Mein bester Freund Angie von JCZoldyck ================================================================================ Kapitel 1: Eren --------------- „Natürlich habe ich eine Freundin. Schließlich werde ich nicht ständig abgeblitzt wie du“, beschwerte ich mich aufgebracht bei dem Pferdegesicht. Trotz dieser Entgegnung nahm er eine selbstgefällige Haltung ein, während er sich an das Geländer des Schulhofs lehnte. Ein breites Grinsen zierte seine Fresse. Er nutzte die Hofpause, indem er mit seinem alten Klappergestell ins andere Stadtviertel radelte, wo ich zur Schule ging und terrorisierte mich. Ich stand auf der anderen Seite des Zaunes und ließ mich immer wieder dazu verleiten, ihm die Meinung zu geigen, wenn er hier vorbeifuhr. „Und deine Freundin stört es nicht, wenn du ständig deinen Sportlehrer anschmachtest?“, entgegnete er süffig grinsend. Ich hoffte, dass ich nicht rot anlief. Zugegebenermaßen interessierte ich mich nicht sonderlich für Mädchen. Ich hatte auch noch nie eine Freundin. Stattdessen bewunderte ich Leute wie Herrn Ackerman, aber selbst die ganzen Weiber aus meiner Klasse standen auf den. Man traf eben selten auf einen so gut aussehenden und durchtrainierten Sportlehrer und trotz seiner Größe war er hoch angesehen – bei den Kollegen wie auch bei den Schülern. Ich ging einfach nur mit dem Strom, ich war nicht in ihn verliebt. „Wir haben eine Sportlehrerin, du Vollpfosten“, grummelte ich ihn an. Jean ging in eine andere Schule, daher kannte er meine Lehrer nur vom Hören. Durch einen dummen Zufall geschah es, dass sich meine Mutter mit seiner anfreundete, deswegen zankte ich mich oft mit ihm, wenn wir uns sahen. Einmal bekam er einen Korb von meiner Stiefschwester Mikasa, deswegen war er extrem sauer auf mich, weil ich mit ihr ständig zusammenhing. Ich konnte es ihr nicht verübeln, wenn sie nicht mit einem arroganten Pferdegesicht zusammen sein wollte. „Gib doch einfach zu, dass du schwul bist. Dann hat sich die Sache erledigt.“ Schulterzuckend setzte er sich auf sein Rad, bevor er losfuhr und tat so, als wäre es keine große Sache. Doch er wollte Genugtuung, indem ich es ihm beichtete. Plötzlich kam mir eine Idee. „Freitag nach der sechsten treffe ich mich mit meiner Süßen im Park. Es macht ihr sicher nichts aus, dich kennen zu lernen, da ich weiß, dass sie an Pferdefressen nicht interessiert ist.“ Jetzt war ich derjenige, der selbstgefällig den Kopf hob und die Arme vor der Brust verschränkte. Jean schnaufte angepisst und warf mir einen letzten Blick zu. „Dann bis Freitag, Jäger.“ Mein Moment des Triumphes wurde durch die Schulklingel unterbrochen. Nachdem die meisten Schüler ins Gebäude trotteten, setzte auch ich mich in Bewegung und betrat als einer der letzten den Flur. Ich hatte Jean selten so angepisst gesehen, mein Gefühl von Überlegenheit hielt noch eine ganze Weile an. Bis mir einfiel, dass ich keine Freundin hatte. Scheiße! Ich musste ein Mädchen dazu bringen, mit mir auszugehen. Aber wen? Mikasa konnte ich schlecht fragen und andere kannte ich nicht. Im Klassenzimmer angekommen, wechselten meine Augen in den Suchmodus, doch keine Kandidatin sagte mir zu. Mit vielen von ihnen redete ich sowieso gar nicht, wieso sollten sie mir einen Gefallen tun und meine Freundin spielen? Vielleicht versteckte sich unter ihnen eine heimliche Verehrerin. Aber wie sollte ich sie finden? „Hey, Eren!“ Armin saß in der ersten Reihe und winkte mich zu sich. Er sah schon süß aus mit seinen blonden Haaren bis übers Ohr, den großen Augen und der Stupsnase. Außerdem war er ein paar Zentimeter kleiner als ich und von zierlicher Figur. Mir kam eine Idee. Gleich nach der Schule erzählte ich sie ihm, als wir bei mir zu Hause ankamen. „Eren, das ist nicht dein Ernst!“ Doch, es war mein voller Ernst. Ich brauchte jemanden, der meine Freundin spielte und die Mädchen kamen alle in nicht Frage. Armin war also meine letzte Hoffnung. Mit seinem kindlichen Aussehen gab er sowieso ein gutes Mädchen ab. „Bitte, Armin“, bettelte ich bereits auf Knien, als er mir noch immer nicht zustimmte. „Ich hab Jean gesagt, ich hab eine Freundin. Weißt du, wie selbstgefällig der ist, wenn er herausfindet, dass ich geblufft habe? Es ist nur für einen einzigen Nachmittag.“ Armin seufzte tief. Seine Antwort lautete wie folgt: „Glaubst du wirklich, er wird so dumm sein, dass er mich nicht erkennt? Außerdem habe ich kein Kleid.“ „Ich habe eins!“, rief ich und korrigierte mich sofort, als er mich ungläubig anschaute: „Mikasa hat eins, mein ich. Das passt dir bestimmt.“ Sein skeptischer Blick verriet nichts Gutes. Ich musste mich mehr ins Zeug legen und verschränkte die Finger wie bei einem Gebet vor meiner Brust, während ich ihn anflehte: „Bitte, nur für den Freitag, wenn Jean kurz vorbeischaut. Ich weiß sonst nicht, wo ich eine Freundin herbekommen soll und er wird dich sowieso nicht erkennen.“ Wieder seufzte er und ich wusste nicht, was dies bedeutete. „Geht in Ordnung, aber nur, weil wir schon so lange Freunde sind.