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Der Aufstieg der Assassine

von

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Schicksalhafte Begegnung

Die Nacht legte ihren dunklen Schleier über Neriak, doch in der unterirdischen Stadt der Dunkelelfen selbst veränderte sich dadurch nicht viel. Die Düsternis, die unter der Erde herrschte, stand an der Tagesordnung und wurde nur durch den Schein der blau flackernden Lampen verdrängt, die man überall finden konnte. Dennoch machte sich langsam bemerkbar, dass der Abend bereits fortgeschritten war, denn die Stille der Nacht lag über der Stadt, auf den Straßen waren nur noch patrouillierende Wachen, sonst aber kaum eine Menschenseele zu sehen.

Eine junge Teir'Dal trat aus dem Schatten eines Hauses, mit dem sie bis eben nahezu vollständig verschmolzen war. Durch ihre dunkle Kleidung und die mitternachtsblaue Haut war sie in der Finsternis kaum zu erkennen - nur ihre eisblauen Augen stachen aus ihrer düsteren Silhouette hervor, in denen sich der Schein der Laternen reflektierte und die Farbe umso intensiver erscheinen ließ.

Aufmerksam wanderte ihr Blick über den Cristanos-Platz, doch die Wache, die hier Streife ging, war nicht in der Nähe. Lautlos huschte die Dunkelelfe in eine gegenüberliegende, etwas abgelegene Gasse: der Treffpunkt.

Suchend sah sie sich um, konnte jedoch niemanden hier ausmachen, als eine Stimme hinter ihr ertönte.

"Scarramouche V'Oziar."

Der Fall ihres Namens ließ die Teir'Dal herumwirbeln und Erleichterung durchflutete sie, als sie erkannte, dass es der Vorstand der "Schwarzmetallmaske", der Kundschaftergilde in Neriak, war, den sie selbst hierher bestellt hatte. Scarramouche zog sich die Kapuze vom Kopf und ihr tiefviolettes Haar fiel über ihre Schultern. "In der Tat."

Ihr Gegenüber sah sich besorgt über die Schulter und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Scarramouche runzelte die Stirn.

"Was ist los? Redet", befahl sie und obwohl sie gerade einmal 51 Winter alt war und somit nicht halb so alt, wie der Vorstand selbst, sah er die junge Frau nervös an und gehorchte.

"Nun", setzte der Dunkelelf an, der sich schon bei ihrem letzten Treffen als Vykko T'Lach vorgestellt hatte. "Ich fürchte, unsere Abmachung ist geplatzt."

Scarramouche starrte ihn an.

"Was soll das heißen?" Ihre Stimme klang unverändert ruhig. T'Lach schien nicht so recht mit der Sprache herausrücken zu wollen und Scarramouche bedachte ihn mit einem stechenden Blick, und er fuhr hastig fort.

"Es wird kein Termin zwischen Euch und der Assassinenausbilderin Qillara T'Despth zustande kommen."

Noch immer war Scaramouches Blick undeutbar und sie fragte: "Weshalb? Ich habe ein hübsches Sümmchen dafür springen lassen."

"Euer Vater, Nador V'Oziar, hat Wind von der Sache bekommen", gestand T'Lach zögernd.

Härte trat in Scarramouches Züge und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Immer wenn sie an ihren Vater dachte, machte sich eine eiskalte Wut in ihr breit, doch sie verbarg sie geschickt und antwortete nur: "Interessant."

Sie streckte T'Lach ihre Hand entgegen und er kam ihrer Aufforderung nach, indem er einen kleinen, jedoch schweren Münzbeutel in ihre Handfläche fallen ließ. Dann verabschiedete er sich hastig und verschwand eilig in der Dunkelheit. Scarramouche blieb allein in der Gasse zurück.

Ein resignierter Seufzer entfuhr ihren Lippen, bevor sie die Kapuze wieder überzog und sich auf den Weg nach Hause begab.

Ihr Vater also, soso. Scarramouche knirschte mit den Zähnen. Wieder einmal hatte er ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Zu Hause hocken und die Bälger eines Kerls zur Welt bringen, den du für mich ausgesucht hast?, dachte sie verächtlich. Ist das die Zukunft, die du dir für mich vorstellst?

Die Familie V'Oziar war eine hoch angesehene Adelsfamilie in Neriak, die sich vor allem einen Namen durch die Kunst der Nekromantie gemacht hatte. Ihre Mutter Eliha und auch ihr Vater Nador waren beide am Hof der Königin Cristanos tätig, als Ratgeber und Leibgarde und neben der Herrscherin selbst die mächtigsten Magier im Reich der Dunkelelfen. Somit wurden auch an ihre einzige Tochter, Scarramouche, hohe Erwartungen gestellt, doch die Teir'Dal hatte sich schon in jungen Jahren von der Nekromantie abgewandt, denn sie hatte ganz andere Pläne. Ihr Interesse galt der Kunst des stillen Tötens, des Mordes ohne Beweise und des Meuchelns, ohne dass der Täter jemals ausfindig gemacht wurde.

Doch ihr Vater sowie auch ihre Mutter waren strikt dagegen, ihre Tochter zu einer Assassine ausbilden zu lassen und als sie sich nach Jahren endlich damit abgefunden hatten, dass Scarramouche niemals eine Nekromantin werden würde, waren sie nun bemüht darum, einen angemessenen Ehemann für die junge Frau zu finden. Dass sie mit 51 Jahren noch nicht verheiratet war, war eine Schande für die Familie, wie ihr Vater zu sagen pflegte, denn Scarramouche hatte bisher jeden Bewerber von sich gewiesen, egal wie sehr er sich bemühte und wie sehr ihre Eltern versuchten, sie zur Heirat zu zwingen.

Scarramouche würde sich auch weiterhin weigern, denn nur sie selbst bestimmte, wen sie zum Mann nahm - falls sie dies überhaupt jemals tun würde - und welche Tätigkeit sie ausüben würde. Dies war ihr Leben und nur sie würde ihre Zukunft bestimmen.

Verstimmt schlug sie den Weg zum Anwesen ihrer Familie ein, das in der Nähe des Hafenmarktes lag und huschte dort angekommen geräuschlos hinter das Haus, um dort einen Geheimgang zu öffnen, der sie in die Eingangshalle des Anwesens führte.

In Neriak gab es keine Fenster - wozu auch, denn es gab ebenso wenig Tageslicht, das durch sie hätte hindurch fallen können. Daher gab es für Scarramouche keine andere Möglichkeit, unbemerkt aus ihrem Elternhause zu schlüpfen, als auf dessen Geheimgänge zurückzugreifen - und sie war überaus stolz darauf, diese durch Zufall entdeckt zu haben.

Vorsichtig schob sie das Regal in der Eingangshalle beiseite, hinter dem der Geheimgang lag, spähte hinaus und stellte erleichtert fest, dass die Halle völlig ausgestorben war. Wenig später kam sie unbemerkt in ihren Gemächern an, schloss lautlos die Tür hinter sich und legte den Umhang ab.

Noch immer brodelte der eiskalte Zorn in ihr, der hoch gekocht war, als sie erfahren hatte, dass ihr Vater ihr erneut die Pläne durchkreuzt hatte, während sie ihre Stiefel aufschnürte und sich beherrschte, sie nicht wutentbrannt in die Ecke zu werfen.

Missmutig ließ Scarramouche sich auf ihr Himmelbett fallen und überlegte, wie sie nun vorgehen sollte. Wie sie schon aus vorangegangen Gesprächen mit ihren Eltern festgestellt hatte, konnte sie diese nicht überreden, einer Ausbildung zur Assassine zuzustimmen. Qillara T'Despth war ihre einzige Hoffnung gewesen, zumal sie die einzige Assassinenausbilderin in ganz Neriak war. Doch da Scarramouches Vater nun Wind von der Sache bekommen hatte, dass sie ihre Ausbildung gegen seinen Willen durchsetzen wollte, konnte sie das nun vergessen und obendrein würde sie noch eine gehörige Standpauke und möglicherweise auch eine Tracht Prügel erwarten.

Scarramouche hörte Schritte auf der Treppe, die ins Obergeschoss führte, in dem auch ihr Zimmer lag und ihr Herz verkrampfte sich unwillkürlich. Sie zwang sich zur Ruhe, doch ein seltsames Gefühl der Nervosität stieg in ihr auf, gleich einer dunklen Vorahnung und sie schluckte schwer, als sich ihre Türklinke nach unten bog. Was konnten ihre Eltern um diese Uhrzeit noch von ihr wollen? Es war schon ziemlich spät.

Glücklicherweise hatte sie noch nie Probleme damit gehabt, ihre Gefühle zu verbergen und somit lag sie völlig gelassen auf ihrem Bett, als ihr Vater, gefolgt von einem fremden Dunkelelfen, ihr Zimmer betrat. Die Miene ihres Vaters war streng und als er Scarramouche erblickte, verhärtete sich sein Blick.

"Wo bist du gewesen?!", blaffte er sie an und Scarramouche fluchte innerlich; er war in ihrer Abwesenheit in ihrem Zimmer gewesen. Die junge Teir'Dal antwortete nicht; stattdessen war ihr Blick zu dem Kerl gewandert, der ihren Vater begleitet hatte und nun regungslos im Türrahmen stand und das Geschehen mit gleichgültiger Miene verfolgte. Für einen Teir'Dal war er ungewöhnlich hoch gewachsen und wie die meisten Besucher ihres Vaters schien er von hohem Rang zu sein, was an seiner Gewandung deutlich zu erkennen war; reich bestickt und augenscheinlich von hoher Qualität. Seine kräftige, aber dennoch schlanke Statur wurde dadurch deutlich unterstrichen. Die Haare des Teir'Dal waren etwa schulterlang und liefen in seinem Nacken in einen geflochtenen Zopf, während die kürzeren, losen Strähnen, die an der Seite seines markanten Gesichtes herab fielen, ebenfalls von einem kleinen Zopf zusammengehalten wurden. Doch als Scarramouche ihm in die grauen Augen schaute, wurde sie von einem Frösteln erfasst. Selbst unter Dunkelelfen war sie noch nie einem so eiskalten Blick begegnet und gegen ihren Willen wallte Furcht in ihr auf.

"Scarramouche!" Die wütende Stimme ihres Vaters riss sie aus ihren Gedanken und damit wandte sie auch rasch den Blick von dem seltsamen Dunkelelfen ab und zwang sich, ihren Vater anzusehen. Noch einmal fragte er sie, wo zum Henker sie gewesen sei, doch sie sah ihn nur regungslos an und antwortete nicht.

"Wo hast du dich wieder herumgetrieben, junge Dame?" Ihr Vater wurde allmählich wirklich wütend. "Es ist bereits ziemlich spät!"

Scarramouche konnte sich eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen. "Ja, das ist es allerdings, daher frage ich mich, was zwei Männer um diese Uhrzeit in meinen Gemächern verloren haben?" Die Augen ihres Vaters verengten sich zu Schlitzen, doch bevor er den Mund öffnen konnte, kam ihm der Teir'Dal zuvor.

"Welch ungezogenes Benehmen." Die Stimme des Fremden war tief und ebenso kalt wie seine Augen. Widerwillig wandte Scarramouche sich wieder um, um ihn anzusehen und zu ihrer Überraschung schien der Teir'Dal amüsiert.

"Ich bitte um Verzeihung, Lord T'Narem. Meine Tochter ... ", stammelte ihr Vater und Scarramouche wurde hellhörig.

T'Narem?

Soweit sie sich erinnern konnte, war dies eine der hochrangigsten Familien in ganz Neriak, der unter anderem die Nachtliedoper in der Todesgrotte gehörte. Dass dieser Kerl hier war, konnte nur eines bedeuten...

Dass Lord T'Narem nicht auf seine Entschuldigung reagierte, schien Scarramouches Vater etwas zu verunsichern, aber er fasste sich sogleich wieder und sagte an seine Tochter gewandt: "Scarramouche, benimm dich. Das ist Sharthir T'Narem, ein potentieller Ehemann für dich."

Als er vorgestellt wurde, nickte Sharthir höflich, doch die Kälte in seinen Augen war allgegenwärtig. Scarramouche warf ihrem Vater einen nicht minder kalten Blick zu; sie hatte es gewusst. Warum sonst sollte ihr Vater einen derart ranghohen Mann zu Besuch haben, als seine Tochter endlich verheiraten zu können? Die altbekannte Wut stieg in ihr auf und sie hatte Mühe, sie niederzukämpfen und sich nichts anmerken zu lassen.

Ihr Vater sah sie eindringlich an und gab Scarramouche zu verstehen, dass sie sich nun ebenfalls vorstellen sollte. Scarramouche schnaubte, dann wandte sie sich zu Sharthir und stieß mit zusammengebissenen Zähnen hervor: "Mein Name ist Scarramouche V'Oziar. Und danke, aber kein Interesse."

Ihr Vater starrte sie entgeistert an - Scarramouche fand diesen Blick allmählich albern, denn schließlich war dies ihre Standardantwort bei jedem Heiratskandidaten. Nach einer solchen Äußerung wollten die meisten Kerle ohnehin nichts mehr von ihr wissen, weshalb sie es bisher immer geschafft hatte, sich einer Hochzeit zu entziehen.

So aber nicht Sharthir. Seine Augen funkelten merkwürdig, bevor er zu ihrem Vater gewandt sagte: "Lasst uns allein."

Scarramouches Vater runzelte die Stirn, dann verneigte er sich jedoch und schritt aus dem Zimmer. Gleich nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging Sharthir zu Scarramouche hinüber und setzte sich zu ihr aufs Bett. Sie rückte sogleich auf Abstand und warf ihm einen widerwilligen Blick zu, schwieg aber. Ihr Herz schlug unangenehm in ihrer Brust - dieser Kerl war einfach nur zu unheimlich.

"Wie widerspenstig", sagte der Teir'Dal nur und Scarramouche drehte wie zur Bestätigung den Kopf weg. "Zu schade nur, dass die Entscheidung bereits gefallen ist." Scarramouches Hand zuckte unwillkürlich und sie war sich sicher, dass er es gesehen hatte. Was war nur los mit ihr? Verunsicherte er sie derart, dass all ihre Selbstbeherrschung nun über Bord ging? Und was wollte er damit sagen?

"Sträube dich, so viel du willst, es wird dir nichts nützen", fuhr Sharthir fort, dann packte er sie an der Schulter und riss sie herum, um die Hand unter ihr Kinn zu legen und sie zu zwingen, ihn anzuschauen. Ihre Miene war angespannt, doch sie starrte ihm fest in die Augen.

"Du wirst meine Frau. Gewöhn dich schonmal an den Gedanken." Mit diesen Worten ließ er sie los, stand auf und ging aus dem Raum.

Selbst nachdem Sharthir schon eine Weile aus dem Zimmer war, schlug Scarramouches Herz immer noch unruhig in ihrer Brust. Seine kalte Art, seine Berührung und auch das, was er zu ihr gesagt hatte, all das hatte sie derart aufgewühlt, dass sie kaum noch klar denken konnte und sich selbst dabei nicht wieder erkannte. Doch auch ein ungebändigter Zorn auf den Teir'Dal war in ihr aufgestiegen und so sprang sie auf und lief ruhelos in ihrem Zimmer umher. Dabei fiel ihr Blick auf den Spiegel, der ihr gegenüber an der Wand hing. Ihre sonst eisblauen Augen, so fiel ihr auf, als sie einen Blick in den Spiegel warf, hatten sich wieder einmal dunkel verfärbt - wie immer, wenn eine kalte Wut drohte, sie aus der Fassung zu bringen.
 

* * *
 

Am nächsten Morgen schlug Scarramouche die Augen auf - doch geschlafen hatte sie nicht. Die ganze Nacht lang hatte sie wach gelegen, durch die gestrigen Ereignisse unfähig auch nur das letzte bisschen Schlaf zu finden. Doch jetzt war sie hellwach, denn neben den lästigen Gedanken, die sie an Sharthir verschwendet hatte, hatte sie auch noch über etwas anderes nachgedacht, das durch diesen Mistkerl letzte Nacht viel zu kurz gekommen war - ihre Assassinenausbildung.

Ihre Eltern hatten ihr eine solche Lehre von Anfang an verboten, wochenlang hatte sie um ein heimliches Treffen mit der Ausbilderin gekämpft, doch da ihre Eltern ihr zuvor gekommen waren, hatte der Vorstand des Kundschafterhauses sie jedes Mal abgewiesen. Bis es ihr erst vor kurzem gelungen war, ihn mit einem beachtlichen Sümmchen zu bestechen, doch auch von dieser Sache hatte Scarramouches Vater Wind bekommen und am vorangegangenen Tag dafür gesorgt, dass sie wieder mit leeren Händen zurückkam. Missbilligung schlich sich in das Gesicht der Teir'Dal und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Ihr Vater hatte an jenem Abend nichts Besseres zu tun gehabt, als ihr den nächsten Kotzbrocken von einem Kerl vor die Nase zu setzen - zu allem Übel war besagter Kotzbrocken hartnäckiger als seine Vorgänger. Scarramouche schob den Gedanken an den unliebsamen Verehrer beiseite und wandte sich wieder dem Wesentlichen zu: Da eine Ausbildung innerhalb Neriaks für sie nun schier unerreichbar war und es nicht infrage kam, die Stadt unbemerkt zu verlassen, blieb ihr nur eine Möglichkeit. Sie musste das Handwerk des Assassinen selbst erlernen.

Mit diesem Gedanken schwang Scarramouche sich aus ihrem Bett, kleidete sich an und zog sich ihre Stiefel über, um dann hinaus auf den Flur zu treten und die mächtige Treppe in der Eingangshalle des Herrenhauses hinunter zu rennen. Der erste Schritt, um sich ein solch umfangreiches und überaus schwieriges Handwerk anzueignen, war Information. Und diese bekam sie zur Genüge in der Bibliothek von Neriak: Der Bibliothek von K'Lorn. Natürlich würde sie ihren Eltern nicht Bescheid sagen, wohin sie ging; zu groß war die Gefahr, dass sie es ihr wieder untersagen würden. Also spähte Scarramouche vorsichtig in der Eingangshalle umher und stellte zufrieden fest, dass hier keine Menschenseele zugegen war. Gerade wollte sie unauffällig durch das Eingangsportal schlüpfen, als eine Stimme ertönte, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

"Wohin des Weges, junge Dame?"

Scarramouche stieß langsam den Atem aus und drehte sich um. Sharthir - oder Lord T'Narem wie sie ihn immer noch anzusprechen hatte - stand in der Tür des Speisezimmers, das links an die Eingangshalle grenzte. Seine grauen, kalten Augen blitzten interessiert zu ihr hinüber. Scarramouche überkam erneut ein Frösteln; was suchte dieser Kerl überhaupt schon wieder hier? Noch bevor sie sich eine Antwort darauf geben konnte, trat ihr Vater neben den Dunkelelfen und auch er war stark interessiert daran, wohin Scarramouche wollte.

"In die Bibliothek", murmelte Scarramouche und alle Hoffnung, dort auch wirklich hinzugelangen, hatte sie bereits verlassen.

"Was willst du dort?", fragte ihr Vater überflüssigerweise. Scarramouche verdrehte die Augen, antwortete aber nicht.

Sharthir zog missbilligend die Augenbrauen in die Höhe über solch Unverfrorenheit ihrem Vater gegenüber, doch was dieser Kerl von ihr dachte, scherte Scarramouche herzlich wenig. "Was dagegen, werter Vater, wenn deine Tochter versucht, sich ein wenig weiterzubilden?" In ihrer Kindheit war Scarramouche eines der wenigen Mädchen gewesen, die das Glück hatten, sich Privatunterricht unterziehen zu dürfen, wodurch sie in der Tat nicht auf den Kopf gefallen war, wie so manch verzogene Adelstochter.

"Kommt ganz auf das ... Themengebiet an.", erwiderte ihr Vater und gab seiner Tochter damit zu verstehen, dass er zu ahnen schien, was sie im Schilde führte. "Ich fürchte, ich halte es für unklug, dich..."

Sharthir unterbrach ihn höflich, indem er die Hand hob. "Verzeiht die Unterbrechung, Lord V'Oziar, aber erlaubt mir, die junge Dame zu begleiten. Ich werde darauf achten, dass sie keinen Unfug anstellt."

Scarramouche starrte Sharthir entgeistert an, ebenso wie ihr Vater. Nach kurzem Zögern nickte dieser allerdings zustimmend und als Sharthir ihr einen auffordernden Blick zuwarf, verspürte Scarramouche nicht mehr die geringste Lust, die Bibliothek zu besuchen.
 

* * *
 

Es war ein kleiner Fußmarsch, um vom Hafenmarkt zum Cristanos-Platz zu gelangen, bei dem sich, etwas abgelegen, die Bibliothek von K'Lorn befand. Scarramouche und Sharthir schritten größtenteils schweigend nebeneinander her, abgesehen von ein paar gelegentlichen Fragen seitens Sharthir, die Scarramouche nur einsilbig beantwortete. Sie hatten die Türme Innoruuks hinter sich gelassen und kurz darauf den Cristanos-Platz erreicht und bogen in die Straße ein, die zur Bibliothek führte. Einen Moment später erhob sich das mächtige Gebäude vor ihnen und Scarramouches Herz machte einen kleinen Hüpfer, sodass sie sogleich eines der großen Portale aufzog und hindurch trat. Sharthir folgte ihr schweigend.

Scarramouche sah sich um; sie hatte oft Zeit hier verbracht und sie mochte die Bibliothek, wenngleich sie auch der Sitz der Magiergilde in Neriak war und für arkane Künste hatte die junge Teir'Dal noch nie viel übrig gehabt. Die Wände wurden verdeckt von unzähligen Bücherregalen, während in der Mitte der Räumlichkeiten Tische und Sitzgelegenheiten zum Schmökern zu finden waren. Kerzen und stellenweise auch Bücher schwebten durch den Raum, doch Scarramouche ließ sich davon nicht stören. Ebenso wenig wie von Sharthir, der sich in einer Ecke auf einem Sessel niedergelassen hatte und ihr aufmerksame Blicke zuwarf.

Langsam schlenderte Scarramouche durch die Regalreihen und ließ den Blick über die Buchrücken schweifen, dabei jedoch stets darauf bedacht, das unangenehme Kribbeln in ihrem Nacken weitestgehend zu ignorieren. Sie spürte Sharthirs überwachende Blicke in ihrem Rücken und es war schier unmöglich sie auszublenden. Sie seufzte; so hatte sie sich ihren Besuch in der Bibliothek nicht vorgestellt. Doch immerhin verfolgte sie der unheimliche Teir'Dal sie nicht auf Schritt und Tritt.

Scarramouche hielt inne, als ihr Blick auf einen Buchtitel fiel, der ihr Interesse weckte.

"Der lautlose Tod" stand dort auf dem Buchrücken geschrieben und Scarramouche zog den schweren Buchband neugierig aus dem Regal. Dann warf sie Sharthir einen verstohlenen Blick zu und nahm das Buch mit in die andere Ecke des Raumes, wo er sie schlecht beobachten konnte.

Sie setzte sich an einen Tisch, zog den Stuhl heran und schlug das Buch auf. Es handelte von verschiedenen Techniken, sein Opfer sofort zu töten, mit welchen Waffen auch immer. Schon bald war Scarramouche so vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, dass jemand hinter sie getreten war und sie erst aufschreckte, als Sharthir ihr das Buch aus der Hand nahm und laut vorlas: "'Der lautlose Tod'. Soso."

Scarramouche warf ihm einen erbosten Blick zu, doch sie kam nicht umhin, sich ertappt zu fühlen. Sie griff nach dem Buch, doch Sharthir schob ihre Hand beiseite und stellte das Buch zurück ins Regal. Scarramouche wollte protestieren, doch Sharthir schnitt ihr das Wort ab: "Ich bezweifle, dass das deinem Vater gefallen wird, kleine Meuchelmörderin." Wut kochte in ihr auf; ihr war nicht entgangen, dass er die letzten beiden Wörter voller Spott ausgesprochen hatte.

"Wir gehen", sagte Sharthir in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Scarramouche rührte sich nicht von der Stelle und starrte ihn wütend an. "Wir GEHEN." Mit diesen Worten packte er sie am Arm und zerrte sie zum Ausgang der Bibliothek.

Bald darauf waren sie wieder bei ihr zu Hause angekommen; Sharthir hatte sich verabschiedet und Scarramouche saß missgelaunt in ihrem Zimmer und grübelte vor sich hin. Offenbar war Sharthir derselben Meinung wie ihr Vater - eine Assassinenausbildung kam nicht in Frage und sie täte besser daran, wenn an seiner Seite einfach nur die hübsche und ergebene Ehegattin war. Scarramouche schnaubte.

Dies ist nicht das Schicksal, das mir vorherbestimmt ist, mein Lieber. Verlass dich drauf, dachte sie und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, während die Iris sich bereits dunkel verfärbte.
 

* * *
 

Entgegen Scarramouches Annahme, hatte Sharthir ihrem Vater offenkundig nichts von den Büchern erzählt, in denen sie in der Bibliothek gelesen hatte, denn er hatte sie deshalb nicht gescholten. Höchstwahrscheinlich dachte sich dieser Kerl, dass er dem Ganzen als ihr zukünftiger Gatte selbst Einhalt gebieten konnte, doch Scarramouche würde weder gehorchen noch seinen Worten auch nur im Geringsten Gehör schenken. Sie würde schon eine Möglichkeit finden, ihr Ziel zu erreichen.

Im Moment saß sie mit ihrer Mutter im Kaminzimmer und sah ihr dabei zu, wie sie mittels Magie einen Teppich webte. Wie von Zauberhand glitt die Spindel durch die Luft, während sie die verschiedenfarbigen Fäden zu einem großen Ganzen verknüpfte. Ihre Mutter schien zu bemerken, dass Scarramouche sie beobachtete, denn sie lächelte wissend vor sich hin und warf ihrer Tochter immer wieder verstohlene Blicke zu. Scarramouche wandte den Blick ab und starrte gedankenverloren in die Flammen, die im Kamin düster vor sich hin tänzelten. Der Mimik ihrer Mutter nach zu urteilen, versuchte sie gerade ihrer Tochter die Heimarbeit schmackhaft zu machen. Immer wieder sah sie zu ihr hinüber, doch Scarramouche schenkte ihr bewusst keine Beachtung.

"Willst du es nicht auch einmal ..." , begann Eliha, doch Scarramouche schnitt ihr barsch das Wort ab. "Nein."

Ihre Mutter hielt inne und während sie seufzte, schwebte die Webspindel langsam zu Boden. Eliha wandte sich Scarramouche zu und sah sie ernst an. "Dir wird ein wenig Übung in der Ehe sicherlich von Nutzen sein."

