Redemption von -Ray- ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Kapitel 1 Leise schließe ich die Tür hinter mir. Düsternis umfängt mich. Durch die geschlossenen Vorhänge dringt kaum Licht. Es ist tiefste Nacht. Nur finster heben sich die Konturen der Möbel gegen die Dunkelheit ab. Lediglich die Tatsache, dass Vollmond ist, sorgt überhaupt dafür, dass ich mich nicht komplett hilflos durch das Zimmer bewege. Kurz tasten meine Finger Richtung Lichtschalter, doch dann entscheide ich mich dagegen. Ich mag die Dunkelheit für den Moment lieber als das Licht. Sie passt besser zu dem Chaos, dass in meinem Inneren herrscht. Langsam trete ich an das Bett heran und lasse mich auf die Kante sinken. Gedankenverloren starre ich in die Dunkelheit, keine Farben, keine Muster lassen sich erkennen. Nur Schwarz und Grau. Müde hebe ich die Arme, stütze meine Ellenbogen auf die Knie und lege meinen Kopf in die Hände. Ich seufze leise. Irgendwann wirst du daran zerbrechen, denke ich bei mir und versuche gleichzeitig die Gedanken und Gefühle, die sich in meinem Inneren anstauen, zu verdrängen. Kurz hebe ich den Kopf und lauschte. Nichts außer das stetige Schnarchen meines Zimmernachbarn, war zu hören. Erleichtert schließe ich die Augen und lasse mich zur Seite auf mein Bett fallen. Heute Nacht, dürfte es zu keinen weiteren Zwischenfällen kommen. Er schläft. Dasselbe sollte ich auch tun, denke ich bei mir, schon allein wenn ich an das Vorstellungsgespräch denke, dass morgen ansteht. Ich weiß, dass ich nur diese eine Chance habe. Man stellt sich nur einmal in seinem Leben als Grafikdesigner bei dem weltweit größten und erfolgreichsten Spieleentwickler vor. Seto Kaiba würde mir nicht noch eine zweite Chance geben. Wenn ich denn überhaupt eine hatte. Zwar ist unser letztes Zusammentreffen nun schon etwas mehr als fünf Jahre her, doch glaube ich nicht, dass er mich inzwischen vergessen hat. Schließlich bin ich Joseph Jay Wheeler. Und somit ein alter Feind...oder Freund. So genau kann ich das gar nicht mehr beurteilen. In seinen Augen waren wir vielleicht Feinde, doch ich weiß schon viele Jahre, dass ich ihn nicht als einen Feind, sondern eher als einen Freund betrachte. Auch wenn ich das ihm gegenüber nie zugeben würde. Doch hat er mir damals sehr geholfen. Auch wenn es nicht in seiner Absicht lag, doch unsere Kabbeleien während der Schule und den Duell Monster Turnieren lenkten mich ab. Sie lenkten mich ab, vor dem, der nebenan in seinem Bett liegt und seinen Rausch ausschläft. Lange Zeit habe ich mir nicht eingestehen wollen, dass diese Streitereien für mich eine Art Lichtblick des Tages waren. Ich brauchte die Auseinandersetzungen, ich brauchte das Adrenalin, welches sich jedes Mal in meinem Blut bildete, sobald er mich anstachelte, ihm Konter zu geben, oder etwas Verrücktes zu tun, nur um ihm zu beweisen, wie stark ich war. Stark...ja damals war ich der Meinung ich sei stark. Ich sei mutig, selbstständig, allzeit bereit für das nächste Abenteuer. Heute weiß ich, dass ich versucht habe, es mir einzureden. Inzwischen verstehe ich mich wesentlich besser als damals. Schließlich habe ich während meines Studiums, bei dem ich bis heute nicht weiß, wie ich das die letzten Jahre überhaupt stemmen konnte, zum ersten Mal spüren müssen, was es bedeutete allein zu sein und keinen Motor, keine Starthilfe zu haben, um jeden Tag aufs neue Aufzustehen und mich der Realität zu stellen. Ich habe ihn vermisst. Schon nach wenigen Wochen. Selbst meine Freunde, welche ich heute nicht mehr so nennen würde, konnten mir diese Lücke nicht füllen. Keiner hat je verstanden, was mein Innerstes bewegte. Doch er, Seto Kaiba, hatte oftmals viel tiefer in mein Herz sehen können, als jeder andere. Er war der einzige gewesen, der je einen Blick hinter meine Mauern, hatte werfen können. Auch wenn ich bis heute nicht weiß, weshalb er es so gut beherrschte, jemanden aus der Reserve zu locken. Das alles war auch der Grund für meine Bewerbung. Doch habe ich diese nicht unter meinem amerikanischen Namen verfasst, sondern mich mit meinem japanischen Namen beworben. Schließlich wollte ich zumindest die Chance erhalten, überhaupt ein Vorstellungsgespräch zu erhalten. - „Katsuya Jonouchi!