“ Ich fiel ihm um den Hals vor Freude. Morgen würde ich es dem Pferdegesicht Kirschstein endlich zeigen! Kapitel 2: Eren --------------- Wir schwänzten die sechste Stunde und trafen uns bei mir zu Hause, um Armin anständig zu verkleiden. Zum Glück arbeitete mein Vater den ganzen Tag und meine Mutter traf sich mit einer Freundin. Mikasa saß noch immer im Deutschunterricht und fragte sich wahrscheinlich, wo wir steckten. Ich dachte mir später einfach eine simple Story aus, damit sie auf keine komischen Gedanken kam. Schließlich hatte ich Armin versprochen, dass diese Aktion unter uns blieb. Wie ich mir bereits dachte, gab Armin ein recht hübsches Mädchen ab. Mit seinen fünfzehn Jahren besaß er noch sehr kindliche Gesichtszüge, die man auch als weiblich einstufen konnte, wenn man ihn anständig schminkte. Ich gab ihm ein schulterfreies Sommerkleid, das bis zu den Knien reichte und keine Ärmel besaß. Auf dem dunkelblauen Stoff bildeten helle Blümchen ein paar freundliche Tupfen. Obwohl Armin blond war, stand es ihm ziemlich gut. Da es draußen etwas frisch wirkte - für September normal - reichte ich ihm eine dünne Strickjacke im schlichten Schwarz, mit der er die nackten Arme verdeckte. Unter dem Kleid trug er einen kleinen BH, der ihm ganz gut passte. Die Körbchen füllten wir mit Watte aus. Jetzt besaß ich zwar keine dickbrüstige Freundin, doch die Größe passte zu seiner schlanken Statur. "Eren, ich komm mir komisch vor", murmelte Armin, als ich ihn ins Bad zog. "Die Verkleidung ist perfekt", versicherte ich ihm. "Niemand erkennt dich so." Ich drückte ihn vorsichtig vor den großen Badezimmerspiegel über dem Waschbecken, worin er sich genau betrachtete. Skepsis lag in seinem Blick, doch er sagte nichts gegen sein Aussehen. Stattdessen ließ er sich von mir schminken, nachdem er sich setzte. Ich nahm nicht zu viel, schließlich sollte er nicht aussehen wie ein Transvestit. Ein wenig Rouge auf den Wangen, die Augen dezent betont und Lipgloss genügten und er hätte locker mit den Mädels aus unserer Klasse konkurrieren können. Er sah sogar noch hübscher aus, wenn man mich fragte. Mit einem Haarreifen klemmte ich seine blonden Strähnen nach hinten, damit seine Frisur weiblicher aussah und nicht wie ein Topfschnitt, obwohl Mikasa die Haare verdammt ähnlich trug. Ein erneuter Blick in den Spiegel verriet mir, dass auch Armin mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden war. "Ich hoffe nur, dieser Jean lässt sich leicht täuschen." "Komm, so schlecht siehst du nicht aus", bekräftigte ich. "Wir brauchen nur noch einen Namen für dich. Einen, der in Bezug zu deinem eigentlichen Namen steht, aber trotzdem sehr weiblich und exotisch klingt." Ich überlegte eifrig. Armina? Nein, viel zu stumpf. Eher Amanda, Amelie oder Angie. Verspielte Namen mit "A" passten sehr gut zu ihm. Armin verstand anscheinend meinen Gedankengang nicht und rümpfte bereits bei „exotisch“ die Nase. "Kann ich nicht einfach Lisa heißen? Oder Julia? Irgendwas Einfaches." "Nein, das passt nicht zu dir", protestierte ich. "Eren, ich bin keine Dragqueen, deren Name Ausdruck ihrer Seele ist. Ich verkleide mich für zwei Stunden als normales Mädchen, da ist es scheißegal, ob ich Lisa oder Ophelia heiße." "Angie", korrigierte ich. "Gut, dann eben Angie, damit du deine Ruhe hast", seufzte er. Soweit konnte nichts mehr schief gehen. Armin sah aus wie Angie, meine Freundin, klang sogar so, weil er noch nicht in den Stimmbruch kam und er versuchte sich möglichst elegant zu bewegen, was ganz gut klappte. Wir brauchten fast eine ganze Stunde für die Verwandlung, zum Glück nahmen wir uns die letzte Stunde frei. Armin konnte sich Fehlstunden sowieso leisten und ich machte mir nichts draus. Eine Viertelstunde später saßen wir bereits im Park. Ich hatte Armin ein paar Ballerinas geliehen, die ihm überraschenderweise perfekt passten. Jetzt klapperten seine Fußspitzen immer wieder nervös gegeneinander. Angespannt schaute ich auf meine Armbanduhr und fragte mich, wann Jean endlich auftauchte. Der Unterricht endete seit ein paar Minuten. Plötzlich krabbelten zarte Finger über meine Hand. Ich zuckte weg. „Was wird das?“, fragte ich verwirrt. Unsicher blickte sich Armin um und nahm meine Hand. „Wenn wir ein Paar spielen, sollten wir uns auch so benehmen und wenigstens Händchen halten. Außerdem fühl ich mich immer noch komisch in dem Kleid.“ Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. „Na gut“, seufzte ich und umfasste seine Hand mit meiner, um ihm ein wenig Halt zu geben. Ich hatte noch nie eine Freundin. Romanzen im Fernsehen schaute ich auch nicht. Daher wusste ich so gut wie gar nicht, wie man mit einem Mädchen umgehen sollte. Armin war sowieso der klügste Mensch, den ich kannte, daher machte ich mir keine Sorgen, ob er etwas Falsches tat. Immer wieder flatterte das dunkelblaue Blümchenkleid um seine Beine, wenn sanfter Wind wehte. Einige Leute gingen an uns vorbei, hielten uns vermutlich für ein normales Teenie-Pärchen und beachteten uns nicht weiter. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen lief mit seiner Mutter hier entlang und starrte uns verwundert an, sonst schaute uns keiner hinterher. Ein Typ in zerfledderter Jeans und einem weiten Shirt mit Band-Logo drauf hielt direkt vor unserer Parkbank. Seine Sonnenbrille steckte er in sein kurzes Haar, nachdem er vom Rad stieg. Augenblicklich ließ Armin meine Hand los. Normalerweise hatte ich von Jean ein dummes Grinsen erwartet, aber er schaute völlig dumm aus der Wäsche, als er Armin im Kleid sah. Hoffentlich erkannte er ihn nicht, aber die beiden gingen auf unterschiedliche Schulen und trafen sich bisher immer nur flüchtig. Außerdem gelang uns die Verkleidung sehr gut. Sofort sprangen wir von der Bank auf. „Ach ja, ich hab dir doch von Jean erzählt, der dich unbedingt sehen wollte“, begann ich triumphierend. Armin spielte mit und nickte. Wie ein schüchternes Mädchen streckte er seinen Arm nach Jean aus, der den falschen Gentleman spielte und ihm einen Kuss auf den Handrücken drückte. Ich sah, wie Armin Anstalten machte, zurückzuzucken, jedoch mit aller Mühe ruhig stehen blieb. Wer wollte schon von einem Pferd abgeschleckt werden? Angewidert von Jeans Geste schlug ich dazwischen und stellte mich vor meinen Kumpel, der wie ein Stück Zucker behandelt wurde. „Jetzt grabsch meine Freundin nicht an“, fauchte ich. „Ich glaub, die Süße darf selbst entscheiden, was sie will“, gab Jean bissig zurück. „Sicher nicht von dir abgeknutscht werden!