"Ich werde nicht heiraten", antwortete die junge Teir'Dal knapp und ohne ihre Mutter dabei anzusehen. Ihr Blick ruhte noch immer auf dem Kaminfeuer. Eliha lehnte sich in ihrem Sessel zurück, schloss kurz die Augen, als würde sie sich sammeln und begann erneut zu sprechen.

"Sei doch vernünftig, Scarramouche. Früher oder später ..."

"Was erwartest du von mir, Mutter?! Dass ich den ganzen Tag herumsitze und Deckchen sticke?", fuhr Scarramouche Eliha an, welche nicht einmal mit der Wimper zuckte. "Das wird dann wohl meine einzige Beschäftigung sein, da es mir ja nicht erlaubt ist, eine andere Kunst als die der Nekromantie zu erlernen!"

Eliha senkte den Kopf und seufzte. "Ich verstehe nicht, weshalb du dich so sträubst ..."

"Mutter." Scarramouches Stimme hatte einen beinahe bedrohlichen Klang angenommen. "Du kennst meine Beweggründe. Ich habe kein Interesse an eurem schwachsinnigen Fingergewackel."

"Hüte deine Zunge!", zischte ihre Mutter erzürnt, doch Scarramouche erhob sich ohne ein weiteres Wort und verließ den Raum, bemüht darum, die Tür nicht zuzuschlagen. In der Eingangshalle war es düster, doch dank ihrer Teir'Dal-Augen konnte sie auch in der Dunkelheit uneingeschränkt sehen und sie schlug den Weg zu ihrem Zimmer ein.

"Guten Abend." Scarramouche zuckte beim Klang der eisigen Stimme sichtlich zusammen und drehte sich langsam in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

Sharthir stand vor dem Eingangsportal und sah, wie es schien, amüsiert zu ihr hinüber, was Scarramouche einen Schauer über den Rücken jagte. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück, dann besann sie sich eines Besseren, blieb stehen und hob würdevoll den Kopf, um ihr Unbehagen zu verbergen. Er zog die Augenbrauen in die Höhe, als ihr Gruß ausblieb, ließ sich dadurch aber nicht beirren und kam auf sie zu. Scarramouche trat instinktiv einen Schritt zurück und prallte dabei gegen die schwere Tür des Kaminzimmers.

"Du bist wirklich ungezogen, kleine Meuchelmörderin", flüsterte er in ihr Ohr. Scarramouche schauderte, als sie seinen Atem neben ihrem Gesicht spürte und er die eine Hand auf ihre Hüfte legte, während er sich mit der anderen an der Tür abstützte. Unwirsch fegte sie seine Hand beiseite, als sie realisierte, was er tat und stieß ihn von sich.

Sharthir verlor weder das Gleichgewicht noch taumelte er; er wich lediglich ein Stück zurück, gerade so, als hätte er ihre Bewegung vorausgeahnt.

"Was tust du ... Was tut Ihr schon wieder hier?", zischte Scarramouche angewidert und brachte sogleich einige Meter Abstand zwischen sie. Ihr war nicht entgangen, dass seine Augenbrauen beinahe unter seinem dunklen Haar verschwunden waren, als sie ihm versehentlich nicht den gebührenden Respekt gezollt hatte. Auf seinem Gesicht breitete sich ein spöttisches Grinsen aus und er erwiderte: "Vielleicht über deine Mitgift sprechen?"

Sie starrte den Teir'Dal an und dieser trat an ihr vorbei, öffnete die Tür zum Kaminzimmer und verschwand darin ohne ein weiteres Wort.
 

* * *
 

Mit einem lauten Krachen warf Scarramouche ihre Zimmertür zu. Schwer atmend blickte sie in ihren Räumlichkeiten umher und noch immer brodelte der ungebändigte Zorn in ihrer Brust, der kurz nach der Begegnung mit Sharthir in ihr aufgeflammt war. Einige Augenblicke lang blieb sie an der Tür stehen und versuchte, sich zu beruhigen, als ihr Blick auf ihren Kleiderschrank fiel. Sie stieß scharf die Luft aus und durchquerte den Raum, öffnete ihren Schrank und zog den schwarzen Umhang hervor, der ihr schon früher treue Dienste geleistet hatte. Nachdenklich begutachtete sie ihn und fasste spontan einen Entschluss: Sie würde der Bibliothek einen nächtlichen Besuch abstatten.

Nachdem sie in ihre dunkle Hose und die schwarze Weste geschlüpft war, schnürte sie ihre kniehohen Lederstiefel und warf sich den Umhang über. Sie blies die Kerze aus, die ihr Zimmer erhellt hatte und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht, bevor sie in den Flur hinaustrat, der Treppe hinunter in die Eingangshalle folgte, wo sie sich versicherte, dass niemand zugegen war und daraufhin im Geheimgang neben der Treppe verschwand.
 

* * *
 

Scarramouches Schritte waren kaum zu hören, als sie durch die verlassenen Gassen Neriaks rannte, so flink und gerissen, dass nur ein flüchtiger Schatten zu sehen war. Wie schon am Tag zuvor passierte sie die Türme von Innoruuk und schlich sich über den Cristanos-Platz, um schließlich der Straße zu folgen, die zur Bibliothek von K'Lorn führte.

Vorsichtig schlich sie um das Gebäude herum, denn wie angenommen war das große Eingangsportal mit Magie verschlossen. Auf der Suche nach einer Hintertür wurde sie fündig, doch auch diese war abgeschlossen. Scarramouche fluchte leise; die Dietriche an ihrem Gürtel vermochten so manche Schlösser zu knacken, doch gegen Magie waren sie nutzlos. Mit den groben Künsten eines Kundschafters war Scarramouche vertraut; das Schleichen hatte ihr noch nie Probleme bereitet und auch mit Säbeln, Dolchen und Schwertern wusste sie im Großen und Ganzen umzugehen; aber dennoch fehlte es ihr an der nötigen Ausbildung, um ihre Fertigkeiten zu denen einer Assassine zu verfeinern.

Sie hatte die Hoffnung schon beinahe aufgegeben, in die Bibliothek zu gelangen, als sie tatsächlich einen weiteren Nebeneingang entdeckte, dessen Tür nur angelehnt war.

Scarramouche lächelte still in sich hinein. Wohl irgendein unvorsichtiger Novize.

Lautlos betrat sie das Gebäude, folgte einem Flur und spähte schließlich vorsichtig in den anliegenden Raum, in den er führte. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen; das Zimmer wurde von den unaufhörlich brennenden Kerzen erleuchtet, die durch den Raum schwebten und ihn in schummriges Licht tauchten. Augenscheinlich wurde der Raum wirklich von Novizen und ihren Meistern für Lehrstunden genutzt, denn er war gefüllt mit Tischen, Regalen mit Schreibutensilien und Pulten. Lautlos trat Scarramouche hinein und schlich geduckt durch den Raum; sie inspizierte jede einzelne Regalreihe, bevor sie sich wirklich sicher sein konnte, dass niemand hier war. Dennoch blieb sie aufmerksam und lauschte nach auffälligen Geräuschen, während sie nun die Bücher genauer unter die Lupe nahm. Es dauerte nur einige Augenblicke bis Scarramouche das Buch gefunden hatte, das sie am vorigen Tag in den Händen gehalten hatte: "Der lautlose Tod". Sie konnte es schlecht mitnehmen, spätestens am nächsten Tag würde der Diebstahl bemerkt werden und die Spur unweigerlich zu ihr führen. Also griff sie sich eine Kerze aus der Luft und kauerte sich in eine entlegene Ecke und fing an im Schein des Kerzenlichts an zu blättern.

Im Laufe der Nacht wuchs der Bücherstapel neben Scarramouche stetig an, bis sie schließlich ihr Buch zuklappte und sich auf den Heimweg begab, bevor die Dämmerung eintrat. Die wichtigsten Informationen und Details hatte sie sich in einem kleinen Notizbuch aufgeschrieben und den ganzen Nachhauseweg über schwirrte ihr der Kopf von so viel neu gesammeltem Wissen. Schließlich erreichte sie den Geheimgang und kehrte in ihr Zimmer zurück und betete dabei, dass niemand ihre Abwesenheit bemerkt hatte. Letztendlich würde sie das erst am nächsten Morgen erfahren.
 

* * *
 

Als Scarramouche einige Stunden später die Augen aufschlug, war sie sofort hellwach. Die nächtlichen Ereignisse des Vortages hatten sie kaum zur Ruhe kommen lassen und nun sprang sie auf, entzündete die bläulichen Kerzen ihres Kerzenständers und hob die Matratze ihres Bettes hoch. Dort hatte sie ihre Notizen versteckt, die sie letzte Nacht gesammelt hatte. Sie warf ihrer Zimmertür einen verstohlenen Blick zu, dann griff sie nach ihren Aufzeichnungen und setzte sich an ihren Schreibtisch, um sie zu studieren. Bisher hatte Scarramouche nur in Abenteuergeschichten über die Assassinen gelesen, doch sie wusste, dass dieses Handwerk in Neriak weit verbreitet war und schon vor Jahren hatte sie sich in den Kopf gesetzt, es ebenfalls auszuüben. Immer wieder hörte man von Morden, keinerlei Zeugen und der Täter wie vom Erdboden verschluckt, dabei lebte er irgendwo zivil direkt unter ihnen. Scarramouches eisblaue Augen begannen zu leuchten, als sie darüber nachdachte und sie vertiefte sich wieder in ihre Notizen.

Anders als in irgendwelchen Romanen hatten die Bücher von vergangener Nacht konkrete Informationen über die Tätigkeiten eines Assassinen geliefert: über das vielfältige Waffenarsenal der Meuchelmörder, über ihre Vorgehensweise und auch einige Aufzeichnungen über den Körperbau der verschiedenen Rassen, da nicht wenige äußerst unterschiedlich proportioniert waren. Wichtige und besonders empfindliche Körperteile und Organe waren farbig markiert gewesen und Scarramouche hatte die Figuren so genau wie möglich abgezeichnet. Ein Stich in Lunge, Herz oder Nieren war tödlich, das wusste sie auch ohne das Buch gelesen zu haben, doch wie man den Stich platzieren musste, um jemanden augenblicklich zu töten, war eine Kunst für sich. Die Teir'Dal war so vertieft in ihre Aufzeichnungen, dass sie gar nicht hörte, dass nach ihr gerufen wurde und erst als sich ihre Tür öffnete, schreckte sie auf und versteckte hastig ihre Notizen. Sie drehte sich möglichst unauffällig um und erblickte ihren Vater im Türrahmen.

"Ich habe dich gerufen", sagte er knapp und warf seiner Tochter einen strengen Blick zu. Scarramouche musterte ihn schweigend. Der Dunkelelf seufzte und befahl: "Komm nach unten."

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Scarramouche seufzte und schob den Stuhl nach hinten, um sich zu erheben. Was ihre Eltern wohl jetzt wieder geplant hatten? Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Sharthir ebenfalls damit zu tun hatte. Gemischte Gefühle machten sich in ihr breit, als sie an den stattlichen Teir'Dal dachte. Einerseits hasste sie ihn abgrundtief für seine Selbstgefälligkeit und dass er dachte, er könne sie einfach zur Frau nehmen, nur weil es ihm gerade beliebte. Doch andererseits musste sie zugeben, dass er durchaus gut aussehend war. Und deshalb hasste sie ihn noch mehr, weil er sich dadurch garantiert bestätigt fühlen würde. Alles in allem graute ihr vor einer weiteren Begegnung mit dem Dunkelelfen.

Seufzend lief sie die große Treppe in der Eingangshalle hinunter und blieb kurz vor dem Kaminzimmer stehen. Sie atmete tief durch, dann klopfte sie und als sie Antwort bekam, trat sie ein. Ihr Vater saß auf seinem gewohnten Platz: der große Lehnsessel schräg links stehend vor dem Kamin. Auf dem Sessel gegenüber hatte ihre Mutter sich niedergelassen und auf dem teuren Sofa zwischen den beiden saß Sharthir, die Beine übereinander geschlagen und ein Glas Wein in der Hand. Als sie eintrat, blitzen seine grauen Augen aufmerksam zu ihr hinüber und sie meinte, ein kaum merkliches Lächeln auf seinen Lippen erkennen zu können. Ihr Blick huschte auf die prunkvolle Uhr, die auf dem Kaminsims stand und sie stellte überrascht fest, dass es bereits Nachmittag war. Wenn sie so darüber nachdachte, wunderte sie das eigentlich nicht; schließlich war sie erst in den frühen Morgenstunden zu Bett gegangen.

Ihre Eltern warfen ihr undeutbare Blicke zu, während sie vor der Tür stand und sie beschlich ein ungutes Gefühl.

"Setz dich", forderte ihr Vater sie schließlich auf und deutete auf den Platz neben Sharthir. Scarramouche blieb wie angewurzelt stehen. Sharthir stellte sein Weinglas auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa ab und sah sie erwartungsvoll an.

"Scarramouche." Die Stimme ihres Vaters klang drohend und duldete keinen Widerspruch. Widerwillig setzte die Teir'Dal sich in Bewegung, der Weg bis zum Sofa kam ihr unendlich lang vor, bis sie sich schließlich zwang, sich neben Sharthir niederzulassen, darauf bedacht, soviel Abstand wie nur möglich zwischen sich und den Elfen zu bringen.

"Hör zu, Scarramouche." Die Stimme ihres Vaters klang ernst, sodass Scarramouche den Kopf hob, um ihn forschend anzusehen. Er machte einen sehr zufriedenen Eindruck, so wie ein jeder in diesem Raum - außer ihr natürlich und genau das bereitete ihr Unbehagen.

Ihr Vater rutsche in seinem Sessel auf eine gemütlichere Position und sprach weiter: "Ich bin glücklich, dir mitteilen zu können, dass wir endlich einen Termin für deine Hochzeit festlegen konnten."

Scarramouche starrte ihn an, unfähig etwas auf diese dreiste Aussage zu erwidern. Sie spürte, wie sowohl die Blicke ihrer Mutter als auch die Sharthirs auf ihr ruhten. Tausend Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum und sie war nicht in der Lage, sie zu ordnen. Wenn sie diesen Kerl heiratete, dann hatte sie nach seiner Pfeife zu tanzen, würde mit ihm zusammenleben; 24 Stunden, den ganzen Tag über, die ganze Woche, den ganzen Monat, das ganze Jahr - für immer, ihr ganzes Leben lang. Bei dem Gedanken daran wurde ihr übel und sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war ihre Iris bereits dunkel verfärbt und sie rang sichtlich um Fassung, als sie zu sprechen begann.

"Und ich werde dabei nicht um meine Meinung gefragt?"

Ihre Mutter breitete die Hände aus. "Scarramouche, Lord T'Narem ist ohne Frage eine viel versprechende Partie für dich." Sie warf besagtem Mann einen freundlichen Blick zu. Sharthir nickte Eliha höflich zu.

"Ich werde diesen Mann nicht heiraten!", platzte Scarramouche heraus und deutete auf Sharthir, wobei sie aus ihrem Ekel keinen Hehl machte. Ihr Vater warf ihr einen entrüsteten und zugleich warnenden Blick zu und ihre Mutter hatte empört ihren Namen gerufen.

"Verzeihung, Lord T'Narem, für die Unverfrorenheit unserer Tochter. Sie wird selbstverständlich ...", stammelte ihre Mutter entschuldigend, doch Scarramouche fiel ihr ins Wort: "Ich weigere mich."

Sie verschränkte die Arme, doch Sharthir brach in schallendes Gelächter aus; ein Lachen, das so kalt und freudlos war, dass es Scarramouche bis ins Mark fuhr. Ihre Hoffnung, den einflussreichen Dunkelelfen durch ihr schlechtes Benehmen vergrault zu haben, zerschlug sich augenblicklich, als er antwortete: "Keine Sorge, Lady und Lord V'Oziar." Er fasste Scarramouche an der Schulter und zog sie an sich heran. "Dieses ungezähmte Kätzchen und ich, wir werden uns sicher prächtig verstehen."

Scarramouche riss sich auf der Stelle los und schnellte ans andere Ende des Sofas, von wo aus sie Sharthir angewiderte Blicke zuwarf. Dieser hatte nur ein geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen und Eliha und Nador schienen erleichtert über seine Bemerkung.

Scarramouches Hände lagen verkrampft in ihrem Schoß und sie starrte auf ihre Knie, die unter dem edlen Tuch ihres Kleides verborgen waren. Das fortwährende Knistern der Flammen im Kamin war das einzige Geräusch, das zu hören war, doch die junge Teir'Dal nahm es kaum wahr - es wurde von dem Rauschen übertönt, das ihre Ohren erfüllte. Was sollte sie nun tun? Eine Hochzeit mit Sharthir schien nun unausweichlich und doch überlegte sie fieberhaft, wie sie sich ihrer entziehen konnte. Ihr Blick flackerte kurz zu dem rätselhaften Teir'Dal, der am anderen Ende des Sofas saß und mit undeutbarer Miene in die flackernden Flammen des Kamins sah. Ein Hauch von zufriedener Selbstgefälligkeit legte sich auf seine Züge, als er den Kopf wandte und ihre Blicke sich trafen.

Scarramouche sah augenblicklich weg. Ein Schauer des Fröstelns überkam sie, wie jedes Mal, wenn der Dunkelelf seine Aufmerksamkeit auf sie richtete. Sie schluckte. Es drängte sie zu erfahren, wann die Hochzeit stattfinden sollte und doch wagte sie es nicht zu fragen, aus Angst, der Termin könnte bereits näher als erwartet sein. Als hätte ihr Vater Nador ihre Gedanken gelesen, durchbrach er endlich die Stille und richtete das Wort an seine Tochter.

"Die Vermählung wird am zehnten Tage des siebten Mondes erfolgen. Genügend Zeit, um die erforderlichen Vorbereitungen zu treffen", erklärte Nador und heftete seinen Blick auf Sharthir, der zustimmend mit dem Kopf nickte. Scarramouches Blick huschte zwischen ihren Eltern und Sharthir hin und her, während sie sich bemühte, eine aufrechte Haltung beizubehalten.

Am zehnten Tage des siebten Mondes! Der Gedanke nahm in ihrem Kopf nur träge Gestalt an. Nicht einmal mehr drei Mondphasen. Die Teir'Dal hatte das Gefühl, man würde ihr eine Schlinge um den Hals legen, die sich nun unaufhörlich zuzog. Ihre Augen begann zu brennen, doch sie bemühte sich um eine gleichgültige Miene.

Sharthir schwenkte gemächlich sein Weinglas, nahm einen Schluck davon und bemerkte: "Die Zeremonie wird im Beisein des Königs Naythox vollzogen. Es ist bereits alles geregelt."

Scarramouche hob ruckartig den Kopf und starrte ihn an. Eigentlich hätte ihr klar sein müssen, dass die Verbindung zweier solch einflussreichen Adelsfamilien in Neriak in einem dementsprechend großen Rahmen gefeiert wurde, doch darüber hatte sie gar nicht nachgedacht. Ihr wurde kalt, als sie sich vorstellte, wie viele Elfen am schlimmsten Tag ihres Lebens dabei sein würden. Sie schob den Gedanken verbissen beiseite und richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihren Vater, der die Stimme zum Sprechen erhob.

"Es ist uns eine Ehre unsere Tochter vor Eurer Majestät vermählen zu lassen.", erwiderte Nador stolz und Eliha nickte zustimmend. Sharthir machte eine gelangweilte Handbewegung.

"Lord V'Oziar, ich bitte Euch. Ihr seid die Oberhäupter der königlichen Leibgarde und damit die mächtigsten Nekromanten in ganz Neriak. Es wäre eine Beleidigung, Euch bei einer solchen Feierlichkeit königliche Anwesenheit zu verwehren."

Ein Anflug von Ekel befiel Scarramouche, als sie sah, dass ihre Eltern bei diesen Worten vor Stolz beinahe platzten. Sie wandte den Blick ab.

"Wir werden gleich nächste Woche dein Kleid aussuchen", erklärte Eliha ihrer Tochter erfreut, woraufhin diese ihr einen finsteren Blick zuwarf. In Sharthirs kalte Augen schlich sich ein Funken Zufriedenheit.

"Scheut bitte keine Kosten, Lady V'Oziar", bemerkte er. "Notfalls komme ich dafür auf."

"Auf keinen Fall." Nador hob abwehrend die Hände. "Selbstverständlich ist uns dafür kein Preis zu hoch!"

Scarramouche starrte vor sich hin, während Zorn in ihr aufkochte, als sie zuhörte, wie ihre Eltern und Sharthir über sie sprachen wie über Vieh, das verkauft werden sollte. Schließlich setzte Sharthir sich auf und zog eine kleine Schatulle aus der Hosentasche, die er nun aufklappte. Scarramouche wurde flau im Magen. In der Schatulle befanden sich zwei aus Silber gefertigte Ringe, denen jeweils ein eisblauer Edelstein aufgesetzt war. Die Präzision des eingearbeiteten Musters und die Politur des Edelsteins ließen darauf schließen, dass diese beiden Ringe ein kleines Vermögen gekostet haben mussten. Scarramouche entging nicht, dass die Steine dieselbe Farbe wie ihre Augen hatten.

Gelassen entnahm Sharthir den ersten der beiden Ringe aus der Schatulle und steckte ihn sich an den Finger, bevor er Scarramouche die ausgestreckte Hand entgegen hielt und sie mit einem auffordernden Blick bedachte. Die Teir'Dal saß regungslos da und starrte auf seine Hand. Sie konnte die Blicke ihrer Eltern auf sich ruhen spüren, doch viel schlimmer waren Sharthirs stechende graue Augen, die sich immer weiter in die ihren bohrten, bis sie schließlich nachgab und zögerlich die Hand ausstreckte. Als er ihr den zweiten Ring überstreifte, biss sie die Zähne zusammen und zwang sich, ihn anzusehen. Sie durfte sich auf keinen Fall irgendwelche Gefühlsregungen anmerken lassen.

Es folgten weitere Gespräche über Einzelheiten, was die Vermählung betraf, doch Scarramouche hörte gar nicht mehr richtig zu. Sie starrte auf den wertvollen Ring, der nun ihren Finger zierte und ein Vorbote dessen war, was ihr noch bevorstehen würde. Ein beklemmendes Gefühl der Leere machte sich in ihr breit.

Schließlich erhob sich Sharthir und riss Scarramouche damit aus ihren düsteren Gedanken.

"So ungern ich es auch sage, ich muss mich nun leider empfehlen", verabschiedete sich Sharthir. "Es ist bereits Abend und ich habe noch einige geschäftliche Angelegenheiten zu erledigen."

Nador erhob sich ebenfalls und bot Sharthir an, ihn bis zur Tür zu geleiten, doch der Teir'Dal lehnte dankend ab. Stattdessen warf er einen Blick auf Scarramouche, die ihn misstrauisch musterte und er sagte: "Aber es wäre mir eine Freude, meine zukünftige Frau hinaus zu geleiten."

An seinem Tonfall und auch an seinem Blick war zu erkennen, dass dies kein Angebot, wenn auch weniger eine Aufforderung sondern eher ein Befehl war.

"Ich bin mir sicher, sie könnte ein wenig Schlaf vertragen." Mit diesen Worten öffnete Sharthir die Tür des Herrenzimmers und Scarramouche zögerte einen Moment, bevor sie ihm folgte, nicht sicher, wie sie seine Bemerkung nun verstehen sollte.

Die Tür des Herrenzimmers fiel hinter Scarramouche ins Schloss und als das Geräusch an den Wänden der Eingangshalle widerhallte, klang es ungewöhnlich laut in ihren Ohren. Sharthir stand einige Schritte entfernt von ihr und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Der Schein der blauen Fackeln, die die Halle spärlich beleuchteten, verliehen seinen kalten, grauen Augen einen noch rätselhafteren Ausdruck.

Scarramouche warf ihm einen nervösen Blick zu. Was sollte sie von der Bemerkung halten, die er zum Abschied gegenüber ihren Eltern geäußert hatte? Wusste er etwa von ihrem nächtlichen Ausflug in die Bibliothek? Allein die Vorstellung dessen jagte ihr einen Schauer über den Rücken und sie trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

"Gefällt er dir?", fragte Sharthir unvermittelt und Scarramouche, so plötzlich herausgerissen aus ihren Gedanken, hob ruckartig den Kopf.

"Was?", stieß sie verwirrt hervor. Sharthir hob kaum merklich eine Augenbraue.

"'Wie bitte?'", korrigierte er sie hochmütig und ein Lächeln trat auf sein Gesicht, das Scarramouche nicht mochte. "Aber sorge dich nicht; wir werden bald genug Zeit haben, um dir versäumte Manieren beizubringen."

Scarramouche starrte ihn missmutig an und ihr entging nicht, dass seine Stimme einen härteren Klang annahm, als er fortfuhr: "Ich habe dich gefragt, ob dir der Ring gefällt."

Sie antwortete nicht und wandte den Blick von ihm ab. Das Gewicht des Ringes an ihrem Finger konnte sie nun umso deutlicher spüren, ebenso, wie Sharthirs stechenden Blick, der auf ihr ruhte. Als sie noch immer keine Antwort gab, schritt der Dunkelelf auf sie zu und blieb so dicht neben ihr stehen, dass sie seinen Atem an ihrem Ohr spüren konnte. Sie unterdrückte ein weiteres Schaudern.

"Wag es nicht ihn abzunehmen", murmelte Sharthir ihr leise ins Ohr. "Andernfalls wird es deine Eltern sicherlich brennend interessieren, was du vergangene Nacht in der Bibliothek von K'Lorn getrieben hast."

Scarramouches Augen weiteten sich und mit diesen Worten schritt Sharthir durch das Eingangsportal und verschwand in der nächtlichen Dunkelheit Neriaks.
 

* * *
 

Rauchend vor Zorn schlug Scarramouche ihre Zimmertür zu. Wahrscheinlich würde ihr Vater jeden Moment in der Tür stehen, weil sie in ihrer Wut solch einen Höllenlärm veranstaltete, dass man sie im ganzen Haus hören konnte, doch es war ihr gleich. Immerhin hatte der Mann, der sich ihr "Vater" nannte, sie soeben an dieses Monstrum verkauft, diesen ... Unhold, diesen ... ihr fiel einfach kein treffendes Wort für Sharthir ein.

Ich werde ihn nicht heiraten, dachte Scarramouche verbissen, während sie sich auf ihr Bett setzte und missmutig auf ihre Füße starrte. Doch eine leise Stimme in ihr, die sie bisher stets ignoriert hatte, sagte ihr nun immer deutlicher: Aber du hast keine Wahl. Du wirst dich ihm beugen müssen.

