn mit deiner Mutter? Ein bisschen Respekt, wenn ich bitten darf!« Jetzt hatte der Lover gesprochen, Dan, wie er sich erinnerte. Jack sah ihn an, hasserfüllt. Er wusste, dass Dan eigentlich nichts mit der ganzen Sache zwischen ihm und seiner Mutter zu tun hatte, doch im Moment war ihm das egal. Es machte ihn wütend, dass er es wagte, ihn so anzusprechen, als wäre er sein Vater. »Fick dich.« Jack spuckte ihm vor die Füße und der extrem zornige Ausdruck in Dans Gesicht gab ihm die Kraft, die er brauchte, um sich nun aus dem Staub zu machen. Er schwankte die Treppe nach oben, handelte sich am Geländer entlang und kam heil in seinem Zimmer an, wo er die Tür schloss und den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Er hörte den Lover im Wohnzimmer zetern und meckern, seine Mutter versuchte wohl ihn zu beruhigen. Jack grinste vor sich hin, als er sich ins Bett legte und dort liegen blieb. Seiner Meinung nach hatte er einen super Eindruck beim neuen Daddy hinterlassen und er war stolz auf sich. Jack seufzte. Seine Mutter hatte nicht einmal gefragt, warum sein Kopf verbunden war ... Es hatte sie nicht interessiert. Er war ihr egal. Sein Handy vibrierte in seiner Hosentasche, eine Benachrichtigung von Facebook. Jemand hatte ihm eine Nachricht geschrieben. Er öffnete das soziale Netzwerk und erwartete schon eine Nachricht von Stacy aus der AG, warum er nicht da war, aber es war nicht sie, die ihm schrieb. Ein unglaublich schönes Bild seiner Lehrerin leuchtete ihm entgegen und Jack starrte auf ihr schönes Gesicht, ohne den Text daneben wahrzunehmen. Elsa Winters, das war also ihr voller Name. Elsa ... Ein eigenartiger Name, wie er fand, den hatte er vorher noch nie gehört. Vielleicht war er ja da, wo sie herkam, ein sehr gebräuchlicher Name? Er tippte auf ihren Namen und ihre Facebook-Seite öffnete sich. Aus Norwegen kam sie, das fand Jack faszinierend. Leider konnte er nicht mehr von ihrem Profil sehen, da sie nicht befreundet waren, aber dass er dieses Bild von ihr sehen konnte, das reichte. Ms Winters lächelte in die Kamera, sie hatte ihren Kopf leicht zur Seite geneigt. Ihre Haare waren nicht zu einer strengen Frisur hochgesteckt, sondern zu einem dicken Zopf geflochten, der über ihrer Schulter lag. Er fand, dass der Zopf sie viel sanfter aussehen ließ, weicher. Jack drehte sich auf die Seite und legte das Handy neben sich ab. Er öffnete die Nachricht erneut, inzwischen war eine zweite von ihr angekommen. Hallo, Jack! Ich hoffe, Sie sind heil zuhause angekommen, der Taxifahrer schien ja ein sehr angenehmer Zeitgenosse zu sein. Dahinter hatte sie einen lachenden Smiley gesetzt und er erinnerte sich an ihr Lachen. Er lachte mit ihr. Wieder. Bitte antworten Sie mir, sonst mache ich mir noch mehr Sorgen. Das war die zweite Nachricht und Jack grinste. Der Fahrer war ein echt guter Sänger. Aus dem wird der nächste Superstar. Ich bin gut angekommen, danke für Ihre Sorge. Jack fragte sich, warum sich eine fremde Person mehr um ihn sorgte als seine eigene Mutter. Es machte ihn traurig, gleichermaßen wie es ihn auch erfreute. Ms Winters war ein sehr fürsorglicher Mensch und er war froh, dass er diese Seite von ihr zu sehen bekommen hatte. Er hatte das Gefühl, dass sie das nicht jedem zeigte. Tut mir leid, dass ich Sie um einen freien Vormittag gebracht hab. Er sendete die Nachricht ab, schaltete das Handy aus und schloss dann die Augen. Er wachte aus seinem kurzen Schlaf auf, als es an seiner Tür klopfte. Er vermutete, dass es wohl seine Mutter war, die ihn für sein Verhalten schimpfen wollte, also fauchte er: »Verschwinde!« »Hey, Keule, so begrüßt man seinen Freund nicht!« Das war nicht seine Mutter. Erleichtert erhob sich Jack, ging auf die Tür zu und er war froh darüber, dass er schon wieder sicherer auf den Beinen war. Er schloss die Tür auf und ließ Bunny herein, der ihn geschockt ansah. »Was hast du denn schon wieder angestellt? Gegen ’nen Baum gerannt?