Die Neun Kreise von Drifter (Limbo) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Als die große Doppeltür sich vor ihm öffnete, spürte er eine Kälte, die ihn sofort wieder umkehren lassen wollte. Aber er riss sich zusammen. Er ließ die Gefilde des Himmels hinter sich, aber wenigstens war er nicht alleine und er wusste, dass er wieder zurückkehren würde. „Der Limbo.“, sagte seine Begleiterin ungerührt, als sie die Tore passierten und sie sich wieder hinter ihnen schlossen. Das dumpfe Geräusch der zufallenden Flügel zerbrach ihm das Herz. Nun gab es kein zurück. Nicht, wenn er sein Gesicht wahren wollte. Er befand sich wieder im Limbo, ein Ort, den er vor einer Ewigkeit hinter sich gelassen hatte, als er sein Urteil erhalten hatte und die himmlischen Sphären betreten durfte. Nichts hatte sich hier verändert. Und er war sich sicher, dass er einige der Gesichter, die hier warteten, noch von damals kannte. Sie warteten immer noch. Der Limbo war ein Wartezimmer. Sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinne. Endlose Reihen von Stühlen reihten sich von einer Seite des Zimmers zur Nächsten. Wobei die andere Seite entweder nur einige Meter entfernt war, oder endlose Meilen. Entfernung war hier ein rein subjektiver Begriff. Das Zimmer wirkte zwar recht groß und geräumig, aber der Weg von einem Ende zum Anderen konnte ein ganzes Leben dauern. Aber die Leute hatten Zeit. Alle, die sie hier saßen, waren Verstorbene, die auf ihr Urteil warteten. Das Wartezimmer war einerseits monoton, da es endlos weiß in weiß gehalten war, aber andererseits auch sehr beruhigend, da es den Verstorbenen jegliche Last von den Schultern nahm. Ein weiterer Grund der Sorglosigkeit war das Licht, das von oben schien, war es doch das göttliche Licht, das sowohl Wärme als auch Trost spendete. Eine Decke gab es nicht. Die Wände verloren sich ein paar Meter über dem Boden im Nichts. Jeder hier wusste, dass dieses Licht jedoch nur ein Bruchteil dessen war, was sie im Himmel erwarten würde. Und sie warteten geduldig. Vier Türen gab es im Wartezimmer. Als er nach rechts blickte, sah er die Tür, durch die jeder gerade Verstorbene herein kam. Es war eine simple Tür, hinter der jedoch nichts als Nebel war. Diese Tür stand immer offen und es kam immer jemand herein. Und egal, wie viele Leute in den Limbo kamen, sie fanden immer einen Platz zum Warten. Sie warteten auf darauf, dass sie durch die Tür zu seiner Linken gerufen würden. Anders als die anderen Türen, war diese eine ganz einfache Bürotür. Es befand sich kein Namensschild oder sonst irgendeine Beschriftung daran, nur eine Laufschrift darüber, die Namen anzeigte und mit einem brummenden Signal den Nächsten aufforderte, das Büro dahinter zu betreten. Diese Tür brauchte keine Bezeichnung. Irgendwie wusste jeder, was sich dahinter abspielte. Es war die Tür des letzten Gerichts. Dort wurde über das Los der Seele entschieden. Durfte sie in den Himmel oder fuhr sie zur Hölle? Und von dort wurden sie direkt zu ihrem Ziel geschickt. Das bedeutete, dass niemand, der das Büro betrat, wieder herauskam. Sie fanden da drin die Erlösung. Oder die Verdammnis. Die letzten beiden Türen schienen angesichts dessen eher überflüssig zu sein, aber sie waren Relikte der alten Tage und niemand wollte sie abschaffen. Er blickte zurück und warf noch einmal einen Blick auf das himmlische Tor, das sich soeben hinter ihm geschlossen hatte. Eine gewaltige Doppeltür, ganz aus Gold mit silbernen Intarsien, war sie breit genug, dass sie