“ Armin räusperte sich und tippte zaghaft gegen meine Schulter. „Ist schon okay“, flüsterte er. „Ich geh dir schon nicht fremd.“ Seine Stimme klang ungewöhnlich lieblich, sodass ich ihn selbst beinahe für ein Mädchen hielt. Beide, Jean und Armin, traten einen Schritt nach rechts, damit sie sich wieder ansahen. „Ich bin Angie“, lächelte Armin das Pferdegesicht an. „Jean“, antwortete er lässig und setzte die Sonnenbrille wieder auf. Wahrscheinlich, damit er wieder cool aussah. „Was macht ihr heut noch so?“ „Ein Date haben, sieht man doch“, warf ich ein, doch Jean ignorierte mich und wartete, bis meine vermeintliche Freundin antwortete. „Nichts Besonderes, ein wenig rumhängen“, meinte Armin etwas schüchtern. „Cool.“ Man hörte an seinem desinteressierten Ton, dass er es nicht so meinte. „Hast du Skype?“ Sofort schüttelte mein Freund den Kopf und legte die Arme etwas verunsichert um seinen Oberkörper, während er einen Blick zu mir warf. „Trifft man sich sonst nochmal?“, fragte er beiläufig. „Ähm… ich komm nicht von hier“, murmelte Armin. „Jetzt spann mir nicht die Freundin aus“, warf ich ein und stellte mich wieder mit provozierender Haltung zwischen die beiden. Es kotzte mich echt an, wie Jean Armin anbaggerte. „Ich wohn hier gleich um die Ecke, bin aber die meiste Zeit draußen.“ Er zeigte in die lange Straße, die zu seiner Wohnsiedlung führte. „Falls es dir mit der Lusche irgendwann zu langweilig ist, weißt du ja, wo du mich findest“, verabschiedete er sich grinsend von Armin, als er wieder auf sein Rad stieg und abzischte. Mich behandelte er wie Luft, als ob unsere Feindschaft, die wir in den letzten Jahren aufgebaut hatten, völlig aufgelöst war. Erleichtert atmete ich aus, als sein Drahtesel irgendwo in der Ferne aus meinem Sichtfeld verschwand. „Das hat doch ganz gut geklappt. Tut mir leid, dass er dich angebaggert hat.“ „Kann ich mich endlich umziehen?“, fragte Armin nur unruhig. Ich nickte nur und trat mit ihm den Heimweg an. Kapitel 3: Armin ---------------- Endlich hatte ich mich aus dem Kleid befreit. Einmal und nie wieder, dachte ich mir. Eren war mein bester Freund, deswegen stimmte ich seiner idiotischen Idee zu, auch wenn ich große Bedenken hatte, aber wie sich herausstellte, nahm mir dieser Jean die Rolle als Mädchen ab. Etwas zu glaubwürdig kam ich mir nun doch vor, wenn ich daran dachte, wie er mich angebaggert hatte. Doch ich sah ihn als Angie nie wieder, daher machte ich mir darüber keine Sorgen mehr. Zu Hause angekommen, setzte ich mich allerdings kaum auf mein Bett, erhielt ich auch schon eine Nachricht von Eren auf meinem Handy: „Erstell dir nen acc bei Facebook!!“ Genervt tippte ich eine Antwort: „Hab doch schon einen“ „Alter, Jean nervt mich die ganze Zeit, ob Angie irgendwo angemeldet ist. Hab gesagt, du bist bei Facebook, damit er Ruhe gibt.“ So rasch, wie Eren schrieb, schien es ziemlich eilig zu sein. Bevor ich mich mit meinem Laptop aufs Bett setzte, beruhigte ich ihn noch schnell: „Bin schon dabei. Ich schick dir dann ne Anfrage“ Warum zum Teufel musste ausgerechnet ich einen Account für Erens imaginäre Freundin erstellen? Das hätte er auch locker selbst tun können. Sofort protestierte ich: „Wieso erstellst du den nicht selbst?“ „Wie sieht das aus, wenn ich mit mir selber schreibe!??“ „Ist ja gut … bin schon dabei“ Damit Eren endlich Ruhe gab, erstellte ich einen Account unter falschem Namen. Dann konnte er mit Angie auch in eine Beziehung gehen und alle waren glücklich. Gleich als erstes sendete ich Eren eine Freundschaftsfrage, anschließend mir selbst. Wer anders kam leider nicht mehr in Frage, doch nach einem Beziehungsstatus folgte eine Liste von vorgeschlagenen Freunden, die Eren mir sendete, unter anderem Leute aus unserer Schule und vor allem auch … „Warum zum Teufel soll ich Herrn Ackerman eine Freundschaftsanfrage senden?“, platzte es sofort aus mir heraus. Mal abgesehen davon wusste ich gar nicht, dass er bei Facebook angemeldet war. Als ich seine Freundesliste durchstöberte, entdeckte ich einige unserer Mitschüler und auch Kollegen von ihm. So eine Art von Lehrer war er also. Ich klickte auf das kleine Zeichen oben rechts, das auf neue Anfragen hinwies. Jean Kirschstein. Das war doch der Typ, mit dem Eren sich ständig stritt. Zögernd nahm ich an, schon erhielt ich die erste Nachricht von ihm im Chat: „Hey Süße Neu hier?“ Schnell öffnete ich Skype und rief Eren ohne Vorwarnung an. Eine Weile dauerte es, bis er annahm. „Was ist?“ „Jean hat mich angeschrieben!“, rief ich panisch durch das Mikrofon des Laptops. „Was mach ich jetzt?