« Jack schloss die Tür wieder ab. »So in etwa. Was verschafft mir die Ehre, Känguru?« Bunny zuckte mit den Schultern und machte es sich auf seinem Bett bequem. »Wollte dich besuchen, schlimm?« Jack grinste. »Furchtbar!« Bunny streckte die Beine aus und ließ sich nach hinten fallen. »Dann kann ich ja bleiben.« Jack setzte sich neben ihn und er bemerkte plötzlich, wie froh er um Gesellschaft war. »Also, was hast du angestellt?« Bunny deutete auf den Verband um seinen Kopf. »Bin gestolpert und gegen ’n Türrahmen.« Bunny verzog das Gesicht. »Autsch. Seit wann bist du so tollpatschig?« Jack zuckte mit den Schultern. »Gleichgewichtsstörung«, wiederholte er die Worte von Mr Westergard. Ein bitterer Nachgeschmack blieb zurück. »Erzähl keinen Scheiß.« Bunny glaubte ihm nicht. Jack sah zur Seite. »Was ist passiert?« Bunnys Stimme wurde etwas sanfter, als er merkte, dass Jack sich unwohl fühlte. »Erzähl’s keinem, klar? Glaubt mir eh keiner.« Jack seufzte. »Ich war beim Nachsitzen und-« Bunny unterbrach ihn, als er lachte. »Sag bloß, die Winters hat dir eine übergebraten!« Er fand die Vorstellung wohl so lustig, dass er sich den Bauch hielt vor Lachen. »So ein Mist! Natürlich nicht! Westergard war’s.« Bunny verschluckte sich an seinem Lachen und starrte ihn entgeistert an. »Der Geschichtsguru? Was hat der denn mit deinem Nachsitzen zu tun?« »Er scheint’s auf die Winters abgesehen zu haben, jedenfalls war er plötzlich da und wollte sie zum Mittag entführen. Aber sie wollte nicht, jedenfalls sah es streng danach aus, also hab ihr gesagt, sie muss nich', wenn sie nich' will. Dann wollte ich gehen, aber der Westergard muss mir ein Bein gestellt haben oder sonst was, jedenfalls fall ich plötzlich und knall gegen die Kante.« Bunny starrte ihn mit offenem Mund an. »Bist du verrückt?« »Was? Wieso?« »Sag doch sowas nicht! Alter, wenn der hinter der Winters her ist, dann solltest du nicht sowas sagen von wegen wenn Sie nicht wollen, dann müssen Sie nicht! Die ist ’ne erwachsene Frau, die muss das doch selber wissen!« »Reg dich nicht auf, ist doch nichts dabei.« »Kein Wunder, dass Westergard so angepisst reagiert.« »Der hat’s doch gar nicht mitgekriegt! Ich hab das doch nur leise zu ihr gesagt, als ich neben ihr stand!« Bunny sah ihn skeptisch an. »Warum sollte er’s sonst getan haben?« »Weil er mich hasst, deswegen! Und weil ich besser mit ihr auskomme als er anscheinend! Jedenfalls rennt sie vor mir nicht weg.« Bunny war jetzt irritiert. »Sie rennt nicht vor dir weg? Sie ist deine Lehrerin, natürlich rennt sie nicht vor dir weg. Westergard ist ’n Mann und du bist ihr Schüler. Das sind zwei völlig andere Welten.« »Na, danke«, grummelte Jack. »Jedenfalls scheine ich ein besseres Verhältnis zu ihr zu haben als Westergard und das scheint ihn zu ärgern. Aber das wird er bereuen, spätestens Montag in Geschichte.« »Was hast du vor? Du kannst nicht schon wieder Ärger machen, Keule. Irgendwann hat selbst North kein Verständnis mehr für dich.« »Der Alte ist mir doch egal. Nur noch ein paar Monate und dann ist sowieso alles vorbei.« Bunny seufzte. Dann deutete er erneut auf seinen Verband. »Und wo hast du den her?« »Von einem Arzt, du Schlaumeier! Von wo denn sonst?« »Du bist mit einer Kopfverletzung also durch die Stadt gegangen und hast einen Arzt gesucht? Sehr intelligent, Keule.« Jack hatte keine Lust weiter darüber zu reden und so wechselte er das Thema. »Wie auch immer. Wie bist du eigentlich reingekommen? Ist meine Alte unten?« »Ja. Sie wollte mich erst gar nicht reinlassen, hat gesagt du wärst nicht da, sondern in der Schule, aber ich wusste, dass du da mit Sicherheit nicht bist. Bin an ihr vorbei und zu dir hoch. Die scheint etwas neben der Spur zu sein, geht’s ihr gut?« Jack zuckte mit den Schultern. »Bestens. Sie macht mit ihrem Neuen vor meinen Augen rum. Alles super.« Bunny verzog angeekelt das Gesicht. »Na großartig.