Revenge of Fire von Platan (The Reminiscence) ================================================================================ Prolog: Lebensziel ------------------ „... Teepo.“ Ein Flüstern durchbrach die bisher unüberwindbar erscheinende Stille um ihn herum und schlich sich direkt in seinen Kopf hinein, was ihn sofort aus seinem Schlaf weckte. Ob er den Zustand, in dem er sich bis gerade eben noch befunden hatte, überhaupt als solchen bezeichnen konnte, wusste er selbst nicht so recht. Er hatte sich leicht gefühlt, sogar beinahe schwerelos. Behütet von einer Macht, die in gleichmäßigen Wellen von innen aus ihm heraus geströmt war, um ein unsichtbares Schutzschild zu bilden. Es hatte ihm Freiheit von sämtlichen Bedürfnissen verschafft, wie in einem Traum. Zusätzlich war sein Geist vollkommen befreit von jedem lästigen Gedanken und unantastbar für äußerliche Reize gewesen. Ja, es war ganz sicher nur ein Traum. Nichts hatte diesen Schlaf, dieses angenehme Dasein ohne jegliche Verpflichtungen oder Leid, stören können, außer dieser Stimme. Erst als jemand seinen Namen flüsterte, wurde das Schild durchbrochen. „... Teepo“, ertönte abermals leise eine Stimme, wobei er bemerkte, dass es sich nicht wirklich um ein Flüstern handelte. Vielmehr klang es danach, als käme die Stimme aus weiter Ferne zu ihm geflogen. Durch ihren verzerrten Klang war es nicht möglich einzuschätzen, ob sie einer Frau oder einem Mann gehörte, auch ließ sich keine bestimmte Stimmung aus ihr heraushören. Wer oder was versuchte da gerade zu ihm zu sprechen? Als der Junge, Teepo, langsam seine Augen öffnete und endgültig erwachte, konnte er anfangs nichts anderes außer Schwärze sehen, von der er gänzlich umgeben war. Kurze Zeit später erstrahlte dann direkt über ihm plötzlich ein grelles Licht und schloss ihn kegelförmig ein. Dabei war kurz ein kaum vernehmbares, metallisches Geräusch zu hören. Seltsamerweise blendete ihn das Licht nicht, kein bisschen, aber er war sowieso zu abgelenkt von all seinen Bedürfnissen und Gedanken, denen er nun leider wieder unvermeidlich ausgesetzt war. Da blieb keine Zeit, sich über dieses Licht zu wundern. Mit seinem Erwachen hatte sich diese geistige Macht wieder in den hintersten Winkel seines Inneren zurückgezogen, daher war auch die schützende Hülle in sich zusammengefallen, wie ein Kartenhaus. Ohne diesen Schutz kehrten nicht nur die angestauten Bedürfnisse und Gedanken zurück, sondern auch das Gefühl der Schwerelosigkeit schwand. Wieso nur hatte es jemand gewagt, ihn aus seinem Schlaf zu wecken, in dem es so perfekt gewesen war? Noch ein weiteres Mal erklang die Stimme und es gelang ihr immer mehr, seine Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. „Sag, hast du ein Ziel? Etwas, das du in deinem Leben unbedingt erreichen willst, meine ich. Ein Lebensziel sozusagen. Meiner Meinung nach ist es wichtig, eines zu haben. Findest du nicht auch?“ Teepo richtete sich nach diesen Worten aus seiner liegenden Position auf. Statt seinen Blick durch die Umgebung schweifen zu lassen, blieb dieser sofort an der Schattengestalt haften, die er geradeaus vor sich in vielen Metern Entfernung stehen sehen konnte. Sie war zwar ebenfalls von einem Lichtkegel eingehüllt, dennoch konnte er so gut wie nichts erkennen, außer einer menschlichen Silhouette. Irgendwie war er sich trotzdem sicher, dass diese Person ihm den Rücken zuwandte. Der Grund für diese Annahme war ein Gefühl, das er bei diesem Anblick empfand, denn er fühlte sich abgewiesen und fast ein wenig verlassen. „Denkst du, Rache ist ein erstrebenswertes Ziel?“, fuhr die Gestalt fort. „Würdest du dafür auch dein eigenes Leben einsetzen, wenn es sein muss?“ „Was?“, erwiderte Teepo nun verwirrt. Ehrlich gesagt hatte er nicht mal ansatzweise eine Ahnung, was hier überhaupt geschah und wo er sich befand, geschweige denn wer diese Person war, jedoch machte es ihn wütend. In ihm keimte Wut auf, auch wenn er nicht sagen konnte, warum genau. Dass diese seltsame Erscheinung noch dazu über eine derart große Entfernung hinweg mit ihm sprach, als wollte sie ihn nicht zu nahe bei sich haben, sorgte bei ihm zusätzlich für Unmut. „Was laberst du da? Wer bist du?“ „Ich finde es einfach nur bedauerlich, Teepo.“ Einen Augenschlag lang war ein kühler Windzug zu spüren, bevor der Schatten von einer Sekunde zur nächsten mit der Schwärze verschmolz, da der Lichtkegel über diesem erlosch. Einfach so. Erneut mit einem metallischen Geräusch, einem Klacken, dessen Echo ruhelos durch das weite Nichts wanderte, bis es schließlich erstickte und ihm sagte, dass Teepo nun vollkommen alleine war. „Hey, warte! Komm gefälligst zurück und sag mir ins Gesicht, was du für ein Problem mit mir hast! Hörst du?!“, platzte es aus ihm heraus und er sprang auf. Gerade als er zu der Stelle rennen wollte, wo vorhin noch diese geheimnisvolle Person gestanden hatte, weitete sich das Licht über seinem Kopf auf einmal explosionsartig aus und verdrängte innerhalb eines Atemzuges problemlos die Schwärze. Noch bevor Teepo auf irgendeine Weise reagieren konnte, wollte ihn eine vertraute Kraft wegzerren, fort von diesem merkwürdigen Ort. In seinem Kopf glaubte er ein letztes Mal jemanden flüstern zu hören, nur war er nicht sicher, ob es dieselbe Stimme war wie zuvor oder nicht doch jemand anderes. Im Gegensatz zu vorhin war es ihm dafür nun möglich, anhand der Tonlage ein Gefühl wahrzunehmen, denn es kristallisierte sich trotz des verzerrten Klangs besonders stark heraus: Trauer. „Rache bringt nur noch mehr Schmerz mit sich. Weißt du warum? Sie sorgt dafür, dass deine Wunden nicht heilen können.“ „Rache?“, wiederholte er ratlos. „Warum redest du von so etwas?“ Wieder fragte Teepo sich, ob das hier nur ein Traum war. Sollte es einer sein, wollte er ihn einfach nur vergessen. Es verwirrte ihn zu sehr und die Schuldgefühle, die auf einmal überall in der Atmosphäre zu spüren waren, machten es nicht besser. Eigentlich sollte er gar nicht hier sein. Rei. Ryu. Teepo musste endlich aufwachen, also ließ er sich freiwillig von dieser Kraft leiten und fiel. Diesmal landete er hoffentlich in der Wirklichkeit. Kapitel 1: Erwachen ------------------- Yrallien: Zedernwälder „... Mmm.“ Es war, als würde Teepo nach langer Zeit aus einem tiefen Schlaf erwachen und gleichzeitig kam es ihm doch nur wie ein kurzer Moment vor, in dem er sich ausgeruht hatte. Träge öffnete er die Augen und erblickte als erstes einen dunklen, mit grauen Wolken bedeckten Nachthimmel, der bald einen heftigen Regenschauer vermuten ließ. In den Augenwinkeln nahm er nur flüchtig die blühenden Äste eines Baumes wahr, in dessen Nähe er im Gras lag. Schnell stieg ihm ein starker, verbrannter Geruch in die Nase und aus irgendeinem Grund war ihm furchtbar schlecht, was aber nichts im Vergleich zu den höllischen Kopfschmerzen war, von denen er nebenbei auch noch geplagt wurde. Eher genervt als aus Schmerz, entglitt ihm deshalb ein Stöhnen. Bestimmt hatte sein gleichaltriger Freund Ryu ihn wieder mit zahllosen, lächerlichen Fragen gelöchert, so dass Teepo nun wie so oft der Schädel davon brummte. Und wegen einem weiteren, misslungenen Versuch durch die nicht vorhandenen Kochkünste seines älteren Freundes Rei, musste er nun von Übelkeit befallen sein, zumindest waren das seine ersten Gedanken. Diese Gedanken wollte er glauben. Bloß einen Augenblick später ahnte er aber bereits, dass es nicht die wahren Gründe für seine Beschwerden waren. Ein schlechtes Gefühl sagte ihm das und es schien sich über ihn lustig zu machen, indem es Teepo noch mehr Schmerzen in den Kopf jagte. „Rei ...? Ryu ...?“, murmelte er leicht benommen vor sich hin, erhielt jedoch keine Antwort. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich aufzurichten. Obwohl das eine äußerst simple Bewegung war, forderte sie einige Kraftreserven seines Körpers, der vor Schwäche zu zittern anfing. Insgesamt fühlte Teepo sich ungewohnt schlapp, so als hätte er zuvor etwas überaus Anstrengendes getan. Da es in der Regel allerdings kaum etwas gab, was ihn so einfach erschöpfte, beunruhigte ihn dieser Zustand. Ein leichtes Schwindelgefühl ließ seine Laune dann erheblich in den Keller sinken. „Verdammt, was ist denn passiert?