“, ertönt eine kühle, weibliche Stimme über den Lautsprecher. Langsam erhebe ich mich, greife nach meiner Umhängetasche, die neben mir auf einem der Stühle, hier in dieser Art Vorraum liegt und in der ich all meine Unterlagen, die für mich sprechen sollen, fein säuberlich geordnet, aufbewahre. Kurz lasse ich meinen Blick noch mal über die anderen Herren schweifen die sich mit mir gemeinsam in diesem Raum befanden. Alles Männer, zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig, adrett in Anzug und Krawatte gekleidet und mit einer Aktentasche versehen. Sie alle zeugen von einem gewissen Maß an Attraktivität, wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass es Seto Kaiba darauf ankommt. Ich weiß dass ihm das äußere Erscheinungsbild zwar sehr wohl wichtig ist, sich das jedoch mehr auf gepflegtes äußeres und ordentliche Kleidung beschränkt, und weniger auf ein hübsches Gesicht oder die richtige Figur. Ich bin der einzige in diesem Raum, der etwas aus dem Ruder läuft, was die Kleidung angeht. Zwar trage ich ein Hemd und ein Jackett, doch besitze ich keine Krawatte und trage statt Anzughose eine gut sitzende Jeans. Einen Anzug konnte ich mir nicht leisten. Da ich der einzige bin, der Geld nach Hause bringt, durch kleine Nebenjobs, die ich während dem Studium und die Pflege meines Mitbewohners, noch habe annehmen können, war es mir nicht möglich gewesen noch mehr aus mir heraus zu holen. So muss ich hoffen, dass meine Talente mehr bedeuten, als das Äußere. Die Tür zu seinem Büro öffnet sich und eine Sekretärin, zumindest nehme ich an, dass sie das ist, da sie die typischen Anzeichen dafür aufweist: manikürte Nägel, Rock und Blaser, weißes Hemd und eine breite, auffallende Kette um den Hals, winkt mich zu sich herein. Auf ihrem Gesicht ist ein automatisiertes Lächeln platziert, welches nicht ihre Augen erreicht. Sie nickt mir zu und ich erwidere die Geste, während ich meine Umhängetasche über die Schulter werfe und an ihr vorbei gehe. Sobald ich den Raum betreten habe, schließt sie die Tür wieder und stöckelt an mir vorbei zu einem kleinen Schreibtisch in der Nähe der Tür. Langsam folge ich ihr weiter in den Raum herein und sehe mich aufmerksam um. Eine große Fensterfront ziert die Wand hinter seinem Schreibtisch und demonstriert durch den unvergleichlichen Ausblick deutlich, seinen Wohlstand und Reichtum. Der Schreibtisch selbst nimmt beinahe ein Drittel des Raumes ein. Er sit klinisch weiß, genau wie die Wände und ein Notebook und ein feststehender PC sind daran angeschlossen. An den Wänden sind lediglich zwei Kunstwerke zu verzeichnen. Das eine zeigt einen weißen Drachen mit eisblauen Augen, das andere einen Blauen mit weiß-grauen Augen. Ich lächele leicht, als ich die beiden Bilder sehe. Sie harmonieren sehr gut miteinander, außerdem passen sie gut zu diesem, ansonsten doch eher schlicht gehaltenen Raum. Vor dem Schreibtisch stehen zwei weiße Sessel und er selbst sitzt ebenfalls auf einem weißen, etwas größeren Bürostuhl. Lediglich ein kleiner Schrank, wahrscheinlich für die wichtigsten Unterlagen und eine weiße Couch auf der gegenüberliegenden Seite, ergänzen das restliche Mobiliar. Mein Blick fällt auf den brünetten Mann hinter dem Schreibtisch, der bisher noch in seine Unterlagen vertieft ist und den Blick noch nicht gehoben hat. Er sieht gut aus. Etwas Älter, als ich ihn in Erinnerung habe, doch die Jahre, die zwischen unseren letzten Zusammentreffen an der Abschlussfeier vor etwas mehr als fünf Jahren liegen, haben ihm gut getan. Seine Schultern sind noch etwas breiter geworden, was seiner schlanken Gestalt, soweit ich das von dieser Position beurteilen kann, aber keinen Abbruch getan haben. Nein, stattdessen sorgt es dafür, dass er weniger schlaksig wirkt als früher. Seine Haare trägt er, genauso wie ich, etwas länger, als damals in der Schule. Es steht ihm gut. Ich lächele leicht. Es tut gut ihn zu sehen. Auch wenn mir das Herz bis zum Hals schlägt und meine Nervosität stetig zunimmt, freue ich mich, ihn zu sehen. Schließlich legt er seinen Stift zur Seite, zieht sich stattdessen eine Bewerbungsmappe, dich ich als die Meine erkenne, heran und überfliegt die erste Seite. „Katsuya Jonouchi...