Scarramouche entfuhr ein Schnauben, ähnlich einem widerspenstigen Fauchen. Die Stimme aber, das wurde ihr nun schmerzlich bewusst, würde Recht behalten. Sharthir hatte überaus deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie um jeden Preis zur Frau nehmen würde. Was konnte sie bloß dagegen tun? Sich weigern, so wie sie es bisher getan hatte? Fast hätte sie verbittert aufgelacht. Da es ihrem Verlobten offensichtlich herzlich egal war, was sie von der bevorstehenden Hochzeit hielt, würde ihn auch eine weitere Weigerung Scarramouches sicher nicht davon abhalten. Er würde sie auch vor den Altar zerren, wenn es sein müsste, dessen war sie sich sicher.

Sollte sie fliehen? Dieser Gedanke war schlichtweg töricht. Innerhalb Neriaks würde man sofort nach der verschwundenen Adelstochter suchen und sie auch garantiert finden. Sie müsste also aus Neriak selbst fliehen. Doch wohin? Qeynos, Freihafen, Felwithe, Kelethin, Kaladim, Halas... all diese Städte duldeten keine Teir'Dal in ihrer Mitte und bei solch gutmütigem Gesindel wie beispielsweise Hochelfen wollte sie ohnehin nicht leben. Mit Stolz war sie eine Teir'Dal, ein Wesen des Hasses, ein Kind Innoruuks. Andererseits, in Oggok oder Grobb, unter anderen böse gesinnten Wesen, Ogern, Trollen und Rattonga zu leben, war auch nicht die Zukunft, die sie sich immer ausgemalt hatte. Scarramouche seufzte. In die Wildnis zu flüchten war nahezu lächerlich; wie sollte sie ohne Geld oder irgendwelchen anderen Hilfsmitteln dort draußen überleben? Stehlen kam nicht infrage; sie wollte eine Assassine werden, kein Brigant. Außerdem wurde Scarramouche das dumpfe Gefühl nicht los, dass Sharthir sie finden würde. Überall.

Mutlos ließ sie sich hinterrücks auf ihr Bett fallen und starrte an die Decke ihres Himmelbetts. Eine Flucht war ausgeschlossen und eine andere Möglichkeit, sich der Hochzeit mit Sharthir zu entziehen, schien es nicht zu geben. Lange Zeit starrte sie einfach nur gedankenverloren in ihre Bettvorhänge hinein. Dann setzte sie sich so abrupt auf, als hätte sie einen Schlag versetzt bekommen.

Natürlich gab es eine Möglichkeit. Warum war ihr das nicht viel früher in den Sinn gekommen?

Doch bis zur Hochzeit würde es nicht reichen.... Die Zeit war zu knapp. Scarramouche biss sich auf die Lippe. Sie würde ihn heiraten müssen, wie man es drehte und wendete, drei Monate waren viel zu wenig Zeit. Es würde wahrscheinlich Jahre dauern, doch wenn die Zeit reif war, würde ihre Stunde kommen. Zum ersten Mal seit Tagen stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie würde ihn töten.

Vergoldeter Käfig

"V-Verlobungsfeier?!" Scarramouches Stimme nahm einen schrillen Klang an, als sie für einen kurzen Moment die Beherrschung verlor. Sie saß nun kerzengerade im Bett, nachdem sie mit dieser Neuigkeit von ihrer Mutter geweckt worden war.

Eliha wedelte ungeduldig mit der Hand. "Natürlich, Scarramouche. Du weißt doch, dass dies unter den mächtigsten Familien Neriaks üblich ist, und dein Verlobter ist nach dem König nahezu der einflussreichste Mann in der Stadt. Es werden etliche wichtige Persönlichkeiten auf dieser Feier anwesend sein."

"Aber - heute Abend?! Mutter, das kann doch nicht euer Ernst sein?!", entgegnete Scarramouche wütend und sprang aus dem Bett. Erst vor wenigen Tagen hatte sie ihren Entschluss gefasst, Sharthir zu töten, wenn die Zeit gekommen war, als Antwort auf seine Unverfrorenheit zu glauben, dass er sie einfach zur Frau zu nehmen könne, weil es ihm gerade beliebte. Erst vor wenigen Tagen war der Hochzeitstermin der beiden bekannt gegeben worden - wie also konnten ihre Eltern bereits für den heutigen Tag ihre Verlobungsfeier ansetzen?

Doch dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Natürlich konnten ihre Eltern dies nicht so kurzfristig geplant haben. Die Hochzeit würde bereits in weniger als drei Monaten stattfinden; welche Vermählung in diesem Größenverhältnis organisierte man in nur drei Monaten? Ihre Eltern mussten sie Sharthir schon lange, lange bevor er ihr vorgestellt wurde, versprochen haben und damit auch die Vermählung sowie auch die Verlobungsfeier geplant haben. Nur sie hatte jetzt erst davon erfahren. Scarramouche öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder, unfähig ihre Wut in Worte zu fassen; sie war buchstäblich sprachlos.

Ihre Mutter blieb von ihrem Zorn völlig ungerührt. "Die Feier findet heute Abend vor Sonnenuntergang im Palast statt. Sogar der König und die Königin werden anwesend sein! Denk doch nur mal darüber nach, welch eine Ehre das ist!", erwiderte Eliha voller Begeisterung, welche Scarramouche nicht einmal ansatzweise teilte. Stattdessen starrte sie ihre Mutter eingeistert an.

"Im PALAST?!", stieß sie schrill hervor.

"Ganz recht, im Palast", antwortete ihre Mutter unbeeindruckt. "Und deshalb müssen wir jetzt schon dafür sorgen, dass du heute Abend angemessen dort erscheinst."

Sie klatschte energisch in die Hände, und im nächsten Augenblick erschienen zwei Dienerinnen in Scarramouches Zimmertür; eine von ihnen trug ein prächtiges schwarzes Kleid über dem Arm, welches Scarramouche misstrauisch beäugte. Eliha war ihrem Blick gefolgt.

"Ein Geschenk deines Verlobten", erklärte sie lächelnd. "Er hat unmissverständlich klargemacht, dich heute Abend darin sehen zu wollen."

Scarramouche rümpfte verstimmt die Nase und öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch ihre Mutter warf ihr einen strengen Blick zu, sodass sie beschloss, es dabei zu belassen. Mit ihrem Entschluss, ihren Peiniger zu töten, hatte sie im Stillen zähneknirschend zugestimmt, seine Frau zu werden, bis die Zeit gekommen war, es ihm heimzuzahlen. Also würde sie sich dieser Verlobungsfeier nicht entziehen können. Mit einem Seufzen ließ sie sich wieder auf ihrem Bett nieder und erlaubte es ihrer Mutter und den beiden Zofen, ihr dabei behilflich zu sein, sich für den kommenden Abend zu richten.

Und tatsächlich wurde auch fast der gesamte Tag dafür in Anspruch genommen und als Scarramouche sich am frühen Abend im Spiegel betrachtete, war sie aufrichtig überrascht über das Ergebnis. Es gefiel ihr nicht, doch sie musste zugeben, dass Sharthir ihren Geschmack genau getroffen hatte, was das Kleid betraf. Die glänzende, schwarze Seide ließ anmuten, dass sie ein Vermögen gekostet haben musste, ebenso wie die aufwendigen silbernen Stickereien und Perlen, mit der sie überzogen war. Dennoch war das Kleid nicht zu protzig - es war schlicht geschnitten und zu Scarramouches Erleichterung fiel es auch nicht zu aufreizend aus und das Gesamtbild mit ihrer Hochsteck-Frisur, Schminke und dem Schmuck, den Sharthir ebenfalls bezahlt hatte, war atemberaubend und schmeichelte ihrer mitternachtsblauen Haut. Und doch, obwohl sie als Tochter einer einflussreichen Familie sehr gerne schöne Kleider trug, fühlte sie sich unwohl, denn nun sah sie genauso aus, wie ihr Verlobter es wünschte. Wenn sie jetzt schon von ihm vorgeschrieben bekam, wie sie sich zu kleiden hatte, wagte sie es nicht, sich auszumalen, was künftig noch auf sie zukommen würde. Ihr Spiegelbild blickte ihr gleichgültig entgegen, doch hinter der Fassade tobte ein Kampf verschiedenster Gefühle; Wut, Angst, Unsicherheit und Verzweiflung rangen um die Vorherrschaft und Scarramouche hatte Mühe, keines von ihnen nach außen dringen zu lassen. Sie fühlte sich wie eine Opfergabe; geschmückt und hergerichtet und bereit, ihrem Untergang entgegengeführt zu werden.

Als ihr Vater Nador den Raum betrat, wurde Scarramouche aus ihren düsteren Gedanken gerissen.

"Es wird Zeit, die Kutsche wartet bereits", sagte er an seine Frau gewandt, dann blieb sein Blick an seiner Tochter hängen. Scarramouche spürte, wie sie einer genauen Musterung unterzog, bis ein zufriedener Ausdruck auf seine Züge glitt. Die junge Teir'Dal wandte den Blick mit finsterer Miene ab.

"Wirklich erstaunlich, zu was Lord T'Narem bereit ist, für dich in Bewegung zu setzen." Die Stimme ihres Vaters klang sichtlich beeindruckt und auch ein gewisser Stolz schwang in ihr mit.

"Es muss für dich eine Ehre sein, Scarramouche, er ist nahezu der einflussreichste Mann in ganz Neriak und du scheinst ihm ein kleines Vermögen wert zu sein, wenn ich mir dieses Kleid ansehe und an die Gästeliste für heute Abend denke", fuhr er fort. "Selbst auf unseren ausdrücklichen Wunsch hin, die Kosten für eure Vermählung aufzuteilen, bestand er darauf, sie ganz alleine zu tragen."

Scarramouche starrte ihn an und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Während sie ihren Eltern vor das Eingangsportal ihres Anwesens folgte, wo die Kutsche auf sie wartete, grübelte sie darüber nach, was nur mit diesem Kerl los war - sie hatte ihm, wie auch all seinen Vorgängern stets die kalte Schulter gezeigt und ein derart schlechtes Benehmen an den Tag gelegt, dass ausnahmslos jeder von ihnen alsbald das Interesse an ihr verloren hatte. So aber nicht Sharthir. Sie hatte eher das Gefühl, dass, je mehr sie sich gegen ihn sträubte, sie sein Begehren noch weiter damit anfachte. So wie sie sich ihm gegenüber verhielt, war es ihr unerklärlich, dass er keine Kosten scheute, was ihre Vermählung anbelangte.

Während der Kutschfahrt durch Neriak in Richtung Todesgrotte, wo  der Dunkellicht-Palast lag, sah Scarramouche lustlos aus dem Fenster. Früher einmal, noch vor ihrer Geburt, hatte die Familie V'Oziar ebenfalls in der Todesgrotte gelebt - dem Viertel, in dem nur die reichsten und angesehensten Teir'Dal-Geschlechter wohnten und in dem sich auch der Palast der Königsfamilie Thex erhob. Doch auf Anordnung von Cristanos Thex, der gegenwärtigen Gemahlin des Königs Naythox und gleichzeitig das Oberhaupt der "Toten", der Nekromanten-Gilde in Neriak, zogen ihre Eltern in ein nicht minder prächtiges Anwesen im Hafenmarkt, um dort die "Indigo-Bruderschaft" im Auge zu behalten, der auch König Naythox angehörte. Es war kein Geheimnis, dass Königin Cristanos und König Naythox sich hassten und im ständigen Streit miteinander lagen und um die Herrschaft über Neriak kämpften, bis einer der beiden irgendwann dem anderen schließlich unterliegen würde. Als ihre Gedanken von dem alten Sitz ihrer Familie zum Kampf um die Krone geschweift waren, seufzte Scarramouche. Irgendwie konnte sie Cristanos sehr gut verstehen; es gab gewisse Parallelen zwischen ihr und der Gemahlin des Herrschers. Sie war nur eine angeheiratete Thex und höchstwahrscheinlich war dies ebenfalls eine arrangierte Ehe gewesen, um das reine Blut der Thex zu wahren - ebenso wie bei ihr und Sharthir. Cristanos hatte nicht einmal etwas von einer solch politisch wichtigen Hochzeit - vor vielen Jahren hatte sie Naythox einen Sohn, Talvus, geboren und somit würde die Krone an ihr vorbei, an ihren Sohn übergehen, sollte Naythox tatsächlich vor ihr sterben.

Scarramouche war vollauf bewusst, dass es ihr wohl nicht anders ergehen würde - ihr makellos reines Blut wurde gebraucht, um die Blutlinie der Familie T'Narem fortzusetzen und da ihre eigene Familie selbst keinen männlichen Nachfolger hervorgebracht hatte, waren ihre Eltern natürlich entzückt, ihre einzige Tochter zumindest an einen solch ranghohen Teir'Dal wie Sharthir vergeben zu können. Scarramouche würde genau wie die Königin für die Geburt eines Erben verantwortlich sein und sobald dies vollbracht war, lediglich zu Hause sitzen als Eigentum von Sharthir oder aber ihn auf wichtige Veranstaltungen begleiten, damit er dort mit einer hübschen Frau glänzen konnte. Keine Freiheit, keine Rechte, keine Assassinenausbildung. Sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, womit sie das verdient hatte.

Die Kutsche holperte durch das dritte Tor von Neriak, womit sie in der Todesgrotte angekommen waren. Vor ihnen ragte düster und in der Baukunst der Teir'Dal doch anmutig schön der Dunkellicht-Palast auf, doch der Kutscher steuerte ein gewaltiges Anwesen in der Nähe der Palastanlage an, wo sie schließlich anhielten. Scarramouche runzelte verwirrt die Stirn.

Sollte die Feier nicht im Palast stattfinden?

Ihr Vater stand auf, als der Kutscher die Türe öffnete und stieg aus. Scarramouche sah ihre Mutter erwartungsvoll an, denn sie hatte ihr beim Aussteigen den Vortritt zu lassen, doch Eliha blieb regungslos sitzen.

"Scarramouche", drang Nadors Stimme von draußen ins Innere der Kutsche und Scarramouche runzelte erneut verwirrt die Stirn.

"Kommst du nicht mit, Mutter?", fragte sie irritiert und Eliha schüttelte daraufhin den Kopf, blieb ansonsten aber stumm. Mit einem letzten misstrauischen Blick auf ihre Mutter stand Scarramouche auf und ließ sich von ihrem Vater aus der Kutsche helfen. Als sie aufblickte, erhob sich vor ihr ein gewaltiges Anwesen.

Eine dunkle Vorahnung beschlich Scarramouche, dann wandte sie sich an ihren Vater.

"Ist ... dies das T'Narem-Anwesen?"

Nador nickte schweigend. Scarramouches Blick kehrte zurück zu dem gewaltigen Gebäude vor ihr - es war um einiges größer, als das ihrer Familie und dies sprach bereits für sich, denn jenes war nicht gerade klein. Immerhin gehörte auch die Familie V'Oziar zu Neriaks einflussreichsten Familien, doch sie konnte in keinster Weise T'Narem das Wasser reichen.

Als Scarramouche bemerkte, dass sie sichtlich beeindruckt an dem Gebäude hochstarrte, fasste sie sich hastig wieder und setzte eine neutrale Miene auf. Dann blickte sie zur Kutsche zurück.

"Sollte die Feier nicht im Palast stattfinden?", fragte Scarramouche voller Misstrauen.

"Korrekt", antwortete Nador knapp und schritt ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei, auf das Portal des T'Narem-Anwesens zu. Scarramouches Miene wurde finster, dann blickte sie noch einmal zur Kutsche zurück.

"Wieso kommt Mutter nicht mit?", fragte die junge Teir'Dal. Nador jedoch ohne jegliche Reaktion weiter und klopfte gegen das Portal. Zögerlich folgte ihm Scarramouche und sie wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass hier etwas nicht stimmte. Kaum einen Wimpernschlag später wurde die Tür geöffnet, gerade so, als hätte man sie bereits erwartet und ein Diener bat Scarramouche und ihren Vater herein. Ihr Magen krampfte sich zusammen; sie hatte die Höhle des Löwen betreten und bei dem Gedanken daran wurde ihr speiübel. Mit größter Mühe versuchte sie ihr Unbehagen zu verbergen, indem sie die Schultern durchdrückte und das Kinn hob, um einen selbstsicheren und gleichgültigen Eindruck zu erwecken, während sie sich in der weitläufigen Eingangshalle des T'Narem-Anwesens umsah. Der Diener zwar bereits davongeeilt, um seinem Herrn über die Ankunft des Besuches zu informieren. Stirnrunzelnd wandte Scarramouche sich an ihren Vater.

"Was soll dieses Theater?", fragte sie zweifelnd. Erst jetzt bemerkte sie, dass Nador im Eingangsportal stehen geblieben und gerade im Begriff war, das Haus wieder zu verlassen. Sie starrte ihn an.

"Deine Mutter und ich erwarten euch dann zusammen mit euren Gästen im Dunkellicht-Palast ", erklärte Nador und lächelte zufrieden. "Du wirst selbstverständlich mit deinem Verlobten gemeinsam zur Feier erscheinen."

"Moment - was?", stieß Scarramouche entsetzt hervor, doch das Portal war bereits ins Schloss gefallen.

"Ganz recht", ertönte eine Stimme über ihrem Kopf. Scarramouche gefror das Blut in den Adern, als sie diese erkannte.

Sharthirs düstere Gestalt war im ersten Geschoss erschienen; er lehnte schon beinahe gelangweilt am Geländer, doch ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen, als er zu Scarramouche ins Erdgeschoss hinunterblickte. Ihr Herz schlug zu ihrem Ärger auf einmal bis zum Hals und sie schluckte, während sie ihr Bestes gab, sich nichts anmerken zu lassen.

"Willkommen in meinem bescheidenen Heim. Fühl dich ganz wie zu Hause", begrüßte er sie und seine grauen Augen blitzten. "Schließlich wird es bald auch das deine sein."

Scarramouche starrte den Teir'Dal an. Während er gesprochen hatte, war er aus dem Schatten getreten und langsam die Treppe, die ins Erdgeschoss führte, hinuntergeschlendert, an deren Fuß er schließlich stehen geblieben war. Sie hielt kaum merklich den Atem an; in seinem Verlobungsgewand, das, wie ihr nicht entging, an das ihre angelehnt war, war er gut aussehender denn je, und sie bedauerte beinahe, dass er es sich durch seine Unverfrorenheit gänzlich mit ihr verdorben hatte. Sofort verbannte sie diesen Gedanken aus ihrem Kopf; er könnte noch zehn mal so gut aussehen, das, was er im Begriff stand, ihr anzutun, würde er teuer bezahlen.

Dennoch war sie nicht darauf vorbereitet, schon so bald völlig allein mit Sharthir zu sein und der Gedanke daran jagte ihr eiskalte Schauer über den Rücken. Sie konnte spüren, wie sein Blick auf ihr ruhte und das machte es nicht gerade besser. Angespannt überlegte sie, wie sie sich nun verhalten sollte - schon öfter hatte sie darüber nachgedacht, einfach gute Miene zum bösen Spiel zu zeigen, da es die Dinge für sie eventuell ungemein erleichtern würde, aber ihr Stolz untersagte ihr jegliche Unterwerfung ihm gegenüber. Also atmete sie einmal tief durch und wandte sich um - und starrte direkt in Sharthirs kalte Augen. Erschrocken wich sie einen Schritt zurück; sie hatte ihn weder kommen hören noch irgendwie anderweitig bemerkt, dass er sich näherte. Dass sie dermaßen zusammengezuckt war, schien ihn zu belustigen, denn ein amüsiertes Lächeln war auf seine Züge getreten. Welch Ironie, dass sie gerade eben noch darüber nachgedacht hatte, wie sie ihren Stolz wahren konnte und er im nächsten Moment mit Füßen getreten wurde. Scarramouche nahm wieder eine aufrechte Haltung an und zwang sich, Sharthir ins Gesicht zu sehen.

"... Wann werden wir zur Feier aufbrechen?", fragte Scarramouche schließlich, um die unangenehme Stille zu durchbrechen, die eingetreten war. Außerdem wünschte sie sich gerade nichts sehnlicher als aus dieser unfreiwilligen Zweisamkeit mit Sharthir zu entkommen. Im nächsten Moment ärgerte sie sich jedoch über sich selbst, da sie jetzt wohl den Eindruck erweckt haben musste, die Feier gar nicht abwarten zu können. Doch Sharthir antwortete nicht auf ihre Frage, denn er schien etwas abgelenkt zu sein und als sie seinem Blick folgte, bemerkte sie, dass er sie einer genauen Musterung unterzog. Augenblicklich verkrampfte sie sich, versuchte aber mit aller Macht, dies zu verbergen.

Da war es wieder, dieses unheimliche Blitzen in Sharthirs Augen. "Erfreulich zu sehen, dass ich die Auswahl deines Kleides nicht bereuen muss."

Angewidert wandte Scarramouche den Blick ab und beschloss, nicht darauf einzugehen. Wieder machte sich diese unangenehme Stille zwischen ihnen breit, die Sharthir aber bald darauf mit einem Blick auf seine Taschenuhr durchbrach.

"Zu schade", sagte er mit einem übertriebenen Seufzer. "Aber ich fürchte, wir müssen unser kleines Rendezvous hier unterbrechen, sonst kommen wir zu spät zu unserer Feier."

 

* * *

 

Die Kutsche machte Halt und nur wenige Augenblicke später wurde die Tür von einem herbeieilenden Diener geöffnet. Sharthir stieg aus, dann reichte er Scarramouche höflich die Hand, um ihr nach draußen zu helfen. Sie zögerte einen Moment, denn deutlicher Widerwillen stieg in ihr auf, dann erinnerte sie sich an ihren Schwur und dass sie ihr Ziel nur erreichen würde, wenn sie dieses Spiel nun mitspielte. Also reichte sie ihm mit einem nichts sagendem Blick die Hand und ließ sich von ihm aus der Kutsche helfen. Daraufhin wurden sie von zwei Palast-Wachen begrüßt und stiegen in deren Begleitung die ausladenden Treppen zum Palast-Portal empor. Nachdem sie den langen, schwer bewachten Flur zum Thronsaal entlang geschritten waren, bot Sharthir Scarramouche seinen Arm an - sie wusste, dass dies kein Angebot war sondern eher ein Befehl. Seine grauen Augen ruhten kalt auf ihr, während er darauf wartete, dass sie seiner Aufforderung nachkam und erneut gelang es Scarramouche, ihr Missfallen zu verbergen und sie legte mit ausdrucksloser Miene ihre Hand auf seinen Unterarm.

Das Portal zum Thronsaal schwang auf und gab den Blick auf eine prächtige Feier frei. Im selben Augenblick wandten sich sämtliche Köpfe in ihre Richtung und es wurde still im Saal. Paare, die soeben noch getanzt hatten, hielten inne und verließen eilig die Tanzfläche, als sie Scarramouche und Sharthir erblickten, Gespräche wurden hastig unterbrochen und Gelächter erstarb. Auch das Orchester am anderen Ende des Saales, welches gerade einen weiteren, düsteren Walzer angestimmt hatte, verstummte und Scarramouche wurde unangenehm bewusst, dass sie nun im Zentrum aller Aufmerksamkeit stand. Im Augenwinkel bemerkte sie, dass Sharthir sie beobachtete und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen, selbstzufriedenen Lächeln. Dann nickte er dem Dirigenten des Orchesters zu, der erwartungsvoll seinen Blick gesucht hatte und dieser stimmte nun eine feierliche Fanfaren-Hymne an. Sharthir setzte sich in Bewegung und Scarramouche bemühte sich hastig, an seiner Seite Schritt zu halten und gemeinsam gingen sie durch die Mitte des Saales, geradewegs auf den Thron zu, wo König Naythox und Königin Cristanos Thex die beiden erwarteten; im Beisein ihrer engsten Berater: Scarramouches Eltern. Noch immer waren sie der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und Scarramouche konnte kaum fassen, welch Ansehen Sharthir am königlichen Hofe genießen musste, um eine solche Aufwartung bei seiner Verlobungsfeier zu erhalten.

Als sie vor dem Thron und dem Königspaar angekommen waren, verbeugte Sharthir sich tief und Scarramouche machte einen unterwürfigen Knicks, dann hob Naythox die Hand und die Musik verstummte augenblicklich.

"Verehrtes Volk", rief er und begann eine feierliche Ansprache. "Freunde der Finsternis, Kinder Innoruuks!"

Er machte eine kurze Pause; im Saal war es noch immer totenstill.

"Wir haben uns heute hier versammelt, um die Verlobung zweier unserer Kinder zu feiern, die unserer Blutlinie - der Königsfamilie der Teir'Dal, der Thex - am nahesten kommt, zweier wahrer Kinder des Hasses!"

Scarramouche warf einen flüchtigen Seitenblick auf Sharthir - ihn als "Kind" zu titulieren hatte beinahe schon etwas Aberwitziges. Er musste um ein Vielfaches älter sein als sie selbst, wenn er nicht schon mehrere hundert Jahre alt war. Sie blinzelte hastig, denn sie war mit den Gedanken abgeschweift - Naythox hatte seine Rede unterdessen fortgesetzt und sie hörte ihm nun wieder aufmerksam zu.

" ... So lasst uns heute also die baldige Verbindung zweier solch mächtiger Adelsfamilien gebührend feiern, auf dass sie und ihre Nachkommen dem Teir'Dal-Reich dienlich sein werden!"

Der König erntete begeisterten Beifall der anwesenden Teir'Dal und auch Sharthir und Scarramouche stimmten mit ein. Ihr Verlobter schien äußerst zufrieden mit sich zu sein, als Scarramouche ihn unauffällig beobachtete und obwohl sie selbst alles andere als erfreut war, gelang es ihr, eine neutrale Miene zu wahren.

Erster Schritt auf dem Weg zur Assassine: Keine Gefühle zeigen, rief Scarramouche sich ins Gedächtnis. Diesen Schritt werde ich dank Sharthir schnell meistern.

Zwischenzeitlich hatte König Naythox das Wort an Sharthir übergeben und der Teir'Dal trat vor, nachdem er sich nochmals tief vor seinem Herrscher verbeugt hatte. Zuerst sprach er davon, welch Ehre es für ihn sein, dass diese Feier im Beisein des Königs und der Königin stattfinden durfte, dann welch Freude ihn erfüllte, die Tochter einer solch hoch angesehenen Familie wie der V'Oziar zur Frau nehmen zu können.

"Nachdem meine Eltern in der Schlacht vom Blutigen Kithicor im Dienste von Lanys T'Vyl, der Tochter Innoruuks, einen wahren Heldentod gestorben sind, war ich der einzige Hinterbliebene unseres Geschlechts", verkündete er und seine tiefe Stimme hallte in der gespenstisch stillen Halle wider. Scarramouche unterdrückte den Drang, Sharthir überrascht anzusehen.

Seine Eltern sind in der Schlacht von Lanys T'Vyl gefallen?

