Zugzwang von Idris ([Jesse/Wade One-Shots]) ================================================================================ Kapitel 2: Lichtermeer ---------------------- Vorwort: Es gab tatsächlich mal eine Weihnachtsgeschichte mit den beiden ... was soll ich sagen, auch Kriminelle feiern Weihnachten. Random Info: Jom Kippur und Chanukka sind beides jüdische Feiertage. Jesse verrät damit indirekt, dass er vermutlich Jude ist, was ich bis dato auch noch nicht wusste (er ist sehr verschwiegen, auch mir gegenüber). Es gibt übrigens wirklich einen Eisring vor Somerset House (http://static.guim.co.uk/sys-images/Guardian/Pix/pictures/2008/11/20/1227203574884/SomersetHouse.jpg) und das ist mitten in London. Sein Handy vibrierte. Es hallte unangenehm auf dem kalten Beton und Jesse bedeckte es behutsam mit der freien Hand, während er mit der anderen das Fernglas an die Augen setzte. „Wade?" sagte er, ohne auf das Display zu sehen. Es gab weniger als eine Handvoll Menschen, die diese Nummer besaßen, was die mögliche Identität des Anrufers erheblich eingrenzte. „Frohe Weihnachten“, verkündete Wade. Seine Stimme klang leise und blechern, verzerrt durch mehrere Kontinente und vermutlich umgeleitet über mehrere Satelliten. Im Hintergrund war leises Stimmengewirr und Autos hupten und irgendwo schien eine Leierkastenmusik zu spielen. „Was?“ „Frohe Weihnachten?“ wiederholte Wade. „Okay“, sagte Jesse langsam. „…danke?“ „Heute ist der 24te“, stellte Wade fest. „Wenigstens in meiner Zeitzone. In welcher Zeitzone bist du?“ „Nicht in deiner“, erwiderte Jesse. „Wundervoll, lass uns ‚Wo bin ich‘ spielen. Was siehst du gerade? Känguruhs? Die Pyramiden? Ist bei dir etwa schon der 25te?“ „Nein. Und ich hasse dieses Spiel.“ „Also der 23te. Es wird wärmer… Südamerika?“ „Nein.“ „Nordamerika?“ Jesse schwieg. „Kanada? Fuck you. Doch nicht Kanada. Was machst du in Kanada?“ Jesse machte sich nicht die Mühe, es zu bejahen oder zu verneinen. Wade hatte die unangenehme Angewohnheit mit so lächerlich wenigen Informationen herauszubekommen, wo Jesse sich gerade befand, als ob er sein Schweigen in verschiedene Antworten übersetzen konnte. Es war ein gruseliger Gedanke. Jesse hielt sein Schweigen gerne für rätselhaft und unlesbar, und an guten Tagen sogar für sinister und bedrohlich. Es durfte einfach nicht sein, dass Wade das lesen und verstehen konnte wie ein offenes Buch. Das ging nicht. Behutsam verlagert Jesse seine Position und machte den Infrarotsensor an. In dem dunklen Fenster im gegenüberliegenden Haus bewegte sich eine, einzelne rot gelbe Wärmesignatur. Er warf einen Blick auf die Uhr und kaute ärgerlich auf der Unterlippe. Zielperson war noch wach. „Arbeitest du etwa? Ohne mich? An Heiligabend?“ Jesse seufzte und ließ das Fernglas sinken. „Wade… Weihnachten ist für mich ungefähr so interessant wie Jom Kippur für dich.“ Er wusste nicht einmal, warum es ihm herausrutschte, nachdem er es drei Jahre lang erfolgreich verschwiegen hatte. „Ah.“ Wade klang nicht überrascht, sondern eher befriedigt, als hätte das nur etwas bestätigt, was er längst gewusst hatte. Aus unerfindlichen Gründen ärgerte es Jesse maßlos, wenn er das machte. Es war sein persönlicher Ehrgeiz Wade so wenig wie möglich über sich zu verraten, wie er nur konnte. Vielleicht auch nur deswegen weil es Wades persönlicher Ehrgeiz zu sein schien, alles über ihn herauszufinden, was es zu wissen gab. Dabei gab es nicht einmal viel zu wissen. Nichts relevantes jedenfalls. „Was ist mit Chanukka? Feierst du kein Chanukka?“ fragte Wade nonchalant. „Schon vorbei“, gab Jesse verärgert zurück. Verärgert vor allem über sich selbst. „Check deinen Kalender.