“, murmelt er leise und sieht dann auf. Sofort sehe ich Erkennen in seinen Augen. Sie weiten sich einen Moment bei meinem Anblick, dann runzelt er die Stirn, legt die Mappe zur Seite und verschränkt die Arme vor dem Körper. „...Was machst du denn hier?“, fragt er kalt und zieht seine linke Augenbraue ein Stück nach oben. Ich finde es schon immer faszinierend, wie er das macht. Immer noch lächele ich leicht und trete einen Schritt auf ihn zu. Gerade als ich zu einer Erklärung ansetzen will, deutet er mit einem auffordernden Nicken zur Tür. „Was auch immer du willst, ich hab jetzt keine Zeit. Ich führe Bewerbungsgespräche und habe keinen Nerv für was auch immer dich hier her führt.“, sagt er bestimmt und bricht sogleich den Blickkontakt ab um sich wieder mit der Mappe zu beschäftigen, die nach wie vor, vor ihm aufgeschlagen liegt. Ich stutze einen Moment, besinne mich dann auf mein Anliegen und trete zwei weitere Schritte auf seinen Schreibtisch zu. „Ich bin hier, um...“, beginne ich mein Dasein zu erklären, doch er unterbricht mich sofort. „Wheeler, habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Du sollst verschwinden! Wie du siehst, habe ich zu tun. Wenn dein Anliegen so wichtig ist, dann lass dir meinetwegen einen Termin geben, aber jetzt hau ab!“ Seine Stimme strotzt nur so von Arroganz und Überheblichkeit, doch gleichzeitig sehe ich eine gewisse Neugier in seinen Augen. Lächelnd schüttele ich den Kopf und deute auf die Mappe in seiner Hand „Ich habe einen Termin. Ich habe mich um die Stelle als Grafikdesigner beworben.“ Wer ihn gut kennt, weiß, dass das leichte Zucken seiner linken Augenbraue ein Zeichen für seine Verwunderung ist, doch für jemanden, der ihn nur oberflächlich kennt, wirkt es eher, als würde seine Geduld langsam zu neige gehen. Da ich ihn schon viele Jahre kenne, mehr als zehn, weiß ich, dass ich mir erst mal keine Sorgen mehr zu machen brauche. Ich habe seine volle Aufmerksamkeit. Also nehme ich meine Umhängetasche von der Schulter, stelle diese neben einen der weißen Sessel und reiche ihm dann meine rechte Hand. „Katsuya Jonouchi, mein Name. Schön dich wieder zu sehen Seto Kaiba!“, begrüße ich ihn und lächele verlegen. Er zögert noch einen Moment, schlägt dann ein und weist auf den rechten Sessel, direkt gegenüberliegend von seinem Bürostuhl. Ich nehme sein Angebot mich zu setzen gerne an und lasse mich in das bequeme Polster sinken. So auf gleicher Höhe, verändert sich die Atmosphäre zwischen uns. Schweigen breitet sich aus, während er mich mit undurchdringlichem Blick von oben bis unten mustert. Ich versuche Souveränität und Stärke auszustrahlen, weiß aber, dass es ihm schon immer leicht fiel, mich zu durchschauen. Daher mache ich mir nicht allzu große Hoffnungen, dass ich ihn überzeugen kann. Schließlich unterbricht er seine Musterung, greift nach seinem Kugelschreiber und zieht sich die Bewerbungsmappe noch ein mal näher heran. „Du hast also deinen Namen ändern lassen?“, fragt er beiläufig, während er sich eine Notiz zu meinem Deckblatt macht. Ich schüttele den Kopf. „Nein. Genau genommen steht sowohl die amerikanische, als auch die japanische Version in meinem Ausweis, da meine Eltern damals darauf bestanden haben und ich die doppelte Staatsbürgerschaft besitze. Ich kann mir also theoretisch aussuchen, wie ich mich vorstelle, doch führt das auch meist zu Verwirrungen. Daher habe ich mich bisher immer auf eine Variante beschränkt.“ Er nickte leicht. „Das kann ich mir vorstellen. Also hast du versucht mich zu täuschen, um an ein Bewerbungsgespräch zu kommen?