“ Erst jetzt realisierte er dieses unheilvolle Knistern und Knacken von Holz sowie die Hitze, die überall in der Luft lag und ein perfektes Zusammenspiel mit dem verbrannten Geruch einging, von dem sich seine Nase so gereizt fühlte. Prompt verschlimmerte sich die innere Unruhe und verwandelte sich allmählich sogar in Panik, wovon man Teepo von außen allerdings noch nicht viel ansehen konnte. Sein eigener Herzschlag dröhnte ihm förmlich in den Ohren, kaum dass er seinen Blick erneut in den Himmel lenkte und erkannte, dass dort oben keine gewöhnlichen Wolken zu sehen waren, auf alle Fälle nicht nur. Hastig stand er auf, wohl etwas zu zügig für seinen ausgelaugten Körper, denn er schwankte dabei sehr. An dem Stamm des nahegelgenen Baumes fand er Halt, verweilte dort aber nicht lange. Gekonnt ließ er die Signale außer Acht, die sein Körper ihm durch den Schwindel gab, und bewegte sich einige Schritte Richtung Trampelpfad, der hinauf zu einem großen Baumhaus führte. Mit jedem Schritt hämmerte sein Herz wilder gegen seine Brust. Es wirkte ein bisschen wie ein verzweifelter Versuch, vor etwas fliehen zu wollen. Ja, eine innere Stimme wollte ihn vor dem warnen, was er gleich sehen würde. Kaum hatte er mit den Augen sein Ziel erfasst, verlor Teepo für einige Zeit die Fähigkeit zu atmen. Immer noch ließ sich äußerlich nicht wirklich erkennen, wie dieser Anblick, der sich ihm bot, ihn beeinflusste. Jeder, der nun in ihn hinein gesehen hätte, wäre Zeuge der Zerstörung geworden, die sein Herz ihm zufügte, als es mit nur einem weiteren Schlag förmlich an dem Hindernis zu zersplittern schien und tiefe Wunden hinterließ. ... Nein. Das Baumhaus, seine einzige Heimat, es brannte. Flammen schlugen wie tobsüchtige Bestien aus dem Innenraum hervor und türmten sich in den Himmel hinauf, genau wie der Rauch, den er irrtümlicherweise mit zu den dunklen Gewitterwolken gezählt hatte. Jetzt fiel ihm alles wieder ein. Alles. Zwei fremde Männer, Tiermenschen mit den Gesichtern von Pferden, silbern und golden, hatten seinen Freunden und ihm hier auf dem Weg aufgelauert, zuvor sogar grundlos ihr Haus angezündet. Vor lauter Zorn hatte Teepo sein Schwert gezogen und war schreiend auf sie losgegangen. Richtig, er hatte gemeinsam mit Rei und Ryu gegen diese Kerle gekämpft, doch sie waren zu stark gewesen. So einen aussichtslosen Kampf hatte er noch nie erlebt, diese Verbrecher verfügten leider über wesentlich mehr Stärke als sie. Rei war zuerst gefallen. Dann Teepo selbst und zuletzt wahrscheinlich auch Ryu, immerhin war er der Schwächste von ihnen. Allein der Gedanke daran ließ Zorn in ihm aufflammen, der genauso unaufhaltsam zu brennen begann wie dieses Feuer, das ihr Baumhaus verschlang. „Warum ...“ In seiner Stimme lag ein Hauch von Verzweiflung verborgen, doch war der Hass gegenüber diesen Gaunern am deutlichsten zu spüren. „Warum haben sie uns das angetan?! Woher nahmen die sich das Recht dazu?! Rei ... Ryu ...“ Rasch legte sich sein Zorn ein wenig, weil sich ihm die Frage aufdrängte, wo Rei und Ryu abgeblieben waren, seine Freunde, die mit ihm gekämpft und verloren hatten. Später würde er seiner Wut schon noch ausgiebig freien Lauf lassen, zuerst sollte er aber lieber nach den beiden suchen. Möglichst schnell, da sie noch in Gefahr sein könnten. Er wandte sich von dem Baumhaus ab und suchte mit den Augen die Umgebung ab. Auf den ersten Blick konnte er niemanden entdecken, auch keine Tiere. Vermutlich waren sie längst wegen des Feuers in einen anderen Teil des Zedernwaldes geflohen, in dessen Mitte das Baumhaus stand. Nicht mal eines von diesen Monstern war zu sehen, von denen sich hier normalerweise stets welche herumtrieben. Trotzdem ließ er den Blick nochmal hin und her schweifen, in der Hoffnung, etwas übersehen zu haben, ohne Erfolg. Hier war niemand. Von den zwei Pferdegesichtern fehlte auch jede Spur. Teepo war vollkommen allein. Nein. Nein! Sie MÜSSEN hier irgendwo sein! Dass diese Gauner die beiden mitgenommen hatten, schloss er von vornherein aus, denn sonst hätten sie sicher auch ihn mitgekommen. Zurücklassen würden Rei und Ryu ihn auch nicht, dafür war ihr Zusammenhalt viel zu groß. Bewusstlos konnten sie aber ebenfalls nicht mehr sein, andernfalls müssten sie hier irgendwo in der Nähe liegen und zu finden sein. Möglicherweise waren sie Hilfe holen oder versuchten gerade das Feuer beim Baumhaus zu löschen, auch wenn es garantiert nichts mehr zu retten gab. Allein vom herumstehen und grübeln werde ich sie nicht finden. Mit großen Schritten setzte er sich in Bewegung, lenkte den Blick noch ein drittes Mal von einer Seite zur anderen und sog erschrocken die Luft ein, als er auf einmal den Boden unter den Füßen verlor. Teepo stürzte in den alten Wassergraben hinab, der sich an dem Baumhaus entlang zog. Glücklicherweise war das Wasser so niedrig, dass er problemlos darin stehen konnte. Ich Idiot! Ich hätte besser aufpassen sollen. Diesmal schaffte er es zwar etwas schneller als vorhin, wieder auf die Beine zu kommen, torkelte dabei aber nach wie vor. Sein Gleichgewichtssinn ließ für seinen Geschmack absolut zu wünschen übrig, doch es musste ausreichen, um aus dem Graben hinausklettern zu können, der nur geschätzte drei bis fünf Meter tief war. Zielstrebig eilte er auf eine zu überwindende Wand neben sich zu und rutschte aufgrund seiner Ungeschicklichkeit, die er dabei an den Tag legte, gleich nach wenigen Sekunden zurück auf den Grund. „Argh! Mist!“ Empört stieß er innerlich einen Fluch aus. „Was ist denn nur mit meinem Körper los?! Ich habe keine Zeit für so was, ich muss Rei und Ryu suchen!“ Bisher hatte es noch nie für ihn ein Problem dargestellt, aus diesem Graben herauszuklettern, solange es nicht regnete. Mit seinem Körper stimmte ohnehin etwas nicht, dieses Gefühl wurde er schon die ganze Zeit nicht los. Etwas fühlte sich komisch an, anders konnte er es nicht erklären. So ungewohnt. Abgesehen davon war es ohnehin ein Wunder, dass er außer Übelkeit und den Kopfschmerzen keinerlei Verletzungen aufzuweisen schien, ansonsten müsste er doch etwas davon spüren. Wenn er daran zurückdachte, wie er von diesen Kerlen verprügelt worden war, musste er mindestens eine Verletzung erlitten haben, wenn nicht sogar mehr, so ungern er es zugab. Während er diesen Gedanken nachging, streifte sein Blick eher zufällig sein eigenes Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Umgehend erstarrte er. Was Teepo dort im Wasser sah, konnte nicht wahr sein. Niemals. Überall ließen sich statt Haut dunkelviolette Schuppen finden. Zwei spitze Hörner ragten aus seinem Kopf hervor. Kurze Krallen an Händen und Füßen, die nun eher als Klauen beschrieben werden konnten. Ein winziges Flügelpaar schmiegte sich an seinen Rücken. Die Augen funkelten rot. Und sein Gesicht sowie der Körperbau erst ... „Unmöglich!“, protestierte er ungläubig und bemerkte nun endlich, dass statt seiner Stimme nur ein schrilles Fauchen zu hören war. „Huh? Was ist mit mir passiert? Wie kann das sein? Mein Körper ... ich sehe aus wie ein ...“ ... Drache. Anstelle seines gewöhnlichen Spiegelbildes war dort im Wasser ein kleiner Drache zu sehen, aber das konnte nur ein dummer Scherz seiner eigenen Wahrnehmung sein. Nicht nur, dass Teepo sein bisheriges Leben zweifelsohne als Mensch verbracht hatte, Drachen waren außerdem seit langem ausgestorben. Wie sollte das also möglich sein? Lange konnte er den Blick nicht von diesem falschen Bild abwenden, bis er feststellen musste, dass sich nichts daran veränderte, egal wie stur er darauf wartete. Im Wasser war weiterhin dieses fremdartige Wesen zu sehen und das starrte ihn ebenso zweifelnd an. Nein, es konnte nur Einbildung oder ein Traum sein. Allerdings konnte Teepo nicht leugnen, dass er recht fasziniert davon war. In ihm lag noch dazu eine gewisse Vertrautheit versteckt, die sich nun Stück für Stück bemerkbar machte, je länger er dieses Bildnis des kleinen Drachens ansah. Genau dieses Gefühl bereitete ihm zugleich Unbehagen, daher kniff er letzten Endes die Augen fest zusammen und schüttelte den Kopf. Reiß dich zusammen! Das ist nur deine Einbildung!, sprach er in Gedanken zu sich selbst. Derweil erhellte in der Ferne ein gleißender Blitz für einen Wimpernschlag lang die Nacht, worauf nach wenigen Sekunden ein lauter Donner folgte, den Teepo nicht wahrnahm, so sehr sprach er in Gedanken auf sich selbst ein. Eine Weile später fiel der erste Regentropfen vom Himmel. Dann noch einer. Und noch einer. Immer mehr. Irgendwann durchfuhr schließlich unerwartet ein heftiger Schmerz seinen Körper. Zähneknirschend kippte er leicht nach hinten und riss die Augen auf. Aus einem ihm nicht ersichtlichen Grund waren seine Kopfschmerzen schlagartig schlimmer geworden, viel schlimmer. Als dann auch noch etwas Warmes seine Stirn hinunterglitt, wagte er wieder einen Blick auf sein Spiegelbild ... und er wurde sowohl positiv als auch negativ überrascht: Der positive Punkt war der, dass von einem Drachen nun nichts mehr zu sehen war, sondern er endlich