“ „Ja, mach etwas Smalltalk und wimmle ihn dann ab“, meinte er lässig. Einfacher gesagt als getan. Ich wechselte auf den normalen Browser und erhielt eine Freundschaftsanfrage von Mikasa und weitere Nachrichten von Jean: „Stell mal ein Bild von dir rein ;) Bist doch hübsch genug Musst dich nicht verstecken“ „Mann, der spammt mich zu“, beschwerte ich mich. „Dann sag, dass du gleich weg musst und geh für ihn off.“ Ich hörte Erens Tippgeräusche durch den Lautsprecher meines Laptops, welche mich noch nervöser machten. Schließlich antwortete ich im Chat: „Sorry, muss off :/ bis später“ „Mach’s gut, Süße :*“ Sofort stellte ich Angie für ihn auf offline und atmete tief durch. Eine Weile wartete ich noch, um zu sehen, ob er weiterschrieb, doch es kam nichts mehr. Bevor ich mich jedoch ausloggen konnte, erhielt ich eine neue Nachricht und öffnete diese versehentlich: „Wer bist du? Kann man sich mal treffen?“ „Jetzt hat Mikasa mich angeschrieben“, jammerte ich. „Was?“ Eren war noch weiter damit beschäftigt, auf seine unzähligen Chats zu antworten. Hoffentlich ging er seiner Freundin nicht im Internet fremd. Moment, was dachte ich denn da? Angie Jäger existierte doch gar nicht! „Mikasa will mich mit mir treffen“, entgegnete ich ihm. „Ähm…“ eine kurze Pause trat ein, bis er laut auf die Entertaste klopfte. „Dann treffen wir uns nochmal und du spielst wieder Angie.“ „Eren, sie erkennt mich doch. Am besten sag ich ihr, dass ich Armin bin“, seufzte ich. „Nein!“, rief Eren. „Ich hab ihr davon nichts erzählt. Außerdem wolltest du nicht, dass sie es weiß.“ So genau hatte ich gar nicht darüber nachgedacht. Ich ging eigentlich davon aus, dass ich mich einmal als Angie verkleidete und dann nie wieder, doch jetzt musste ich mir eine falsche Identität im Internet anlegen, mich von einem fremden Typen belästigen lassen und für Mikasa nochmals das Mädchen spielen. Wohin sollte das noch führen? Das Problem war, dass ich Eren immer so schwer widersprechen konnte. Wenn er einmal etwas durchzog, hörte er nicht mehr auf und setzte seinen Dickkopf durch. „Was ist, wenn Mikasa es herausfindet?“, hakte ich nochmals nach. „Wird sie nicht.“ Was bildete sich Eren eigentlich ein? Ich versuchte mir erstmal eine gute Antwort auf Mikasas Fragen auszudenken. „Vielleicht sieht man sich, wenn ich Eren besuche :)“ „Okay“ Ihr Kommentar fiel wirklich karg aus. Ich beließ es dabei und meldete mich ab. Das war zu viel für mich. Kaum war ein Tag vergangen, hatte ich die Nase gestrichen voll von Angie. Wie hielten das nur die Leute mit zwei Identitäten aus? Ich konnte niemals ein Doppelleben führen, das war mir viel zu anstrengend. „Alter, jetzt labert mich Mikasa zu, wer Angie Jäger ist“, beschwerte sich Eren jetzt. War doch seine Idee, sich eine Freundin auszudenken, also sollte er es ihr auch erklären können. „Eren, weißt du was? Ich geh off.“ „Wieso?“ „Muss noch Hausaufgaben machen.“ „Aber Mikasa will ne Dreierconvo.“ „Mir egal, bis morgen!“ Ich legte auf, bevor Eren sich nochmal melden konnte. Unten im Chat schrieb er mir anschließend: „Lass mich nicht alleine! Wer macht schon am Freitag Hausaufgaben??“ „Tut mir leid, ich hab zu tun. Bis morgen.“ „-.-“ Ich klappte den Laptop zu, stellte ihn auf meinen Schreibtisch und legte mich zurück ins Bett mit dem Blick auf die Zimmerdecke. Auf einen grimmigen Smiley musste ich nun wirklich nicht antworten. Tief seufzend ließ ich mich in die Matratze sinken. Besser konnte die Woche nicht enden. Wenn das so weiterging, wusste nächste Woche die halbe Schule von unserer nichtexistierenden Beziehung und ich durfte wieder Angie spielen. Nochmal wollte ich mich nicht in ein Kleid stecken lassen. Ich wusste doch jetzt schon, dass Mikasa mich erkannte und sollte ich Jean nochmals begegnen, würde er sicher über mich herfallen. Wie sollte ich denn mit einem Verehrer umgehen? Das Problem war jedoch, dass ich mich verdammt lächerlich machte, wenn ich die Wahrheit erzählte. Mikasa zeigte vielleicht noch Verständnis, aber vor diesem Jean oder meinen Mitschülern wollte ich mich nicht als Kleidträger outen. Sollte Eren den Plan weiter durchziehen wollen, musste ich es ihm wohl oder übel ausreden. Den Freitagabend jedoch nutzte ich, um mich zu entspannen. Kapitel 4: Armin ---------------- Montag erste Stunde – Sport. Da das Wetter nicht mitspielte, turnten wir in der Halle. Eren nutzte jede kleine Sekunde damit, sich entweder am Reck unter Beweis zu stellen oder die Aufmerksamkeit unseres Lehrers auf sich zu ziehen, was nicht immer klappte, denn Herr Ackerman bevorzugte es, den Mädchen am Schwebebalken zu helfen. An der Stange hangelnd tat Eren so, als bekäme er die Übungen nicht hin. „Herr Ackerman?“, rief er mit einem gespielt verzweifelten Ton. „Ich kriege die Vorwärtsrolle am Reck nicht hin. Können Sie mir helfen?