“, fragt er, doch statt Abneigung, Kälte, oder Ärgernis, höre ich nur Belustigung in seiner Stimme. Ein schelmisches Grinsen schleicht sich über meine Lippen, von dem ich weiß, dass es mich oft jünger wirken lässt, als ich tatsächlich bin und nicke zur Bestätigung. „Ja, irgendwie schon. Ich dachte mir, eine Bewerbung von J.J. Wheeler würdest du sofort in die Tonne treten.“ Er verschränkt die Arme vor der Brust und lehnt sich in seinem Bürostuhl ein Stück zurück. Ich bin mir nicht sicher, doch im ersten Moment denke ich kurz er wäre beleidigt. „Ich lasse das mal unkommentiert stehen.“, erwidert er verhalten und wendet sich dann meinem Lebenslauf zu. „Du hast also an der Domino University Grafikdesign studiert? Und warst laut der Empfehlungsschreiben deiner Tutoren Jahrgangsbester...“, stellt er fest, während er die Bewerbung durchblättert und mit seinen tiefblauen Augen über die einzelnen Passagen wandert. Ich nicke erneut und ziehe aus meiner Umhängetasche ein paar Zeichnungen und Grafiken hervor, die ich in den letzten Monaten mehrmals überarbeitet und schließlich in meinen Augen perfektioniert habe. „Hier ein paar Beispiele von meiner Arbeit“, erkläre ich und lege sie ihm auf den Schreibtisch. Er wirft mir einen kurzen, forschen Blick zu und greift dann nach den DinA4 Blättern um sie näher zu betrachten. Ich sehe so etwas wie Bewunderung in seinen Augen aufblitzen, als er die teils mit Bleistift, teils animierten Bilder analysiert. Stolz bildet sich ein leichtes Lächeln in meinen Mundwinkeln und innerlich jubiliere ich. Die harte Arbeit der letzten fünf Jahre scheint sich gelohnt zu haben. Wenn ich so weiter mache, dann sind meine Chancen gar nicht so gering. „Nun...Wheeler...oder soll ich lieber Jonouchi zu dir sagen?! Im Vergleich zu den Vollidioten, der letzten zwei Stunden, macht deine Arbeit einen ganz soliden Eindruck auf mich. Ich lasse dir durch meine Sekretärin meine Entscheidung morgen Nachmittag mitteilen.“ Ich versuche nach Außen hin jegliche Luftsprünge und freudige Ausrufe zu vermeiden und nicke ihm stattdessen freundlich zu. Er steht auf, reicht mir die Bilder zurück und deutet mit der anderen Hand lässig zur Tür. „Du kannst gehen.“ „Vielen Dank!“, erwidere ich, packe meine Arbeiten zurück in die Umhängetasche und verlasse sein Büro, nicht ohne ihm im letzten Moment noch mal einen kurzen Blick zuzuwerfen. Unsere Augen treffen sich für einen Moment, bevor er sich von mir abwendet und die nächste Bewerbungsmappe zu sich heran zieht. Ich weiß nicht mit hundertprozentiger Sicherheit zu sagen, was dieser Ausdruck zu bedeuten hatte. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich auf eine Mischung von Bewunderung, Sorge und Neugier tippen. Doch besonders die zweite Empfindung kann ich so gar nicht mit ihm in Verbindung bringen. Zumindest nicht, wenn es sich um eine andere Person als Mokuba Kaiba handelt. Kapitel 2: ----------- Kapitel 2 Leise seufzend schließe ich die Eingangstür zu unserer Wohnung hinter mir und trage die Einkäufe in die Küche. Diese sieht genauso katastrophal aus, wie noch vor ein paar Stunden. Wie immer hat er nichts sinnvolles getan, an diesem Tag. Wahrscheinlich liegt er immer noch im Bett, oder hat sich mit einer Flasche Wodka, oder irgendwelchen anderen Drogen in seinem Zimmer eingeschlossen. Noch mal entflieht ein leises Seufzen meine Lippen, bevor ich beginne, meine Einkäufe in den Schränken zu verstauen. Danach sammele ich das schmutzige Geschirr zusammen und lege es in das Spülbecken. Ich lasse warmes Wasser ein, greife nach einem noch halbwegs sauber wirkenden Schwamm und mache mich an die Arbeit. Ein leises Husten ertönt aus seinem Schlafzimmer. Also ist er wach und scheinbar auch noch am leben. Ich unterdrücke ein weiteres Seufzen und versuche meine Gedanken von seinem Schlafzimmer wegzulenken auf positivere Themen, wie zum Beispiel die Tatsache, wie gut das Vorstellungsgespräch in der Kaiba Corporation am Vortag gelaufen ist. Stolz wippe ich mich den Füßen, während ich einen Teller nach dem anderen von seinem Schmutz befreie. Endlich ein Lichtblick in dieser Düsternis von einem Leben, dass ich führe, denke ich bei mir und lächele still. Sollte Kaiba mir tatsächlich