Diese legendäre Schlacht hatte Jahrzehnte vor ihrer Geburt getobt und dass Sharthir zu dieser Zeit das Familienerbe übernommen hatte, bedeutete, dass er mindestens ein ganzes Jahrhundert älter war als sie.

"Ich übernahm die Nachtlied-Oper und führte unser Erbe weiter", fuhr Sharthir fort. "... und machte mein Geschlecht zu dem, was es heute ist: Eines der mächtigsten Neriaks!"

Er wandte sich zu Scarramouche um und legte eine Hand auf ihre Schulter.

"Umso mehr erfüllt es mich nun mit Stolz, eine solch intelligente, hübsche Frau von reinstem Blut wie Lady V'Oziar zu meiner Frau zu nehmen. Gemeinsam werden wir dieses Geschlecht fortführen und Neriak damit treu zu Dienste stehen!"

Auch er erntete tosenden Applaus für seine Worte. Scarramouche war übel, doch sie zwang sich zu einem Lächeln, in der Hoffnung, dass niemand bemerkte, dass ihr die Erkenntnis über Sharthirs tatsächliches Alter noch tief in den Knochen saß. Es war ein beunruhigendes Gefühl, einen solch mächtigen Teir'Dal mit einem so hohen Altersunterschied zum Mann nehmen zu müssen - schließlich wusste sie nicht, wie alt er bereits gewesen war, als seine Eltern in der Schlacht des Blutigen Kithicors umkamen. Mit ihren 51 Wintern kam sie sich neben ihm fast wie ein kleines Mädchen vor; kein Wunder, dass Sharthir sie nicht im Geringsten ernst nahm. Für ihn war sie nur ein kleines Kind, das wahnwitzigen Träumen nachhing, die er allerhöchstens belächeln konnte. Scarramouches Miene verfinsterte sich kaum merklich.

Königin Cristanos hatte sich nun ebenfalls erhoben und richtete das Wort an die Anwesenden.

"Auch ich möchte meine Freude darüber aussprechen, dass die Tochter meiner beiden engsten Berater hier - Nador und Eliha V'Oziar - nun endlich einen mehr als geeigneten Bräutigam gefunden hat!"

Scarramouche sah die Königin an und neigte unterwürfig den Kopf.

"Unter uns reinblütigen Teir'Dal ist es üblich, sofern kein männlicher Nachkomme hervorgebracht werden konnte, unsere Töchter so früh wie möglich mit einem Mann von ebenfalls reinstem dunkelelfischen Blut zu vermählen."

Scarramouche entging nicht, dass bei diesen Worten Cristanos' Blick kalt auf ihrem Gemahl Naythox lag und wieder keimte eine jähe Sympathie für die Königin in ihr auf. Auch sie wurde jung und gegen ihren Willen an den König verheiratet.

"Lady V'Oziar hier hat sich als erstaunlich wählerisch erwiesen; ganze dreizehn Jahre hat es nun gedauert, bis endlich ein Bewerber Euer Herz erobert hat, nicht wahr?", fragte Cristanos nun direkt an Scarramouche gewandt und diese wusste nicht, ob sie diese Frage als bloßes Interesse oder als Vorwurf werten sollte; die Miene der Herrscherin gab nicht im Geringsten Aufschluss darüber. Scarramouche fasste Sharthir am Arm und warf ihm einen überzeugenden Blick purer Zuneigung zu und antwortete: "Ich habe lediglich auf den Richtigen gewartet."

Sharthirs Augen blitzten und seinem Blick konnte sie entnehmen, dass er genau wusste, dass kein Fünkchen Wahrheit in ihren Worten steckte. Cristanos hingegen schien zufrieden gestellt und eröffnete daraufhin die prunkvolle Feier.

 

* * *

 

Nach der offiziellen Eröffnung hatte Sharthir sich unter die Leute gemischt und Scarramouches Pflicht als künftige Gemahlin war es nun, ihn zu begleiten. Er sprach mit mehreren wichtigen Kaufleuten, die in Neriak namhaft waren, wie auch mit einigen Mitgliedern des restlichen Hochadels der Stadt, sowie mit anderen bedeutenden Persönlichkeiten, während Scarramouche meist mit den Frauen oder zumindest mit der weiblichen Begleitung plauderte. Eigentlich war ihr überhaupt nicht nach so etwas zumute; sie sah ihre Verlobung mit Sharthir nicht im Geringsten als Anlass zum Feiern, doch sie riss sich zusammen und wahrte so gut wie möglich das Bild des glücklichen Verlobungspaares.

Wenig später verabschiedete Sharthir sich von Graf Calin T'Vor, einem hohen Tier bei der Palastwache, und so beendete auch Scarramouche ihr Gespräch mit seiner Frau und die beiden begrüßten ein paar Bekannte ein wenig entfernt und begannen mit diesen zu plaudern.

Scarramouche seufzte leise; das Gespräch mit dieser Dame war besonders anstrengend gewesen; ihr Mann schien sich nur noch um die Belange der Wache zu kümmern und ihr selbst kaum noch Beachtung zu schenken. Dinge, die Scarramouche nicht wirklich interessierten - immerhin hatte sie genug eigene Probleme, mit denen sie kämpfen musste. Eines davon stand gerade neben ihr und warf ihr forschende Blicke zu. Scarramouche hob den Kopf und blickte in Sharthirs unergründliche, graue Augen. Seine Lippen kräuselten sich zu einem rätselhaften Lächeln, dann erregte eine Dunkelelfe in weiten, reich verzierten Roben, die auf die beiden zuhielt, seine Aufmerksamkeit.

"Lady Syl'Tor", begrüßte Sharthir sie, als sie bei ihnen angekommen war und neigte höflich den Kopf. Auch Scarramouche nickte der Magierin zum Gruße zu und reichte ihr daraufhin schwach lächelnd die Hand.

"Seid mir gegrüßt, Lord T'Narem, Lady V'Oziar", sagte Lady Syl'Tor und schüttelte auch Sharthirs Hand. Sie war anmutig schön, wie Scarramouche bemerkte. Langes, weißes Haar fiel ihren Rücken hinab und ihre feinen Gesichtszüge und die hohen Wangenknochen ließen sie selbst unter Dunkelelfen noch herausragend hübsch wirken. Die mitternachtsblaue Haut glich feinstem Marmor und ihre Augen zeugten von purer Intelligenz. Bisher hatte Scarramouche sie nie persönlich kennen gelernt, wohl aber von ihr gehört, denn Tserrina Syl'Tor war eine der mächtigsten Magier Neriaks.

"Auch von mir die besten Glückwünsche zu Eurer Verlobung", fuhr Tserrina fort. "Möge Innoruuk Eure baldige Verbindung segnen - für die Ewigkeit."

"Vielen Dank, Lady Syl'Tor", antwortete Sharthir, während Scarramouche möglichst ungezwungen lächelte. "Auch ich möchte meinen Glückwunsch aussprechen: Wie ich hörte, hat König Naythox Euch erst vor Kurzem den Titel 'Illusionistin von Neriak' verliehen."

Erstaunt sah Scarramouche auf und warf der Dunkelelfe einen anerkennenden Blick zu. Ein solcher Titel wurde in der Stadt des Hasses nicht unverdient vergeben.

Ein Lächeln trat auf Tserrinas Lippen, als sie sich bedankte und bald darauf waren Sharthir und sie in ein eher oberflächliches Gespräch vertieft, bei dem Scarramouche größtenteils schweigend zuhörte.

Schon bald begann sie, sich zu langweilen, denn das Gespräch hatte sich nun politischen Themen zugewandt, zu denen Scarramouche erst recht nichts sagen konnte. Trotzdem versuchte sie, aufmerksam zuzuhören, schweifte mit den Gedanken aber immer wieder ab - bis aufgeregtes Raunen in ihrem Umkreis sie aus ihren Tagträumereien riss. Stirnrunzelnd hob sie den Kopf.

Ein stattlicher Teir'Dal kam durch den Saal geschritten und hielt auf das Verlobungspaar und Tserrina zu. Voller Ehrfurcht huschten mehrere Teir'Dal aus dem Weg, viele gaben vor, sich weiter ihren Unterhaltungen zu widmen, doch ihre Blicke folgten dem Elfen, dessen Auftreten allein schon für Respekt und Ehrerbietung sorgte. Ein Frösteln überlief Scarramouche, als der Fremde langsam näher kam. Mit Sharthir, so hatte sie bisher geglaubt, hatte sie den furchteinflößensten Teir'Dal ihres Lebens kennen gelernt, doch er stand in keinem Vergleich zu diesem Mann. Seine Miene war ausdruckslos, sein Blick unergründlich, doch es ging eine Macht von ihm aus, die alles überstieg, was ihr je widerfahren war.

Scarramouche spürte, wie Sharthir ihr eine Hand auf die Hüfte legte und sie näher zu sich heran zog. Der Gedanke gefiel ihr zwar ganz und gar nicht, doch sie musste zugeben, sie war zum ersten Mal froh, dass er da war, also widersetzte sie sich nicht. Auch Sharthir schien nervös. Dann warf Scarramouche einen Seitenblick auf Tserrina und blinzelte überrascht, als sie erkannte, dass deren Miene sich sichtlich aufgehellt hatte und ihre Augen rätselhaft funkelten.

Inzwischen war der Fremde bei ihnen angekommen und machte eine kurze Verbeugung, die Sharthir erwiderte. Scarramouche und Tserrina taten es ihm gleich. Scarramouches Herz schlug unangenehm schnell in ihrer Brust.

"Seid gegrüßt, Lord Nebelmoor", sprach Sharthir, schon beinahe unterwürfig. Scarramouche traute ihren Ohren kaum. Nebelmoor? MAYONG Nebelmoor?

"Seid auch mir gegrüßt, Lord T'Narem", erwiderte Mayong, dann begrüßte er Scarramouche und Tserrina ,während er Letztere mit einem geheimnisvollen Lächeln bedachte. Tserrina lächelte beinahe verträumt zurück.

Auch Mayong beglückwünschte Sharthir zur bevorstehenden Hochzeit, dann verwickelte er ihn in ein Gespräch, das sich anderen Themen zuwandte.

"Wie laufen die Geschäfte?", fragte der rätselhafte Teir'Dal, doch Scarramouche meinte, kein aufrichtiges Interesse in seinen Augen aufflammen zu sehen.

"Bestens, danke der Nachfrage", antwortete Sharthir, dann flackerten seine Augen kurzzeitig zu Scarramouche. Sie glaubte, Anspannung und auch einen Anflug von Sorge darin zu erkennen, doch im nächsten Moment lag sein Blick wieder völlig ruhig auf Mayong, wodurch Scarramouche sich sicher war, sich geirrt haben zu müssen.

"Aber, Lord Nebelmoor", fuhr er daraufhin fort. "Ich würde gerne etwas Geschäftliches unter vier Augen mit Euch besprechen, wenn es Euch nichts ausmacht."

Er warf Scarramouche und Tserrina einen undeutbaren Blick zu. "Wenn Ihr uns kurz entschuldigen würdet."

Die beiden schritten von dannen und Scarramouche blieb mit Tserrina allein zurück.

"Zu schade", seufzte diese enttäuscht und Scarramouche blickte auf.

"Lady Syl'Tor?", fragte sie vorsichtig, denn sie sah sich nun aufgefordert, ihren gesellschaftlichen Pflichten nachzukommen.

Tserrina winkte ab. "Nennt mich ruhig Tserrina. Unsere Stammbäume sind vergleichbar."

Scarramouche blinzelte, überrascht von dieser unerwarteten Geste. "Vielen Dank."

Dann seufzte Tserrina abermals, während ihr Augenmerk auf etwas in weiter Ferne lag. Scarramouche folgte ihrem Blick und erkannte Sharthir und Mayong, wie sie sich etwas abseits der Feier leise unterhielten. Fragend sah sie Tserrina an.

"Man trifft ihn nur auf wenigen Abendgesellschaften an", sagte sie schließlich verträumt und ohne den Blick von den beiden abzuwenden. "Er besucht ausschließlich die höherrangigen und politisch wichtigen Veranstaltungen Neriaks."

Scarramouche runzelte die Stirn, ein wenig verwirrt darüber, wen die Hexe meinte. "Wer nun genau?"

"Mein dunkler Prinz natürlich", antwortete Tserrina abwesend, während sie noch immer zu den beiden Männern hinüberstarrte. Inzwischen war Scarramouche sich sicher, dass sie wohl kaum Sharthir meinen konnte, also fragte sie zögernd: "Lord Nebelmoor?"

Wieder seufzte Tserrina, diesmal jedoch verzückt, dann nickte sie.

"Ein Traum von einem Mann", flüsterte sie, dann gelang es ihr endlich den Blick von ihm abzuwenden und Scarramouche anzusehen. "Ich hoffe, er findet nach dem Gespräch mit Eurem Verlobten noch einmal den Weg hierher - wie ich schon sagte: Man trifft ihn nicht oft auf solchen Feiern."

Scarramouche lächelte nur, antwortete jedoch nicht. Auf ein Neues fand sie den Einfluss, den Sharthir in Neriak haben musste, erschreckend; wie wichtig konnte seine Verlobung sein, dass sogar Persönlichkeiten wie das Königspaar, Tserrina Syl'Tor und Mayong Nebelmoor höchstpersönlich hier erschienen? Sie unterdrückte das Bedürfnis, ratlos mit dem Kopf zu schütteln. Insbesondere bei Mayong Nebelmoor konnte sie es kaum fassen - sie hatte bereits viel von ihm gehört: Er war mächtig, unfassbar mächtig - einige hielten ihn sogar für das mächtigste Wesen in ganz Norrath - und er lebte bereits so lange, dass man munkelte, er wäre persönlich dabei gewesen, als die Urmutter der Drachen, Veeshan, ihre Klauen in Norrath grub und damit die Welt schuf, in der Scarramouche heute lebte. Doch wie sie wusste, rankten sich noch andere Legenden und Gerüchte dunklerer Natur um Nebelmoor, welche ihr kalte Schauer über den Rücken jagten.

Schließlich riss Tserrina Scarramouche aus ihren Gedanken.

"Ich wünschte, er würde mich auch endlich fragen", murmelte die Hexe mehr zu sich selbst, als zu Scarramouche und ihr Blick ruhte auf deren Verlobungsring, den sie am Finger trug. Scarramouche sah überrascht auf, dann betrachtete sie ihre Hand. Der Ring glänzte kalt im schummrigen Licht.

"Wer? Lord Nebelmoor?", fragte sie verdutzt. Tserrinas Blick wurde geheimnisvoll und ein rätselhaftes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Scarramouche starrte sie ungläubig an, dann nickte Tserrina langsam.

"In der Tat", antwortete sie leise. "Er lässt mich schon viel zu lange warten..."

Scarramouche traute ihren Ohren kaum; es war nahezu unvorstellbar, dass sich ein solch mächtiges Wesen wie Mayong Nebelmoor mit einer einfachen Teir'Dal einlassen würde. Doch dann stockte sie. Tserrina Syl'Tor war keine einfache Dunkelelfe. Ihr Stammbaum reichte, wie Scarramouche wusste, weit bis in die frühesten Wurzeln der Teir'Dal-Geschichte und wurde nicht von einem einzigen Tropfen minderwertigen Blutes getrübt. Zudem war sie eine mächtige Magierin mit herausragenden Fähigkeiten; nicht umsonst trug sie nun den Titel "Illusionistin von Neriak". Sie war alles andere als eine gewöhnliche Teir'Dal.

Scarramouche musterte Tserrina forschend, dann flackerte ihr Blick kurzweilig zu Mayong.

Konnte es wirklich sein, dass ...?

"... Aber ranken sich nicht einige ... besorgniserregende Gerüchte um ihn ...?", fragte Scarramouche vorsichtig. " ... Es wird gemunkelt, er sei ein ..."

Sie brach ab, unsicher darüber, ob sie wirklich aussprechen sollte, was sie dachte.

"Ein Vampir, ja", beendete Tserrina ihren Satz. Dann kicherte sie leise.

"Alles Geschwätz; nichts von alledem wurde je bewiesen."

Scarramouche sah Tserrina überrascht an, dann bemerkte sie ihn erneut, diesen seltsamen Glanz in den Augen der Teir'Dal und erst jetzt begriff sie, was dieser bedeutete: Pure Begierde.

"Und selbst wenn es die Wahrheit wäre, fändet Ihr das nicht aufregend, Scarramouche?", fuhr Tserrina fort. "So düster, so mächtig und wunderschön ... und ... unsterblich."

Das letzte Wort hauchte Tserrina voll Ehrfurcht.

Scarramouche stutzte kurzzeitig, dann stimmte sie hastig zu. "Oh ja, in der Tat."

Und obwohl sie, wie alle Dunkelelfen, sehr wohl Gefallen an allem Finsteren fand, wurde ihr dennoch unwohl beim Gedanken an Mayong Nebelmoor und all die Geschichten, die sich um ihn rankten. Tserrina hingegen schien ihm gänzlich verfallen zu sein.

"Lange kann es nicht mehr dauern", murmelte Tserrina schließlich und wieder lag ihr Blick auf Lord Nebelmoor. "Er besucht mich in letzter Zeit immer häufiger - ich denke, ich werde ihm seinen kleinen Verrat endgültig verzeihen, wenn er mich endlich fragt."

Scarramouche blieb stumm, denn sie hatte das Gefühl, Tserrinas letzte Aussage war viel mehr ein laut ausgesprochener Gedanke, als dass er an sie gerichtet gewesen war. Noch immer fröstelte es sie beim Gedanken daran, dass Mayong Nebelmoor und Tserrina Syl'Tor tatsächlich ein Paar sein sollten, doch allmählich wich die Furcht einem prickelnden Gefühl der Aufregung, wenn sie sich vorstellte, welch Macht  diese beiden gemeinsam besitzen mussten.

Scarramouches Augen funkelten; Macht war etwas, nach dem sich jeder Teir'Dal verzehrte, und Macht war auch das, was Scarramouche begehrte. Tserrina hatte es bereits geschafft, sich damit Anerkennung, Ehrfurcht und Unterwürfigkeit zu verschaffen - sogar noch viel mächtigere Wesen wie Mayong Nebelmoor schenkten ihr nun Beachtung - und genau das war es, was Scarramouche ebenfalls erreichen würde. Irgendwann würde eine Assassine in Neriak in aller Munde sein; ihr Deckname würde mit Ehrfurcht ausgesprochen werden und alle jene, die gegen sie waren, ihr nur mit Furcht begegnen.

Ihre Zukunftsvisionen nahmen ein jähes Ende, als sie Sharthirs Präsenz wahrnahm und spürte, dass er näher kam. Scheinbar hatte er seine Unterhaltung mit Mayong beendet und war nun auf dem Weg zurück zu ihr und Tserrina. Letztere stellte mit Enttäuschung fest, dass Mayong nicht mit Sharthir zurückgekehrt war und sich nun am anderen Saalende beim Königspaar aufhielt.

"Ich muss mich nun leider empfehlen", sagte Tserrina daraufhin und hob entschuldigend die Schultern, doch ihre Augen verrieten kein aufrichtiges Bedauern; viel zu fixiert darauf war sie, so rasch wie nur möglich in Mayongs Nähe zu gelangen. "Ich habe selbst noch einige Angelegenheiten mit Lord Nebelmoor zu klären."

Scarramouche nickte höflich. "Dann halte ich Euch nur ungern davon ab."

"Habt noch einen wundervoll unseligen Abend, Scarramouche", erwiderte Tserrina und neigte zum Abschied den Kopf. "An der Seite von Lord T'Narem werden wir uns nun sicherlich öfter treffen."

Mit diesen Worten verabschiedete sie sich auch von Sharthir und schritt eilends davon. Scarramouche sah ihr nachdenklich nach, bis sie zwischen den anderen Gästen verschwunden war.

"Du hast dich mit ihr angefreundet?", fragte Sharthir interessiert an seine Verlobte gewandt.

"... Wenn Ihr es so nennen möchtet", antwortete Scarramouche geistesabwesend, noch immer in Gedanken bei Tserrina und Mayong.

"Du tätest gut daran. Tserrina Syl'Tor ist eine unglaublich mächtige Magierin und genießt, wie du siehst, hohes Ansehen hier in Neriak." Sharthir sah sie ausdruckslos an und doch bohrten sich seine Augen tief in die ihren. "Es kann unserer Familie nur von Nutzen sein, wenn du dich gut mir ihr stellst."

Scarramouches Gesichtszüge verhärteten sich; sofort wollte sie widersprechen, dass sie nicht zu "seiner" Familie gehörte, doch dann rief sie sich hastig ins Gedächtnis, wo sie sich gerade befand und welchen Schein sie wahren musste. Anstelle einer Antwort wechselte sie lieber das Thema.

"Ihr habt Lord Nebelmoor absichtlich von mir ferngehalten, nicht wahr?"

Sharthir hob eine Augenbraue und Scarramouche gab ihr Bestes, seinem forschenden Blick standzuhalten.

"So ist es", sagte er knapp, doch das genügte Scarramouche nicht.

"Weshalb?"

Sharthir antwortete nicht und Scarramouche wartete einen Moment, doch als er sich immer noch nicht äußerte, packte sie die Ungeduld und sie fragte erneut.

"Nicht hier." Wieder war seine Antwort karg und sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. "Halt dich einfach von ihm fern."

Verständnislos sah Scarramouche ihn an, doch Sharthir ignorierte sie und ließ den Blick durch den Saal schweifen.

"Dort vorne ist Lady Najena; wie es scheint, wünscht sie, mit uns zu sprechen", sagte er schließlich und Scarramouche unterdrückte einen lauten Seufzer, dann folgte sie ihrem Verlobten, der zu der Magierin hinüber schritt.

Lernen durch Praxis

Scarramouches Umhang raschelte leise, als sie sich von einem Felsvorsprung im Fremdenviertel Neriaks in eine verlassene Gasse fallen ließ. Ihre Augen spiegelten im Schein der blauen Fackeln, die die Straßen hier rund um die Uhr erleuchteten, was ihnen einen gefährlichen Glanz verlieh. Verstohlen sah sie sich um; die Gasse war wie ausgestorben, stellte sie zufrieden fest, dann zog sie sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und huschte lautlos weiter.

Anderthalb Monate waren seit der Verlobungsfeier dahin gezogen und die Hochzeitsvorbereitungen in vollem Gange. Kein Tag verging, an dem Sharthir nicht mit ihren Eltern im Kaminzimmer saß und über den Tagesablauf, die Einladungen oder die Gästeliste sprach. Scarramouches Meinung wurde hierbei selten beherzigt; da sie sich ohnehin sträubte und von alledem, was mit der Hochzeit zu tun hatte, nichts hören wollte, wurde sie erst gar nicht in die Vorbereitungsarbeiten miteinbezogen. Doch all dies kam der jungen Teir'Dal nur recht. Ihr Verlobter und auch ihre Eltern waren so mit der näher rückenden Hochzeit beschäftigt, dass alle drei es vernachlässigten, Scarramouche im Auge zu behalten. Seit mehr als einem Monat waren alle derart beschäftigt, dass niemand zu bemerken schien, dass sie schaltete und waltete, wie ihr gerade beliebte. Mit wenigen Ausnahmen war sie beinahe jede Nacht unbemerkt aus dem Haus geschlichen, hatte weitere Nachforschungen zum Assassinen-Handwerk in der Bibliothek angestellt, Informationen zusammengetragen und sich diese Tag für Tag genauer eingeprägt. Später war sie sogar einen Schritt weiter gegangen, indem sie heimlich angehende Assassinen bei ihren Lehrstunden in der Kundschafter-Gilde beobachtete, die oftmals bis tief in die Nacht andauerten.

Aus all diesen Informationen zog sie nun die Grundlage für ihr körperliches Training. Athletisch war sie schon immer gewesen, somit fiel es ihr nicht schwer, ihre Fitness schnell zu verbessern, und doch war sie erpicht darauf, gerade in Sachen Agilität, Ausdauer und Reaktionsvermögen Spitzenwerte zu erreichen. Nacht für Nacht hatte sie sich nicht nur aus dem Familien-Anwesen, sondern durch einen selten benutzten Ausgang auch aus der Stadt geschlichen, um im Dunkellicht-Wald auf einer entlegenen Lichtung, weitab von neugierigen Teir'Dal-Augen, ihren Trainingseinheiten nachzugehen.

Besser und besser waren ihre Fertigkeiten geworden, mit jeder weiteren Nacht, die sie auf der Lichtung verbrachte; waren es nun ihre Schleichkünste oder die Schnelligkeit. Nur eines bereitete ihr nach wie vor Probleme: Ihre Waffenkünste.

Ohne einen richtigen Trainingspartner war es nicht möglich, einen vernünftigen Übungskampf auszufechten und so musste sie sich mit ihrer improvisierten Übungspuppe begnügen, wodurch sie allerdings nicht behaupten konnte, wirklich Fortschritte zu machen.

Vor kurzem erst hatte Scarramouche auf dem Schwarzmarkt anonym zwei hochwertige Stiletts erworben. Das nötige Kleingeld hierfür resultierte aus dem Verkauf eines Paars wertvoller Ohrringe aus ihrer Schmuck-Sammlung. Zuerst war sie versucht gewesen, ihren verhassten Verlobungsring zu verkaufen, denn dieser wäre sicherlich einiges mehr wert gewesen, doch sie ihr war klar gewesen, dass Sharthirs Zorn darüber grenzenlos gewesen wäre, also hatte sie den Gedanken alsbald wieder verworfen. Umso frustrierter war sie nun, ihre neu erworbenen Waffen nicht richtig einsetzen zu können.

Auch jetzt, in diesem Moment, hingen ihre beiden Schätze, verborgen in schwarzen Lederscheiden, zu beiden Seiten ihrer Hüfte, doch sollten sie heute noch nicht zum Einsatz kommen. Heute Nacht war sie unterwegs, um ihren ersten Auftrag an Land zu ziehen. Sie war schon vor einigen Tagen zu dem Schluss gekommen, dass sie bereit dafür war. Sie hatte enorm viel gelernt und sich stetig verbessert und sie war davon überzeugt, dass sie Talent für das Handwerk der Assassinen besaß, sonst wäre es ihr nicht möglich gewesen, all dieses Wissen in so kurzer Zeit zu meistern. Ihren einzigen Schwachpunkt, ihre mangelnde Erfahrung im bewaffneten Zweikampf, konnte sie außerdem nur durch Übung beseitigen und da ihr diese auf dem üblichen Weg verwehrt blieb, sah sie sich gezwungen, gleich zur richtigen Praxis überzugehen. Es war gefährlich, das war Scarramouche vollauf bewusst; es konnte soviel schief gehen, doch sie war bereit, das Risiko einzugehen. Nicht zuletzt das Vertrauen in ihre Fähigkeiten trieb sie dazu, diesen Schritt zu wagen.