sein normales Spiegelbild begrüßen konnte. Er sah genauso aus, wie es sein sollte. Nämlich menschlich, wie der zehnjährige Junge, der er war. Also war es doch nur Einbildung gewesen. Außer seiner Kleidung, die größtenteils die gleiche Farbe besaß wie die Schuppen des Drachens zuvor, erinnerte nichts mehr an dieses Fabelwesen. Das Funkeln war aus seinen Augen verschwunden, die nicht mehr durch und durch rot, sondern braunrot waren. Langes, lavendelfarbenes Haar hing über seine Schultern nach vorne und war vom Regen schon total durchnässt, genau wie der ganze Rest von ihm. Aus einem Reflex heraus wollte er nach ihnen greifen, um das Wasser auszudrücken, was gewiss bei diesem Regen nicht viel Sinn gemacht hätte, hielt aber inne, da er etwas anderes entdeckte. „Das darf doch nicht wahr sein“, kommentierte er missgelaunt und tastete vorsichtig über die Platzwunde an seinem Kopf. Dies war der negative Punkt: Es hatte sich um Blut gehandelt, das ihm über die Stirn gelaufen war, doch davon war dank der derzeitigen Wetterlage nicht mehr viel zu sehen. Wenigstens war der wahre Grund für seine Kopfschmerzen somit geklärt. Sonst konnte er auf Anhieb keine anderen äußerlichen Verletzungen ausmachen, außer dass seine Kleidung äußerst mitgenommen aussah. So rücksichtslos wie die zwei Typen auf uns eingeschlagen haben, kann ich froh sein, dass es mich nicht schlimmer erwischt hat. Nachdenklich streckte Teepo den Kopf gen Himmel. Zahlreiche Regentropfen prasselten ihm ins Gesicht, darum hob er schützend eine Hand vor dieses, nur half es nicht sonderlich. Das Wetter ging ihm gerade tierisch auf die Nerven, auch wenn er es einerseits erfrischend fand. Rei ist ein starker Kämpfer, um den mache ich mir keine Sorgen. Wenn ich es geschafft habe, dann er sicher auch. Aber Ryu? Stimmt, er sollte weitersuchen. Einer von ihnen konnte eventuell schwerer verletzt sein als er. Entschlossen machte er sich daran, endlich aus dem Graben zu klettern. Bei so einem starken Regen sollte er sowieso nicht länger dort bleiben, der Wasserspiegel konnte an solchen Tagen nämlich erschreckend schnell ansteigen. Mehrere Anläufe später hatte Teepo es geschafft und atmete einige Male tief durch, bevor er anfing zu suchen. So laut er konnte rief er nach seinen Freunden. Einmal. Zweimal. Und noch öfter. Keine Antwort. Alleingelassen wurden seine Rufe von dem stetigen Geräusch des Regens übertönt, dem es langsam aber sicher wie durch ein Wunder gelang, Herr über das Feuer zu werden. Daran, dass er für kurze Zeit wie ein Drache ausgesehen hatte, dachte er keine einzige Sekunde mehr. Für Teepo war es schlicht eine Wahrnehmungsstörung gewesen oder etwas in der Richtung. Einbildung halt. Nichts, worüber man sich unnötig Gedanken machen sollte, jedenfalls nicht jetzt. Momentan war es für ihn wichtiger, seine Freunde zu finden. Woher hätte er auch ahnen sollen, wie sehr dieser schicksalhafte Tag mit all seinen Ereignissen sein Leben vollständig verändern würde? Wie sollte er zu diesem Zeitpunkt wissen, dass an diesem Tag das Blut einer Rasse in ihm erwacht war, die überall als gefürchtet galt? *** Nicht weit entfernt beobachtete jemand heimlich aus den Schatten des Waldes den Jungen, der hartnäckig die Gegend um das Baumhaus herum absuchte. Zwischendurch wandte diese rätselhafte Person ihren Blick aber wieder und wieder dem Kind mit den blauen Haaren zu, das sie in den Armen hielt. Anschließend seufzte sie leise, mit jedem Mal tiefer. „Es hilft nichts. Ich muss den Kleinen loswerden“, flüsterte sie für sich. „Ich sehe schon, das wird ganz schön anstrengend werden.“ Damit zog sich die Gestalt geschickt zurück, ohne von irgendjemandem bemerkt zu werden. Kapitel 2: Schicksal -------------------- Yrallien: Zedernwälder „Nicht zu fassen“, murmelte Teepo erst ungläubig, lachte dann aber amüsiert. „Entweder hat der Alte einfach nur vergessen abzuschließen oder ich habe zur Abwechslung mal echt Glück.“ Was auch immer der wahre Grund dafür sein mochte, warum die Tür zur Hütte des Jägers nicht abgeschlossen war, konnte ihm ja eigentlich egal sein. Wichtig war nur, dass er unverhofft freien Zugang zum Innenleben des Hauses bekam, was er natürlich ohne Scham für sich ausnutzen wollte. Hätte er den Alten nicht rechtzeitig bemerkt, wäre er niemals auf diese Idee gekommen. Gut für ihn. Bei seiner Suche nach Rei und Ryu hatte Teepo nach kurzer Zeit tatsächlich jemanden entdeckt, nur war es leider keiner von seinen Freunden gewesen. Mit dieser Person, die sich plötzlich ebenfalls in der Umgebung des brennenden Baumhauses herumtrieb, hätte er nicht mal in hundert Jahren gerechnet: Bunyan. Bunyan war ein Jäger, der allein in einer Hütte im Zedernwald lebte, wo auch Teepo und die anderen ihr Zuhause hatten ... bis vor kurzem. Er war ein großer und kräftig gebauter Mann, dessen Markenzeichen sein stolzer, brauner Haar- sowie Bartwuchs war. An seiner Kleidung konnte man stets erkennen, dass er, wie alle anderen in der Region, ein bescheidenes Leben führte. Ob diese Lebensweise nun eine Frage von knappen Geldmitteln oder schlicht der Einstellung war, interessierte Teepo hierbei eher weniger. Vielmehr fragte er sich, weshalb dieser Typ bei den Leuten im Dorf so beliebt war. Weil er seine Beute, die er bei der Jagd erlegte, oft für eine geringe Gegenleistung dort anbot? Eine andere Begründung fiel ihm nicht ein, denn einen liebenswürdigen Charakter besaß dieser Kerl gewiss nicht, seiner Meinung nach. Nahezu ständig wies Bunyan die drei Kinder wegen jeder Kleinigkeit zurecht oder meckerte mit ihnen, als wäre er ihr Boss oder etwas dergleichen. Einmal hatte er Teepo und Ryu für ihn sogar Holz hacken lassen! Angeblich war diese Tätigkeit mit einer Lehre verbunden gewesen oder so, irgendwas mit Lohn erfordert harte Arbeit. Und stehlen war etwa keine harte Arbeit? Hatte dieser Besserwisser auch nur ansatzweise eine Ahnung davon, wie anstrengend das Leben als Dieb sein konnte? Offenbar nicht. Wie oft hatten sie sich von ihm anhören müssen, dass sie nicht mehr stehlen sollten? Viel zu oft. Wieso es so schlimm war, wenn hungrige Waisenkinder sich ihr Essen durch Raubzüge besorgten, verstand er bis heute nicht. Ich kann ihn nicht ausstehen. Er nervt nur rum, für nichts und wieder nichts! Auf alle Fälle hatte Teepo keine Lust gehabt diesem Bunyan in die Arme zu laufen und sich, wie so oft, für etwas rechtfertigen zu müssen, was nicht seine Schuld war. Bestimmt wollte der Mann bloß den Grund für diesen Brand herausfinden und verdächtige wohl diejenigen, die ja angeblich für alles Schlechte verantwortlich waren: Die Diebe Teepo, Rei und Ryu, wer sonst? Immerhin fand das Feuer auch in ihrem Baumhaus seinen Ursprung. „Wolltet ihr etwa den ganzen Wald in Brand stecken, ihr Nichtsnutze?!“, hörte Teepo ihn innerlich bereits sagen. Um ihr Wohl kümmerte sich Bunyan garantiert nicht. Daher hatte Teepo kurzerhand beschlossen, seiner Hütte einen kleinen Besuch abzustatten, solange der Jäger damit beschäftigt war, die Gegend nach den Brandstiftern – oder was auch sonst er zu finden hoffte – abzusuchen. Außerdem hätte er somit erst mal Schutz vor dem Regen, der weiterhin unaufhaltsam auf die Welt niederprasselte, auch wenn er längst nass bis auf die Knochen war. Nicht oft bekam man so eine günstige Gelegenheit, dann fand er die Tür auch noch unverschlossen vor. Einladender ging es doch gar nicht. Bunyan muss es ja ziemlich eilig gehabt haben, als er das Haus verließ, sonst hätte er abgeschlossen. So kenn ich ihn gar nicht. Womöglich war er doch besorgt? Nun, besorgt um den Wald wahrscheinlich. Gut für ihn, dass es so stark regnete und danach ausgesehen hatte, als würde das Wetter den Brand irgendwie unter Kontrolle bekommen, auf magische Weise. Für das Baumhaus bestand jedoch wohl nur wenig Hoffnung, soweit Teepo es einschätzen konnte. Statt noch mehr darüber nachzudenken schüttelte er diesen Gedanken lieber ab, huschte rasch in die Holzhütte hinein und ließ die Tür hinter sich möglichst leise ins Schloss fallen. „Na, Alter?“, flüsterte er dabei amüsiert. „Wie wäre es mit dieser Lektion: Unachtsamkeit anderer ist des Diebes größter Lohn.