die Stelle geben, wäre das endlich die Gelegenheit aus diesem Drecksloch zu verschwinden und mein altes Leben hinter mir zu lassen. Während ich darüber nachdenke, überkommt mich sofort ein schlechtes Gewissen. Kann ich ihn denn überhaupt allein lassen?! Wieder ertönt ein Husten, dann poltert etwas zu Boden und wenige Sekunden später öffnet sich die Tür zu seinem Schlafzimmer. Schwere Schritte nähern sich und schließlich schlägt mir der Geruch nach abgestandenen Zigaretten und Alkohol in Kombination mit ungewaschenem Leib entgegen. Eine Hand legt sich auf meine Schulter, was mir einen Schauer über den Rücken laufen lässt. „Danke Junge!“, brummt mein Vater heißer, als er das saubere Geschirr und meine nassen Hände bemerkt, welche ich mir gerade an einem Handtuch trockne. Ich nicke leicht und öffne dann den Kühlschrank, um ein paar Lebensmittel heraus zu nehmen. Langsam bekomme ich Hunger und vielleicht kann ich ihn auch dazu überreden, eine Kleinigkeit zu essen. „Wo warst du?“, fragt er und hustet leise, während er in einem der Unterschränke nach einer neuen Flasche Alkohol sucht. Innerlich habe ich den Drang, erneut aufzuseufzen, doch ich verkneife es mir und beobachte ihn stattdessen, wie er sich Whiskey heraus holt. „Ich war in der Stadt. Einkaufen.“, erwidere ich, gehe dann auf ihn zu und nehme ihm sanft die Flasche aus der Hand. „Nicht Papa. Warte noch ein bisschen. Was hältst du davon dich erst mal zu Duschen?“, frage ich ihn leise und lächele ihn liebevoll an. Verwirrt starrt er einen Moment auf meine Hand mit der Whiskeyflasche, dann sieht er mir in die Augen und sein schlechtes Gewissen meldet sich wieder zu Wort. Tränen bilden sich in seinen Augen, während er mich schluchzend ansieht. „Es tut mir so leid Joseph, ich bin ein schlechter Vater...“, murmelt er und ein weiteres Schluchzen erfasst ihn. Kopfschüttelnd lege ich ihm eine Hand auf den Arm, mit dem er versucht, seine Tränen fort zu wischen. „Nein Papa. Sag so was nicht.“, erwidere ich sanft und streiche ihm zärtlich über die Haut. Weiter Tränen bahnen sich einen Weg über sein Gesicht und er nimmt meine Hände in seine großen, schwieligen Pranken. Seine Haut fühlt sich an wie trockenes Papier. Ich weiß, dass das von dem Alkoholkonsum kommt. Er trinkt zu viel, raucht zu viel, versucht dadurch zu vergessen... „Es tut mir so leid. Es tut mir leid. Bitte verzeih mir! Ich bin so ein schlechter Mensch. Ich bin verantwortungslos und verliere immer wieder die Beherrschung...“, jammert er verzweifelt und packt meine Hände fester. Ich versuche erst gar nicht mich aus seinem Griff zu befreien, ich weiß, dass es die Situation nur verschlimmert, wenn ich mich ihm entziehe. Also lasse ich es zu, dass er auf die Knie geht und mich mit nach unten zieht. Ich lasse zu, dass er mich anfleht, ihm zu verzeihen. Ich bestätige ihm immer wieder, dass ich ihn lieb habe und ihm vergebe. Selten nützt es was. Meistens schläft er irgendwann ein, vor lauter Verzweiflung. Dann bringe ich ihn ins Bett und wache an seiner Seite, bis ich sicher bin, dass er sich beruhigt hat und durchschläft. Manchmal allerdings, verschlimmert sich sein Zustand, so weit, bis er sich selbst verletzt. Er schlägt mit dem Kopf gegen die Wand, oder kratzt sich blutig. In solchen Situationen dauert es oft Stunden, bis ich ihn beruhigen kann. Ab und an wird er auch apathisch und teilnahmslos, starrt nur noch auf einen bestimmten Punkt. In diesen Momenten habe ich die meiste Angst. Dann wirkt er oft, als würde er jeden Moment aufhören zu atmen...oder sich im nächsten Augenblick aus dem Fenster stürzen. Oft gehen die Episoden über mehrere Stunden, manchmal auch Tage. Die Längste dieser Episoden ging drei Tage. Damals habe ich zum ersten Mal nach drei Tagen den Notarzt rufen müssen. Wenn man versucht drei Tage und Nächte lang neben einem Menschen zu wachen, der in größter Gefahr schwebt, sich selbst etwas anzutun, dann weiß man, was die Worte Angst und Verzweiflung bedeuten. Der Notarzt hat ihm eine Beruhigungsspritze gegeben und ihn in Krankenhaus