Das Fremdenviertel lag noch immer wie ausgestorben vor ihr, doch Scarramouche wusste, dass sich dies rasch ändern würde, wenn sie weiter in diesen etwas abgelegenen Teil der Stadt Neriak vordringen würde. Hier lebten Oger, Trolle, Halbelfen und all der restliche Abschaum, den die Teir'Dal sich als Untergebene und Handlanger hielten, denen es aber nicht gestattet war, sich in den prächtigeren Gegenden der Stadt des Hasses aufzuhalten. Das Fremdenviertel galt als eine besonders zwielichtige Gegend, die von Gewalt und Verbrechen beherrscht wurde, und wenngleich sich die Teir'Dal auch an solchen Dingen ergötzten, hielten sich die meisten lieber fern von diesem würdelosen Ort. Doch all das, worauf die Dunkelelfen und auch Scarramouche so verachtungsvoll herabblickten, wollte sie sich heute Nacht zunutze machen.

Die junge Teir'Dal folgte der Straße, die sie tiefer in das Fremdenviertel führte, ins Erste Tor von Neriak hinein. Mehr als ein schemenhafter Umriss war nicht zu sehen, als sie sich geräuschlos von Schatten zu Schatten bewegte, darauf bedacht, das spärliche Licht der blauen Laternen zu meiden. Und sie tat gut daran, nicht entdeckt zu werden, denn je weiter sie hier vordrang, desto mehr zwielichtige Gestalten trieben sich in den heruntergekommenen Gassen umher und blickten sich voller Misstrauen um.

Schon bald drangen lärmende Geräusche an Scarramouches Ohr und verrieten ihr, dass ihr Ziel bereits ganz in der Nähe war. Und tatsächlich, nachdem die Teir'Dal eine weitere Seitengasse hinter sich gelassen hatte, hatte sie es endlich gefunden: Das Gasthaus "Zum Kichernden Schädel".

Scarramouche lächelte zufrieden, was aber hinter dem Schleier, der ihr Gesicht bis zum Nasenrücken verdeckte und nur ihre Augen freigab, nicht zu erkennen war. Sie zog sich ihre Kapuze nochmals tiefer ins Gesicht, um sicher zu gehen, wirklich nicht erkannt zu werden, blickte sich  verstohlen um und huschte zum Wirtshaus hinüber. Schon jetzt schallte ihr lärmender Tumult aus dem schäbigen Haus entgegen, doch sie ließ sich davon nicht beirren, zog die Tür auf und ließ sich unauffällig hineingleiten.

Sofort schlug ihr starker Alkohol-Geruch gemischt mit Schweiß und anderen unangenehmen Körpergerüchen entgegen und sie rümpfte angewidert die Nase. Auch der Lärmpegel hier war kaum auszuhalten - Lautes Stimmengewirr, ungehobeltes Gelächter, hie und da ausgerufene Flüche und auch gelegentliche Schreie erfüllten den Schankraum und waren ein drastischer Unterschied zu der unheimlichen Stille außerhalb des Wirtshauses. All dies ließ Scarramouche zunächst innehalten, doch nur einen Augenblick später fasste sie sich wieder und rief sich in Erinnerung, nicht allzu lange in der Tür stehen zu bleiben und unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die junge Teir'Dal ließ den Blick flüchtig durch den Raum schweifen, dann bahnte sie sich einen Weg durch die gut besetzte Schankstube, um sich in einer entlegenen Ecke an einem freien Tisch niederzulassen. Scarramouche war doch etwas überrascht, wie viel Gesindel sich hier herumtrieb, doch sie konnte davon nur profitieren, denn unter all diesen zwielichtigen Gestalten fiel sie überhaupt nicht auf.

Niemand schien sie zu beachten. Der Tisch, für den sie sich so spontan entschieden hatte, erwies sich als eine gute Wahl. Er lag zwar etwas abseits, doch von dieser Position aus hatte man den gesamten Schankraum bestens im Blick und konnte auch die Eingangstür stets im Auge behalten. Die Bedienung, eine Trollfrau, die ganz fürchterlich stank, kam zu Scarramouches Tisch geeilt und die Dunkelelfe bestellte mit bewusst tiefer, rauchiger Stimme einen Humpen Dunkelbier. Als die Trollfrau davoneilte, atmete Scarramouche erleichtert auf, dann begann sie sich aufmerksam im Raum umzusehen.

Wie erwartet trieb sich hier die unterste Bürgerschicht von Neriak herum, doch die Stimmung im Wirtshaus war überraschend zwiespältig. Wo einige Trolle ausgelassen und äußerst flegelhaft feierten und damit maßgeblich zu dem völlig überhöhten Lärmpegel beitrugen, zettelten am anderen Ende des Raums ein paar mit Muskeln überladene Oger eine Schlägerei an. Wirklich zu stören schien das hier jedoch niemanden, eher im Gegenteil, denn die Prügelei fand begeisterten Zuspruch der feiernden Trolle, die den Ogern nun zujubelten und Wetten auf den Sieger abschlossen. Einige Gäste wiederum schienen zu betrunken, um von der Rauferei überhaupt Notiz zu nehmen, wieder andere betrieben offenbar zwielichtigen Handel in abgeschiedenen Ecken.

Scarramouches Augen wanderten weiter zu der Treppe am anderen Ende des Raumes, die ins Obergeschoss führte, wo sie einige Gasthaus-Zimmer vermutete. Ihr Blick wurde verächtlich, als sie am Fuß der Treppe ein paar Halbelfinnen entdeckte, die ihrer Aufmachung nach zu urteilen in den besagten Räumen Liebesdienste anboten.

Kein Wunder, dass das Fremdenviertel in Neriak mehr als verrufen war und jeder Teir'Dal, der auch nur ein wenig von sich hielt, einen großen Bogen um diesen Teil der Stadt machte. Doch genau aus diesen Gründen versprach Scarramouche sich viel von dieser Gegend.

Die Troll-Bedienung kehrte zurück - und mit ihr auch ihr Übelkeit erregender Gestank - und brachte Scarramouche das Dunkelbier, das sie bestellt hatte. Die Teir'Dal zog den Krug zu sich heran, doch sie hatte nicht vor, auch nur einen Schluck davon zu nehmen; zum Einen hätte sie dafür ihren Schleier beiseite ziehen und damit ihr Gesicht entblößen müssen, zum anderen würde sie dieses trübe Gesöff dieser Herumtreiber hier ohnehin nicht anrühren. Davon einmal abgesehen hatte sie eher eine Vorliebe für Wein, aber edlere Tropfen wie diese wurden hier sicherlich nicht angeboten.

Doch ein Gast, der ohne Getränk oder Gesellschaft ganz allein am Tisch saß, würde nur unnötig verdächtig wirken, daher legte Scarramouche nun beide Hände um den Krug und ließ den Blick erneut aufmerksam durch den Schankraum schweifen.

Etwa eine dreiviertel Stunde zog so dahin, ohne dass etwas Nennenswertes geschah. Dann endlich, als Scarramouche schon langsam Zweifel kamen, erhaschte sie einen Gesprächsfetzen, der viel versprechend klang. 

"Nein ... du hast schon richtig verstanden. Er hat es schon wieder getan", konnte sie eine Halbelfe mittleren Alters zu ihren Freundinnen sagen hören. Scarramouche setzte sich unauffällig auf und spitzte die Ohren. Im Schankraum war es noch immer sehr laut, sodass sie sie genau hinhören musste, um die Unterhaltung zu belauschen.

"Als wäre es nicht genug, dass er ständig fremd geht - letzte Nacht hat er mich mal wieder im Suff verprügelt." Die Halbelfe saß mit zwei anderen Ayr'Dal an einem Tisch, nicht weit entfernt von Scarramouche und sie schien sichtlich erzürnt, denn kaum hatte sie ihren Satz beendet, spuckte sie wütend aus. Scarramouche rümpfte die Nase, was unter ihrer Verschleierung allerdings nicht zu sehen war.

Eine der Ayr'Dal-Freundinnen schüttelte verächtlich den Kopf. " ... Er ist wirklich das Letzte. Ich hab dir schon so oft gesagt, dass du dir das nicht länger gefallen lassen sollst!"

"Trenn dich endlich von ihm!", forderte die andere, die ihr gegenüber saß, doch die betroffene Halbelfe schwieg nachdenklich.

Es folgte eine lange Pause, dann endlich antwortete sie. Ihre Stimme war gedämpft, sodass Scarramouche aufmerksam lauschen musste, um sie verstehen zu können.

"Eigentlich hatte ich nicht vor, mich von ihm zu trennen ..." 

Die beiden Freundinnen der Ayr'Dal öffneten sofort empört den Mund, doch sie sprach bereits weiter.

" ... Eigentlich wollte ich ihn komplett loswerden."

Scarramouche hob unauffällig den Kopf, während ein interessierter Glanz in ihre Augen trat.

"Soll das etwa heißen, dass du ihn töten willst?", tuschelte die dunkelhaarige Freundin aufgeregt und sah sich sogleich verstohlen im Schankraum um. Scheinbar fürchtete sie, dass jemand sie belauschen könnte, was Scarramouche amüsiert schmunzeln ließ. 

Wieder zögerte die betroffene Halbelfe, dann antwortete sie langsam. "Ich dachte eher an töten lassen. Ich mach' mir an diesem Mistkerl doch nicht selbst die Hände schmutzig." Wieder trat eine kurze Stille ein, dann seufzte die Halbelfe.

"Leider sind die Assassinen der Schwarzmetall-Maske schier unbezahlbar ..."

Ihre beiden Freundinnen warfen sich einen flüchtigen Blick zu. 

"Naja, sie stehen im Dienste des Königshauses und führen ihre Aufträge nur für Neriak selbst aus. Jeglicher, anderweitig angenommener Auftrag ohne das Wissen des Königs ist strafbar und wird streng geahndet. Sowohl beim Auftraggeber als auch bei der ausführenden Assassine", erklärte die Ayr'Dal, die links von der wütenden Ehefrau saß.

"Das weiß ich doch", antwortete diese gereizt, dann senkte sie erneut die Stimme und sah sich verstohlen im Raum um, bevor sie weiter sprach. " ... Aber man hört ja immer wieder auch von so genannten "wilden Assassinen". Assassinen, die nicht der Schwarzmetall-Maske angehören."

Die beiden Freundinnen sogen scharf die Luft ein. " ... Das sind Gesetzlose, Komakie ... Sie werden von der Wache gesucht!"

"Tse, hier im Fremdenviertel kennt man kein Gesetz", antwortete Komakie und winkte ungeduldig ab. "Leider sind gerade die wilden Assassinen äußerst gerissen ... Eine von ihnen ausfindig zu machen, wird sicherlich nicht einfach."

Scarramouche erhob sich. Sie hatte genug gehört. Klirrend ließ sie ein paar Silbermünzen auf den Tisch fallen, um den Krug Dunkelbier zu bezahlen, den sie nicht mal angerührt hatte, dann bahnte sie sich einen Weg durch den belebten Schankraum und trat aus dem Wirtshaus, hinaus in die Dunkelheit.

 Hier draußen war alles still; die Tür, die hinter ihr ins Schloss fiel, dämpfte das laute Treiben im Innern des Gasthauses und Scarramouche sah sich verstohlen um. Die Gasse war vollkommen verlassen. Noch einmal sah sie sich aufmerksam um und vergewisserte sich, dass wirklich niemand hier war, der sie beobachten könnte, dann legte sie einen Unsichtbarkeitszauber über sich und lehnte sich gegen die Hauswand, neben der Eingangstür des Gasthauses und wartete.

Lange Zeit geschah gar nichts, dann öffnete sich erstmals die Eingangstür und eine Gruppe schwatzender, nach Alkohol stinkender Trolle kam aus dem Wirtshaus. Scarramouche rührte sich nicht von der Stelle und sah ihnen schweigend nach, bis sie wankend in der Dunkelheit verschwunden waren. Dann wurde es wieder still.

Erneut strich eine ganze Weile ins Land und Scarramouche verlor allmählich das Zeitgefühl. Die Nacht musste inzwischen weit fortgeschritten sein und wenn sie rechtzeitig zu Hause sein wollte, bevor ihre Eltern ihre Abwesenheit bemerkten, dann durfte es nun nicht mehr allzu lange dauern. Nur wenige Minuten später öffnete die Tür sich ein weiteres Mal und Scarramouches Blick gewann an Schärfe.

Die von ihrem Ehemann gepeinigte Halbelfe - Komakie, wie ihre Freundinnen sie genannt hatten - verließ endlich das Gasthaus. Als die Tür hinter ihr geräuschvoll ins Schloss fiel, blieb sie einen Augenblick stehen und zog fröstelnd ihren zerfledderten Umhang zu. 

"... Tse, als würden die beiden verstehen können, was dieser Dreckskerl mir Tag für Tag antut ..." , murmelte sie undeutlich zu sich selbst und ihre Miene verfinsterte sich sichtlich. "Eine Trennung würde all das nicht einmal ansatzweise vergelten, pah! Dass ich  nicht lache!" Komakie schnaubte verächtlich und spuckte erneut aus, wie sie es zuvor im Gasthaus bereits getan hatte. "Bertoxxulous soll ihn holen! Besser jetzt als später!"

"Vielleicht könnte ich Abhilfe schaffen."

Komakie wirbelte überrascht herum. Scarramouche war aus den Schatten getreten und hatte ihren Unsichtbarkeitszauber abgelegt. Nun sah sie der Halbelfe fest in die Augen. "Ich bin zwar weder der Herr der Seuchen, noch irgendein anderer Gott, aber vielleicht bedarf es gar nicht der Hilfe des Pantheons."

Komakie musterte die Teir'Dal misstrauisch, doch neben all dem Argwohn in ihren Augen konnte Scarramouche ebenso Interesse aufflammen sehen.

"Wer seid Ihr?", fragte die Ayr'Dal zögernd und ohne das Misstrauen in ihren Zügen abzulegen. Scarramouche lachte leise und schüttelte amüsiert den Kopf.

"Das hat keinerlei Bedeutung. Wäre es denn nicht wichtiger, dass ich weiß, wer Euer Mann ist?"

Komakies Augen weiteten sich, als sie begriff, worauf Scarramouche anspielte.

"Ihr ... Ihr seid ...", stammelte sie aufgeregt und trat einen Schritt zurück. " ... eine Assassine?"

"Wenn Ihr es so nennen möchtet", antwortete Scarramouche geheimnisvoll. "Ich habe Euer Gespräch im Gasthaus vorhin mitbekommen. Ich könnte Euch ein annehmbares Angebot machen."

Komakie sah sie forschend an; sie schien zu überlegen und die Vor- und Nachteile dieser unerwarteten Chance abzuwägen. Scarramouche wartete schweigend, bis sie antwortete.

"Ich nehme an, Ihr seid ... keine Assassine der Schwarzmetall-Maske ...?", fragte sie schließlich zögerlich und Scarramouche schüttelte wortlos den Kopf. Wieder wurde Komakies Blick nachdenklich, dann schien sie einen Entschluss zu fassen. 

"Wie viel wollt Ihr?"

Ein breites Grinsen des Triumphs trat auf Scarramouches Gesicht, welches Komakie durch ihre Verschleierung nicht sehen konnte und sie antwortete: "Lasst uns das am besten an einem ruhigeren Ort wie diesem besprechen."

 

* * *

 

Am liebsten hätte Scarramouche in ihrem Triumph laut aufgelacht, als sie auf dem Rückweg zum V'Oziar-Anwesen durch die menschenleeren Straßen Neriaks huschte. Sie war sich zwar sicher gewesen, gute Chancen auf einen Auftrag im Fremdenviertel, diesem gottverlassenen Teil von Neriak, zu haben, jedoch konnte sie, nun wo es soweit war, es irgendwie doch nicht recht fassen, dass sie es tatsächlich auf Anhieb geschafft hatte. Endlich war der erste Stein zu ihrem ruhmreichen Schicksal gelegt - und auch zu Sharthirs Untergang. Bei diesem Gedanken blitzten Scarramouches eisblaue Augen euphorisch und sie konnte es kaum erwarten, mit ihrer Arbeit zu beginnen. Doch für heute war alles erledigt; es war bereits spät, zu spät um sich noch auf die Suche nach ihrem Opfer zu machen und es zu finden, bevor der Tag anbrach. Sie musste sich beeilen, um noch rechtzeitig zu Hause zu sein, bevor ihre Abwesenheit am Morgen bemerkt werden würde.

Erst in der darauf folgenden Nacht würde sie losziehen und damit beginnen, ihr Opfer zu beschatten, all seine Gewohnheiten und Eigenheiten herausfinden, seine Wege auszukundschaften und schließlich die perfekte Gelegenheit abzupassen, ihm ein unerwartetes Ende zu bereiten. Die junge Teir'Dal grinste breit in sich hinein, während sie durch den verlassenen Hafenmarkt  lief, stets darauf bedacht, sich ungesehen in den Schatten zu halten. Eigentlich würde sie am liebsten jetzt gleich mit ihrer Arbeit beginnen, doch sie übte sich in Geduld. Ein weiteres wichtiges Attribut einer Assassine, das sie sich noch aneignen musste. Wie eine Katze vorm Mauseloch stundenlang unermüdlich warten konnte, so musste auch Scarramouche lernen, sich zu gedulden, um den richtigen Moment abpassen zu können, in dem sie zuschlug. In überstürzter Überschwänglichkeit würde sie nur der Wache in die Hände fallen - oder ihren Eltern, denn inzwischen war sie zu Hause angekommen und nun zwang sie sich selbst zur Ruhe, um in ihrer Euphorie nicht dabei entdeckt zu werden, wie sie zurück in ihr Zimmer schlich.

Nichts dergleichen geschah. Im Haus war es still und wenige Momente später schloss Scarramouche lautlos die Zimmertür hinter sich. Rasch zog sie sich um und versteckte Umhang, Lederstiefel und Stiletts, und schlüpfte gleich darauf unter die Bettdecke. Allerdings war sie nun hellwach, zu aufgekratzt durch ihren Erfolg, als dass sie einschlafen könnte und so grübelte sie noch eine Weile vor sich hin.

Die Hochzeit mit Sharthir mochte näher und näher rücken, doch heute war sie auch ihrer Rache an ihm einen ganzen Schritt näher gekommen. Sie würde ihm jedes falsche Wort, jede Tat und jeden anzüglichen Blick heimzahlen; er hatte sich definitiv mit der falschen Teir'Dal angelegt. Mit einem zufriedenen, schon beinahe unheimlichen Lächeln überkam sie bei diesem Gedanken letztendlich doch der Schlaf.

Die Stunden zogen dahin und während außerhalb von Neriak in Norrath die Sonne aufging, machte sich der Tagesanbruch in der Stadt selbst nur dadurch bemerkbar, dass die Straßen sich mit Teir'Dal füllten, die ihren Geschäften nachgingen. Anstelle von Vogelzwitschern hörte man hier nur das schrille Kreischen von verspäteten Fledermäusen, die in den unterirdischen Gewölben von Neriak noch einen Unterschlupf zum Schlafen suchten und mit hektischen Flügelschlägen über die Köpfe der Teir'Dal hinweg flogen. In ihren fensterlosen Räumen bekam Scarramouche von alledem nichts mit. Auch wenn sie es selbst kaum wahrgenommen hatte, war die letzte Nacht anstrengend gewesen und ihre Erschöpfung machte sich nun durch einen tiefen Schlaf bemerkbar, der inzwischen bereits bis in den frühen Nachmittag andauerte. Trotz der vielen Stunden, die seither vergangen waren, war das zufriedene Lächeln auf Scarramouches Lippen nicht verschwunden, denn auch im Traum hing sie gerade dem Assassinen-Handwerk und ihren Rachegelüsten nach. Sie schlief so fest, dass sie weder merkte, dass sich ihre Zimmertür öffnete, noch dass jemand in den Raum trat. Erst als schwacher Kerzenschein ihre düsteren Gemächer erhellte und dieser schließlich auch über ihr Gesicht wanderte, verblasste das Lächeln und wich einer verkniffenen Grimasse. Kurz darauf schlug sie, in einem plötzlichen Anflug von Unbehagen, die Augen auf.

"So zufrieden wie du im Schlaf lächelst, könnte man meinen, du träumst von unserer Hochzeit."

Beim Ertönen von Sharthirs Stimme gefror Scarramouche augenblicklich das Blut in den Adern. Er hatte die Vorhänge ihres Bettes beiseite geschoben und stand mit einem Kandelaber in der Hand über sie gebeugt, um seine Verlobte genauer mustern zu können. Diese gebeugte Haltung verlieh ihm eine noch bedrohlichere Ausstrahlung als er ohnehin schon verströmte und Scarramouche zuckte bei seinem Anblick zusammen und schnellte mit beinahe abnormer Geschwindigkeit ans andere Ende des Bettes.

"Was habt Ihr in meinen Gemächern verloren?!", blaffte sie ihn entrüstet an; sie schaffte es nicht, die Gleichgültigkeit aufrecht zu erhalten, die sie sonst in seiner Gegenwart immer an den Tag zu legen pflegte - nicht in dieser Situation. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie fühlte sich bloß gestellt - er hatte sie schlafend gesehen, völlig ahnungslos, völlig ungeschützt und nun saß sie ihm im Nachthemd gegenüber und starrte ihn mit vor Schreck geweiteten Augen an. Bei diesem Gedanken wurde sie knallrot.

Sharthir entging dies keinesfalls und er schien sich köstlich darüber zu amüsieren. Scarramouche wurde wütend.

"Gemach, gemach", antwortete er mit einem unheimlichen Lächeln, das Scarramouche nicht mochte. "Die Vorbereitungen für unsere Hochzeit sind schon bald in den letzten Zügen, doch leider hältst du dich, was diese betrifft, ziemlich zurück. Wir hatten vereinbart, dass wir heute zur Mittagsstunde eine weitere Besprechung abhalten, der du auch beiwohnen wolltest, erinnerst du dich?" Er klang ungehalten.

Verdammt, schoss es Scarramouche durch den Kopf. Er hatte Recht; in ihrem Siegesrausch gestern Nacht hatte sie diese lästige Zusammenkunft völlig vergessen. Wie spät ist es?

Er schien ihre Gedanken zu erahnen. "Seit dem Mittag ist bereits eine Stunde vergangen. Deine Eltern waren in Sorge über diese Verspätung und ich habe mich erboten, nach dir zu sehen und sicherzustellen ..." Seine Augen wurden kaum merklich schmäler. "... dass alles in Ordnung ist."

Scarramouche wurde flau im Magen. Es fühlte sich an, als hätte sie einen riesigen Eisklumpen im Ganzen verschluckt. Zum ersten Mal hatte sie ihm nichts entgegenzusetzen; zu unvermittelt war sie aus dem Schlaf gerissen worden, als dass sie nun schlagfertig auf Sharthir reagieren konnte. Sie starrte ihn einfach nur an und sie war sich sicher, dass er etwas ahnte, doch ihre Gedanken waren ein einziges Chaos, welches es ihr unmöglich machte, ihm zu antworten. Doch dann, ganz plötzlich wallte siedende Wut in ihr auf und vermischte sich mit blanken Hass und ihr Verstand begann sich augenblicklich zu klären.

"Das gibt Euch noch lange nicht das Recht, einfach ungefragt die Gemächer einer Frau zu betreten!", brauste sie auf, nachdem sie endlich die Sprache wieder gefunden hatte. "Wie Ihr unschwer erkennen könnt, bin ich immer noch im Nachtgewand, wie lange also wollt Ihr noch hier stehen und mich bega-" Noch ehe sie das Wort ausgesprochen hatte, waren Sharthirs Augenbrauen warnend in die Höhe geschnellt und seine Augen glänzten gefährlich, sodass sich Scarramouche im letzten Moment eines Besseren besann. "... mich ... anstarren?"

Seine Gesichtszüge entschärften sich ein wenig und sofort wallte Ärger in Scarramouche darüber auf, wie leicht sie sich von ihm einschüchtern ließ. Doch sie hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn Sharthir antwortete bereits.

"Geradezu liebreizend, wie du dich schämst", säuselte er, doch seine Augen verrieten nichts als Hohn und Spott. "Doch es besteht keinerlei Notwendigkeit dafür, Liebste. In Kürze wird dies ohnehin kein ungewohnter Anblick mehr für mich sein - dies und noch viel mehr." Seine Augen blitzten bei diesen Worten und der Eisklumpen in Scarramouches Magen schien auf das Doppelte anzuschwellen. Sie fröstelte.

Sharthir hatte sich vom Bett zurückgezogen, schritt zur Tür hinüber und während er sie aufzog, wandte er sich noch einmal um und sagte: "Was auch immer du gestern Nacht wohl getrieben haben magst, ich erwartete dich in einer halben Stunde gemeinsam mit deinen Eltern unten im Kaminzimmer. Und wage es nicht, dich nochmal auch nur um eine Minute zu verspäten."

Mit diesen Worten verließ er ihre Gemächer und die Tür fiel geräuschvoll hinter ihm ins Schloss. Scarramouche blieb regungslos zurück, während eine Woge der Verzweiflung drohte, sie zu übermannen. Noch immer war ihr eisig kalt und sie begann zu zittern. Eine ganze  Weile saß sie auf ihrem Bett; von ihrem Triumph-Gefühl der letzten Nacht war nichts mehr zu spüren und ihre Gedanken kreisten einzig und allein um die Tatsache, dass sie dieses kaltblütige, grausame Monster heiraten musste - und kein Weg daran vorbei führte. Zum ersten Mal stiegen Tränen in ihr auf und der Kloß in ihrem Hals verdichtete sich, doch dann riss sie sich zusammen und rieb sich energisch die Augen.

Für den Moment würde sie sich beugen, ja, aber das war nur der Augenblick, in dem sie zum Sprung ansetzte. Sie durfte sich nicht so leicht von Sharthir einschüchtern lassen - und sie musste ihm Glauben machen, dass sie ihm gehorchte. Sie atmete noch einmal tief durch, dann schwang sie sich aus dem Bett. Ihre Stunde würde kommen, sie musste nur geduldig sein. Scarramouche öffnete die Zimmertür und rief in den Flur hinaus nach ihrer Dienerin, welche nur wenige Augenblicke später herbeigeeilt kam, um ihr beim Ankleiden behilflich zu sein.

 

* * *

 

Pünktlich eine halbe Stunde später stand Scarramouche vor der schweren Holztür, die das Kaminzimmer von der Eingangshalle trennte. Unschlüssig starrte sie auf das glatt polierte Holz. Das Herz schlug ihr unruhig in der Brust und ihr Widerwillen, einzutreten, hätte nicht größer sein können - nicht umsonst hatte sie nie bei irgendwelchen Gesprächen, die ihre Hochzeit mit Sharthir betrafen, teilnehmen wollen. Doch nun führte kein Weg mehr daran vorbei und es hatte keinen Zweck, sich gegen etwas zu sträuben, was unvermeidlich war, also seufzte sie lautlos, nahm eine würdevolle Haltung ein und klopfte an.