“ „Du bist sauer", stellte Wade fest. „Grandiose Schlussfolgerung, 007", sagte Jesse. „Und ich dachte, sie hätten dich nur wegen deines Aussehens ins MI6 gelassen." „Darf ich mir aussuchen die implizierte Beleidigung zu ignorieren und darauf zurückkommen, dass du mich gut aussehend findest?" „Nein." „Bist du sauer, weil ich dir keine Chanukka-Karte geschickt habe?“ „Nein!“ „Ich hätte dir eine geschickt.“ „Das ist überhaupt nicht…“ „Du hältst mir wichtige Informationen vor. Wie soll ich jemals meine Würdigung gegenüber deines kulturellen Erbes und deiner Religion zum Ausdruck bringen, wenn…“ „Wade.“ „Was?“ Jesse atmete tief durch und rieb sich mit der freien Hand über die Augen. „Erinnerst du dich daran, dass ich dir diese Nummer für Notfälle gegeben habe? Und auch nur weil ich dir noch was schuldig bin wegen Dubai.“ Dubai. Fucking Dubai. „Tatsächlich?“ Wade klang als könne er sich weder an Dubai erinnern, noch an die Tatsache, dass er wie in letzter Sekunde aufgetaucht war (wie James Bond), um Jesses Hintern zu retten, der zugegebenermaßen in diesem Augenblick dringend Rettung nötig gehabt hatte. Aber zu diesem Spiel gehörten immer noch zwei. „Verblutest du grade?“ fragte Jesse kühl. „Nein?“ „Wurdest du angeschossen? Erstochen? Vergiftet? Gefoltert? Hast du Gliedmaßen verloren? Innere Blutungen? Bist du einer Gehirnwäsche unterzogen worden?“ „Nicht, dass ich wüsste. Ich glaube allerdings nicht, dass ich Letzteres überhaupt…“ Jesse biss die Zähne zusammen. „Lass es mich kurz fassen: Bist du in akuter Gefahr für Leib und Leben?“ „Abgesehen davon, dass einige Weihnachtselfen mich eben mit beunruhigend hungrigen Augen ausgezogen haben …nein. Es waren aber sexy Weihnachtselfen.“ „Bist du im Gefängnis und ich bin dein einziger Anruf? Bitte sag, du bist im Gefängnis und ich bin dein einziger Anruf, den du nur machst, damit ich alle belastende Dinge rechtzeitig aus deiner Wohnung verschwinden lassen kann und alle Dokumente löschen, in denen dein Name auftaucht.“ „Es ist so rührend, dass du das für mich tun würdest.“ Es gab überhaupt keinen Grund für Wade deswegen so angetan zu klingen. Das war nur weil Jesses eigener Name sonst unwiderruflich auch mit reingezogen werden würde. Reiner Selbstschutz. Lösche deinen Namen und alle Verbindungen und renn um dein Leben. Deswegen machte es auch keinerlei Sinn, dass sie fortwährend zusammen arbeiteten. Das würde nur unnötige Aufmerksamkeit von den falschen Leuten auf sie lenken. Kapierte Wade das denn nicht? „Du hast mich angerufen weil Heiligabend ist?“ fragte Jesse dumpf. „Vielleicht wollte ich nur deine Stimme hören.“ „Oh. Mein. Gott.“ Jesse verdrehte die Augen. „Wirklich, Wellington? Wirklich?“ Danach war Wade eine Weile still, was entweder bedeutete, dass er das gerade ernstgemeint hatte (Gott bewahre), oder dass er gerade überlegte, welche wichtigen Dokumente existierten, die ihn belasten konnten oder möglicherweise war er einfach abgelenkt von einem weiteren ‚sexy‘ Weihnachtself, der ihn mit Blicken auszog. Jesse wusste es nicht. Und er wollte es auch gar nicht wissen. Und im Gegensatz zu Wade fand er Schweigen niemals vielsagend, sondern tatsächlich meistens schwer interpretierbar. Jesse wurde schlagartig klar, dass er jetzt problemlos auflegen könnte, nachdem geklärt war, dass es keinen dringenden Grund für diesen Anruf gab und keine Gliedmaßen von Wade irgendwo verstreut an der Côte D‘Azur lagen. Nicht, dass das in irgendeiner Weise sein Problem gewesen wäre. Außerdem war er in Kanada. Er hätte dagegen sowieso nichts tun können. „Haben wir uns gestritten?" fragte Wade vollkommen zusammenhangslos und mitten in die Stille hinein. Jesse, der grade dabei war, den Infrarotsensor erneut anzuschalten, hielt mitten in der Bewegung inne. Nein, wäre die korrekte Antwort gewesen, nein, haben wir nicht, aber er brachte sie nicht über die Lippen. Er zuckte mit den Schultern, wohlwissend, dass Wade das nicht sehen konnte. „Zuckst du grade mit den Schultern?