“ Demonstrativ hüpfte er am Gerät auf und ab, doch der Sportlehrer ließ sich nicht davon beeindrucken und blieb bei den Mädchen. Statt seinem armen Schüler zu helfen, schickte er ihm die Referendarin, eine kräftige Nachwuchssportlehrerin mit kurzen braunen Haaren und üppiger Oberweite – genau die Art von Frau, die Eren nicht mochte, das sah man gerade an seinem Gesichtsausdruck. Ohne Probleme hob sie meinen besten Freund an den Hüften die Stange hoch, wo er sich ängstlich festklammerte, denn er wollte, dass Herr Ackerman ihm half und keine Matrone. Der ein oder andere Zuschauer konnte sich bei diesem Anblick das Lachen nicht verkneifen. Während Eren das Reck besetzte, wartete ich gedankenversunken auf der Bank am Rand der Turnhalle. Heute Nachmittag sollte Angie sich mit Mikasa treffen, mit der ich mich eben noch unterhielt, bevor sie sich auf den Schwebebalken stellte und alle anderen Mädchen mit ihren Leistungen alt aussehen ließ. Jemand wie sie ließ sich nicht so schnell täuschen, dieses unsichere Gefühl quälte mich immer wieder, wenn ich sie sah, aber Eren bestand auf diesen Plan. Jean hatte mich am Wochenende zum Glück nicht mehr angeschrieben. Er sagte nur einmal Bescheid, dass er das Wochenende bei einem Freund verbrachte. Als hätte man ihn durch den Fleischwolf gejagt, trottete Eren rüber zur Bank und Connie warf sich an das Turngerät. Verzweifelt blickte er mich an. Ich wusste genau, was das bedeutete – er suchte meinen Rat. „Armin, ich brauch deine Hilfe.“ „Worum geht es?“ Er räusperte sich, bevor er sich setzte und zu flüstern begann: „Was macht man eigentlich, wenn man in eine Person verliebt ist, aber nicht weiß, ob sie dasselbe empfindet?“ Sein Blick wanderte rüber zu den Mädchen. „Ganz einfach, du musst es ihr sagen“, antwortete ich trocken. Unsicher spielte Eren mit seinen Fingern und schaute nach unten. „Aber was ist, wenn nur ich so empfinde?“ „Sag es ihr einfach“, flüsterte ich und legte freundschaftlich einen Arm über seine Schulter. Mein Lächeln schien ihn wirklich zu beruhigen, so wie er es erwiderte. Neuen Mut schöpfend stand er auf. „Danke für den Tipp. Ich denke, ich werde es ihm sagen.“ „Ihm?“, wiederholte ich verwirrt. Sein Blick zeigte doch zu den Mädchen. Unbeirrt steuerte Eren auch die Richtung an, doch statt sich eines der weiblichen Exemplare auszusuchen, tippte er dem Sportlehrer an die Schulter, der sich sofort umdrehte. „Was ist?“ „H-herr Ackerman“, stammelte Eren etwas schüchtern. „Da gibt es etwas, dass ich Ihnen sagen will.“ Auf die Uhr schauend entgegnete er ihm: „Aber beeil dich, die Stunde ist bald vorbei.“ „I-ich … also …“ „Eren, Stopp!“, schrie ich verzweifelt, bevor er unserem Sportlehrer ein Liebesgeständnis machte. „Ich hab dich angelogen!“ „Angelogen?“, fragte er verwirrt. „Äh… ja! Sag es ihm nicht!“ Sofort erhielt ich die Aufmerksamkeit der gesamten Klasse, die mich verdutzt und geschockt zugleich ansah. Besser konnte es nicht laufen. Herr Ackerman verdrehte nur genervt die Augen und nuschelte: „Kinder.“ Nachdem die Stunde wenige Minuten später endete und sich die gaffenden Blicke von uns lösten, musste mich mein bester Freund nochmals zur Rede stellen, was mir gar nicht gefiel. Wie konnte ich denn ahnen, dass er einem erwachsenen Mann seine Liebe gestehen wollte? „Sag mal, warum erzählst du mir erst, ich soll meine Gefühle frei aussprechen und dann meinst du, du lügst mich an?“, beschwerte er sich aufgebracht. Seufzend antwortete ich: „Ich dachte, es ging um Essen.“ „Um Essen?“ „Ja, ich hab Hunger“, erklärte ich schluckend und hoffte, dass er auf den Themawechsel ansprang. „Ich auch. Lass uns nach dem Sport in die Cafeteria gehen.“ Beruhigt ausatmend folgte ich Eren in die Umkleide. Wenn es um Essen ging, konnte man ihn fast so schnell umstimmen wie Sasha. Wieder versäumten wir die letzte Stunde – diesmal Biologie, eines meiner Lieblingsfächer, da unsere Lehrerin uns die Wissenschaft mit besonderer Leidenschaft beibrachte. Ich ging nur ungern früher. Vor allem ging es wieder um Erens blöde Idee mit Angie, weswegen wir mich verkleiden mussten, bevor Mikasa heimkam, die zum Glück einen anderen Kurs wählte als wir, wodurch sie nicht wusste, dass wir schwänzten. Diesmal wurde ich in einen weißen Faltenrock gesteckt, gepaart mit einer zartrosa Bluse. Dementsprechend wählte Eren auch den hellen Lipgloss und ich bekam einen Haarreifen mit einem Schleifchen an der rechten Seite in mein Haar gesteckt. Auch für Schmuck sorgte er, indem er mir zwei Armbänder über die Hand stülpte, welche ebenfalls in Pastellfarben gehalten wurden wie der Rest von mir. Ich kam mir etwa vor wie Zuckerwatte, so rosa wie ich war, aber Eren meinte, das Outfit passte perfekt zu meinen blonden Haaren. Er versuchte noch, Zöpfe zu flechten, wobei er allerdings scheiterte, denn meine Haare waren zu kurz dafür. Selbst ein Pferdeschwanz ging nicht, dafür aber zwei Zöpfchen links und rechts wie bei einem kleinen Mädchen. Er kam sogar noch mit Nagellack, aber das konnte ich meinem Freund zum Glück ausreden. Tatsächlich dauerte diese Prozedur über eine halbe Stunde. Jetzt mussten wir nur noch auf Mikasa warten, die von der Schule heimkam. Eren hatte ihr erzählt, dass Angie ihn am Montagnachmittag besuchte. Die letzten Minuten setzte ich mich erschöpft auf die Couch, doch Eren scheuchte mich wieder auf die Beine. „Du kannst nicht schon hier sein!“ „Warum nicht?“, protestierte ich. „Vielleicht hatte Angie eine Freistunde.“ „Nein, sie hat heute sieben Stunden wie wir und außerdem muss sie sich noch fertig machen, bevor sie zu mir kommt. Kurz nachdem Mikasa also da ist, klingelst du an der Tür und tust so, als warst du gerade auf dem Weg zu mir“, erklärte er mir seinen Plan. Ich seufzte tief, dann schlurfte ich in den Flur, zog die Ballerinas über die weißen Strümpfchen und ging mit ihm gemeinsam noch raus. „Dann sehen wir uns in zehn Minuten?