"Herein", ertönte die Stimme von ihrem Vater und Scarramouche zog die Tür auf und trat ein.

Vor ihr bot sich das gewohnte Bild - Ihr Vater Nador saß auf dem linken Sessel vor dem Kamin, ihre Mutter Eliha auf dem Sessel ihm gegenüber und Sharthir zwischen den beiden, die Beine überschlagen, auf dem Sofa. Diesmal schluckte Scarramouche ihren Stolz hinunter.

"Entschuldigt die Verspätung", sagte sie und schritt durch den Raum, um sich zur Überraschung aller unaufgefordert und ohne unnötig übertriebenen Abstand neben Sharthir niederzulassen.  Sie strich ihr Kleid zurecht, hob anmutig den Kopf und blickte in die verwunderten Gesichter ihrer Eltern.

"Was habe ich versäumt?"

Ihre Frage verhallte im Raum; nur das Knistern der Flammen im Kamin war zu hören, ansonsten war es totenstill. Scarramouche konnte Sharthirs undeutbaren Blick auf sich ruhen spüren und sie wandte den Kopf, um ihn anzusehen. Seine kalten Augen bohrten sich sofort in die ihren, tiefer und tiefer, doch sie hielt seinem einschüchternden Blick stand, dann schenkte sie ihm ein flüchtiges, zugeneigtes Lächeln und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Eltern, die sie irritiert musterten.

"Nichts, wir sind lediglich die Gästeliste noch einmal durchgegangen", antwortete ihr Vater schließlich, nachdem er sich wieder gefasst hatte. Das Verhalten seiner Tochter schien ihm nur allzu ungewöhnlich.

"Verstehe", antwortete Scarramouche, dann wandte sie sich direkt an Sharthir. "Hat sich bei den Gästen im Vergleich zur Verlobungsfeier etwas verändert?"

Im Augenwinkel konnte sie erkennen, dass Nador und Eliha sich ratlos ansahen und selbst Sharthir schien überrascht, dass sie ihn aus eigenen Stücken direkt ansprach, was sie noch nie zuvor getan hatte. Doch nicht mehr als eine leicht gehobene Augenbraue als Gefühlsregung ließen seine Verwunderung erahnen, bevor sein Blick berechnend wurde und Scarramouche schlagartig das Gefühl hatte, als würde die Temperatur im Raum gen Null sinken. Sie unterdrückte ein Frösteln, während er sie forschend musterte, und wartete geduldig auf seine Antwort.

"Nicht wirklich", erwiderte er schließlich, als er den Blick endlich von ihr losriss. Scarramouche wusste sofort, dass er am schwierigsten von allen zu täuschen sein würde. "Lediglich einige wichtige Persönlichkeiten werden diesmal anwesend sein, die bei unserer Verlobung verhindert waren: Prinz Talvus Thex, Prinz Tarant Thex mit Prinzessin Sulsera ... Lord D'Vinn ..."

Scarramouche horchte auf. "Lord D'Vinn ist von seiner Mission in Faydwer zurückgekehrt?"

"So ist es. Er ist zurückgekehrt, um König Thex einen ausführlichen Bericht über seine Aufgabe als Diplomat bei den Knochenbrecher-Orks zu erstatten und lässt es sich bei der Gelegenheit natürlich nicht nehmen, an unseren Feierlichkeiten teilzunehmen, bevor er wieder nach Faydwer aufbricht", antwortete Sharthir und schwenkte gemächlich sein Weinglas. Scarramouche nickte langsam, dann ergriff Nador das Wort.

"Die Einladungen wurden bereits verschickt, für die Bewirtung ist ebenfalls schon alles in die Wege geleitet und die Speisekarte steht ebenso ", erklärte er und sah seine Tochter an. "Die Vorbereitungen für das Abendprogramm sind in den letzten Zügen. Lord T'Narem wird einige seiner besten Künstler und Sänger aus der Nachtlied-Oper zur Verfügung stellen."

Scarramouches Blick huschte zu Sharthir und dieser nickte mit einem selbstgefälligen Lächeln. "In der Tat."

Für einen kurzen Moment zögerte sie, dann fragte sie langsam: "Wenn die Vorbereitung bereits so weit abgeschlossen ist, weshalb wurde ich dann hergebeten?"

"Um dich über den aktuellen Stand der Dinge zu informieren", antwortete ihr Vater mit einer ungeduldigen Handbewegung. "Immerhin ist dies deine Hochzeit. Außerdem wird der Schneider in Kürze wegen der Anprobe deines Hochzeitskleids eintreffen."

"Ich verstehe", antwortete Scarramouche und bemühte sich um einen neutrale Miene, wo sie doch überhaupt keine Lust auf eine Kleid-Anprobe hatte.

"Des Weiteren", warf Sharthir plötzlich ein und alle Anwesenden wandten sich zu ihm um. "... müssen wir den Umzug besprechen. Unsere Vermählung findet in weniger als anderthalb Monaten statt und ich erwarte, dass meine Braut nach den Feierlichkeiten mit mir in ihr neues Heim kommt - ohne davor noch einmal in ihr Elternhaus zurückkehren zu müssen."

Er sprach mit einer Dringlichkeit, die unmissverständlich klarmachte, dass er in dieser Angelegenheit keinerlei Widerspruch duldete. Scarramouches Magen zog sich unangenehm zusammen; in letzter Zeit hatte sie ihr künftiges Zusammenleben mit Sharthir so gut es ging verdrängt, doch nun kam all die Furcht und Unsicherheit mit einem Schlag zurück. Bemüht sich nichts dergleichen anmerken zu lassen, blickte sie wortlos zwischen ihren Eltern und Sharthir hin und her.

"Ganz recht", meldete sich nun erstmals Eliha zu Wort und wandte sich an ihre Tochter. "Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn du deinen Dienern schon einmal zeigst, welche Dinge du vorerst nicht benötigst, damit diese schon jetzt in Lord T'Narems Anwesen gebracht werden können, damit der eigentliche Umzug schneller von statten geht."

Inzwischen hatte Scarramouche wahrhaftig Mühe ihre Beunruhigung zu verbergen und sie konnte spüren, wie alle Blicke im Raum auf ihr ruhten. Sie konnte nicht schon jetzt ihre Farce auffliegen lassen, also widerstand sie dem Drang, tief durchzuatmen und sah Sharthir stattdessen zurückhaltend an.

"Ist es denn in Ordnung, wenn ich meine Sachen jetzt schon zu Euch bringen lasse?"

Sharthirs Gesichtszüge regten sich nicht; wieder sah er seine Verlobte durchdringend an und Scarramouche war sich mehr und mehr sicher, dass er durchschaute, was sie vorhatte. Er würde sich nicht so leicht von ihr umgarnen lassen, schon gar nicht, nachdem sie all die Zeit so widerspenstig gewesen war. Doch sie ließ sich davon nicht beirren und warf ihm einen fragenden Blick zu.

"Natürlich." Er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Je schneller das Ganze vonstatten geht, desto besser." Dann blitzen seine Augen gefährlich und ehe Scarramouche realisierte, was er tat, hatte er den Arm um sie gelegt und sie zu sich herangezogen.

"Seid versichert, Lord und Lady V'Oziar, bei mir wird ihr an nichts fehlen", sagte er an Scarramouches Eltern gewandt, während er sie an sich drückte. Derart überrumpelt von seiner plötzlichen Aktion versteifte sie sich, doch gleich darauf besann sie sich eines Besseren - Sharthir musste wissen, dass Scarramouche ihm etwas vorgaukeln wollte und wenn sie nun nicht angemessen reagierte, würde ihm das seine Ahnung nur bestätigen. Also entspannte sie sich und lehnte - so sehr es ihr auch widerstrebte -  den Kopf an seine Schultern.

Ihre Eltern schienen einmal mehr überrascht, jedoch hocherfreut.

"Daran haben wir keinerlei Zweifel", antwortete Nador und lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück. Eliha nickte zustimmend und strahlte ihre Tochter an. Scarramouches Kopf ruhte noch immer auf Sharthirs Schulter und dieser kurze Moment kam ihr bereits jetzt schon vor wie eine Ewigkeit vor, doch er machte keine Anstalten, seinen Griff um sie zu lockern. Seine Hand war so groß und kräftig, dass sie Scarramouches Schulter komplett umfasste und sie fühlte sich eingeklemmt wie in einem Schraubstock. Generell, so hatte sie schon öfters festgestellt, war Sharthir um einiges größer als ein durchschnittlicher Teir'Dal. Die Rasse der Dunkelelfen war wegen ihrer Abneigung gegen Sonnenlicht und der Tatsache, dass sie lieber unter als über der Erde lebte, nicht von sonderlich großem Wuchs und so maß auch Scarramouche nicht einmal 1,70 Meter. Sharthir hingegen überragte sie um gute anderthalb Köpfe, was ihn auch größer als ihren Vater machte und was eher selten in Neriak zu sehen war. Auch jetzt machte sich seine Größe bemerkbar; er war, auch wenn man die Tatsache, dass er ein Mann war, außer Acht ließ, viel kräftiger als sie, und selbst wenn sie sich wehren würde, würde sie sich wohl kaum aus seinem Griff befreien können.

Nachdem er sie nun immer noch nicht losließ, hob Scarramouche den Kopf, um ihn anzusehen - und zuckte kaum merklich zusammen. Sharthirs kalter, stechender Blick lag auf ihr, berechnender und durchdringender als je zuvor. Sie versteifte sich unwillkürlich und spätestens jetzt war sie sich vollkommen sicher, dass Sharthir genau wusste, dass sie ihn und ihre Eltern an der Nase herumführen wollte. Bei Nador und Eliha schien dies auch wunderbar zu funktionieren; ihre Eltern waren mehr als begeistert von ihrem plötzlichen Meinungsumschwung und schienen sicht nicht sonderlich darum zu kümmern, was Scarramouche dazu veranlasst haben könnte. So aber nicht Sharthir. Er schien genau zu wissen, was sie vorhatte.

Doch länger sollte Scarramouche seinen forschenden Blicken nicht ausgesetzt sein, denn es klopfte an der Tür.

"Das muss die Schneiderei sein!", rief Eliha erfreut aus und erhob sich. "Herein!"

Die Tür schwang auf und ein Diener verbeugte sich unterwürfig und verkündete ihnen tatsächlich, dass der Schneider eingetroffen sei und nochmals Maß an Scarramouche nehmen wollte. Diese sah ihre Eltern und ihren Verlobten unschlüssig an.

Endlich zog Sharthir den Arm, den er um sie gelegt hatte, zurück und erhob sich.

"Nun denn, ich würde sagen, dann ist es Zeit für mich zu gehen", sagte er. "Es soll schließlich Unglück bringen, wenn der Mann seine Braut vor der Hochzeit im Brautkleid sieht."

Scarramouche sah zu ihm auf und kicherte leise. "Ihr habt das Kleid doch genauestens nach Euren Wünschen in Auftrag gegeben, Lord T'Narem."

"Sicherlich", antwortete Sharthir und ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, welches seine Augen jedoch nicht erreichte. "Aber dich habe ich noch nicht darin gesehen und das soll auch bis zum Tage unserer Vermählung so bleiben."

Dann beugte er sich zu Scarramouche, die noch auf dem Sofa saß, hinunter und murmelte so leise, dass nur sie es hören konnte: "Wirklich bezaubernd, deine kleine Vorstellung."

Ihre Augen weiteten sich kaum merklich und ehe sie sich versah, drückte er ihr einen Kuss auf die Lippen. Scarramouche erstarrte und wurde auf der Stelle knallrot bis unter den Haaransatz. Sharthir zog sich mit einem spöttischen Lächeln zurück, nickte ihren Eltern zum Abschied zu und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Scarramouche saß da wie angewurzelt.

Dieser Mistkerl!

Sie war kaum im Stande ihre Wut zu bezähmen und musste sich regelrecht dazu zwingen, aufzustehen und den Schneider zu begrüßen, woraufhin dieser sich gleich an die Arbeit machte.

Sie stand regungslos in der Mitte des Kaminzimmers, während der Teir'Dal-Schneider und zwei dunkelelfische Gehilfinnen um sie herumhuschten, die Krinoline anprobierten und das Grundgerüst ihres bisher noch sehr schmucklosen, schlichten, schwarzen Brautkleides an ihr absteckten. Sie zeigte wenig Interesse an ihrem Kleid, das, wie man bereits jetzt schon erkennen konnte, gewaltige Ausmaße annehmen würde, wenn es denn erst fertig gestellt worden war. Doch sie war vielmehr mit den jüngsten Geschehnissen beschäftigt, als dass sie sich jetzt mit so etwas beschäftigen könnte; gedankenverloren berührte sie ihre Lippen. Mit Sicherheit war dieser Kuss reine Provokation gewesen - dank seiner vorangegangenen Bemerkung war Scarramouche sich sicher, dass Sharthir wusste, dass sie ihm nur vorspielte, sich mit der Hochzeit abgefunden zu haben und nun erprobte er, wie weit er gehen konnte, bis sie die Beherrschung verlor und ihr wahres Gesicht zeigte.

Doch das würde nicht geschehen. Er würde es nicht schaffen, sie aus der Fassung zu bringen - auch nicht mit einem Kuss. Und wenn es Jahre dauerte, sie würde die brave Ehefrau spielen, ihn in Sicherheit wiegen und dann zuschlagen, wenn er es am wenigsten erwartete und ihren Verrat an ihm dadurch noch schmerzvoller gestalten. Ihre inzwischen dunkel verfärbten, blauen Augen blitzten gefährlich - er würde den Tag bereuen, an dem er ihren Zorn auf sich gezogen hatte.

Sie war so vertieft in ihre Rachegedanken gewesen, dass die halbe Stunde, in der sie für ihr Kleid Modelstehen musste, wie im Flug verging. Die Schneiderei packte ihre Werkzeuge und Hilfsmittel zusammen, verabschiedete sich und verließ das Anwesen der Familie V'Oziar und nun stand es Scarramouche frei, den Rest des Tages zu tun, was sie wollte. Sie warf einen prüfenden Blick auf die kunstvolle Standuhr im Kaminzimmer und stellte fest, dass der Nachmittag größtenteils noch vor ihr lag.

"Ich bin in meinen Gemächern", erklärte sie ihren Eltern knapp und verließ den Raum.

Während sie die Treppen ins Obergeschoss hinaufstieg, war sie mit ihren Gedanken bereits wieder weit, weit weg von der Hochzeit und Sharthir. Die Tür ihrer Räume fiel hinter ihr ins Schloss und sie setzte sich ohne Umschweife an ihren Schreibtisch, wo sie sofort ihre gestrigen Notizen und eine alte Karte von Neriak herauskramte, um sich auf die heutige Nacht vorzubereiten.

 

* * *

 

Anderthalb Wochen war seit ihrem ersten Auftrag und der Hochzeitsbesprechung mit Sharthir und ihren Eltern ins Land gezogen und seither hatte Scarramouche ihren Verlobten nicht mehr gesehen. Laut Aussage ihrer Eltern hatte es in der Nachtlied-Oper einen Vampir-Übergriff gegeben und Sharthir hatte nun alle Hände voll damit zu tun, die Angelegenheit zu klären, weshalb er kaum Zeit für die restlichen Hochzeitsvorbereitungen erübrigen konnte. Glücklicherweise waren diese inzwischen soweit in die Wege geleitet, dass sie seine Anwesenheit  nicht zwingend erforderten und so war dieser Zeitverlust zu verschmerzen, ohne dass allgemeine Hektik ausbrach. Scarramouche kam der Vorfall in der Nachtlied-Oper nur recht; zum Einen, weil Sharthir ihr nun seit geraumer Zeit nicht mehr unter die Augen gekommen war, zum anderen war es ihr so möglich, sich jede Nacht ungestört aus dem Haus schleichen zu können, ohne fürchten zu müssen, dass er sich zu später Stunde noch in der Eingangshalle ihres Anwesens aufhielt.

So hatte Scarramouche es geschafft, sich in etwas mehr als einer Woche ein Bild von Komakies Mann zu machen. Sie hatte sich des Nachts, wann immer er das Haus verließ, an seine Fersen geheftet, nach und nach seine Wege ausgekundschaftet und seine groben Verhaltensmuster studiert. Schon nach dem dritten Tag hatte sie festgestellt, dass dieser Taugenichts sich jede Nacht aus dem Haus schlich, um in einem nahe gelegenen Freudenhaus der Wollust zu frönen, genau so, wie Komakie es ihr bei ihrem ersten Treffen geschildert hatte. Auch dass er erst früh am Morgen sternhagelvoll zurückkehrte und die Halbelfe in seinem Rausch verprügelte, schien der Wahrheit zu entsprechen, ebenso wie Komakies Erzählungen, dass er sich regelmäßig dem Glücksspiel hingab. Alles in allem hatte Scarramouche sich kein besseres erstes Opfer wünschen können; dieser Kerl war leicht durchschaubar und legte derart primitiv gestrickte Verhaltensmuster an den Tag, dass es ihr schon beinahe lächerlich einfach schien, diesen Mann von der Bildfläche verschwinden zu lassen.

Und nichts Geringeres als das hatte sie heute vor.

Es war bereits weit nach Mitternacht, als sie aus dem Schatten eines Felsvorsprungs trat und sich lautlos auf eines der heruntergekommenen Ziegeldächer der Häuser im Fremdenviertel gleiten ließ. Dort verweilte sie, die Kapuze ihres schwarzen Umhangs tief ins Gesicht gezogen und verschwamm außerhalb der blauen Fackeln mit der nächtlichen Finsternis von Neriak. In all dem Schwarz stachen ihre eisblauen Augen umso deutlicher hervor und sie behielten wachsam die verlassene Gasse im Blick, die unter ihr lag. Scarramouche zog eine Taschenuhr aus ihrer Hosentasche hervor und prüfte nochmals die Zeit; zwei Stunden nach Mitternacht. Sie steckte die Uhr weg und richtete ihre Augen wieder aufmerksam auf die Straße - ungefähr um diese Zeit verließ Komakies Mann für gewöhnlich das Freudenhaus, das er Nacht für Nacht besuchte und machte sich über diese entlegene Gasse auf den Weg nach Hause, wenn er nicht wie so oft noch in der nahe gelegenen Taverne versackte. Doch selbst wenn ihm der Sinn auch heute nach Alkohol stand, so würde er das Gasthaus nicht mehr erreichen.

Regungslos, in kauernder Haltung, saß Scarramouche auf dem Dach und die Minuten strichen dahin. Wirklich aufgeregt war sie nicht, doch dass eine gewisse Nervosität in ihr aufgestiegen war, je weiter der Tag fortgeschritten und die Nacht näher gekommen war, konnte sie nicht abstreiten. Das Stahl ihrer Stiletts glänzte kalt, als sie sie vorsichtig in ihrer Scheide lockerte, um sie später schneller ziehen zu können - doch im Augenblick wünschte sie sich lieber ein paar Wurfmesser, denn so hätte sie ihren Auftrag bequem aus der Distanz erledigen können. Für ein Opfer wie das jetzige wäre dies vollkommen ausreichend gewesen. Scarramouche unterdrückte einen Seufzer; es war nicht zu ändern, im Moment standen ihr noch keine anderen Waffen als ihre Stiletts zur Verfügung und sie würde ihr Repertoire erst ausweiten können, wenn sie das nötige Budget dafür verdient hatte. Schließlich konnte sie nicht all ihren Schmuck verkaufen, ohne dass dies unbemerkt bleiben würde. Zwar hatte sie sich von Komakie im Voraus bezahlen lassen, doch bevor der Auftrag nicht abgeschlossen war, konnte sie das Geld nicht nutzen. Dies war nur einer von vielen Gründen, weshalb sie ihr Vorhaben nun nicht vermasseln durfte.

Noch immer kein Zeichen von Komakies untreuem Ehemann.

Ungeduld stieg in Scarramouche auf, doch sie kämpfte sie mühsam nieder. Gerade als sie sich fragte, wie lange man mit einem solchen Freudenmädchen wohl zugange sein konnte, ohne sich dumm und dämlich zu zahlen, regte sich etwas unten auf der Straße und ihr Opfer trat aus dem Freudenhaus. Augenblicklich wurde Scarramouches Blick messerscharf; gleich einem Raubvogel saß sie regungslos auf dem Dach und beobachtete ihre Beute, wie sie sich langsam die Straße hinunter bewegte. Der Elf wankte, scheinbar war er wieder einmal betrunken, doch das kam Scarramouche nur recht.

Niemand sonst hielt sich in den Straßen auf; alles war wie ausgestorben. Die Stille war drückend und ließ die Spannung ins Unermessliche steigen. Scarramouche durfte keinen Fehler machen; wenn ihrem Opfer auch nur ein Schrei entfuhr, würde bei dieser Totenstille sofort das ganze Fremdenviertel auf den Beinen sein.

Der Dunkelelf näherte sich dem Haus, auf dem sie verharrte, und sie wartete, bis er direkt unter ihr war, dann bewegte sie sich lautlos zum Rand des Daches, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Nun schlug ihr das Herz doch unangenehm schnell in der Brust; verbissen zwang sie sich selbst zur Ruhe und konzentrierte sich. Noch einmal versicherte sie sich, dass niemand in der Nähe war, dann ließ sie sich vom Dach direkt hinter ihr Opfer fallen.

Leichtfüßig wie eine Katze landete Scarramouche auf den Füßen, richtete sich blitzschnell auf und zerrte den überraschten Mann am Kragen zurück. Er stank nach Alkohol und gab einen erstickten Laut von sich. Doch der Schrei blieb ihm im Halse stecken, denn ohne Umschweife griff Scarramouche um, packte ihn an den Haaren und riss seinen Kopf zurück, um ihm mit einem sauberen Schnitt die Kehle zu durchtrennen. Noch bevor sie ihn losließ und er auf dem Boden aufschlug, war er bereits tot.

So schnell, wie Scarramouche den Teir'Dal überfallen hatte, zog sie sich nun zurück. Behände kletterte sie das Haus hinauf, auf dem sie ihrem Opfer zuvor aufgelauert hatte, und verbarg sich augenblicklich wieder im Schatten des Felsvorsprungs. Ihre Augen schnellten umher und analysierten ihre Umgebung, doch das Fremdenviertel war nach wie vor wie ausgestorben. Niemand hatte sie gesehen.

Noch immer pochte ihr Herz unruhig, doch allmählich wich die Aufregung einmal wieder der puren Euphorie. Ein breites Lächeln verbarg sich hinter ihrer Verschleierung, doch sie gab keinen Laut von sich, auch wenn sie am liebsten laut aufgelacht hätte. Dann warf sie nochmal einen Blick zurück auf die Straße.

Dort unten lag er, Komakies untreuer, saufender Ehemann, mausetot, in der roten Lache seines eigenen Blutes. Prüfend sah Scarramouche an sich selbst herunter, stellte aber zufrieden fest, dass sie nicht einmal einen Spritzer davon abbekommen hatte. Den Kehlenschnitt hatte sie absichtlich schräg angesetzt, damit das Blut nicht ungehemmt herausspritzte, sondern einfach nur in Strömen seinen Hals hinunterlief. Besser hätte ihr erster Auftrag nicht laufen können, doch ihrer Euphorie zum Trotz machte sich leere Nüchternheit in ihr breit.

Bis zur Hochzeit waren es nur noch vier Wochen. Unmöglich, sich in solch kurzer Zeit einen Namen zu machen, der in Neriak Angst und Schrecken verbreitete. Und wenn sie erst einmal mit Sharthir vermählt war und mit ihm unter einem Dach lebte, würde sie dann noch in der Lage sein, sich unter seiner Fuchtel des Nachts nach draußen zu schleichen und ihrer Arbeit nachzugehen?

Bisher hatte Scarramouche diesen Gedanken weitestgehend beiseite geschoben, doch nun konnte sie sich ihm nicht länger erwehren. Ihre Schultern sackten hinunter, während sie noch einmal einen Blick auf ihr unglückliches Opfer unten auf der Straße warf. War dieser Erfolg vielleicht bereits der Anfang vom Ende?

Ein kalter Luftzug, der durch einen der zahllosen Luftschächte in Neriak pfiff, ließ Scarramouche frösteln. Er erfasste ihren Umhang und bauschte ihn auf, dann ließ er ihn er in einem stärkeren Windstoß gespenstisch aufflattern. Sie seufzte, dann wandte sie sich ab und verschwand in der immerwährenden Dunkelheit Neriaks.

Willkommen in der Familie

"Nicht so eng!"

Scarramouches Stimme gellte laut durch ihre Gemächer. Sie keuchte, dann wandte sie sich um und warf ihrer Zofe Krysta, die hinter ihr stand, einen wütenden Blick zu. "Ich bekomme keine Luft mehr!"

Krysta hob nur entschuldigend die Schultern, jedoch ohne den Fuß aus Scarramouches Rücken zu nehmen oder die Schnürung des Mieders zu lockern, das sie gerade festzog. 

"Verzeiht mir, junge Herrin, aber damit das Kleid richtig sitzt,  muss ich das Mieder so fest schnüren", antwortete sie mitleidig, dann zog sie erneut an und presste Scarramouche damit jegliche Luft aus den Lungen.

"Aber du brichst mir sämtliche Rippen, du dumme Gans!"

"Nun halt schon den Mund, Scarramouche", unterbrach Eliha ihre Tochter, bevor diese in eine Tirade von Flüchen und Verwünschungen verfallen konnte. Scarramouches Mutter saß auf dem Sofa in deren Gemächern und überwachte die letzten Vorbereitungen der heutigen Vermählungsfeier - das Ankleiden der Braut. "Wer schön sein will, muss leiden, das solltest du doch inzwischen wissen."

Scarramouche lag bereits eine bissige Antwort auf der Zunge, doch sie schluckte sie mühsam hinunter. Niemand hatte je behauptet, dass sie heute schön sein wollte - genau genommen war es ihr künftiger Gemahl, der sie in diesem Kleid zu sehen wünschte. So gesehen sollte eigentlich er sich in dieses verfluchte Mieder zwängen.

Doch anstelle ihrem Ärger Luft zu machen, riss sie sich zusammen und antwortete nur: "Du hast Recht, Mutter."

Daraufhin riss ein weiterer Ruck Scarramouche nach vorn, denn Krysta hatte ihren Fuß einmal mehr fester in ihren Rücken gestemmt, um das Mieder schließen und zuschnüren zu können. Scarramouche hielt den Atem an, ertrug die Pein von nun an jedoch wortlos.