“ Anschließend ließ er den Blick einmal prüfend durch den Raum schweifen. Alles war noch so wie bei seinem letzten Einbruch: Schlicht, aber gemütlich eingerichtet. Außer einem dauerhaften, gedämpften Prasseln gegen das Dach über ihm, war es angenehm ruhig. Erst als er absolut sicher war allein zu sein, bewegte Teepo sich schleichend Richtung Leiter, die nach unten in den Vorratskeller führte. Den Weg zu diesem Lager kannte er nur zu gut, so oft wie er sich zusammen mit Rei schon unerlaubt Zutritt dazu verschafft hatte. Dummerweise hatten sie dafür leider auch oft genug eine ordentliche Abreibung kassieren müssen, da Bunyan nicht gerade unaufmerksam und schon gar nicht zimperlich war. Als sie das letzte Mal dann auch mit Ryu im Schlepptau in sein Haus eingebrochen waren, sind sie allesamt von ihm auf frischer Tat ertappt worden. Diesmal sollte Teepo noch viel vorsichtiger sein. Während er langsam die Leiter hinunter stieg, blieb er mit den Gedanken bei seinen Freunden. Hoffentlich würde Bunyan sie nicht vor ihm finden. Natürlich wollte Teepo sie so schnell wie möglich wiedersehen, doch in seinem jetzigen Zustand würde er sich nur selbst in Gefahr bringen, dessen war er sich bewusst. Schwindel, Übelkeit sowie Kopfschmerzen waren nach wie vor seine lästigen Begleiter und erschwerten es ihm, seinen Körper anständig mit seinen Bewegungen zu koordinieren. Zudem war nicht nur seine Kleidung teilweise zerrissen und mitgenommen, wie er in dem Wassergraben schon feststellen musste, sondern auch sein geliebtes Langschwert war verschwunden. Der Verlust seines Schwertes saß ihm schwer in den Knochen. Ich muss mir so bald wie möglich ein neues besorgen. Ohne Waffe und in dieser schlechten Verfassung könnte es schwer werden, sich gegen die Monster zu wehren, die man überall auf den freien Feldern und auch hier im Wald antraf. Nur seinen Ortskenntnissen und dem Feuer hatte er es zu verdanken, dass er bisher auf keine gestoßen war. Dennoch ... „In diesem Zustand bist du ein geeignetes Festmahl für allerlei Getier, würde Bunyan jetzt sagen“, hauchte Teepo genervt, konnte jedoch nicht bestreiten, dass es der Wahrheit entsprach und er es auch insgeheim genau wusste. Andernfalls wäre er jetzt nicht hier. Wenn er daran dachte, wie er sich erschöpft vom Baumhaus bis hierher zur Hütte geschleppt hatte, musste er innerlich seufzen. Selbst jetzt keuchte er wie verrückt, weil jede noch so kleine Anstrengung ihn mitnahm. Ein bisschen war er froh darum, dass Rei und ganz besonders Ryu ihn nicht so miterlebten, denn es war ihm einfach peinlich. Momentan war er ihnen so jedenfalls keine große Hilfe. Deswegen wollte er vorerst seine eigenen Wunden versorgen, dafür kam ihm die Abwesenheit von Bunyan gerade recht. Irgendwo zwischen seinen ganzen Vorräten würden sich schon die nötigen Mittel dafür finden lassen. Teepo stieß einen überraschten Laut aus, als er wegen seiner nassen Stiefeln auf einmal von der vorletzten Sprosse der Leiter rutschte und das restliche Stück nach unten fiel. Ungeschickt gelang es ihm zwar trotzdem mit beiden Füßen auf dem Boden zu landen, aber er sackte leicht zusammen, als dabei an verschiedenen Stellen seines Körpers ein stechender Schmerz zu spüren war. Scheinbar hatte er außer einer Platzwunde am Kopf durchaus noch einige andere Verletzungen erlitten. Der herrliche Geruch all der Lebensmittel, die Bunyan in dieser kleinräumigen Kammer im Keller aufbewahrte, konnte ihn zu diesem Zeitpunkt ausnahmsweise mal nicht darüber hinweg trösten, im Gegenteil. Leicht frustriert knirschte Teepo mit den Zähnen. „Mist.“ Sofort fing er an nach Verbänden oder Medizin zu suchen, was sich aufgrund mangelnder Lichtquellen als recht schwierig erwies. Und da es draußen auch noch dunkel war, drang nicht mal Tageslicht durch die offen stehende Luke nach unten, wie es für gewöhnlich der Fall war. Warum hatte er auch nicht daran gedacht, eine Kerze von oben mitzunehmen? Egal, von Dunkelheit ließ er sich nicht abschrecken, solange keine mysteriösen Dinge geschahen. Unüberlegt wühlte er wahllos in dem großen Schrank und in den Kisten herum, die zu einem Großteil mit weißen Tüchern abgedeckt waren. Schneller als erwartet wurde Teepo dann, zu seiner Erleichterung, in der Tat fündig: In einer der Kisten fand er einen Verbandskasten. Daraufhin nahm er auch ein weißes Tuch an sich, um sich damit einigermaßen abzutrocknen. Eines von den weniger staubigen, versteht sich. Direkt danach nahm er gleich auf dem Boden Platz und nutzte die Kiste als Rückenlehne, in der sich der Verbandskasten befunden hatte. „So, schnell jetzt.“ Da Bunyan jederzeit zurückkehren konnte, musste er sich beeilen, um nicht erwischt zu werden. Dieser Mann war zwar, wie Teepo oftmals am eigenen Leibe erfahren musste, außerordentlich streng, aber in einigen seltenen Fällen konnte er auch übertrieben fürsorglich sein. Genau diese Seite würde garantiert zum Vorschein kommen, sollte er Teepo in dieser Verfassung vorfinden und darauf konnte er verzichten. Wenn es etwas gab, was er mehr als alles andere hasste, dann war es Fürsorge. Schließlich war er schon lange kein kleines Kind mehr. Im Gegensatz zu Ryu. Der heult sich bestimmt gerade irgendwo vor lauter Verzweiflung die Augen aus, schoss es ihm wie von selbst durch den Kopf. Sicher, dieser Gedanke mochte ein wenig gemein klingen, gleichzeitig machte Teepo sich aber deshalb umso mehr Sorgen um die Heulsuse, darum beeilte er sich noch mehr. Über seine Brust zog sich eine Schnittwunde, die zum Glück nicht allzu tief war, doch dafür höllisch brannte. Des Weiteren hatte er mehrere Schürfwunden und Prellungen am ganzen Körper. Am schlimmsten blieb jedoch die Platzwunde am Kopf, ansonsten waren keine weiteren Verletzungen von außen zu sehen. Trotz dieser vorhandenen Beschwerden war es immer noch als ein Wunder zu bezeichnen, dass er den Kampf mit diesen Gaunern ohne schwerwiegendere Leiden überstanden hatte. Ich bin halt zäher, als ich aussehe, dachte er zufrieden über sich selbst und zog den letzten Verband fest. „Das muss reichen.“ Außer Verbände und Salbe hatte er nichts benutzt, weil alles andere in seinen Augen mehr gefährlich als hilfreich aussah und er sich mit solchen Dingen ohnehin nicht sonderlich auskannte. Um sämtliche Verletzungen oder gar Krankheiten hatte sich nämlich sonst stets Rei gekümmert. Besser als vorher fühlte er sich trotzdem, also musste er sich das meiste richtig abgeguckt und gemerkt haben. Gut, und nun schnell weg hier! Obwohl sein Körper sich dagegen zu weigern versuchte und noch länger nach Pause verlangte, zwang er sich dazu wieder aufzustehen. Direkt steuerte Teepo die Leiter nach oben an. Kurz davor hielt er nochmal für einen Augenblick inne und machte kehrt, um sich aus einem Korb, der auf dem mittleren Regal im Schrank stand, einen Apfel mitzunehmen. Diesen steckte er sich beim Erklimmen der Leiter in den Mund und ließ das Chaos, das er beim Durchsuchen der Kammer veranstaltet hatte, hinter sich. Er dachte überhaupt nicht daran, seine Spuren zu beseitigen, dafür hatte er keine Zeit und auch keine Lust, weil er sonst einmal locker das ganze Haus hätte trocknen können, so viel Wasser wie er von draußen mit reingebracht hatte. Oben angekommen führte sein Instinkt ihn als erstes ans nächste Fenster und das zu Recht, denn er konnte Bunyan auf dem Waldweg zu seiner Hütte stampfen sehen. Es sah ganz danach aus, als hätte der Jäger es ziemlich eilig, weil er sich recht schnell näherte. „Fo ein Fist!“, stieß er unverständlich hervor, behielt den Apfel im Mund und hetzte zur Tür, wobei er einmal drohte auf der nassen Spur auszurutschen, die er selbst verursacht hatte. Der Alte muss aber auch immer dann auftauchen, wenn man ihn am wenigsten gebrauchen kann! Hektisch riss Teepo die Tür auf, rannte hinaus, wo es kaum noch regnete, und sprang ins nächstgelegene Gebüsch am Straßenrand. Kaum eine Minute später erreichte Bunyan auch schon sein Haus, in das er zügig verschwand, mitsamt einer Art Bündel im Arm, von dem Teepo nur einen flüchtigen Blick erhaschen konnte. Nachdem die Tür zur Hütte wieder geschlossen war, wartete er erst eine Weile ab, ehe er sich aus seinem Versteck wagte und sofort abseits des Weges zurück zum Baumhaus ging. Seinen Blick hielt er dabei so lange wie möglich auf das Heim des Jägers gerichtet. Nachdenklich biss er nun endlich ein großes Stück vom Apfel ab und nahm diesen in die Hand. „Pff! Der Alte hat vielleicht Nerven.“ Ein verächtlicher Laut entfuhr ihm. „Unser Baumhaus fackelt ab, doch er nimmt sich die Zeit etwas zu jagen. Egal unter welchen Umständen und bei welchem Wetter. Ach, soll er doch tun und lassen was er will.