“ Eren nickte. „Geht klar! Bis später, Süße“, grinste er mich an. Ich blickte grimmig weg, denn ich wusste, dass er nur Jean nachahmte, der mich anbaggerte. Auf der einen Seite war es schon witzig, wie der Kerl auf mich reinfiel, auf der anderen Seite gefiel es mir gar nicht, dass er ausgerechnet mich belästigte. Ich bog in eine andere Straße ab, nachdem ich das Wohnhaus verließ und wartete dort einige Zeit, bis ich endlich wieder zurückkehrte. Eine Viertelstunde sollte reichen, dachte ich mir und setzte mich in Bewegung. Niemand war zu sehen. Wenigstens beruhigte es mich, dass mich keiner in dem Aufzug sah. Zaghaft klingelte ich an der Wohnungstür, als ich davorstand und wartete, bis ich die Tür öffnen konnte. Nach dem Signalton drückte ich sie nach innen und sprang rein. Die kleine Treppe im Erdgeschoss führte gleich zur Wohnung der Familie Jäger, wo bereits Mikasa wartete. Mit scharfem Blick betrachtete sie das vermeintliche Mädchen, das draußen im Flur die Ballerinas auszog. „Ernsthaft? Eren?“ Skeptisch drehte sie sich um und suchte nach ihrem Bruder, der sich irgendwo in der Wohnung versteckte. Ich atmete zitternd ein, ihr Ton klang nämlich alles andere als freundlich. Kapitel 5: Eren --------------- Mikasas Ton klang nicht gut. Ich versteckte mich sofort hinter dem Sofa, bevor sie das Wohnzimmer betrat und nach mir suchte. Still zu sein gehörte leider nicht zu meinen Stärken, wodurch sie mich schnell fand. „Wie kannst du den armen Armin in Kleider stecken?“, mahnte sie mich mit festem Ton. „D-das ist nicht Armin“, begann ich stotternd und in der Hoffnung, sie würde mir diese Lügengeschichte abkaufen, doch stattdessen zerrte sie mich hoch auf die Beine. „Glaubst du tatsächlich, ich merk das nicht?“, schimpfte sie. „Hältst du mich tatsächlich für so blind, dass ich einen meiner besten Freunde nicht erkenne?“ Seit Jean auf diesen Plan reingefallen war, dachte ich, ehrlich gesagt, dass auch andere sich täuschen lassen würden. Selbst ich hätte Armin für ein Mädchen gehalten, aber Mikasa schien wohl keine Fantasie zu haben. Ich bemerkte, wie Armin auf seinen weißen Söckchen ins Wohnzimmer tippelte und vor Mikasa stehen blieb. „Wir können das erklären“, nuschelte er. Mit verschränkten Armen wartete meine Schwester auf eine gescheite Erklärung, die ich ihr bisher noch nicht lieferte. Ich wollte nicht, dass Armin meinen Plan preisgab, doch er begann schon zu reden: „Du kennst doch Jean.“ „Oh ja.“ Mikasa nickte bestätigend. Ich versteckte mich wieder hinter der Sofalehne. „Er hat Eren immer aufgezogen, dass er keine Freundin hat, da hat Eren sich Angie ausgedacht und ich hab mich als sie ausgegeben, damit Jean ihm glaubt.“ Ihre Haltung ließ sich als eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Verwirrung deuten, eher das erste, vermutete ich. Sie suchte bei mir einen bestätigenden Blick, den sie auch bekam. „Ich musste mir sogar den Facebook-Account für Angie erstellen“, bemerkte Armin kleinlaut. „Verarscht ihr den Kerl etwa auch online?“ Ich kam ins Stocken: „Das ist, weil … ähm…“ „Ich bin dabei.“ „Was?“, riefen Armin und ich verblüfft im Chor. Als Antwort schritt sie rüber zu ihrem Laptop, öffnete ihn und hielt uns die Facebook-Startseite entgegen. Armin, der gerade den Schnickschnack aus seinem Haar entfernte, schien wohl nicht ganz zu verstehen, dass Mikasa es ernst meinte. „Ich möchte mitmachen. Log dich mal als Angie ein, Armin“, erklärte sie und machte es sich auf dem Sofa bequem, sodass sich noch jemand gemütlich neben sie setzen konnte. Nachdem sich Armin neben ihr Platz nahm und als Angie einloggte, fing der Spaß auch schon an. Pausenlos tippten die beiden, kicherten und tauschten sich darüber aus, was sie dem Vollhorst von Kirchstein schreiben konnten. Dass ich mich aus dem Wohnzimmer schlich, schien keinen von beiden zu stören. Während die beiden sich vergnügten, überlegte ich mir, wie ich Herrn Ackerman näherkommen könnte. Ihm meine Liebe zu gestehen, so meinte Armin, war ja nun doch keine gute Idee. Warum hatte er es mir nur angeboten? Ich hätte mich beinahe vor der ganzen Sportklasse lächerlich gemacht. Erstmal überlegte ich, worauf er stand. Beinahe befürchtete ich, dass er Frauen bevorzugte. Verzweifelt schaute ich in meinen Schrank. Ganz hinten in einem Schubfach versteckt, lagen zwei Kleider – das dunkelblaue, das Armin letzte Woche trug, um Kirchstein zu verarschen und noch ein grünes mit kurzen Ärmeln und kleinen Rüschen am Saum sowie Kragen. Vorsichtig blickte ich mich im Zimmer um, dann zog ich das Kleidungsstück aus dem Schrank, um es einmal anzuprobieren. Jeans und Shirt warf ich achtlos auf den Boden. Mein Dekolletee war unausgefüllt, da ich keinen BH trug, dennoch fiel es nicht zu sehr auf. Zufrieden betrachtete ich mich im Spiegel und drehte mich einmal, sodass der Rock im Wind flatterte wie ein Rad. Mir fehlte noch Make-up und etwas Schmuck, dann konnte man mich mit einem hübschen Mädchen aus den oberen Klassen verwechseln, mit denen sich Herr Ackerman in den Hofpausen ständig unterhielt oder denen er bei den Sportübungen half. Vor dem großen Wandspiegel stehend, steckte ich mir ordentlich eine grüne Haarspange ins Haar, passend zum Kleid. „Sag mal, Mikasa sitzt da unten mit einer Freundin. Hast du keine Lust auf die beiden?“ Kaum öffnete meine Mutter die Zimmertür, verstummte sie auch wieder, als sie ihren Sohn im Rüschenkleid sah. Vor Schreck erstarrte ich ebenfalls, denn ich hatte völlig vergessen, abzuschließen. „… Okay …“, sagte sie nur verwirrt. Meine Haarspange fiel aus dem Haar. „Das ist für den Fasching“, antwortete ich. Meine Mutter nickte nur. „Verstehe.