gebracht. Mich hat er gleich mit einliefern lassen. Sie gaben auch mir ein Medikament, was mich sofort einschlafen ließ. Leider waren wir beide nicht krankenversichert. Der Notruf, sowie die Nacht im Krankenhaus und die Medikamente haben mich mehr als 330.000 Yen gekostet. Ich habe mehr als sechs Monate gebraucht, um den Betrag aufzubringen. Seit dem rufe ich nicht mehr den Notruf. Natürlich, damals, als die Depressionen meines Vaters begannen, war er auch in psychologischer Behandlung. Doch leider war das Geld damals schon knapp, da er als Arbeiter auf dem Bau, nie so viel verdiene, als dass er uns gut versichern konnte. Als er dann aufgrund der häufigen Krankmeldungen seinen Job verlor, war das Thema psychologische Betreuung, auch beendet. Sieben Jahre ist es jetzt her, seit die Depressionen angefangen haben. Was der Auslöser war, ist mir nur allzu schmerzlich bewusst. Selbst nur daran zu denken, droht mich ebenfalls in eine Depression zu stürzen. Ja, vielleicht bin ich stärker als mein Vater, doch ich schlage viel zu sehr nach ihm und habe somit den Drang zu psychischer Instabilität mehr oder weniger von ihm geerbt. Nur die Tatsache, dass ich für ihn stark sein muss, hilft mir, meine eigenen Probleme zu überwinden, beziehungsweise zumindest beiseite zu schieben. Müde und erschöpft registriere ich drei Stunden später das Klingeln meines Mobiltelefons. Mein Vater liegt endlich in seinem Bett und schläft. Vor zirka einer halben Stunde hat er sich so weit beruhigt, dass ich ihn ins Bett bringen konnte. Seit zehn Minuten höre ich das stetige Schnarchen von ihm. Traurig denke ich daran, dass er wieder keine feste Nahrung zu sich genommen hat. Gestern schon hat er nichts gegessen. Heute wieder. Dass muss aufhören, denke ich bei mir während ich aufstehe und in der Küche nach meinem Handy suche. Die Nummer ist unbekannt. Kurz fahre ich mir mit der linken Hand über beide Augen. Dann drücke ich auf den grünen Hörer. „Jonouchi?“, stelle ich mich vor und warte. „Mister Jonouchi, hier Wakaba, Nakami von der Kaiba Corporation. Sie hatten gestern um vierzehn Uhr dreißig ein Vorstellungsgespräch bei Herrn Kaiba?“, meldet sich eine junge, dynamische Frauenstimme. Ich nicke, stelle gleichzeitig fest, dass sie das durchs Telefon nicht sehen kann und antworte daher mit einem unverbindlichen Ja. „Ich darf Ihnen von Herrn Kaiba ausrichten, dass Sie die Anstellung bekommen und am Fünfzehnten diesen Monats beginnen.“ Ich lächle. Nicht nur weil ich mich freue, sondern weil die junge Frau so bestimmend klingt, dass man meinen könnte Kaiba selbst wäre am Telefon. „Vielen Dank. Ich freue mich sehr!“, erwidere ich. „Gut Herr Jonouchi. Dann sehen wir uns in einer Woche um Acht Uhr in der Empfangshalle der Kaiba Corporation!“ „Ich werde da sein!“ Sie legt auf. Kurz verharre ich noch so mit dem Telefon in der Hand in der Küche und lausche dem leisen Tuten aus meinem Mobilfunkgerät. Schließlich drücke ich auf auflegen und lege das schwarze Handy auf die Küchenzeile. Kurz sehe ich mich noch mal in der Küche um, entscheide dann, keinen Hunger mehr zu haben und greife lieber nach meiner Jacke und dem Haustürschlüssel. Ein kleiner Abendspaziergang würde mir gut tun. Die frische Luft belebt deutlich meine Sinne. Tief atme ich durch und wende mich Richtung Park. Trotz der Tatsache dass bereits Anfang April ist und der Frühling vor der Tür steht, ist es kalt und mein Atem bildet kleine, weiße Wölkchen. Ich vergrabe die Hände tief in Taschen meines leichten Mantels und ziehe gleichzeitig die Schultern hoch, um die Kälte aus meinem Nacken zu vertreiben. Die Gegend in der ich mich befinde ist Zeuge der finanziellen Probleme, die mein Vater und ich haben. Wir wohnen in einem Randbezirk der Stadt, das vor allem von hässlich gelben, achtstöckigen Kästen und aus mausgrauen Mehrfamilienbunkern geprägt wird. Die Mülltonnen, die neben den Straßen stehen, sind in der Regel überfüllt und auch auf der Straße selbst türmt sich der Abfall. Keinen interessiert es hier, ob sein Rasen gemäht, oder die Hecken gestutzt