“ Die Wut auf Bunyan verflog ebenso schnell, wie er sie verspürt hatte, als er den Blick darauf nach vorne richtete und den Rauch bemerkte, der in der Ferne immer noch vom Baumhaus aufstieg. Seit seinem Aufenthalt in Bunyans Hütte schien es aber weniger geworden zu sein. Automatisch fing er an zu rennen, weil er überprüfen wollte, wie es inzwischen um das Baumhaus stand. Zu diesem Zeitpunkt konnte er nicht wissen, dass Bunyan unterdessen die Wunden eines Jungen mit hellblauen Haaren versorgte, den er, eingewickelt in einem Tuch, in sein Haus getragen hatte. Einen Jungen, den Teepo stets eine Heulsuse nannte. *** Drei Jahre. Ungefähr drei Jahre war es her, dass Teepo mit Rei dieses leer stehende, verwahrloste Baumhaus zufällig im Zedernwald entdeckt und es gemeinsam mit ihm wieder bewohnbar gemacht hatte. Mehr als das, sie hatten es sogar ausgebaut. Im Grunde wurde der Begriff Baumhaus dem, was sie geschaffen hatten, nicht gerecht, auch wenn es so angefangen haben mochte. Es stand auf einem hohen Hügel mitten im Zedernwald, das als Jagdgebiet genutzt wurde. Gerüchten zufolge stand dort einst der größte Baum in der Region Yrallien. Nach und nach hatten sie sich aus der damals mickrigen Behausung ein eigenes Heim geschaffen. Sie hatten einen Vorratskeller und es gab sowohl ein Erd- als auch Obergeschoss, von dem aus man einen umwerfenden Ausblick über den Wald bis hin zum Dorf hatte. Auf ihr Werk war Teepo mehr als nur stolz gewesen. Jedes Mal, sobald sich ihm die Möglichkeit bot, prahlte er damit bei Ryu und genoss dabei die sprühende Begeisterung in dessen Augen. Ja, in diesem Haus hatten sie sich wohl gefühlt. Jetzt waren diese Zeiten nichts als Erinnerungen, die so bald sicherlich nicht zurückkommen würden. Das Feuer hatte ihre Heimat sehr in Mitleidenschaft gezogen. Mittlerweile hatte der Regen gänzlich nachgelassen und zurück blieb nur ein erfrischender Geruch, der zeitgleich bedrückend war, da er über das Unheil hinwegzutäuschen versuchte, das sich hier ereignet hatte. Wenngleich die Luft angenehm kühl war, konnte Teepo noch deutlich die Hitze in sich spüren. Jene Hitze, die vor dem Regen die gesamte Atmosphäre beherrscht hatte und von der nun nichts mehr übrig war. Der Regen mochte zwar erfolgreich das Feuer gelöscht und somit weitere Schäden verhindert haben, doch war diese Hilfe für das Baumhaus zu spät gekommen. Bereits von weitem konnte Teepo die Zerstörung erahnen, die der Brand hinterlassen hatte. Zögernd schritt er den Trampelpfad zu seinem ehemaligen Wohnsitz empor, was ihm der vom Regen aufgeweichte Boden nicht einfach machte. Zahlreiche Szenen aus der Zeit vor dem Feuer spielten sich in seinem Kopf ab, je näher er dem verbrannten Gebäude kam. Diese Bilder verloren mehr und mehr an Farbe, bis sie schließlich zu Asche zerfielen, genau wie ein Großteil des Baumhauses. Einige Meter davor blieb Teepo letztendlich stehen und betrachtete sich den Schaden von außen. Alles ist zerstört. Einfach alles. Das Obergeschoss war größtenteils in sich zusammengefallen, drinnen und draußen hatte fast alles eine kohlrabenschwarze Farbe angenommen und nun, wo er unmittelbar vor dem Haus stand, nahm er den verbrannten Geruch wahr, der wie ein böser Fluch dort in der Luft lag. Betreten konnte man das Gebäude nicht, zumindest jetzt noch nicht, das wäre viel zu gefährlich. Wieder und wieder konnte man aus dem Inneren nämlich ein lautes Knacken und Krachen hören, zwischendurch unterstrich aber eine beklemmende Stille diese Trostlosigkeit, die jetzt von dem einst beeindruckenden Baumhaus ausging. „Wieso ... ? Wieso?!“ Wie besessen konnte er seine Augen nicht von diesem Anblick abwenden und ballte seine freie Hand zur Faust, die vor lauter Zorn zu zittern anfing. „Wo unser Leben gerade anfing richtig gut zu werden! Wir haben die Nue getötet und den unddankbaren Dorfbewohnern sogar ihr Geld von diesem Geizhals McNeil zurückgestohlen! Und wofür?! Womit haben wir ausgerechnet jetzt DAS verdient?! Diese Mistkerle!“ Wer waren diese beiden Verbrecher, diese Pferdegesichter? Warum hatten sie ihm, Rei und Ryu das angetan? Je mehr er versuchte eine halbwegs logische Antwort darauf zu finden, desto schlimmer wurden seine Kopfschmerzen. Nein, für diese Frage gab es keine logische Antwort, keine Entschuldigung. Schlagartig wurde Teepos Blick finster und glich für einen Augenschlag lang in keiner Weise mehr dem eines zehnjährigen Jungen, auch sein Atem wurde schwerer. In seiner Stimme verbarg sich etwas Dunkles. „Na wartet, das werdet ihr mir büßen. Ich werde euch finden und ...“ Wenn sein sogenanntes Schicksal so aussah, von dem manche behaupteten, es wäre unausweichlich, dann würde er dafür sorgen, dass auch das von diesen zwei Gaunern von heute an besiegelt war. Ab jetzt würde er ein Schatten sein, der bedrohlich über ihren Köpfen schwebte. Entschlossen drehte Teepo dem Baumhaus den Rücken zu und holte tief Luft, um ein letztes Mal nach seinen Freunden zu rufen. „Rei! Ryu! Hört ihr mich?! Antwortet mir!“ Keine Antwort. Sein Ruf wurde von der Einsamkeit verschluckt, die sich in dieser Gegend eingenistet hatte. Ein Gefühl sagte ihm, dass sie sich auch längst nicht mehr in der Nähe befanden, nicht in dieser Gegend, sonst hätten sie sich getroffen. Doch wo könnten sie dann sein? Ich weiß. Es gibt nur einen Ort, zu dem wir schon immer gehen wollten. Dort würde er sie finden, dessen war er sich sicher. Und bestimmt wollten sie genau wie er, dass diese Pferdegesichter für ihre Tat bestraft wurden, deshalb war es umso verständlicher, warum er hier keinen von ihnen antraf: Sie waren zweifelsohne schon vorgegangen. Länger in diesem Teil des Waldes zu bleiben wäre also nur verschenkte Zeit. Geisterhaft setzte er sich in Bewegung und lief leichtfüßig den Pfad hinab, ließ sein altes Leben zurück, das in Trümmern lag. Wie ein Phantom schritt er durch den Wald. Auf seinem Weg hielt er nur noch ein einziges Mal kurz bei der Wasserquelle an, die nahe am Waldeingang lag, um etwas zu trinken und sich von dem Dreck zu befreien, den der Regen alleine nicht runter bekommen hatte. Dreck und noch etwas Blut. Als Teepo anschließend den Wald verließ, bemerkte er, dass ein neuer Tag anbrach, denn die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich zu ihm vor und auch die letzten grauen Wolken hatten sich verzogen, womit sich ihm ein freier Blick auf den Himmel bot. Eine ganze Nacht also. Sie können noch nicht weit gekommen sein. Ich hole euch schon ein. Rei. Ryu. Somit fand seine Reise ihren Anfang, nur ahnte Teepo nicht, wie lang sie werden würde. Während er sich, zuversichtlich mit seiner Entscheidung, zum angrenzenden Dorf begab, schlief Ryu friedlich in Bunyans Hütte und jemand anderes fing damit an, die Umgebung beim Baumhaus abzusuchen. Für jeden einzelnen von ihnen, hielt das Schicksal einen speziellen Weg bereit. Teepos Weg lag nun direkt vor ihm und dank einer seltsamen Kraft, die in seinem Inneren schlummerte, schien er genug Antrieb zu besitzen, um nicht Opfer der Erschöpfung zu werden ... Kapitel 3: Erinnerungen ----------------------- Yrallien: Farm Teepo, Rei und Ryu hatten eine Sache gemeinsam: Sie waren Waisenkinder, ohne jegliche Erinnerungen daran, woher sie ursprünglich kamen. Der älteste von ihnen war, mit seinen sechzehn Jahren, Rei. Er stach somit auch als stärkster und schnellster, aber nicht unbedingt als der klügste der dreiköpfigen Bande hervor, zumindest in Teepos Augen. Am meisten begeisterte ihn an Rei dessen Aussehen, denn er war ein Tiermensch, von denen es verschiedene Arten in dieser Welt gab. Sein Körper wies die äußerlichen Merkmale eines Tigers auf und er besaß sogar einen langen, buschigen Schwanz, mit dem Teepo und Ryu gern ihren Schabernack trieben. Als zusätzliches Kissen war dieser Schweif auch äußerst nützlich. Wie sich die Rasse nannte, der Rei angehörte, wusste nicht mal er selbst und es schien ihn auch nicht sonderlich zu interessieren, darum redeten sie nicht mehr darüber. Bestimmt könnte nicht mal Bunyan ihnen eine genaue Antwort darauf geben, weil Rei eben etwas ganz Besonderes blieb. Jedenfalls war er es, der Teepo damals vor etwas mehr als drei Jahren im Wald gefunden hatte, wo ihn jemand ausgesetzt haben musste. Selbstlos nahm Rei ihn mit und kümmerte sich seither um ihn. Ähnlich wie Rei wusste auch Teepo nicht viel über sich, eigentlich so gut wie gar nichts, bis auf seinen Namen. Allerdings hatte er ebenfalls bis heute auch nie den Drang danach verspürt, mehr über seine Herkunft herausfinden zu wollen, da er mit dem Leben, das er zusammen mit Rei führen durfte, recht zufrieden war. Zwar lebten sie als Diebe und hatten es deshalb oftmals schwer, doch dafür hatten sie etwas, das viele andere heutzutage zu wenig wertschätzten oder erst gar nicht besaßen: Freiheit. Eines Tages kam dann noch Ryu zu ihrer Bande hinzu, den Rei, genau wie Teepo, alleine im Wald gefunden und gerade noch rechtzeitig vor einer Horde Monster gerettet hatte, ehe sie ihn zum Mittagessen verspeisen konnten. Obwohl Ryu recht schweigsam und zurückhaltend war, lebte er sich erstaunlich