“ „Nein.“ „Können wir uns wieder versöhnen?“ „Sei doch nicht albern“, fuhr Jesse ihn an. Sie mussten sich nicht streiten. Das war gar nicht nötig um Wade zu hassen. Wobei ‚Hass‘ vermutlich ein zu starkes Wort war. Jesse hatte schon Leute gehasst. Schwindeligmachender, übelkeitserregender Hass, der alles verklebt und mit einem dunklen, schwelenden Pochen überzogen hatte, bis jeder rationale Gedanke ausgeschaltet worden war. Es war kein schönes Gefühl gewesen. Das was er für Wade empfand war kompliziert und ätzend und unpassend. Und er hatte nicht die geringste Lust es in Worte zu kleiden. „Was siehst du gerade?“ fragte er aus einem Impuls heraus. Es war kalt und zugig in dem abbruchreifen Haus, in dem er lag. Er war müde, der Sternenhimmel über ihm war endlos und abweisend in seiner kalten glitzernden Einsamkeit, und das einzig Warme war Wades Stimme in seinem Ohr. „Lichter“, sagte Wade. Er sagte nicht ‚ich dachte, du hasst dieses Spiel‘ und beinah war Jesse dankbar dafür. „Ein Lichtermeer.“ „Ist es hell oder dunkel?“ „Abenddämmerung.“ Jesse rechnete die Zeitzonen durch, wo jetzt gerade früher Abend oder später Nachmittag war. „Was siehst du noch?“ Wades Lachen klang amüsiert und warm und Jesse konnte beinah sehen wie sein weißer Atem das Telefon berührte. „Erleuchtete Fenster. Und Leute, die Schlittschuh laufen.“ „Somerset House“, sagte Jesse. „Das war zu leicht.“ Und dann, überrascht: „London. Du bist in London.“ Wade neigte dazu, seine Heimatstadt großzügig zu umrunden, wenn es um kriminelle Aktivitäten ging. Das hatte etwas damit zu tun, dass man sich gerne einen Ort auf der Welt ließ, wo man noch nicht steckbrieflich gesucht wurde. Jesse hatte dafür Verständnis. Wenn Wade sich wirklich in London aufhielt, musste es tatsächlich privat sein. Wie um das zu bestätigen, fügte Wade ein wenig zögernd hinzu: „Ich dachte, ich müsste mal wieder bei meiner Familie vorbeischauen.“ Jesse hob eine Augenbraue. „Weiß deine Familie, davon, dass du bei ihnen vorbeischaust?“ Wade schnaubte. Es war kurz und klang ertappt. „Nein.“ „Okay?“ „Ich bin möglicherweise in ihr Haus eingebrochen“, gab er zu. „Möglicherweise?“ „Es zählt nicht wirklich, ja? Es ist mein Elternhaus und außerdem habe ich nichts gestohlen. Ich wollte nur… kurz den Baum sehen. Sentimentale Gründe.“ Jesse schnaubte. Es war beinah tragikomisch sich zu vorstellen wie Wade, weltbester Einbrecher (zumindest laut eigener Aussage. Andererseits hatte bisher auch noch nie jemand das Gegenteil bewiesen), bei seinen eigenen Eltern einbrach, nicht um etwas zu stehlen, sondern nur um sich einreden zu können, er sei an Weihnachten zu Hause gewesen. Je länger man darüber nachdachte, desto eher wurde es tragisch und weniger komisch. „Okay“, sagte Jesse, sanfter als beabsichtigt. Wade schwieg und das war vielleicht das, was den Ausschlag gab. „Ich hätte da vielleicht einen Job“, sagte Jesse und presste gleichzeitig eine Hand auf die Augen, verärgert über sich selbst. Er hatte nicht einmal vorgehabt schon wieder mit Wade zu arbeiten. „Nächste Woche. In Kopenhagen.“ „Silvester in Kopenhagen. Letztes Jahr war es noch Paris.“ Wade seufzte tragisch. „Wo ist all die Leidenschaft geblieben? Wo ist die Romantik?“ „Du warst bewusstlos in Paris. Ich hab dir eine Kugel aus dem Oberschenkel geholt.“ „Was willst du mir damit sagen?“ „Ich werde jetzt auflegen.“ „Findest du das etwa nicht bodenlos romantisch? Blutsbrüder vereint in der Gefahr, Seite an Seite, nein Rücken an Rücken…“ „Ich lege jetzt auf, Wade!“ „Uns bleibt für immer Paris.“ „Auf Wiedersehen!“ „Frohe Weihnachten. Lass dich nicht erschießen.“ „Ich werde jetzt definitiv auflegen …“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)