die gesamte Wand ausfüllte. Sie war gut und gerne fünf Meter hoch und wenn man einigen Engeln glauben darf, hatte „ER“ die Größe der Tür vor einiger Zeit schon um einiges reduziert. Aber wann genau das war, wusste niemand zu sagen. Sein Blick fiel auf seine Begleiterin. Ihr Name war Eli'el und sie war eine der schönsten Frauen, die er jemals gesehen hatte. Vielleicht war sie sogar mit Abstand die Schönste. Es verwunderte ihn aber nicht wirklich, da sie ein Engel war. Sie hatte ein zierliches Gesicht und goldblondes langes Haar. Sie trug ein weißes Sommerkleid, das ihre perfekte Figur betonte, aber nichts abzeichnete oder entblößte. Auf ihrem Rücken befanden sich zwei Flügel aus makellos weißen Federn. Sie war ein Engel, wie man sie sich vorstellte. Eli'el sah mit ihren ozeanblauen Augen auf ihn herab und er merkte, dass er rot wurde. Schnell blickte er zu Boden. Dabei runzelte er die Stirn. War das denn immer noch möglich? Konnte er rot werden, ohne Körper? Immerhin war Jeder, der hier war, ob im Limbo, Himmel oder Hölle, nur eine Manifestation der körperlichen Hülle, die sie einst beseelten. Sie waren genau das. Seelen. Als er so zu Boden schaute, bemerkte er natürlich nicht den Blick, den Eli'el ihr zuwarf. Es war kein Vorwurf, kein Tadel. Nur Mitleid. Wieso er das tat, würde sie nicht begreifen, aber noch weniger verstand sie, wieso „ER“ es zuließ. Er schaute wieder geradeaus und bemerkte, dass der gesamte Saal sie beide anstarrte. Es lag nicht daran, dass die Frau neben ihm gut und gerne zwei Köpfe größer war als er. Alle Engel waren größer als die Seelen. Vielmehr lag es daran, dass eine Seele soeben von einem Engel durch das Himmelstor in den Limbo zurück gebracht worden war. Sie alle hatten schon einmal Engel gesehen. Die kamen schließlich ab und an hier her, aber diese Engel kamen durch die Bürotür. Seit Ewigkeiten hatte sich das Tor zum Himmel nicht mehr geöffnet. Nicht, seit das neue System eingeführt worden war. Und selbst davor gingen die Seelen hinein, aber niemals kam eine hinaus. Ein schmatzende Geräusch hallte durch den Limbo und wie ein Mann drehten sich die Köpfe aller Wartenden vom Himmelstor zur noch letzten verbleibenden Tür, die ihr genau gegenüber lag. Das Tor zur Hölle. Es bildete den einzigen Kontrast in diesem hellen, wenn auch recht sterilen Wartezimmer. Und trotzdem vermied man es, dort hinzusehen. Die Höllenpforte war, was ihre Größe anging, ihrer himmlischen Schwester genau gleich. Aber da hörten die Ähnlichkeiten dann auch auf. Der Rahmen schien aus Knochen zu bestehen und die Türen an sich aus menschlicher Haut. Die Haut war an einigen Stellen eingerissen und blutete, ohne jemals zu heilen. Wer diese Tür ansah, verlor jede Hoffnung. Und genau das geschah jetzt. Die Toten schauten mit vor Schreck geweiteten Augen, wie sich das Höllentor mit einem schmatzenden Geräusch langsam öffnete. Eli'el griff nach seiner Schulter, um ihm zu versichern, dass sie noch immer über ihn wachte. Sie drückte ihn sanft nach Vorne und die beiden gingen in die Mitte des Saales. Es war totenstill im Limbo. Hinter der schwarzen Tür führten Stufen in die Tiefe. Und Schritte waren zu hören. Das Patschen nackter Füße, die auf Stein klatschten. Zuerst sahen sie einen Kopf und dann kam immer mehr zum Vorschein, bis der Dämon schließlich ganz in der Tür stand. Es war ohne Zweifel ein Dämon. Man konnte es nicht nur sehen, sondern auch spüren. Die Wartenden senkten geeint den Blick, in der Hoffnung, der Aufmerksamkeit des Gefallenen zu