schnell ein, trotz anfänglicher Schwierigkeiten. Nur mit der Kunst des Kampfes hatte er weiterhin so seine Probleme, im Gegensatz zu Teepo. Leider blieb einem nichts anderes übrig, als im Umgang mit Waffen geübt zu sein, wenn man in einer Welt überleben wollte, in der Monster genauso ihren festen Platz hatten wie die Menschen. War man obenrein auch noch ein elternloses Kind, musste man schnell lernen, auf sich selbst aufzupassen, wobei Teepo mit einer natürlichen Begabung glänzen konnte – und keine Gelegenheit ausließ, um damit anzugeben. Bei den Leuten in dem kleinen, friedlichen Dorf McNeil hatte dieses chaotische Trio lange Zeit keinen guten Ruf. Nach ihrer letzten Aktion war ihr Ansehen leider wieder gesunken. Rei galt als verantwortungslos, Teepo war für sein dreistes Mundwerk bekannt und Ryu war der arme, unschuldige Junge, der unglücklicherweise in all das von ihnen mit hineingezogen worden war. Besonders zur Zeit der schlechten Ernte hatten die drei Kinder der Dorfgemeinschaft äußerst viele Nerven gekostet, da sie damals weiterhin rücksichtslos die Bürger ausraubten, die ebenso um ihr Überleben kämpfen mussten wie sie. Schuld daran war, wie gesagt, einerseits die schlechte Ernte und andererseits ein Monster namens Nue gewesen, das mit einem Löwen Ähnlichkeit besaß. Sämtliches Vieh sowie Wild war von ihr gerissen worden, so dass nichts mehr für die Bürger übrig geblieben war. Bunyan hatte ihnen schließlich den Auftrag erteilt, genau dieses Monster zu töten, wodurch sie im Dorf als wahre Helden gefeiert worden waren und seitdem endlich akzeptiert wurden, was Teepo nur voll und ganz genießen konnte. So sehr im Mittelpunkt zu stehen wie an jenem Tag, an dem sie nach der Tötung der Nue ins Dorf marschierten, war genau das richtige für sein Ego. Leider hielt diese Phase nicht lange an und im darauf folgenden Frühling kam die Sache mit dem Bürgermeister dazwischen. McNeil höchstpersönlich. Alle hatten sich darüber beklagt, dass sie die viel zu hohen Steuern kaum zahlen könnten und Loki, ein immerzu verschleierter Mann in einem olivgrünen Umhang, bat schließlich die sogenannten Helden darum, das Geld vom Bürgermeister einfach zurückzustehlen. Nach einem turbulenten Abenteuer – in dem sie mit einem wild gewordenen Riesenhuhn, einem übel gelaunten Wachhund und sogar gegen Geister kämpfen mussten – hatten sie es tatsächlich geschafft und gaben das Geld noch in derselben Nacht heimlich an ihre alten Besitzer zurück. Statt sich dankbar zu zeigen, brachten die Dorfleute jedoch alles freiwillig wieder zum Bürgermeister, aus Angst vor irgendwelchen dunklen Beziehungen. Um zu verstehen, was genau sie damit meinten, hatte Teepo ihr unerwartet ängstliches Verhalten zu sehr verärgert. Eines stand nach diesem Raubzug, der ihr bisher größter gewesen war, fest, ohne dass sie etwas davon ahnen konnten: Diese Heldentat sollte ihre letzte sein ... Direkt am nächsten Tag war es nämlich schon geschehen. Ihr Baumhaus brannte lichterloh, als sie vom Dorf dorthin zurückkamen. Erwartet wurden sie bereits von zwei finsteren Gestalten, die sie in einen Kampf verwickelten und mit ihrer Stärke förmlich überrollt hatten. An all das musste Teepo denken, während er gemächlich durch den Ort schritt. Er bewegte sich Richtung Yrallweg, der ihn zu seinem eigentlichen Ziel führen sollte, wollte dabei aber lieber von niemandem gesehen werden, wegen all den Verbänden und seiner mitgenommenen Kleidung. Zum einen schämte er sich für seine Niederlage, zum anderen konnte er schlicht auf jedes falsches Mitleid verzichten. Die dummen Kommentare dieser Idioten ist das letzte, was ich jetzt brauche. Deswegen vermied er es, direkt durch das Dorf zu laufen und hielt sich mehr am äußeren Rand auf, bis er an der Farm ankam. Dort war ohnehin jeder zu beschäftigt mit der Feldarbeit, niemand würde ihn bemerken, also schlenderte er gemütlich den Weg entlang und beobachtete die Leute bei ihrer schweißtreibenden Aktivität. „Solche Narren“, zischte Teepo verächtlich. „Hätten sie McNeil nicht wie gehorsame Hunde das Geld, das wir mühsam gestohlen haben, zurückgebracht, könnten sie jetzt feiern und müssten nicht bei diesem Wetter arbeiten.“ Im Vergleich zur letzten Nacht war der Tag wesentlich freundlicher: Strahlend blauer Himmel, Sonnenschein und eine angenehm kühle Brise. Nichts deutete mehr auf das Unwetter hin, das nur wenige Stunden zuvor noch gewütet hatte, bis auf die eine oder andere Pfütze vielleicht. Es war ein richtig schöner Frühlingstag und genau das sorgte bei Teepo für schlechte Laune, da das Wetter nicht zu seiner derzeitigen Gemütslage passte. „Tja, selbst schuld. Geschieht ihnen ganz recht.“ Genüsslich biss er hin und wieder in den Apfel, den er aus Bunyans Hütte mitgenommen hatte, lief dabei weiter und ging seinen Gedanken nach. Das Dorf sowie die Farm gehörten beide zu den Ländereien des Bürgermeisters Herrn McNeil, den Teepo, Rei und Ryu in der vorletzten Nacht gänzlich ausgeraubt hatten. Ein selbstsüchtiger Kerl, der nichts anderes konnte, als sich tagtäglich mit seinem kugelrunden Körper auf dem Bett zu wälzen und sich von vorne bis hinten bedienen zu lassen. Dieser schmierige Geizkragen. Und so was nennt sich Bürgermeister. Je näher er dem Yrallweg kam, desto gründlicher betrachtete er unbewusst die Umgebung. Zwar gab er es nicht gerne zu, aber er wurde beim Anblick der Gegend sentimental, ein kleines bisschen. Ist schon irgendwie ein gemütlicher Ort. Yrallien. Yrallien war die Region, in der er sich gerade aufhielt. An das kleine, idyllische Dorf grenzte unmittelbar der grüne, blühende Zedernwald, in dessen Mitte das nun verbrannte Baumhaus stand, wo die Zeichen des Feuers längst nachgelassen hatten. In der Nähe des Waldes zog sich ein Fluss entlang, wo sich auch eine Angelstelle befand, an der Teepo und Ryu gemeinsam viel Zeit verbracht hatten, während Rei stets die Jagd vorzog. Gleich neben dem Dorf lag auf der anderen Seite die Farm. Dort erstreckte sich eine große Weide mit Kühen, von denen die Nue damals einige gerissen hatte, und ein Acker. Von der Farm aus führte ein Weg abseits zu dem prunkvollen Anwesen des Bürgermeisters, das von hohen Mauern umringt war, um Einbrecher auszusperren ... eine stabile Mauer war es allerdings nicht, sie musste ständig an irgendwelchen Stellen repariert werden. Sehr einladend für Diebe. Insgesamt betrachtet war es wahrlich ein gemütlicher Ort. Klein und ein wenig öde vielleicht, aber gemütlich. Ohne Rei und Ryu blieb es dennoch bloß ein langweiliger Fleck. „Hm ...“ Teepo warf den Rest des Apfels in ein Gebüsch am Wegesrand und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich war schon viel zu lange hier. Wird höchste Zeit für etwas Neues.“ Zielstrebig marschierte er weiter, ohne sich ablenken oder seinen Blick nochmal umher schweifen zu lassen. Immerhin hatte er alles hier schon lange genug gesehen und kannte die Gegend zu gut, also musste er sie sich nicht erst erneut ausgiebig einprägen. Ob er diesem Ort wohl nachtrauern würde? Kurz vor dem Yrallweg hielt er doch noch einmal an und ging in sich. Ich weiß nicht so recht, ob ich es als Heimat bezeichnen kann. Scheint ja nicht mal jemand mitbekommen zu haben, was mit uns passiert ist. Irgendwie hatte Teepo sich erhofft, dass die Leute aus dem Dorf sich wenigstens ein wenig Sorgen wegen des Brandes machen würden, der wohl auch von weitem sicherlich nicht zu übersehen gewesen war. Sonst wurde doch auch immer wegen jeder Kleinigkeit ein riesiger Tumult veranstaltet und jetzt, wenn es angebracht wäre, gab es keinen. Wo waren die ganzen Tratschweiber hin? Offensichtlich war ihnen dieser Brand nicht aufregend genug, nicht wichtig. Was habe ich auch erwartet? Undankbares Pack! Er holte einmal tief Luft, bevor er eine Hand zur Faust ballte und sie gen Himmel streckte. „Lebt wohl, ihr Idioten! Viel Spaß noch in eurem armseligen Kaff, mich werdet ihr garantiert nicht wiedersehen!