“ An ihrem Ton erkannte ich, dass ich verdammt schlecht gelogen hatte. Zudem war es Anfang Herbst und alles andere als Faschingszeit. „Ich meine Halloween“, korrigierte ich mich. „Ah ja, die Leute werden sich gruseln, wenn sie dich sehen.“ Nochmals betrachtete sie mich gründlich und schien es noch immer nicht ganz zu fassen, was sie da sah. Unangenehmer konnten Blicke nicht mehr werden. „Wenn dich dein Vater so sieht, freut er sich.“ „Sag es ihm nicht!“, platzte es sofort aus mir heraus und ich hob die Hose auf, die ich vor meinen Körper hielt, damit sie das Kleid verdeckte. „Keine Sorge, ich verrat es keinem.“ Noch immer musterte sie mich verwirrt, die Jeans riss auch nichts mehr. Schnell rannte ich zum Bett und versteckte mich unter der Decke. „Ist ja gut, ich behalt es für mich“, verabschiedete sich meine Mutter und murmelte anschließend unverständliche Worte zu sich selbst. Nachdem ihre Schritte ganz verklangen, zog ich die Bettdecke vom Kopf und schaute mich verängstigt um. Am besten zog ich das Kleid schnell wieder aus, bevor noch jemand anderes mich so sah. Vorher jedoch schloss ich die Tür hastig ab. Wenn ich meine Glücksbluse, die ich Armin heute geliehen hatte, angezogen hätte, wäre mir niemals solch ein peinliches Missgeschick passiert. Als ich wieder wie ein Junge aussah, knüllte ich das grüne Kleid tief in den Schrank, wo sich noch das andere befand. Zur Sicherheit legte ich einen Stapel Pullover davor, falls jemand in den Fächern wühlte. Kapitel 6: Eren --------------- Kunst war neben Sport mein Lieblingsunterricht, weil sowieso jeder tat, was er wollte und Frau Ral war die einzige Kunstlehrerin an dieser Schule, die einen Hauch Kreativität in meinen Zeichnungen sah. Ich war mir aber ziemlich sicher, dass sie mich nur nicht kränken wollte, weil ich von vornherein kein Talent hatte. Während Armin und Mikasa um die Wette zeichneten, setzte ich mich nach vorn zu Frau Ral, um ihr ein paar Informationen über Herrn Ackerman zu entlocken. Laut Gerücht verstanden die beiden sich sehr gut, daher nahm ich an, dass sie mir etwas von ihm erzählen konnte. „Hallo Eren“, begrüßte sie mich freundlich, während sie auf dem Lehrertisch ihre Arbeitsmappen sortierte. „Bist du schon fertig mit deiner Zeichnung?“ „Nein, Armin und Mikasa arbeiten noch an den Ausbesserungen.“ Ich zeigte auf einen Tisch links hinten, wo die beiden mit ihren Smartphones und ein paar Stiften auf der Arbeitsfläche verteilt saßen. Ich selbst setzte mich nun ganz nach vorn, neben mir ließ ich die Schultasche auf den Boden fallen. Provisorisch kramte ich mein Etui heraus, damit es zumindest den Anschein machte, dass ich arbeiten wollte. Frau Ral fand nun auch endlich ihre Ruhe. „Puh, ich bin ziemlich geschafft vom Sport gestern früh“, leitete ich das Gespräch gekonnt ein. „Hat Herr Ackerman euch zu sehr gefordert?“, lächelte sie. „Na ja“, begann ich. „Er meint ja immer, dass du eigentlich viel bessere Leistungen erbringen könntest, wenn du dich einmal richtig anstrengst.“ „Was?“ Überrascht blickte ich sie an. „Er redet mit Ihnen über mich?“, fragte ich nun verblüfft und hoffte inständig, dass es stimmte. „Wir reden beide oft über unsere Schüler“, entgegnete Frau Ral. Komisch. Herr Ackerman war in meinen Augen noch nie eine redselige Person, aber vielleicht verstand er sich mit der Kunstlehrerin nun besonders gut, Ausnahmen gab es immer wieder. „Ich wusste gar nicht, dass er so gesprächstüchtig ist“, bemerkte ich. „Oh doch“, bestätigte mir die Lehrerin mit einem Kopfnicken. „Wenn man einmal ein Thema findet und er sich nicht beobachtet fühlt, kann er loslegen wie ein Wasserfall.“ Ein ohne Ende quasselnder Herr Ackerman? Dieser Anblick war mir wirklich fremd. Doch wenn ich eines seiner liebsten Themen wusste, konnte ich mit ihm vielleicht ein Gespräch beginnen. Als ob es nur beiläufig wär, fragte ich nun: „Wofür interessiert er sich denn, dass er stundenlang darüber erzählen könnte?“ Meine Lehrerin legte den Kopf schief und schweifte mit dem Blick ab, während sie überlegte. „Wenn er erstmal seine Tasse Tee vor sich zu stehen hat, kann man eigentlich über alles mit ihm reden. Sport, seine Arbeit, Hygiene … die üblichen Themen.“ „Hygiene?“, hakte ich nach. Frau Ral musste schmunzeln. „Ja, er regt sich oft über die mangelnde Hygiene der öffentlichen Toiletten auf. Er ist so jemand, der die Türklinken nur mit einem Taschentuch anfasst.“ Plötzlich machte es Klick in meinem Kopf. Dass Herr Ackerman penibel auf Sauberkeit achtete, hätte man von Anfang an merken können. Wie er sich immer mit einem Tuch den Dreck von seinen weißen Turnschuhen wischte. Das Desinfektionsmittel, das in seinem kleinen Büro stand. Außerdem verweilte er nach dem Sportunterricht oft minutenlang in der Turnhalle und putzte die Geräte. Selbst der Hallenwart blieb von den bissigen Kommentaren des Lehrers nie verschont, wenn er mit Straßenschuhen durch das Gebäude lief. Herr Ackerman war ein Sauberkeitsfanatiker wie aus dem Buche. Das Gespräch mit Frau Ral brachte mich heute zu neuen Erkenntnissen, die ich gleich in die Tat umsetzen wollte, da das Objekt meiner Begierde Hofaufsicht hatte. Bevor eine Horde Mädchen den Sportlehrer belagerte, wovor er sowieso meist flüchtete, kam ich allen zuvor und sprintete über den Hof. „Was gibt es?“, begrüßte er mich mürrisch. „Ich wollte mich nur entschuldigen, dass ich mich gestern im Sportunterricht so blöd angestellt habe. Eigentlich kann ich die Übungen sogar sehr gut.