entgehen. Nur Eli'el und ihr Begleiter hielten seinem Blick stand. Er konnte sich ein Bild von dem Wesen machen, als es sich ihnen näherte. Er wirkte menschlich, in genau dem gleichen Maß wie ein Engel, aber eben...anders herum. Abgesehen von einer Hose trug er nichts am Leib. Keine Schuhe und kein Oberteil. Seine Füße waren dreckig und hinterließen ölige Spuren auf dem sonst so makellosen Boden. Erst als er genauer hinsah, fiel ihm jedoch auf, dass schwarze Zeug nicht von den Füßen stammte, sondern von zwei Stümpfen, die auf seinem Rücken waren. Dort, wo einst seine Flügel waren, waren jetzt nur noch klägliche Überreste, die schwarz bluteten und immer noch rauchten. Sie waren von göttlichem Feuer abgetrennt worden und diese Wunden würden niemals heilen. Auch das Gesicht des Wesens zeugte davon, dass es vor Urzeiten einst ein Engel gewesen war. Es zeigte noch immer entfernt die himmlische Schönheit, war aber nun von Dunkelheit gezeichnet. Seine Tränen und sein Speichel, wohl alle Flüssigkeiten, waren schwarz und ölig, was auf seinen Augen und Zähnen einen schwarzen Film hinterließ. Es war ein Anblick, bei dem einem kalt wurde. Als er bei ihnen ankam, sah er er auf ihn hinab. Aber nur kurz, dann wandte er sich Eli'el zu. Der Dämon war ebenfalls größer als er. „Eli'el.“, sagte er zur Begrüßung und deutete eine Verbeugung an. Seine Stimme war zischelnd, aber gleichzeitig beruhigend. Sie war ein Überbleibsel aus der himmlischen Zeit. Nur noch ein Teil dessen, was Eli'els Stimme war, als sie sich ebenfalls leicht verbeugte und Gesandten der Hölle ansprach. „Azrael.“ Ihre Stimme war eine pure Melodie. „Das ist er?“, fragte Azrael. Er war froh, dass Eli'el noch immer ihre Hand auf seiner Schulter hatte, als sie nickte. Azrael brummte nur und steckte die Hände in die Hosentaschen. Der Engel kniete sich vor ihrem Begleiter hin. In ihrer Hand hielt sie eine Art Armband. Er fragte sich ernsthaft, wo sie das her hatte, denn ihr Kleid hatte keine Taschen. „Sieh mich an.“, sagte sie ernst. Er blickte in ihre Augen und sie legte ihm das Armband an. „Dieses Band ist ein Teil von mir und solange du es trägst, kann dir nichts passieren.“ „Wir hatten einen Deal, Engelchen. Er ist bei mir so sicher wie in Abrahams Schoß.“ Sie blickte zu Azrael auf. „Dass du es wagst, so einen Spruch in den Mund zu nehmen. Und verzeih mir, wenn ich dir nicht wirklich vertraue.“ Der Dämon grinste breit. Er hatte natürlich mit sowas gerechnet. Eli'el übergab ihren Begleiter an Azrael, sichtlich widerwillig, und trat einen Schritt zurück. Der Dämon legte nun seinerseits seine Hand auf die Schulter des Mannes. Glücklich musste er feststellen, dass sein Armband ihm Wärme und ein Gefühl der Geborgenheit gab. Er ahnte, dass er das brauchen würde. „Lass uns gehen.“, sagte Azrael und schob ihn in Richtung des Höllentores. Er schaute noch einmal zurück und sah, wie kummervoll Eli'el ihm hinterher blickte. Er bemerkte aber nicht, dass die Wartenden ihn mitleidig ansahen. Es musste das erste Mal in der Geschichte sein, dass eine Seele vom Himmel in die Hölle geschickt wird. Keiner von ihnen wusste jedoch, was wirklich vor sich ging. Die Beiden traten über die Schwelle des Tores und schon schlossen sich die Flügeltüren wie durch Zauberhand von ganz alleine. Je weiter sie sich näherten, desto dunkler wurde es. Mit einem dumpfen Pochen fiel sie die Pforte schließlich endgültig zu und totale Dunkelheit umhüllte ihn. Und ihm war kalt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)