sind, denn die wenigen Grünflächen, die hier einmal existiert haben, wurden von randalierenden Jugendlichen zerstört, oder versumpfen längst im Dreck. Ich bemühe mich darum, weder nach rechts, noch nach links zu sehen und sehe niemandem, der mir begegnet in die Augen. Um diese Uhrzeit, wo es bereits dunkel wird, ist es nicht ratsam zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Kriminalitätsrate in unseren Viertel ist dreimal so hoch wie in der Innenstadt. Der einzige Vorteil, den unsere Gegend hat, ist die gute Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel und die verhältnismäßige Nähe zum Zentrum. So haben wir nur zirka dreieinhalb Kilometer zur Einkaufsmeile und auch gleichzeitig zur Kaiba Corporation, die in unmittelbarer Nähe der Hauptverkehrsstraße unserer Stadt, relativ zentrumsnah, liegt und somit leicht zu erreichen ist. Nach fünfzehn Minuten erreiche ich das Ende unseres Stadtteils und finde mich ein paar Straßen weiter vor einem großen, grünen Park wieder, voller Bäume, Sträucher und anderen Pflanzen und vielen verschlungenen Pfaden. Ich liebe diesen Park. Er steht in so krassem Kontrast zu unserer Wohngegend und hilft mir durch seine wachsende, lebendige Pflanzenwelt für ein paar Momente die Hoffnungslosigkeit zu vergessen, die mich so oft hemmt. Wenigstens für ein paar Minuten, oder auch Stunden, habe ich hier die Möglichkeit einfach ich selbst zu sein, meinen Gedanken freien lauf zu lassen und lernen, das Leben, auch wenn nur für ein paar Augenblicke, wirklich lebenswert zu finden. Das, was ich hier in dieser grünen Oase empfinde, ist mein Ersatzmotor geworden. Erst nach dem ich die Schule verlassen habe und merken musste, wie einsam ich wirklich bin, habe ich diesen Ort gefunden. Der mich durch seine Vielfalt, immer wieder neu, von meinem trostlosen Alltag ablenkt. Jeden einzelnen Baum habe ich inzwischen lieb gewonnen und missbrauche den ein oder anderen gerne als Lehne, wenn ich mich mit einem Block und einen Stift niederlasse, um zu zeichnen, zu skizzieren und meinen Ideen freien Lauf zu lassen. Hier bin ich kreativ. Hier bin ich der Mensch, der ich sein will. Hier bin ich, ich. Als ich zwei Stunden später unsere Wohnung betrete und lausche, kann ich nichts hören, außer dem stetigen Schnarchen meines Vaters. Erleichtert schließe ich die Wohnungstür hinter mir und betrete die Küche, um nun doch noch eine Kleinigkeit zu essen. Ich greife nach einem Apfel, der noch von meinem Wocheneinkauf auf dem Tisch liegt und schaue gleichzeitig auf mein Handy, um zu sehen, ob ich wichtig war. Tatsächlich zwei Anrufe in Abwesenheit. Ich beiße ein Stück von dem Apfel ab, genieße einen Moment das prickelnde Gefühl der Säure auf meiner Zunge und tippe dann auf ein paar Tasten meines Mobiltelefons, um herauszufinden, wer mich angerufen hat. Freudig stelle ich fest, dass es Duke Devlin war, der vielleicht beste Freund, den ich je hatte und haben werde. Schnell tippe ich seine Nummer an, drücke auf den grünen Hörer und halte mir dann das Telefon ans Ohr und warte auf das Freizeichen. Duke ist der einzige in meinem Leben, den ich als echten Freund bezeichnen würde. Er kennt mich schon seit mehr als zehn Jahren und er ist der einzige Mensch, mit dem ich je über das Gesprochen habe, was vor sieben Jahren, geschah. Damals habe ich jemanden gebraucht und er war immer für mich da. Er hat mich aufgefangen. Ohne ihn, wäre ich wahrscheinlich damals einfach zerbrochen. Dank ihm lebe ich noch und kann Tag für Tag die Kraft aufbringen, mich um meinen kranken Vater zu kümmern. Von ihm weiß Duke allerdings nichts. Nie habe ich mit einem anderen Menschen über das Gesprochen, was mein Vater täglich durchmacht. Nie habe ich mich jemandem anvertraut. Ich weiß genau, dass ich danach nicht mehr weiter machen könnte. Wenn ich jemandem erzähle was für einen psychischen Druck und welch einen Psychoterror ich jeden Tag ertragen muss, würde ich aufgeben. Und das will ich nicht. Zumindest noch nicht. Endlich hebt mein Freund ab und ich höre seine immer gut gelaunte Stimme durch das Telefon. „Joey! Schön das du zurück rufst! Wie geht es dir?