Die verbliebenen Wochen bis zur Hochzeit waren wie im Fluge vergangen; die Zeit erbarmungslos dahingeeilt und immer wenn Scarramouche versuchte hatte, sie zu ergreifen und aufzuhalten, war sie ihrem Griff entglitten und umso schneller davongezogen. Hilflos hatte die Teir'Dal zusehen müssen, wie Woche um Woche verging, und der verhasste Tag der Vermählung mit Sharthir stetig näher rückte, bis er schließlich am heutigen Morgen angebrochen war. 

Es war nicht einfach, doch Scarramouche gab ihr Bestes, den Feierlichkeiten des heutigen Abends mit Fassung entgegenzusehen. Dies war ihr jedoch nur möglich, weil die letzten Wochen mehr als zufriedenstellend verlaufen waren. Es war ihr gelungen, noch zwei weitere Aufträge erfolgreich abzuschließen, die sie ihrer ersten Kundin Komakie zu verdanken schien, welche sie in ihrem Bekanntenkreis wohl empfohlen hatte. Dadurch war sie ihrem Ziel wieder ein Stück näher gekommen und ganz allein diese Tatsache hatte sie in den letzten Wochen vor der Hochzeit bei Laune halten können.

Auch jetzt schlich sich bei dem Gedanken daran ein selbstzufriedenes Lächeln auf ihre Lippen. Ihre Mutter beobachtete sie, während Krysta nun dazu überging, den gewaltigen Rock des Kleides über die Krinoline auszubreiten und zurecht zu zupfen, und schien ihr Lächeln fälschlicherweise als Vorfreude auf die bevorstehende Vermählung zu deuten. 

Doch nur wenige Augenblicke später verblasste das Lächeln wieder, denn Furcht regte sich in Scarramouche, wann immer sie darüber nachdachte, wie ihr heimliches, nächtliches Tun nach der Vermählung wohl weitergehen sollte. In diesen Momenten redete sie sich entweder ein, dass sie schon eine Möglichkeit finden würde, Sharthirs Adleraugen irgendwie zu entgehen oder aber sie schob den Gedanken daran komplett beiseite.

Ich darf mich jetzt durch solche Sorgen nicht beirren lassen, sagte sie zu sich selbst, während sie sich ausdruckslos im Spiegel betrachtete, als Krysta damit begann, ihren ausladenden Brautschleier zu befestigen. Bisher hat man mir meine Schauspielerei gut abgenommen, ich darf mich nun nicht durch solch düstere Gedanken verraten.

In der Tat war es Scarramouche gelungen, in den vergangenen Wochen vorzugaukeln, sich besonnen und nichts mehr gegen die Hochzeit einzuwenden zu haben. Allen voran ihre Eltern waren leicht zu täuschen gewesen, doch Sharthir hatte sich wie erwartet als ein härterer Brocken erwiesen. Die Berechnung und das Misstrauen in seinen Augen waren nie richtig verschwunden, doch Scarramouche ließ sich davon nicht verunsichern und führte ihr Schauspiel unbeirrt fort. Am heutigen Abend würde ihr Durchhaltevermögen in dieser Hinsicht wahrhaftig erprobt werden; das war ihr und sicherlich auch Sharthir vollauf bewusst, und so durfte sie sich nicht von ihren Gefühlen beeinflussen lassen. Nahezu trotzige Entschlossenheit blickte ihr aus ihren eisblauen Augen im Spiegel entgegen. Doch dann wurde ihre Sicht von schwarzem Feintüll verschleiert, als Krysta ihren Brautschleier nach vorn zog und damit ihr Gesicht verhüllte. Nun erhob sich Eliha vom Sofa, denn damit war die Ankleidung ihrer Tochter abgeschlossen. Prüfend warf sie einen Blick auf die Uhr.

"Sehr schön, wir liegen sehr gut in der Zeit", eröffnete sie zufrieden und schritt durch den Raum. "Dennoch sollten wir langsam aufbrechen, um wirklich rechtzeitig im Palast zu sein - lieber zu früh als zu spät. Du bist sicher schon ganz aufgeregt, nicht wahr, Scarramouche?"

"So ist es", antwortete Scarramouche geistesabwesend. Die durch den Schleier eingeschränkte Sicht, die gewaltigen Massen von Stoff und das Mieder, das so eng geschnürt war, dass sie sich kaum bewegen, geschweige denn atmen konnte, machten es schwierig, sich auch nur zu drehen und sie hatte größte Mühe damit, sich von ihrem Hocker zu erheben. Ihre Mutter und Krysta reichten ihr jeweils eine Hand, halfen ihr hoch und führten sie vor den gewaltigen Spiegel in ihren Räumen, sodass sie sich vor dem Aufbruch noch einmal begutachten konnte. Sie schob den Schleier vorsichtig etwas beiseite.

Das Bild, das sich ihr bot, war schier unglaublich; obwohl sie als Tochter aus gutem Hause nicht gerade selten elegant und edel auftrat, erkannte sie sich selbst kaum wieder. Aus dem Spiegel blickte ihr eine junge Frau entgegen, die dunklen, violetten Haare kunstvoll frisiert, in einem schwarzen Brautkleid, bei dem alle anderen Damen am königlichen Hofe vor Neid erblassen würden. Das Mieder war so eng geschnürt, dass ihre schmale Taille wunderbar zur Geltung kam, insbesondere auch durch den weiten Bahnenrock, der sich darunter als ein wahres Rüschenmeer ergoss und ihr durch die Krinoline einen Umfang von mehreren Metern bescherte. Kleine Rosen aus schwarzem Sternensaphir hielten den schwarzen Schleier auf ihrem Kopf, welcher ihr Gesicht verbarg, gleichzeitig luftig über ihren Rücken fiel und in einer langen Schleppe endete. Scarramouches Augen wurden kaum merklich schmäler; so also sah die Braut aus, die Sharthir sich vorstellte.

Nachdem sie sich betrachtet und den Schleier wieder zurecht gezupft hatte, führten Krysta und Eliha sie hinaus aus ihren Gemächern, die Treppe hinunter in die Eingangshalle und von dort aus vor die Tür, wo ihr Vater Nador bereits mit der Kutsche wartete. All dies ging nur langsam vonstatten, da Scarramouche durch den düsteren Schleier kaum etwas sah und stets darauf achten musste, wohin sie trat. 

In diesem wahnsinnig ausladendem Kleid war es ebenso schwierig in die Kutsche zu steigen, doch schließlich hatte sie es gemeinsam mit ihren Eltern geschafft und sie nahm in Inneren auf der Sitzbank Platz. Doch auch Sitzen erwies sich mit der eisernen Krinoline als überaus unbequem; sie rieb und drückte gegen ihre Hüft- und Rippenknochen und verstärkte dadurch nur noch die Schmerzen, die ihr das Mieder bereitete. Die holprige Kutschfahrt, die nun folgte, war hier auch nicht gerade förderlich und Scarramouche stieß erleichtert den Atem aus, als sie endlich vor dem Palast angekommen waren. 

Wieder warf Eliha einen Blick auf die Uhr. 

"Gut, dass wir rechtzeitig fertig waren. Sie in diesem Kleid hierher zugeleiten, hat doch mehr Zeit in Anspruch genommen als gedacht. Die Zeremonie beginnt in Kürze", sagte sie an Nador gewandt und dieser stand auf, als die Kutsche zum Stehen kam.

"So ist es, wir müssen uns nun sputen", antwortete er, öffnete die Kutschentür und half seiner Tochter hinaus, nachdem diese sich mühsam erhoben hatte.

Inzwischen konnte Scarramouche sich ihrer Aufregung kaum erwehren; sie kam plötzlich und unerwartet und drohte sie zu übermannen. Die ganze Kutschfahrt hinweg war sie mit ihrer unbequemen Aufmachung beschäftigt gewesen und hatte keinen Gedanken daran verschwendet, dass die Zeremonie beginnen würde, gleich nachdem sie beim Dunkellicht-Palast angekommen waren. Ihr Herz schlug unruhig in ihrer Brust, doch sie kämpfte die aufsteigende Panik nieder und versuchte sich zu beruhigen. Allerdings konnte sie nicht verhindern, dass ihr das Herz weiterhin gegen die schmerzhaft zusammengepferchten Rippen pochte.

Als Scarramouche es endlich vollständig aus der Kutsche geschafft hatte, kamen sofort zwei Teir'Dal-Damen vom Hofe herbeigeeilt, die scheinbar ihren Schleier tragen sollten. Eliha reichte Scarramouche ihren Brautstrauß - bestehend aus schwarzen Rosen - dann wandte sie sich an ihren Mann und ihre Tochter.

"Ich werde nun hineingehen. Ich erwarte euch dann in der ersten Reihe."

Mit diesen Worten gab sie Scarramouche einen Kuss auf die verschleierte Stirn, nickte ihrem Mann zu und schritt die Stufen zum Palast empor, bevor sie in hinter dessen gewaltigen Portalen verschwand.

Scarramouche blieb allein mit ihrem Vater und den beiden Brautjungfern zurück. 

"Endlich ist der Tag gekommen", seufzte Nador zufrieden und sein Blick ruhte stolz auf seiner Tochter. "Auch nach all den Monaten kann ich es immer noch kaum fassen. Meine Tochter heiratet nach dem König den nahezu mächtigsten Mann von Neriak!"

Im ersten Moment blieb Scarramouche stumm, dann hob sie den Kopf und schenkte ihrem Vater ein freudiges Lächeln. "Wohl wahr, es hätte mir keine größere Ehre zuteil werden können."

Nador seufzte erneut und strich ihr sanft über die Wange. "Und das, wo du dich anfangs so dagegen gesträubt hast."

Scarramouches brachte ein schwaches Lächeln zustande, obwohl sie lieber eine Grimasse gezogen hätte. "Ich war wohl einfach überfordert, einer solch einflussreichen Person versprochen zu werden. Irgendwie muss ich einem solchen Mann ja gerecht werden."

Sie konnte regelrecht erkennen, wie ihr Vater sich vor Freude über diese Worte fast überschlug. 

"So ein Unsinn", antwortete er und strahlte. "Natürlich bist du seiner würdig; denk immer daran: Du bist schließlich eine V'Oziar."

Scarramouche lachte leise, dann nickte sie.

Oh ja, das bin ich in der Tat.

"Und nun", fuhr ihr Vater in seiner Begeisterung fort, "wo du endlich diese tollkühnen Assassinen-Pläne aufgegeben und stattdessen eingewilligt hast, Lord T'Narems Frau zu werden, wirst du unserer Familie zu noch größerem Ruhm verhelfen! Diese Hochzeit wird in die Geschichte Neriaks eingehen!"

Augenblicklich sackte Scarramouches Laune auf den Tiefpunkt. Ihre Miene verdüsterte sich und ihr Blick wurde kalt, als ihr wieder einmal vor Augen geführt wurde, dass sie nichts weiter als ein Mittel zum Zweck war, um die Familie zu größerem Ruhm zu bringen - sowohl die Familie V'Oziar als auch das Geschlecht T'Narem. Glücklicherweise verbarg der Schleier Scarramouches Gesicht beinahe vollständig, sodass ihr Vater von ihrem plötzlichen Stimmungsumschwung nichts mitbekam. Im nächsten Augenblick kam auch schon ein Palastdiener vor die Tore geeilt, um ihnen mitzuteilen, dass die Zeremonie eröffnet wurde, was Scarramouche eine Weiterführung des Gesprächs mit ihrem Vater ersparte. 

Nun ist es also soweit ..., dachte sie resigniert und der Widerwillen, den sie seit Wochen energisch beiseite geschoben hatte, holte sie nun wieder ein. All ihre Versuche, sich dagegen zu wehren, waren erfolglos gewesen, obwohl sie sich noch ein paar Monate zuvor geschworen hatte, Sharthir um keinen Preis in der Welt zum Mann zu nehmen.

Letztendlich hat er doch bekommen, was er wollte ...

Doch so leicht würde sie sich nicht beugen. Sie folgte ihrem Vater und dem Diener die Stufen des Dunkellicht-Palastes hinauf, während die beiden Brautjungfern ihr mit Kleid und Schleier behilflich waren.

Sharthir soll sich ruhig in Sicherheit wiegen, dachte sie in einem Anflug von Trotz, als sie die Eingangshalle passierten und dem Flur folgten, der zum Thronsaal führte. Die dort postierten Wachen salutierten formell. Mit dieser Hochzeit hat er sich sein eigenes Grab geschaufelt. Er ist sich dessen nur noch nicht bewusst.

Mit diesem Gedanken schien die bevorstehende Vermählung plötzlich wieder viel erträglicher und sie nahm eine würdevolle Haltung ein, als sie nun vor dem mächtigen Portal des Thronsaals zum Stehen kamen. Nur einen Moment später schwangen die Tore auf und gaben den festlich geschmückten Saal frei, in dem sich nun zahllose Teir'Dal-Köpfe in ihre Richtung wandten - soweit sie dies unter ihrem Schleier erkennen konnte. 

Eine düstere Orgel-Sinfonie setzte ein, passend zu Scarramouches Stimmung, und ihr Vater griff sie bei der Hand und führte sie langsam in die Halle. Vorsichtig setzte sie einen Schritt vor den anderen, bewusst darauf bedacht, besonders anmutig und grazil zu erscheinen. Soweit sie erkennen konnte, waren im Thronsaal etwa zwei dutzend edel gepolsterte Bänke aufgestellt worden, auf denen die Hochzeitsgäste Platz genommen hatten und durch deren Reihen sie nun langsam hindurch zum Altar schritt. Ein Raunen ging durch die Reihen, wo immer sie auch vorbeikam und es war unangenehm zu spüren, wie alle Blicke gebannt auf ihr ruhten. 

Der Altar kam näher, obwohl Scarramouche das Gefühl hatte, dass er noch mehrere Meilen entfernt war, so langsam wie sie vorankamen. Dann glaubte sie, zwei ihr zugewandte Gestalten zu erkennen - die eine musste unweigerlich Sharthir sein, die andere wahrscheinlich der Priester Innoruuks, der die Zeremonie vollzog. Unbeirrt schritt sie weiter, in Begleitung der Orgelmusik, die ihr ihren Marsch wie einen Kreuzgang erscheinen ließ. Die harten Miederstäbe drückten ihr noch immer schmerzhaft gegen die Rippen und ließen nur flache Atemzüge zu und inzwischen machte sich auch das gewaltige Gewicht ihres Kleides bemerkbar, das die Krinoline nach unten gegen ihre Hüftknochen drückte. Sharthir war in Sichtweite gekommen, doch sie erkannte ihn nur verschwommen. Nur ein paar letzte Schritte noch, dann blieb sie vor ihm stehen. Nador ließ ihre Hand los und zog sich langsam zurück, dann nahm er in der ersten Reihe neben seiner Frau Platz. 

Nachdem Scarramouche am Altar angekommen war, wandte auch Sharthir sich dem Priester von Innoruuk zu und dieser eröffnete feierlich die Zeremonie. Hinter ihm, konnte Scarramouche vage erkennen, saßen König Naythox und Königin Cristanos auf ihren Thronen, flankiert von den Prinzen Tarant und Talvus, sowie Prinzessin Sulsera.

"Wir haben uns am heutigen Tage hier versammelt, um der Verbindung zweier mächtiger Adelsgeschlechter Neriaks, unserer geliebten Stadt des Hasses, beizuwohnen."

Einmal mehr war Scarramouche froh, dass ihr Gesicht durch den Schleier verborgen war, denn so konnte niemand sehen, dass sie angesichts der geschwollenen Rede des Priesters eine Grimasse zog. Er sprach noch ein paar weitere Sätze über die reinen Blutlinien und das Ansehen der beiden Familien, dann fand er eine Überleitung zu der Geburtsstunde der Teir'Dal, was Scarramouches Laune ein wenig hob. Sie mochte die Geschichte der Dunkelelfen; sie war ganz nach ihrem Geschmack.

"Vor Jahrtausenden, als Norrath noch jung war, begannen die Götter des Einflusses unseren Planeten mit ihren Rassen zu bevölkern. Rallos Zek, Fürst des Krieges, erschuf die niederen Oger und Trolle. Fizzlethorp Bristlebane die Halblinge und Gnome. Der Gesichtslose, Cazic-Thule, der Gott der Furcht setzte seine Iksar in die Welt - und auch Tunare, diese armselige, so genannte Mutter von allem, die Göttin des Wachstums, verseuchte unsere Welt mit ihren Hoch- und Waldelfen. Niemand von diesen Narren, dachte jedoch an den Prinzen des Hasses, Innoruuk, unseren Vater.

Erzürnt über die Unverschämtheit der anderen Göttern, ihn einfach außen vorzulassen und ihn weder einzuladen, noch darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie Norrath nun für ihre jämmerlichen Rassen beanspruchen wollten, schwor er sich, Rache zu nehmen. Und so sollte es geschehen."

Der Priester machte eine theatetralische Pause, dann fuhr er fort.

"Lange sann Innoruuk über seine Rache an den anderen Göttern nach und schwor sich, eine Rasse zu erschaffen, die allen anderen überlegen sein und sie unterwerfen sollte, im Gegenzug zur Unverfrorenheit der anderen Götter, ihn einfach außen vor zu lassen. Sein besonderer Hass galt hierbei Tunare, gegen welche er schon immer abgrundtiefe Abneigung hegte, und ihrem vermaledeiten Elfengesindel. Und so nahm unseres Vaters Plan Gestalt an."

Stille hatte sich über den kompletten Thronsaal gesenkt; ein jeder hing an den Lippen des Priesters von Innoruuk, und obwohl alle Teir'Dal die Geschichte ihrer Herkunft kannten, lag in Kombination mit der heutigen, gewichtigen Hochzeit eine Faszination im Raum, die förmlich greifbar war.

"Innoruuk erschien den Hochelfen in ihrer lächerlichen Stadt Felwithe und entführte von dort das Königspaar der Koada'Dal in seine Ebene des Hasses, wo er sie viele Jahrhunderte lang quälte, folterte und gegeneinander ausspielte, bis schließlich nichts als blanker Hass von ihnen übrig war. Dies war die Geburtsstunde der Teir'Dal."

Wieder folgte eine Pause und ehrfürchtiges Schweigen erfüllte die Halle. Der Priester sprach weiter.

"Die anderen Völker verachten uns für unsere Entstehung; sie sehen auf uns herab, weil wir die Jüngsten sind. Weil es uns eigentlich gar nicht geben sollte. Doch wir werden unseren rechtmäßigen Platz in Norrath einnehmen, an der Spitze, über allen anderen Rassen! Zu Ehren unseres Vaters Innoruuk!"

Seine Stimme war angeschwollen, wie bei einer politischen Rede, und doch erntete er nun begeisterten Beifall. Als er von Neuem zu sprechen begann, hatte er seine Stimme wieder etwas gesenkt.

"Vor uns hier stehen zwei Kinder Innoruuks, die in beinahe direkter Blutlinie von den ersten beiden Dunkelelfen abstammen; deren Blut in keinster Weise von minderwertigerem getrübt ist. Mögen ihre Nachkommen dem Reich ebenso dienlich sein, wie sie es selbst waren und sein werden und dem dunkelelfischen Imperium zu noch größerem Ruhm verhelfen!"

Nach dieser überschwänglichen Rede war Scarramouche übel. Sie hatte das Gefühl, die Erwartungen eines ganzen Imperiums lasteten auf ihren Schultern und gleichzeitig stieg auch Ärger in ihr auf, da sie scheinbar nur dafür gebraucht wurde, reinblütige Nachkommen in die Welt zu setzen. Schon immer hatte sie dem Teir'Dal-Reich unantastbare Treue gelobt, doch sie wollte ihm lieber selbst aktiv dienlich sein und nicht durch bloßes Gebären von reinrassigen Kindern ihren Beitrag leisten.

"Und so fällt mir am heutigen Tage die Ehre zu, diese beiden wertvollsten von Innoruuks Kindern, zu vermählen, auf dass sie einander ewig treu sind und gemeinsam unseres Vaters Hass in die Welt hinaustragen."

Der Priester wandte sich an Sharthir: "So frage ich Euch, Sharthir T'Narem, möchtet Ihr die hier anwesende Scarramouche V'Oziar unter Innoruuks Geleit achten und schützen, ihr die ewige Treue schwören, so antwortet mit: Ja, ich will."

Sharthirs Antwort ließ nicht lange auf sich warten; ein seltsamer Glanz war in seine Augen getreten und er schien mehr als zufrieden.

"Ja, ich will."

Nervosität stieg in Scarramouche auf, als der Priester sich nun ihr zuwandte.

"So frage ich Euch, Scarramouche V'Oziar, möchtet Ihr den hier anwesenden Sharthir T'Narem unter Innoruuks Geleit achten und schützen, ihm die ewige Treue schwören, so antwortet mit: Ja, ich will."

Scarramouche zögerte nur einen winzigen Augenblick und plötzlich kam sie ins Wanken. Sogleich konnte sie Sharthirs stechenden Blick auf sich spüren und sie öffnete unsicher den Mund, als ihr ein Gedanke kam. Plötzlich war es geradezu lächerlich einfach, denn mit diesen Worten schwor sie sich gleichzeitig, den Mann zu töten, der ihr diese Schmach angetan hatte.

"Ja, ich will."

Durch ihren Schleier konnte Scarramouche es nicht sehen, doch sie war sich sicher, dass Sharthirs Augen blitzten. Sogleich kam ein Diener herbeigeeilt, der vor ihm niederkniete und ihm auf einem schwarzen Samtkissen die Schatulle mit den Eheringen reichte. Sharthir nahm einen von ihnen entgegen und hielt Scarramouche seine ausgestreckte Handfläche hin; eine Aufforderung ihre in die seine zu legen. Sie gehorchte und ließ sich von Sharthir den Ring anstecken und tat dies nun auch ihrerseits bei ihm.

"Im Namen Innoruuks erkläre ich Euch beide nun zu Mann und Frau", verkündete der Priester feierlich und im Saal brach Beifall aus. Der Priester nickte Sharthir zu, welcher sich nun erneut Scarramouche zuwandte. Sie schluckte und widerstand dem Drang, einen Schritt zurückzuweichen, wohl wissend, was nun auf sie zukam.

Sharthir hob beide Hände und lüftete vorsichtig den Schleier, hinter dem sie sich verborgen hatte. Als der Feintüll aus ihrem Sichtfeld entschwand und sie ihren Ehemann erstmals richtig zu Gesicht bekam, stockte ihr der Atem.

Sharthir sah nahezu unverschämt gut aus. Er trug einen anthrazitfarbenen, fast schwarzen Wams, der mit denselben aufwendigen Stickereien verziert war, wie sie auch auf Scarramouches Kleid zu finden waren. Darunter ein graues Seidenhemd in der Farbe seiner Augen und eine schwarze Hose, die in teuren Lederstiefeln steckte. Diese Farbkombination war ihm geradezu auf den Leib geschneidert; sie betonte seine Figur und machte ihn noch schlanker, als er ohnehin schon war, doch am deutlichsten unterstrich sie die unheimliche Rätselhaftigkeit, die ihn stets umgab. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte seine Lippen, als er ihren Schleier komplett nach hinten gelegt hatte - scheinbar war er mehr als zufrieden mit dem, was er sah. 

Nur für einen Augenblick war Scarramouche wider Willen so fasziniert, dass sie ihn einfach nur anstarren konnte und im nächsten Moment umso verdutzter, als er sich zu ihr vorbeugte und sie küsste. 

Sie erstarrte und schloss vor Schreck die Augen; ein Reflex, der ihr zugute kam, denn im nächsten Moment fasste sie sich und entspannte ihre Augenlider. So war ihre Reaktion - so hoffte sie - wenigstens einigermaßen authentisch. Seine Lippen waren überraschend warm und obwohl es eigentlich nicht unangenehm war, war ihr dieser Kuss zuwider und sie wartete voller Ungeduld darauf, dass er sich von ihr löste. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Sharthir endlich von ihr abließ. Als er sich zurückzog, blickte Scarramouche zu ihm hoch und lächelte unsicher, um möglichst überzeugend zu wirken. Er wiederum erwiderte ihr Lächeln nur schwach und der hungrige Ausdruck, der in seine Augen getreten war, entging ihr keineswegs.

 

* * *

 

Nachdem die Zeremonie vollzogen war, eröffnete der König die Feierlichkeiten mit einer festlichen Rede, in der er die beiden nun verbundenen Geschlechter V'Oziar und T'Narem in höchsten Tönen lobte. Alsbald die Ansprache von Naythox Thex beendet war und auch Königin Cristanos ein paar Worte an das Brautpaar gerichtet hatte, eilten unzählige Diener herbei. Diejenigen unter ihnen, die sich auf Magie verstanden, kümmerten sich darum, dass die Sitzbänke aus dem Thronsaal transportiert wurden und bereits bereitgestellte Stehtische an ihre Stelle traten. Andere Bedienstete wiederum trugen derweil allerlei Speisen und Getränke in den Saal und innerhalb kürzester Zeit war die Tanzfläche geräumt, ein Buffet königlicher Maßstäbe angerichtet und die Feier in vollem Gange. Die meisten Gäste der Hochzeitsgesellschaft ließen sich gerade von Dienern vom Buffet bedienen, Scarramouche und Sharthir jedoch waren bereits fertig damit und nahmen nun Glückwünsche und Hochzeitsgeschenke entgegen. Weit mehr als eine Stunde waren sie damit beschäftigt, bis der Strom der Beglückwünschenden endlich verebbte und die beiden ein paar Minuten für sich hatten. 

Sharthir sah Scarramouche an. "Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, dir zu sagen, wie bezaubernd du aussiehst."

Zuerst wusste Scarramouche nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie hätte dieses Kompliment ehrlich zurückgeben können, wäre da nicht der lästige Umstand, dass sie diesen Mann aus tiefstem Herzen verabscheute. So gern sie ihm dies auch entgegenschmettern würde, besann sie sich doch eines Besseren.

"Vielen Dank", gab sie zurück und lächelte zaghaft. Sharthirs Blick war bohrend wie immer, doch es schien ihr, als sei er heute dennoch bester Laune. Er schwieg eine Weile und Scarramouche wusste ebenfalls nicht, was sie sagen sollte und eine unangenehme Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Dies schien allerdings nur ihr selbst zu schaffen zu machen, Sharthir blieb davon offenbar unberührt. 

Na wunderbar, dachte sie resigniert. Wenn wir uns nun schon nichts zu sagen haben, wie soll das dann erst werden, wenn wir von nun an zusammen unter einem Dach leben?

Der Gedanke war nicht besonders reizvoll. Scarramouche unterdrückte einen Seufzer.

Was habe ich eigentlich anderes erwartet?

Sie blinzelte als sie bemerkte, dass Sharthir sie unterdessen unentwegt angesehen hatte und zuckte zusammen, als er eine Hand hob und ihr über die Wange strich. 

"Das Kleid steht dir wirklich ausgezeichnet", murmelte er ihr zu und ihr wurde unwillkürlich heiß. "Sogar noch besser, als ich es mir vorzustellen wagte."