“ Nach diesen Worten nickte er sich selbst zu und rannte das restliche Stück zum Yrallweg. Mit nichts weiter als zerrissener Kleidung, zahlreichen Verbänden und einem Ziel vor Augen ließ er alles hinter sich, was er die letzten Jahre in diesem Ort erlebt hatte. Unbewaffnet und ohne jegliche Verpflegung für unterwegs wagte er den Schritt geradeaus ins Ungewisse. Das wird sicher lustig. Bei diesem Gedanken huschte ein vorfreudiges Grinsen über sein Gesicht. *** Erst viel später sollte Teepo erfahren, dass niemand sich wagte laut über die Ereignisse des Brandes zu sprechen, weil jeder einzelne Angst vor den möglichen Folgen hatte. Niemand von ihnen wollte den gleichen Zorn erfahren wie die drei Kinder ihn erleben mussten und jeder Bürger machte sich mehr Sorgen um sie, als man von außen vermuten könnte. Yrallien: Yrallweg Der Yrallweg war eine Landstraße, die den Westen mit dem Osten verband. Auch an diesen Weg grenzte der Fluss, der sich durch das ganze Land zog. Von den Dauna-Minen im Westen aus gelangte man über eine Brücke, die derzeitig nicht genutzt werden konnte, auf den Yrallweg, der weiter nach Osten zum Myrneberg führte. Dieser Berg musste überquert werden, wenn man noch weiter nach Osten zur nächsten Region gelangen wollte. Dort lag die Hauptstadt Wyndia, sein Ziel. Keuchend bremste Teepo das Tempo und hielt bei einem Holzschild, dem Wegweiser, an. „Oh Junge, ich bin sonst nicht so schnell außer Puste.“ Ihm musste noch immer der Kampf mit diesen zwei Pferdegesichtern in den Knochen stecken. Kein Wunder, seit seinem Erwachen hatte er sich ja auch bisher noch nicht richtig ausgeruht. Ein leiser Fluch entglitt ihm, was verdeutlichen sollte, wie genervt er von seiner eigenen Erschöpfung war. Seine Laune besserte sich aber schlagartig, als er sich dem Schild zuwandte und mit dem Text beschäftigte, der darauf zu lesen war: Bitte beherzigen Sie die folgenden Warnungen zu Ihrer eigenen Sicherheit: Vorsicht vor Monstern, die auf dem Weg lauern. Gute Ausrüstung erforderlich und lebenswichtig! Vorsicht vor Dieben, die auf dem Weg lauern. Geben sie Acht, dass ihr Hab und Gut nicht gestohlen wird! Teepos Mimik wandelte sich in pure Zufriedenheit. Was genau ihm an den Text so sehr erfreute, war der letzte Teil. Diese besagten Diebe waren nämlich er selbst, Rei und Ryu. Wir sind wohl wirklich ziemlich bekannt hier geworden. Ja, der Yrallweg war Teepo fast genauso vertraut wie das Baumhaus, da er hier viel Zeit mit Rei und später auch Ryu verbracht hatte. Oberhalb auf der Erhöhung am Wegesrand zog sich eine Reihe Bäume entlang, wo die drei sich stets versteckt hielten, solange sie auf ein geeignetes Opfer warteten, das sie ausrauben konnten. Für ihn war diese Arbeit jedes Mal ein riesiger Spaß gewesen, besonders als Ryu sich ihnen anschloss. „Stehlen, aber niemanden verletzen!“, lautete ihr Motto, doch die Heulsuse war zu Beginn erst dagegen, dabei mitzumachen. Letztendlich siegte ein knurrender Magen eben doch gegen jeden Gerechtigkeitssinn. Ryus erster, misslungener Versuch, einen Diebstahl zu begehen, amüsierte Teepo bis heute noch. Allgemein waren sie bei ihren Raubzügen aber durchaus recht erfolgreich, wie man der Widmung auf dem Wegweiser entnehmen konnte. Oftmals konnten sie von den Reisenden auch wesentlich hochwertigere Waren ergattern, als aus einem der schäbigen Kleinläden des Dorfes. Auf einmal fing Teepo lauthals an zu lachen, sobald er an all die Gesichter derjenigen dachte, die sie in ihrer bisherigen Laufbahn schon bestohlen hatten. „Echt schade, dass sie sich nie selbst sehen konnten!“ Anschließend wandte er sich von dem Schild ab und folgte dem Weg Richtung Osten, ausnahmsweise nicht als Dieb, sondern als Reisender. Zum ersten Mal beschritt er diesen Pfad ohne eine Waffe im Gepäck, weshalb er besorgt sein sollte, stattdessen betrachtete er diese Situation eher gelassen. „Ich kenne die Monster hier in- und auswendig! Und das sind Weicheier!“, brüllte er drohend durch die Gegend. „Die sollen nur kommen! Denen trete ich auch ohne Schwert problemlos in den Hintern!“ Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, meldeten sich seine Kopfschmerzen zurück, von denen er für eine Weile befreit gewesen war. Trotzdem blieb er weiterhin guter Dinge. Kein Problem, meine Magie wird es schon regeln. Mit Feuer und Eis schlage ich jeden Feind in die Flucht. Nicht umsonst war Teepo neben der Schwertkunst auch noch geübt in der Nutzung von Magie, auch wenn die leider ihre Grenzen besaß. Sich zu beeilen wäre demnach doch nicht so falsch, daher setzte er seinen Weg lieber zielstrebig fort. Hin und wieder suchte er mit den Augen die Umgebung nach Rei oder Ryu ab, rief manchmal sogar ihre Namen. Nichts konnte ihn von seiner Überzeugung abbringen, dass er sie am Baumhaus nur verpasst hatte und sie bereits vorgegangen waren, nach Wyndia. Dort würden sie dann gemeinsam einen Plan schmieden, wie sie es den Gaunern heimzahlen konnten, die ihr Zuhause in Brand gesteckt hatten. Schon von Anfang an träumten sie davon, irgendwann nach Wyndia zu gehen und dort Karriere zu machen, zuvor hatten sie jedoch ihren Ruf in Yrallien steigern wollen. Nun gut, genau genommen war es einzig und allein Teepos Traum. Rei und Ryu hatten ihm aber versprochen, dass sie dieses Vorhaben gemeinsam durchziehen wollten. Jetzt war es also soweit. Hoffentlich warten sie mit dem Spaß, bis ich auch in Wyndia bin. Genau, sie sahen sich in dieser Stadt garantiert wieder. In Wyndia, der Hauptstadt, das große Königreich mit den Windmühlen. In dem Punkt war er sich absolut sicher und klammerte sich daran fest. Plötzlich bot sich ihm nach wenigen Schritten ein seltsamer Anblick, der ihn aus seinen Gedanken riss. Mitten auf dem Weg stand ein alter, hölzerner Wohnwagen, vor dem zwei Pferde gespannt waren. Sie hatten ihre Köpfe zu einigen Grasbüscheln hinunter gebeugt und bemerkten Teepo gar nicht, dessen Misstrauen sofort geweckt wurde. Weit und breit war niemand zu sehen. Wo war der Besitzer dieses Wagens? Warum sollte jemand sein Gefährt samt Pferde unbeaufsichtigt auf dem Weg stehen lassen? Das war ziemlich leichtsinnig. Vielleicht ist der Besitzer drinnen und macht ein Schläfchen oder so. Nein, diese Vermutung hielt er für unwahrscheinlich. Jeder wusste, dass es riskant war auf einer Landstraße Halt zu machen, geschweige denn sein Eigentum dann auch noch aus den Augen zu lassen. Diebe gab es überall, nicht nur auf dem Yrallweg. Noch dazu wären da die Monster, die gerne mal über alles und jeden herfielen, wenn ihnen danach war. Diese Wesen waren unberechenbar. ... Monster. Eben, wo stecken die eigentlich? Normalerweise dauerte es nie allzu lange, bis man auf dem Yrallweg von dem ersten Monster angegriffen wurde. Davon abgesehen war es auch ungewöhnlich still. Selbst wenn auf der Landstraße nichts los war, konnte man die Tiere sowie Monster hören, wie sie in den Baumkronen oder Gebüschen hockten und manchmal einige Laute von sich gaben. Irgendetwas war hier doch faul? Ob es mit diesem herrenlosen Wagen im Zusammenhang stand? Verdächtig war dieser sowieso. Vielleicht haben sie nach meiner Drohung von vorhin auch die Hosen voll und sind abgehauen. Vorsichtig trat Teepo näher an das Gefährt heran, um es genauer unter die Lupe zu nehmen. Unbeirrt fraßen die Pferde weiter ein Grasbüschel nach dem anderen und ließen sich nicht von seiner Anwesenheit stören. Prüfend umkreiste er einmal den gesamten Wagen, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Es könnte auch der Transportwagen eines Händlers sein, was wohl eher zutreffen dürfte. Möglicherweise war der Besitzer ja von einer Gruppe Monster attackiert worden und geflüchtet? „Ach, kann mir doch egal sein.“ Was passiert war und wieso dieses Ding hier nun verlassen in der Gegend herumstand, war für ihn wirklich nicht wichtig. In dieser Sekunde zählte für ihn vielmehr der günstige Moment für einen Raubzug, ohne vorher jemanden außer Gefecht setzen oder sich hinterher Predigten anhören zu müssen. Diese Gelegenheit zu ignorieren wäre Verschwendung. Eilig huschte er zum hinteren Teil des Wagens und stieß kurz einen missbilligenden Laut aus, als sich ihm ein Vorhängeschloss in den Weg stellte. Gründlich inspizierte er dieses Hindernis und nur wenige Augenblicke später grinste er bereits siegreich. „Lächerlich. Ist schnell geknackt~.“ Dazu sollte es aber nicht kommen. Teepo wollte mit seiner Hand gerade an seinem Gürtel nach dem entsprechenden Werkzeug greifen, das er für solche Fälle dort heimlich verwahrte, als ihn jemand aus heiterem Himmel von hinten grob am Arm packte. „Darf ich fragen, was genau du vorhast zu knacken?“, ertönte eine junge Männerstimme ruhig. Noch klang diese Person überraschend friedlich, trotz des belehrenden Tonfalls in der Stimme. „Das hier ist nämlich mein Wagen, musst du wissen. Und ich sehe es nicht gern, wenn jemand sich ohne meine Erlaubnis daran zu schaffen macht. Ganz besonders Diebe kann ich nicht leiden.“ Erschrocken schnellte Teepo herum, wobei er sich von der Hand des Fremden losriss, und presste sich mit dem Rücken so dicht wie möglich an den Wagen. Ohne den Besitzer in Augenschein zu nehmen, schrie er diesen als Antwort ungehalten an. „Hände weg! Fass mich nicht nochmal an, kapiert?! Du bist doch selbst schu-“ Teepo gelang es nicht mehr, den Satz zu beenden. Innerhalb von Sekunden verschwamm die Welt vor seinen Augen und er verlor das Gleichgewicht. Wie ein schwerer Stein fiel er zu Boden. „Was zum ...