“ „Das stört mich nicht im Geringsten, schließlich versaust du dir die Note damit, nicht ich.“ Eiskalt durchstach mich sein Blick, wodurch ich zurückschreckte. Ich versuchte seine Aura mit einem Lächeln zu bekämpfen. „Sie wirken etwas mürrisch“, bemerkte ich kleinlaut. „Soll ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee bringen?“ Er wollte wieder einen scharfen Kommentar abgeben, als ich ihn mürrisch nannte, doch bei dem Wort „Tee“ milderte sich sein Gesichtsausdruck. „Schau im Lehrerzimmer nach, wenn du wirklich nichts Besseres zu tun hast. Dort steht ein Wasserkocher und den Rest wirst du schon finden.“ „Geht klar“, verabschiedete ich mich und hastete übereifrig in das Schulgebäude, wo ich beinahe mit einer Gruppe Fünftklässler zusammenstieß. Diese nervigen Kids hatten echt nichts Besseres zu tun, als mir Beleidigungen an den Kopf zu hauen, weil ich manche von ihnen anrempelte. Wäre ich nicht in Eile gewesen, hätten die Biester ordentlich meine Meinung zu hören bekommen. Aber Herr Ackermans Tee besaß höhere Priorität. Am Lehrerzimmer angekommen, klopfte ich behutsam an die Tür, als mir auch schon Herr Smith, der Direktor, öffnete. „I-ich soll Herrn Ackerman eine Tasse Tee bringen“, stotterte ich leise. „Ach, Levi und sein Tee“, lachte er beinahe, was mich echt zum Stutzen brachte. Unser Direktor besaß eine sehr kräftige Statur und ein einschüchterndes Wesen, wenngleich er zu den Schülern im Unterricht trotz seiner Strenge wirklich freundlich war. Ihn jedoch lachen zu hören, zerstörte nun endgültig das Bild eines furchteinflößenden Direktors. „Geht er jetzt wirklich schon so weit, dass er dafür seine Schüler zu uns schickt?“, scherzte Frau Zoe, unsere Biologielehrerin und zugleich Armins Lieblingslehrerin, die mit Genuss ihre Brote verzehrte und den Tisch vollkrümelte, an dem sie saß. Sie war jemand, den man normalerweise einen zerstreuten Professor nannte, wenn man ihren befleckten, weißen Kittel und die unordentlich zusammengebundenen Haare betrachtete. Noch dazu trug sie eine große Brille mit dunklen Rändern auf der Nase, hinter denen sich ihre Augen manchmal gefährlich spiegelten. Herr Smith zeigte mir den Weg hinüber zum Wasserkocher, dem ich folgte. „Ich glaube, das Ding kannst du bedienen, oder? Levi mag seinen Tee übrigens mit einem Schluck Milch und stark, aber lass ihn auch nicht zu lange ziehen, sonst hab ich Angst, dass er im Unterricht einpennt.“ Ich nickte. Im Lehrerzimmer benahmen sich die Lehrer wie normale Menschen mit Emotionen, was mir beinahe unbehaglich vorkam. Normalerweise verhielten sich die meisten distanziert, wenn sie unterrichteten. Dass sie sich untereinander gut verstanden, vielleicht sogar befreundet waren, merkte man sonst gar nicht. Ich wartete, bis das Wasser zu kochen begann, dann goss ich es vorsichtig in eine Tasse, die mir Herr Smith zuvor bereitgestellt hatte. Der Beutel Schwarztee hing schon drin. „3 bis 5 Minuten ziehen lassen“ stand auf dem kleinen Schildchen. Wenn Herr Ackerman seinen Tee stark mochte, wartete ich am besten fünf Minuten. „Setz dich doch derweil“, bot mir Herr Schulz an und rückte einen Stuhl nach hinten, sodass ich Platz nehmen konnte. Die Zeit verbrachte ich damit, den anderen Lehrern bei ihren Privatgesprächen und Frau Zoe beim Schmatzen zu lauschen. Anders als vermutet, unterhielten sie sich nicht über ihren Unterricht, sondern über ganz banale Dinge wie das Wetter, Essen oder einfach Fernsehprogramm. „Solltest du nicht langsam los?“, fragte mich der Direktor. Hektisch sah ich auf die Uhr und bemerkte, dass die Ziehzeit längst überschritten war. „Ja, tut mir leid!“ „Kein Thema.“ Ich nahm sofort den Teebeutel aus der Tasse, nachdem ich aufstand und goss einen Schwabs Milch hinein, wie Herr Smith mir noch empfahl, dann balancierte ich den Tee langsam aus dem Lehrerzimmer. „Bis später“, rief ich noch, achtete aber nicht mehr auf die Verabschiedungen der anderen, während ich durch den Flur nach draußen schlich. Herr Ackerman saß mittlerweile auf einer freien Bank und wurde von einer Schülerin belästigt. Bevor sie mich mit der Tasse sah, düste sie zum Glück ab. Lächelnd überreichte ich dem Sportlehrer den Tee. Er bedankte sich knapp und nippte an der heißen Tasse. Mit leicht verzogenem Gesicht murmelte er leise: „Bitter.“ Ich seufzte tief, ließ mich dann neben ihm auf der Bank nieder. „Schmeckt er nicht?“, fragte ich zögernd. „Doch, ist okay“, antwortete er flüchtig. Ich war mir nicht sicher, ob es stimmte, denn er behielt seinen grimmigen Blick, während er trank. Das war nicht das richtige Gesprächsambiente, wie Frau Ral es mir geschildert hatte. Zu allem Übel klingelte es auch schon zum Unterricht. Leise wollte ich fluchen, wäre Herr Ackerman nicht in der Nähe gewesen. „Du kannst ruhig reingehen“, erinnerte er mich, während er bereits aufstand, ich aber noch auf der Bank hockte. „Ja, tu ich schon.“ Schnell sprang ich auf, wartete aber noch, wie er vor mir den Hof verließ und zur Turnhalle ging. Seufzend betrachtete ich seine Rückenansicht. Mein nächster Annäherungsversuch musste subtiler geplant werden, außerdem durfte ich nicht nochmal die erste Hofpause wählen, die war viel zu kurz. Den ganzen Nachmittag über grübelte ich noch, ob ihm der Tee wirklich geschmeckt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)