Scarramouche war aufrichtig peinlich berührt; sie mochte es nicht, wenn dieser Kerl ihr solche Komplimente machte. "Ihr seid ein Schmeichler."

Sharthir zog die Augenbrauen in die Höhe. "Aber, aber, Scarramouche."

Sie fröstelte und hob den Kopf, als er sie bei ihrem Vornamen nannte - die Art, wie er ihn aussprach war ... sie wusste nicht, wie sie es beschreiben sollte.

"Wir sind nun verheiratet, es besteht keine Notwendigkeit mehr, dass du mich weiterhin so förmlich ansprichst", fuhr er unbeirrt fort. "Es ist dir nun erlaubt, mich mit 'du' anzusprechen. Ich bin schließlich dein Mann."

Überrascht sah sie ihn an, doch fast im selben Moment stieg auch Widerwillen in ihr auf, von nun an so vertraut mit ihm zu sprechen. Nicht in jeder Ehe solchen Rangs erlaubte der Mann seiner Frau, ihn mit "du" anzusprechen. Es war wahrhaftig ein Privileg, das Sharthir ihr soeben ausgesprochen hatte, und so würde jede ablehnende Haltung das zunichte machen, was sie bisher vorgegeben hatte zu sein. 

Also nickte sie. 

"In Ordnung. Vielen Dank."

Wieder verfielen sie in Schweigen; Scarramouche wusste nicht, über was sie sich mit Sharthir unterhalten sollte und es war ihr unangenehm, mit ihm alleine zu sein, also ließ sie den Blick durch den Saal schweifen, auf der Suche nach jemanden, den sie ansprechen könnte. Unter den Gästen hatten sich schwatzende Trauben gebildet. Einige wenige waren noch mit dem Buffet beschäftigt, der Großteil der anwesenden Teir'Dal war jedoch in Gespräche vertieft oder stießen auf das Brautpaar an. Schließlich löste sich eine Dunkelelfe aus der Menge und Scarramouche erkannte Tserrina Syl'Tor, die nun mit prächtigen, wehenden Roben zu ihnen hinüber geschritten kam - doch dann setzte ihr Herz einen Schlag aus, als sie den Mann erkannte, der ihr nun folgte. Es war Mayong Nebelmoor.

Sharthir machte eine jähe Bewegung und Scarramouche warf ihm einen forschenden Blick zu. Sie fragte sich, ob dies ein Ausdruck von Beunruhigung gewesen war, doch als sie sein Gesicht betrachtete, war seine Miene ausdruckslos. Tserrina und Mayong waren inzwischen bei ihnen angekommen.

"Verzeiht, dass wir erst jetzt kommen, um zu gratulieren", begrüßte sie die Teir'Dal-Hexe und machte eine entschuldigende Verbeugung. "Wir haben mit dem Königspaar noch ein wichtiges Gespräch geführt und es dauerte länger, als erwartet."

"Nicht doch", erwiderte Sharthir höflich und schüttelte den Kopf. "Es ist alles in bester Ordnung, Lady Syl'Tor."

Tserrina schenkte ihm ein Lächeln, dann reichte sie zuerst Scarramouche, dann Sharthir die Hand. "Meine besten Glückwünsche, Innoruuk möge über Euch wachen und sein Hass in Euch lodern."

"Ich möchte ebenso meine Glückwünsche aussprechen", fügte nun auch Mayong hinzu  und trat vor, um Scarramouche die Hand zu reichen. Ein kalter Schauer überlief sie, als sie dem Fürsten in die Augen sah. Gegen ihn wirkte Sharthir wie ein zuvorkommender, freundlicher Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Bemüht darum, sich ihre Furcht nicht anmerken zu lassen, reichte sie ihm zögerlich die Hand. Der Händedruck von Fürst Nebelmoor war fest; seine Hände so eiskalt, dass es Scarramouche unwillkürlich fröstelte.

"Diese Verbindung ist wahrlich ein Gewinn für Neriak. Meine Gratulation, ich bin mir sicher, wir dürfen noch viel von Euch erwarten", sagte er mit seiner tiefen, Respekt einflößenden Stimme. Dann wandte er sich Sharthir zu. Nachdem er diesen ebenso beglückwünscht hatte, erkundigte Sharthir sich nach Mayongs Forschungen, um ein Gespräch zu beginnen.

"Ah, es ist wie immer, ein stetes Auf und Ab. Einstweilen komme ich mit großen Schritten voran, dann wieder stehen die Erfolge monatelang still", erwiderte Mayong, doch Scarramouche entging nicht, dass er keine konkrete Antwort gab. Zugern würde sie wissen, was ein solch einflussreicher Teir'Dal erforschte, dennoch wagte sie es nicht, danach zu fragen. Gerüchten zufolge beschäftigte er sich mit allerlei Kreaturen; so manche erzählten sich, er arbeite sogar an der Erschaffung eigener Rassen, doch das hielt Scarramouche für Hirngespinste. 

"Ich verstehe", antwortete Sharthir, dann erkundigte sich Mayong seinerseits.

"Ich hörte, es gab einen Vampir-Übergriff in der Nachtlied-Oper?"

Scarramouche hob den Kopf und sah Sharthir an; Tserrina ihr gegenüber, die bisher ebenfalls nur schweigend zugehört hatte, horchte gleichermaßen interessiert auf.

"In der Tat", stimmte Sharthir zu und Scarramouche glaubte, einen vage herausfordernden Glanz in seinen Augen erkennen zu können. Im nächsten Moment war er jedoch wieder verschwunden. "Es waren Vampire sowohl aus dem D'Ryll-, als auch aus dem D'Morte-Geschlecht beteiligt. Sie haben eine Teir'Dal-Dame bei der Spät-Vorstellung überfallen und getötet. Ich habe sie eigenhändig ... hinausgeleitet."

Scarramouche warf Sharthir einen überraschten Blick zu.

Mayong hob die Schultern. "D'Ryll und D'Morte waren schon immer nur schwer im Zaum zu  halten."

"Ich dulde kein Blutvergießen in meiner Oper", antwortete Sharthir knapp und wieder bemerkte Scarramouche diesen herausfordernden Glanz in seinem Blick. Es war schwer vorstellbar, dass er sich tatsächlich selbst um diese Vampire gekümmert haben sollte; sein stets adrettes und stilvolles Auftreten erweckten eher den Eindruck, als würde er andere solche Arbeiten für sich erledigen lassen. Davon einmal abgesehen galten selbst niedere Vampire als äußerst mächtige Wesen, wie sollte er es alleine mit ihnen aufgenommen haben? Wollte Sharthir mit dieser Geschichte etwa Eindruck schinden?

Scarramouches Blick wanderte zu Mayong und sie erinnerte sich an die Gerüchte, die besagten, er sei ein uralter Vampir-Fürst, der schon seit Norraths Anbeginn auf diesem Planeten wandelte. Sollte man diesen Gerüchten Glauben schenken, war seine vorangegangene Bemerkung über die Unbezähmbarkeit von D'Ryll und D'Morte äußerst beunruhigend.

Schließlich riss Tserrina sie aus ihren Gedanken.

"Was für ein unpassendes Thema für den heutigen Abend. Wir sind auf einer Hochzeitsfeier, Mayong", unterbrach sie die beiden Männer und in ihrer Stimme schwang ein leicht tadelnder Unterton mit. 

Mayongs Mundwinkel zuckten, doch für ein Lächeln reichte es nicht. "Du hast Recht, Liebste. Sprechen wir über etwas Erfreulicheres."

Scarramouche und Sharthir tauschten augenblicklich einen Blick. Beinahe musste sie darüber  schmunzeln, dass Sharthir ebenso aufgehorcht hatte wie sie selbst. Tserrina schien dies nicht entgangen zu sein.

"Oh, Ihr scheint noch gar nichts davon zu wissen!"

Erneut folgten fragende Blicke, dann hob Tserrina ihre Hand und zeigte dem Brautpaar einen schillernden, goldenen Ring an ihrem Ringfinger. Scarramouche begriff, was sie damit sagen wollte. Ihr Blick schnellte zu Mayong.

"Er hat mich endlich gefragt", verkündete Tserrina strahlend und warf Mayong einen liebevollen Blick zu, welcher ihr Lächeln zwar kaum merklich erwiderte, jedoch schwieg. Scarramouche bemühte sich, freudig zu wirken, doch eine innere Unruhe hatte sie ergriffen, die sich nicht so einfach abschütteln ließ. Einmal mehr fragte sie sich, ob Mayong Nebelmoor tatsächlich eine gute Wahl war.

Sharthir jedoch schien aufrichtig erstaunt. "Wie unerwartet! Meinen Glückwunsch! Wann wird die Vermählung stattfinden?"

Tserrina und Mayong tauschten einen kurzen Blick, dann antwortete Tserrina: "Nun, es wird wohl noch eine Weile dauern." Sie zögerte kurz, bevor sie weitersprach. "Und sie wird auch nicht hier in Neriak abgehalten werden."

"So?"

Tserrina nickte, dann begannen ihre Augen zu leuchten. 

"Mayong hat versprochen, mir zu Ehren einen Turm im weit entfernten Velious zu errichten, in dem wir gemeinsam residieren und auch heiraten werden", schwärmte sie und lehnte dabei ihren Kopf an Mayongs Schulter. 

"Velious?", wiederholte Sharthir anerkennend. "Eine wahrhaftig winterliche Residenz. Sehr romantisch."

"Nicht wahr?", erwiderte Mayong zufrieden und breitete die Hände aus. "Denselben Gedanken hatte ich auch."

Tserrina schien überglücklich mit der derzeitigen Situation zu sein und schwärmte noch eine ganze Weile von Mayongs Bauvorhaben und ihren Hochzeitsplänen. Schließlich schien sie zu bemerken, dass Scarramouche dem Gespräch bisher größtenteils nur schweigend gelauscht hatte.

"Lady T'Narem, Euer Kleid ist wirklich atemberaubend schön." Tserrina schien aufrichtig begeistert, während Scarramouche einen Moment brauchte, um sich angesprochen zu fühlen - 'Lady T'Narem' genannt zu werden war einfach zu ungewohnt.

"Vielen Dank", antwortete sie lächelnd und warf Sharthir einen Blick voller Zuneigung zu. "Es wurde ganz nach den Wünschen meines Liebsten angefertigt."

Tserrina schien sichtlich beeindruckt. "Nein, wirklich?" 

Dann wandte sie sich an Mayong. "Ich hoffe, du zeigst ein ebenso glückliches Händchen bei der Auswahl meines Kleides!"

"Zweifelst du etwa daran?", erwiderte dieser vage lächelnd und legte seine Hand auf Tserrinas Schulter, woraufhin diese sich leise lachend an ihn schmiegte. Unwillkürlich suchte Scarramouche Sharthirs Blick, um festzustellen, was er davon hielt, doch dieser zeigte sich von dem Benehmen der beiden völlig ungerührt. 

Er versteht es tadellos, seine Gedanken zu verbergen, schoss es ihr durch den Kopf.

Dennoch war ihr weiterhin unwohl bei der Vorstellung, dass Tserrina Syl'tor, so mächtig sie auch sein mochte, ein unberechenbares Wesen wie Mayong Nebelmoor zum Mann nehmen wollte. Die Macht, die von diesem rätselhaften Teir'Dal ausging, war geradezu erdrückend und seine Anwesenheit war Scarramouche mehr als unangenehm. Umso erleichterter war sie nun, als ihr Vater sich am anderen Ende des Saales Gehör verschaffte und ihr Gespräch damit unterbrach.

"Meine verehrten Anwesenden! In Namen meiner Tochter und ihrem Gemahl darf ich mich für Euer zahlreiches Erscheinen an diesem besonderen Tag bedanken! Nachdem wir nun alle gestärkt sind und die Diener auch weiterhin für unser leibliches Wohl sorgen, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter Zeit verstreichen lassen, sondern nun die Tanzfläche freigeben!", verkündete er feierlich, dann sah er in Scarramouches und Sharthirs Richtung. "Selbstverständlich gehört dem Brautpaar der erste Tanz!"

Scarramouches Magen sank ihr in die Kniekehlen. Musste das nun wirklich sein? Doch ihr blieb keine Zeit sich weiter darüber Gedanken zu machen, denn Sharthir hatte sie bereits bei der Hand genommen und zog sie mit sich, nach vorne auf die Tanzfläche vor den Thronen des Königspaars. 

Dort standen sie und Scarramouche konnte hunderte von Blicken auf sich spüren. Es war ihr jedes Mal aufs Neue unangenehm, obwohl sie sich eigentlich allmählich an dieses Gefühl gewöhnen sollte. Eine solche Aufmerksamkeit wollte sie sich viel lieber verdienen, als sie durch die Hochzeit mit einem wohlhabenden, angesehenen Mann zu ernten. Sie zwang sich, sich auf Sharthir zu konzentrieren. Seine rechte Hand ruhte bereits auf ihrer Hüfte und nun legte sie widerstrebend ihre Hände jeweils auf seinen Arm und in seine linke Handfläche und nahm Haltung an. 

Das Orchester stimmte einen langsamen, düsteren Walzer an. Sharthir führte. Obwohl Scarramouche besten Tanzunterricht genossen hatte und durchaus eine fähige Tänzerin war, waren unter seiner Führung keinerlei Anstrengung oder Konzentration nötig; sie musste lediglich darauf achten, eine elegante Haltung zu wahren. Sie hob den Kopf und sah zu ihm hoch - ihre Blicke trafen sich und Scarramouche wurde wider Willen heiß. Sie musste zugeben, er sah unverschämt attraktiv aus und jetzt, wo sie ihm so nahe war, fiel ihr zum ersten Mal auf, wie gut er roch. Es war tatsächlich eine Verschwendung, einen solchen Mann von sich zu stoßen und ein Stich des Bedauerns durchzuckte sie, gefolgt von dem vertrauten, siedenden Zorn, der jedes Mal in ihr hoch kochte, wenn sie sich von seinem Äußeren verleiten ließ. Sie senkte den Blick wieder. Wenn sie darüber nachdachte, war er den ganzen Tag bereits sehr freundlich und zuvorkommend ihr gegenüber gewesen; genau genommen war er das eigentlich immer, außer sie hatte offen ihr Widerstreben gezeigt. Beim vorangegangenen Gespräch mit Mayong und Tserrina hatte seine Hand unentwegt auf ihrer Hüfte geruht und so ungern sie es auch zugab, hatte es in ihrer Unsicherheit vor dem Furcht einflössenden Fürsten eine seltsam beruhigende Wirkung auf sie gehabt. Noch einmal sah sie zu Sharthir hoch, dessen Blick immer noch auf ihr ruhte. Er lächelte kaum merklich. Scarramouche wich seinem Blick aus und fragte sich - zu ihrem eigenen Entsetzen - ob sie wohl die ganze Zeit über fehlgetreten war, was ihn betraf.
 

* * *

 

Die Feier hatte noch bis tief in die Nacht angedauert, doch schließlich hatte sich die Hochzeitsgesellschaft in den frühen Morgenstunden aufgelöst. Als Sharthir Scarramouche aus dem Palast führte, hatte dort bereits eine prunkvoll geschmückte Kutsche auf sie gewartet, die sie nun holpernd durch die Todesgrotte zu Sharthirs Anwesen, Scarramouches neuem Heim, brachte, das nicht weit vom Dunkellicht-Palast lag. Als die Kutsche dort angekommen war, öffnete ein Diener die Tür und Sharthir erhob sich, stieg aus und half Scarramouche ebenfalls hinaus, was sich mit ihrem Kleid erneut als nicht sonderlich einfach erwies. 

Nun stand sie vor Sharthirs prachtvollem Herrenhaus und sah mit bangem Blick an ihm hoch. Hierin lag nun ihre gemeinsame, ungewisse Zukunft mit Sharthir. Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, war Sharthir neben ihr in die Knie gegangen und hatte einen Arm unter ihr Kleid und ihre Kniekehlen geschoben. Mit einem Ruck hob er sie hoch und Scarramouche konnte einen überraschten Aufschrei nicht unterdrücken.

"Magst du Klischees?", fragte er sie mit einem schiefen Lächeln, doch sie brachte keine Antwort hervor. Ihr Herz raste auf einmal.

Ein weiterer Diener öffnete das schwere Portal des Anwesens und Sharthir trug sie über die Schwelle. In der Eingangshalle war es gespenstisch still, doch er hielt sich dort nicht lange auf. Er wies den Diener an, sich zurückzuziehen, dann trug er Scarramouche über die ausladende Treppe hinauf ins Obergeschoss. 

Bisher war Scarramouche nur in der Eingangshalle von Sharthirs Herrenhaus gewesen, die restlichen Teile des Anwesens waren ihr fremd. Der Flur des Obergeschosses war nicht minder stilvoll wie die untere Halle; in regelmäßigen Abständen wurde er von kunstvollen Wandleuchtern erhellt, dazwischen hingen mehrere wertvolle Gemälde von bekannten Künstlern. Einige davon schienen Vorfahren der Familie T'Narem zu zeigen, andere wiederum bemerkenswerte Bauwerke und Monumente, die in Neriak zu finden waren, wie beispielsweise die Türme von Innoruuk, der Dunkellicht-Palast und natürlich die Nachtlied-Oper. Scarramouche gab vor, jedes der Gemälde interessiert zu betrachten, denn wieder herrschte eine unangenehme Stille zwischen ihr und Sharthir, während er sie langsam den Flur entlang trug. Sein Blick ruhte auf ihr, das spürte sie und wieder breitete sich eine Hitzewelle in ihr aus. Sie konnte seine Hände unter ihren Oberschenkeln spüren und wider Erwarten waren sie nicht eiskalt, sondern angenehm warm. Dennoch war ihr unwohl in seinen Armen und sie hoffte, dass sie ihre neuen Gemächer bald erreicht hatten, damit er sie endlich allein ließ. 

Nach einer gefühlten Ewigkeit blieb Sharthir stehen und öffnete die Tür des Raumes, vor dem sie angehalten hatten. Als er sie über die Schwelle trug, runzelte Scarramouche argwöhnisch die Stirn; der Raum war groß und geräumig und wie vermutlich alle Zimmer in diesem Anwesen geschmackvoll eingerichtet. Die Möbel waren alle aus edelstem, dunklem Holz gefertigt, doch was Scarramouche stutzen ließ, war das prächtige Himmelbett in Übergröße, was in der Mitte des Raumes an der Wand zwischen den beiden Fenstern stand. 

Etwas groß für eine Person, schoss es ihr durch den Kopf und Unbehagen machte sich in ihr breit.

"Willkommen in deinem neuen Zuhause. Dies sind unsere Gemächer", säuselte Sharthir in ihr Ohr und ihr Herz setzte einen Schlag aus.

"Unsere Gemächer?!"

Sharthir lachte amüsiert. "Natürlich - wir sind Eheleute, was dachtest du denn?"

Bevor Scarramouche etwas erwidern konnte, setzte er sie auf dem prachtvollen Bett ab und ließ sich neben sie gleiten. Sogleich keuchte sie auf, denn in der weichen Matratze war sie eingesunken und das eng geschnürte Mieder presste ihr die Luft aus den Lungen, während die Krinoline schmerzhaft in ihr Fleisch schnitt. 

"Oh, verzeih mir", sagte Sharthir noch immer amüsiert und setzte sich auf, nachdem Scarramouche in die Höhe geschnellt war und nun umständlich versuchte, ihr Mieder auf dem Rücken aufzuschnüren. Sharthir rückte näher.

"Lass mich dir helfen."

Scarramouche erstarrte. In ihrem Kopf nahm allmählich ein Gedanke Gestalt an, doch sie ließ ihn unvollendet und drehte sich langsam zu ihm um. Sharthirs Miene war erwartungsvoll, ein vages Lächeln lag auf seinen Lippen und er machte Anstalten nach ihrer Miederschnürung zu greifen, doch sie rückte augenblicklich außer Reichweite, an die Kante des Bettes. Ihr Herz hämmerte.

Auf einmal war es ihr unbegreiflich, wie sie so naiv hatte sein können. Warum war ihr nie in den Sinn gekommen, dass er ihr tatsächlich zu Leibe rücken könnte? Wenn sie jetzt darüber nachdachte, wäre dies das Erste gewesen, womit sie hätte rechnen müssen. Sie kam sich mit einem Mal so hilflos vor - was sollte sie nun tun?

"Ich wäre zutiefst betrübt, wenn du in unserer Hochzeitsnacht ersticken würdest." Der Hauch seines Atems strich ihr über den Nacken. Sie schauderte.

"E-es geht schon", antwortete sie und nestelte weiter fahrig an ihrem Mieder herum. Ihre Stimme zitterte.

Sharthir lachte leise. "Hast du etwa Angst?"

Scarramouche zögerte; sie durfte sich nun nicht verplappern, in ihrer Furcht schon gar nicht zornig werden, sonst würde er all das durchschauen, was sie ihm bisher vorgegaukelt hatte. Keine Braut würde sich ihrer Hochzeitsnacht erwehren, wenn sie also überzeugend sein wollte, musste sie mitspielen, aber ... sie wollte nicht. Ein heftiges Widerstreben packte sie und drohte sie zu übermannen. Sie wollte nicht. Auf keinen Fall - doch was für eine Wahl hatte sie?

"S-so ein Unsinn", antwortete sie schließlich und ohne ihn anzusehen.

Sharthirs Augen blitzten. "Dann steht uns ja nichts mehr im Wege."

Er begann ihr Mieder aufzuschnüren, Öse für Öse, bis er es schließlich beiseite streifte. Erleichterung durchflutete sie, als der schmerzhafte Druck auf ihren Rippen endlich verebbte und sich ihre Lungen wieder ausgiebig mit Luft füllen konnten, doch gleichzeitig wallte auch Scham in ihr auf, da sie Sharthir nun ihre Unterwäsche preisgegeben hatte. Einmal mehr verwünschte sie ihre Mutter dafür, dass sie sie dazu gedrängt hatte, die schwarze Spitzenunterwäsche mit den Strumpfhaltern anzuziehen und inzwischen wusste sie auch genau, weshalb. Wieder fragte sie sich, warum ihr das nicht schon früher bewusst geworden war. 

Sharthir hatte anerkennend die Augenbrauen hochgezogen; scheinbar hatte ihre Mutter seinen Geschmack gut getroffen und Scarramouche sah peinlich berührt weg. Noch immer raste ihr Herz. Er erhob sich und zog auch Scarramouche auf die Beine, dann küsste er sie völlig unvermittelt. Sie war außer Stande, den Kuss zu erwidern - ihr Widerwillen war einfach zu groß und eine überwältigende Furcht brach erneut über sie herein. Wie vom Donner gerührt stand sie da, buchstäblich starr vor Schreck, während Sharthirs Kuss andauerte und er seine Hände über ihre nackten Schultern und Arme gleiten ließ, hinunter zu ihrer Hüfte, wo er sie endlich von der schmerzhaften Krinoline befreite. 

Was sollte sie nun bloß tun? In den 51 Jahren ihres Lebens hatte sie stets nur eines im Sinn gehabt: Dem Wunsch ihrer Eltern, die Kunst der Nekromantie zu erlernen zu trotzen und stattdessen die Ausbildung zu einer Assassine durchzusetzen. An nichts anderes hatte sie je gedacht, schon gar nicht an Männer. Davon einmal abgesehen hatte ihr Vater stets ein Auge darauf gehabt, sie jungfräulich und unbefleckt in die Ehe zu bringen, alles andere hätte den Wert seiner Tochter und die Aussichten auf einen ranghohen Ehemann stark geschmälert. Und jetzt sah sie sich mit der Situation einfach nur heillos überfordert. 

Sharthir hatte sich inzwischen von ihr gelöst, seine Hände aber nun um ihre Taille gelegt und schob sie sanft zurück aufs Bett. Sie lag auf dem Rücken, während er nun über sie kletterte und sie erneut küsste. Ihre Gedanken waren ein einziges Chaos. Fieberhaft überlegte sie, wie sie ihn loswerden konnte, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen, doch ihr wollte keine plausible Lösung einfallen. Nachdem sie sich nicht rührte, knöpfte Sharthir nun selbst seine Weste und sein Hemd auf, dann ließ er seine Hände wieder über ihren Oberkörper wandern, über ihre Hüfte, bis er eine sensible Stelle berührte - dann verlor sie die Beherrschung.

"FASS MICH NICHT AN!", fauchte sie und stieß Sharthir so energisch von sich, dass ihre Handflächen schmerzten.

Er hielt inne, jedoch nur um sie eindringlich anzusehen, dann verzog ein spöttisches Lächeln seine Züge. Scarramouche erstarrte.

"Besonders lange hast du aber nicht durchgehalten." Er lachte leise, dann wurde sein Blick eisig. "Hast du wirklich geglaubt, du könntest mich mit diesem Affentheater täuschen?"

Scarramouche schluckte hart; er klang zornig - sehr zornig. Beinahe schon bereute sie es, ihn eben in einem Anflug von Panik von sich gestoßen zu haben, denn nun fürchtete sie weit Schlimmeres. Nicht nur, dass nun all ihre Bemühungen verpufft waren, ihn glauben zu lassen, sie wäre freiwillig seine Frau geworden, nun hatte sie ihn auch noch erzürnt. Und zornig war er wirklich furchteinflössend.

Doch nun hatte es keinen Sinn mehr, ihm etwas vorzuspielen. Sie hob würdevoll das Kinn.

"Ich persönlich fand mich gar nicht so schlecht. Meine Eltern sind sofort darauf reingefallen."

Sharthir schnaubte verächtlich, sagte jedoch nichts. Noch wollte er wohl nichts Negatives über seine Schwiegereltern verlauten lassen. Dann lächelte er wieder; ein Lächeln, welches Scarramouche eiskalte Schauer über den Rücken jagte. 

"Mir war schon fast klar, dass du dich in der Hochzeitsnacht verraten würdest", flüsterte er und beugte sich über sie, um sie erneut zu küssen, doch Scarramouche drehte den Kopf weg und versuchte ihn von sich zu schieben.

"Bezaubernd, wie du dich schämst."

"Halt deinen Mund!", fauchte Scarramouche wütend, dann stockte sie, als sie ihren Fehler erkannte. Sharthirs Augen glänzten gefährlich. 

"Scheinbar muss ich dir wirklich erst Manieren beibringen." Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und er packte ihre Hand. In einem Anflug von Furcht versuchte Scarramouche sich loszureißen und aus seiner Reichweite zu gelangen, doch sein Griff war zu fest.

"Du hast dich nun genug geziert!"

Er zerrte sie zu sich her und ging nun wesentlich gröber zur Sache als zuvor. Scarramouche zappelte, versuchte sich seinem Griff zu entwinden, doch alle Schreie und Versuche, sich zu wehren waren vergeblich. Schließlich holte er sich mit Gewalt, was er wollte.      



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