« »Und weiß du, was noch viel großartiger ist? Sie arbeitet gar nicht so viel wie ich immer dachte. Sie macht auch keine Überstunden. Sie kommt nicht wegen der Arbeit spät nach Hause. Dieser ekelhafte Typ da unten ist daran schuld. Die treiben’s schon seit ’ner Weile, und anstatt, dass die Olle mal die Karten auf den Tisch legt, macht sie mir vor schwer arbeiten zu müssen. Weißt du, wie ich’s erfahren hab? Der Lover ruft vorgestern hier an, labert was von ’ner geilen Nacht, quatscht das auf den Anrufbeantworter und ich steh daneben.« Bunny schüttelte den Kopf. »Das ist schlecht. Und Emma? Hat sie’s mitbekommen?« »Nicht da. Ich hab am Abend etwas laut mit Mutter gestritten ... Aber ich glaube nicht, dass sie versteht, was passiert ist. Ihr macht das alles viel mehr aus als mir. Sie hängt an ihrer Mutter, auch wenn das nur einseitig ist. Sie vermisst sie ... Und die Olle behandelt sie wie den letzten Dreck und kümmert sich kein Bisschen um sie!« »Hey, beruhig dich.« Bunny legte ihm die Hände auf die Schultern. »Reg dich nicht über deine Alte auf, das lohnt sich nicht. Pass lieber auf Emma auf und sei für sie da, das ist für euch beide besser.« Wie aufs Stichwort klopfte es leise an die Tür und Jack wusste sofort, dass es Emma war. Er sprang auf, schloss die Tür auf und öffnete sie. Emma sprang in seine Arme, umarmte ihn fest und Jack zog sie in sein Zimmer, damit er die Tür wieder absperren konnte. Er setzte Emma auf seinem Bett ab. »Na, kleiner Fratz? Brav das Training beendet?« Bunny wuschelte ihr durch das Haar und Emma sah ihn protestierend an. »Jamie Bennett hat mich heute geschubst und ich hab mir das Knie geschlagen!« Jack grunzte. »Ich wusste doch, dass ich diesen Knaben nicht leiden kann!« »Aber dann hab ich ihn zurückgeschubst und er hat geheult. Dann hat er gelacht. Und ich auch.« Jack und Bunny wechselten einen Blick. Er war stolz auf seine kleine Schwester. »Was hast du da am Kopf?« »Weißt du, kleiner Fratz, der Vogel von deinem Bruder wollte endlich raus und jetzt hat er ein Loch in der Stirn.« Bunny hatte sich verschwörerisch zu Emma gebeugt und die starrte ihn mit großen Augen an. »Ehrlich?« Bunny nickte. »Das war ein riesiger Vogel! Du weißt ja, wie Jack manchmal spinnt.« Emma gackerte, Bunny lachte und streckte Jack dann die Zunge raus. »Ja, ja, macht euch nur über mich lustig. Wartet’s ab, das bekommt ihr alles zurück!« Damit schnappte er sich sein Kissen und pfefferte es um Bunnys Ohren. Dem verging das Lachen aber nicht, sondern er packte das Kissen und warf es zu Jack zurück, der es abwehrte und auf Emma umleitete, die damit nicht gerechnet hatte und mit einem »Uff« nach hinten kippte. Sie warf das Kissen auf Bunny, während sie sich nach oben kämpfte und der packte sie und kitzelte sie durch. Emma lachte Tränen und Jack stand einfach nur dabei, beobachtete die beiden amüsiert und lachte ebenfalls. Bunny hatte Recht. Er sollte sich nicht über seine Mutter ärgern und sich die Laune verderben lassen. Es gab viel zu viel Spaß auf der Welt und so wenig Zeit, um alles zu tun. Emma war der Mittelpunkt seines Lebens und wenn sie glücklich war, war er es. Und Bunny, der griesgrämige und mürrische Australier, der nur aufblühte, wenn er mit Emma herumalberte, der sein bester Freund war und dem er vieles zu verdanken hatte. Sandy, der auch ohne Worte so viel zu sagen hatte und der genauso auf Spaß aus war wie er. Und seine neue Mathelehrerin, die sich mehr um ihn sorgte als seine Mutter. In seinem Leben gab es einige besondere Menschen und für die alle lohnte es sich, den Kopf oben zu behalten, sich nicht entkräften zu lassen oder stark zu sein und über die Ärgerlichkeiten des Lebens hinwegzusehen. Das Kissen landete in seinem Gesicht und mit ihm auch Emma, die das Kissen nicht losgelassen hatte, als sie es werfen wollte. Lachend nahm er sie auf die Arme und wirbelte sie im Kreis. Sie umarmte ihn fest und flüsterte in sein Ohr: »Ich hab dich lieb.« »Ich dich auch, Wirbelwind.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)