“, fragt er mich sofort und ich höre im Hintergrund deutlich Flughafengeräusche. „Hallo Duke, bei mir ist alles gut! Wo steckst du?“, antworte ich ihm und ein leichtes Lächeln bildet sich auf meinen Lippen, während ich erneut von meinem Apfel abbeiße. „Ich bin gerade in Europa gelandet. Hier laufen einige, wichtige Spielemessen! Morgen geht’s direkt nach Frankfurt am Main, nach Deutschland!“, erzählt er und ich kann deutlich die Begeisterung aus seiner Stimme hören. Mein Lächeln wird breiter. Ich freue mich für ihn, dass er so viel Spaß daran hat, in der Weltgeschichte zu tingeln und auf Messen und Kongressen seine neuesten Erfindungen anzupreisen. Natürlich ist er bei weitem nicht so erfolgreich wie Seto Kaiba. Doch für ihn reicht es und ich weiß, dass er sich damals mit der Selbstständigkeit einen großen Traum erfüllt hat. „Aber nun erzähl schon Joey! Wie lief es gestern bei dem alten Stinkstiefel?“, fragt Duke neugierig und ich kann nicht anders, als kurz auf meinen Fersen auf und ab zu hüpfen, vor Freude. „Rate!“, gebe ich zurück und esse den Apfel gar auf. „Er hat dir einen Arschtritt verpasst und dich hochkant aus der Firma gekickt!“, antwortet er und ich sehe förmlich das breite Grinsen auf seinem Gesicht. Kopfschüttelnd verdrehe ich die Augen und verneine. „Sag bloß er hat dir den Job gegeben!“, ruft Duke gespielt erstaunt aus und ich muss lachen. Ich weiß, dass er nur Blödsinn macht, denn schließlich war er es gewesen, der mich überhaupt dazu überredet hatte, es zumindest zu versuchen. Auch war er es gewesen, der mir bei der Auswahl der Bilder und der Erstellung der Bewerbungsmappe geholfen hatte. Ohne ihn, wäre ich wahrscheinlich aufgeschmissen gewesen, schon allein, weil ich mit diesen ganzen bürokratischen Formulierungen rein gar nichts anfangen kann. „Vor zwei Stunden hat eine Sekretärin anrufen lassen, um mir auszurichten dass ich nächste Woche Donnerstag anfangen kann!“, erkläre ich ihm begeistert und würde am liebsten einen Luftsprung machen. Erst jetzt, wo ich mit Duke telefoniere, merke ich erst, wie glücklich ich bin. Er jubiliert laut durchs Telefon und ich kann nicht anders, als noch mal laut zu lachen. „Ich bin so stolz auf dich, Kleiner! Sobald ich zurück aus Europa bin, werden wir das Feiern. Ich zahle! Und ich dulde keine Widerrede!“, entschließt er und ich schlucke den Protest, den ich gerade einbringen wollte, sofort runter. Einem Devlin zu widersprechen war ungefähr so sinnvoll, wie am helllichten Tage das Licht anzuschalten. Nach ein paar Minuten Austausch weiterer Belanglosigkeiten, während Duke auf seinen Koffer am Gepäckband wartet, verabschieden wir uns und er verspricht sich bald wieder zu melden. Schließlich drücke ich auf den roten Hörer, lege das Telefon zurück auf den Tisch und werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Es ist kurz nach zehn Uhr abends. Morgen muss ich früh raus, da ich die Frühschicht in einem kleinen Diner in der Nähe des Bahnhofs habe. Da muss ich pünktlich sein, sonst reißt mir der Chef des Ladens den Kopf ab. Daher gehe ich nur kurz ins Bad, mache mich bettfertig und betrete dann mein Zimmer. Wie vor zwei Tagen schon, taste ich mich im Halbdunkel des Mondes zum Fenster und ziehe die Vorhänge zu. Dann greife ich nach meinem Wecker, der auf dem kleinen Nachtkästchen steht und stelle ihn auf vier Uhr morgens. Schließlich setze ich mich auf die Bettkante und vergrabe mein Gesicht einen Moment lang in beiden Händen. Ich weiß, ich sollte eigentlich glücklich sein, froh sein, wie die Dinge zur Zeit liefen. Doch scheinbar habe ich irgendwann in den letzten Jahren vergessen, wie man Sorgen und Ängste ignoriert und sich stattdessen auf die schönen Bereich des Lebens konzentriert. Irgendwann verdränge ich erfolgreich meine Gedanken, lege mich hin und schließe die Augen. Beruhigt lausche ich noch einen Moment lang dem stetigen Grummeln meines Vaters von nebenan. Dann schlafe ich ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)