“, flüsterte er vollkommen benebelt. Verwirrt tastete er mit letzter Kraft instinktiv seinen Arm ab und zuckte zusammen, als er sich dabei mit der Hand an einer feinen Nadel stach, die durch den Stoff der Kleidung hindurch in seiner Haut steckte. Bevor er irgendwelche Schlussfolgerungen daraus ziehen konnte, versank er in einer traumlosen Schwärze. Kapitel 4: Verschleppt ---------------------- Myrneberg: Wagen Schwärze. Nichts als Schwärze. Teepos Geist war dieser unendlichen Dunkelheit schutzlos ausgeliefert. So lange, bis endlich wieder ein wenig Licht in die Schwärze eindrang, in die er gewaltsam hinein gerissen worden war und wo es keinerlei Platz für Träume gab. Es war nur ein schwaches, fernes Flackern, dieses Licht, doch es genügte, um ihn zu wecken. Langsam aber sicher kam Teepo zu sich, konnte nach und nach einigermaßen seinen Körper wahrnehmen. Eine Weile musste er dagegen ankämpfen, sich nicht nochmal in die Schwärze zurücktreiben zu lassen, sein Wille war aber stärker als dieses betäubende Gefühl in seinem Kopf. Schließlich riss er kurze Zeit später plötzlich die Augen auf, die für eine kaum vernehmbare Sekunde rot leuchteten, wie zwei winzig kleine Flammen. Nur eine weitere Sekunde später kehrte der weiche, braune Farbton zurück und erstickte das Feuer zwar, gänzlich löschen konnte er es allerdings nicht. Nervös atmete Teepo durch. Wie lange er außer Gefecht gesetzt gewesen war, konnte er nicht einschätzen. Vielleicht waren es mehrere Tage oder auch nur wenige Stunden, die er in Schwärze hatte verbringen müssen. Es kam ihm anfangs jedoch so vor, als hätte er nur einmal kurz geblinzelt, weswegen er im ersten Augenblick von Verwirrung heimgesucht wurde. Gerade eben hatte er sich noch auf dem Yrallweg befunden, jener Landstraße, die ihn nach Wyndia führen sollte. Mit nur einem Wimpernschlag fand er sich nun aber wie durch Zauberei in einem ihm unbekannten Raum wieder, zumindest kam es ihm wie solche vor. Die Erleuchtung ließ nicht lange auf sich warten. Schnell hatte er die letzten Ereignisse gedanklich wie ein Puzzle wieder zusammengesetzt und somit das entscheidende Stück zur Vollendung gefunden. „Dieser Typ!“, knurrte Teepo ungehalten. „Der Besitzer dieses schäbigen Wagens!“ Richtig, er war von diesem Fremden ausgerechnet dabei erwischt worden, wie er sich gerade ohne Erlaubnis an dessen Hab und Gut zu schaffen machen wollte. Natürlich kannte Teepo ähnlich verärgerte Reaktion zur Genüge, denn er arbeitete schon lange genug als Dieb, und die des Wagenbesitzers konnte sogar noch als recht harmlos eingestuft werden, wäre da nicht ein bestimmter Punkt an dem Ganzen, der Teepo nicht gefallen wollte. ... Diese Nadel. Irgendetwas muss sie mit mir angestellt haben. Natürlich hatte er Gerüchte darüber aufgeschnappt, dass einige Leute bloß mit einer einzigen, feinen Nadel immensen Schaden anrichten konnten, auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie so etwas möglich sein sollte. Ganz offensichtlich schienen diese Erzählungen doch zu stimmen, jetzt hatte er es am eigenen Leibe erfahren. Gab es vorgegebene Punkte am Körper die man treffen musste, um solch eine Wirkung wie bei ihm zu erzielen? Tränkte man die Nadelspitzen mit irgendeinem Mittel? Oder war es schlicht Magie? Wie diese Technik auch funktionieren mochte, Teepo konnte nicht leugnen, dass er es ungeheuer faszinierend fand. Trotzdem, so was lasse ich mir garantiert nicht gefallen! Der wird es noch bitter bereuen, mich so gedemütigt zu haben. Leider musste er rasch feststellen, dass diese Demütigung, mit einer einfachen Nadel kampfunfähig gemacht worden zu sein, noch größer war, als er annahm: Er konnte sich kaum bewegen und war deutlich in seiner Freiheit eingeschränkt. Nicht mal ein Blick war nötig, um zu verstehen, was der Grund dafür war. Ich bin gefesselt?! Jemand hatte ihn an Händen und Füßen mit einem Seil sorgsam gefesselt und so dafür gesorgt, dass er nicht abhauen konnte. Hatte dieser Typ mit der Nadel ihn etwa entführt? Allein bei dem Gedanken hätte Teepo am liebsten laut losgebrüllt, damit sich die Wut nicht in ihm anstaute – seit seinem Erwachen am Baumhaus konnte er sie noch kein einziges Mal richtig loslassen. Hierbei handelte es sich um eine weitere Sache, die er nicht ausstehen konnte. Neben übertriebener Fürsorge, falschem Mitleid und wie ein Kind behandelt zu werden, stand Freiheitsberaubung ebenfalls weit oben auf seiner Liste der verhassten Dinge. Statt zu schreien hielt Teepo sich ausnahmsweise zurück und machte sich mit den Augen ein genaueres Bild von dem Raum, in dem er sich aufhielt. Durch ein schmales Fenster oben in der Wandseite zu seiner Rechten drang von außen etwas Licht herein, das eindeutig von einem nahegelegenen Lagerfeuer stammen musste. Das vermutete Teepo anhand der Farbgebung sowie der Art und Weise, wie es flackerte. Heißt das, es ist schon wieder Nacht? War ich so lange nicht bei Bewusstsein? Diesen Gedanken verdrängte er und schenkte seine Aufmerksamkeit vorerst nur der Erkundung des Raumes mit den Augen. Wände, Boden und Decke waren aus Holz. Direkt neben ihm lagen mehrere Säcke, von denen teilweise ein starker Geruch nach Kräutern ausging. In den anderen Ecken ließen sich weitere Taschen finden – sah wie Reisegepäck aus – sowie ein zerknitterter Schlafsack, der zwischen all dem Zeug fehl am Platz wirkte. Ob hier tatsächlich jemand seine Nächte verbrachte oder dieser mobile Schlafplatz nur zur Dekoration dort herumlag, war Teepo herzlich egal. Der Größe des Raumes nach zu urteilen nahm er an, sich in diesem alten Wohnwagen zu befinden, dem vom Yrallweg, denn passen würde es. Nachdem diese Frage also geklärt war, stellte sich ihm gleich die nächste: Warum sollte der Besitzer ihn entführen? Nur weil er vorgehabt hatte, dessen Wagen auszurauben? Der Idiot ist doch selbst schuld, wenn er ihn unbeaufsichtigt stehen lässt! Normalerweise hatte er sich bisher nur ellenlange Predigten anhören müssen und ja, auch öfters Prügel kassiert, aber noch nie war er wegen seiner Raubzüge entführt worden. Was wollte der Entführer denn mit ihm anstellen? Ihn an den König von Wyndia übergeben, damit dieser ihn einsperren ließ? Zur Hauptstadt im Osten wollte er sowieso, nur waren seine Pläne anders. Für einen Aufenthalt im Kerker hatte er keine Zeit. Ich muss Rei und Ryu finden, damit wir zusammen diese Pferdegesichter aufspüren und büßen lassen können. Nahezu wie auf Stichwort durchfuhr ihn ein weiterer, völlig neuer Gedanke. Natürlich! Diese Pferdegesichter! Möglicherweise war dieser Wagenbesitzer ein Komplize von ihnen und sollte ihn nun aus dem Weg schaffen, weil sie bereits ahnten, dass er sich an ihnen rächen wollte und ihnen gefährlich werden könnte. Ja, genau so musste es sein. Das mit dem herrenlosen Wagen auf dem Yrallweg war eine Falle, darauf hätte er auch viel früher kommen können. „Na wartet“, flüsterte Teepo mit bebender Stimme. „So leicht werde ich es euch nicht machen.“ Hass sowie Zorn hatten in ihm wie ein Vulkan zu brodeln begonnen und machten ihn blind. Ihm war überhaupt nicht bewusst, wie voreilig er seine letzte Schlussfolgerung gezogen hatte, ohne nochmal gründlich darüber nachgedacht zu haben. Die Frage, ob es sich tatsächlich um eine Falle handelte, stellte sich für ihn nicht, davon war er einfach auf Anhieb überzeugt. Sein Gefühl, das von allerlei negativen Stimmungen beeinflusst wurde, wollte keinen Irrtum akzeptieren. Schon längst wusste er, wie sein nächster Schritt aussah. Er sollte diesen Wagen regelrecht pulverisieren, mit Magie. Das würde eine geradezu explosive Eröffnung für seinen Rachefeldzug abgeben und da irgendwer dort draußen ein Lagerfeuer gemacht hatte, standen bereits auch schon die nötigen Zuschauer dafür bereit. Grinsend schloss er die Augen und fing an sich zu konzentrieren. Magie wirken zu können war eine Fähigkeit, die sich nicht leicht beherrschen ließ und nur wenige konnten von sich behaupten, sie in sich zu tragen. Zwar gab es Mittel und Wege, sie zu lernen, angeboren war sie jedoch am stärksten. Teepo selbst war schon immer dazu fähig, Angriffsmagie zu wirken, hauptsächlich die Elemente Feuer und Eis. Man musste die Magie mit seinem Willen zu leiten wissen, aus dem Inneren seines Körpers. Aus seiner Seele hinaus, um sie nach außen fließen zu lassen, wo sie anschließend entsprechend nach dem jeweiligen Nutzen geformt werden sollte, damit sie Verwendung fand. Wenn man nicht über einen gewissen Grad an Selbstbeherrschung verfügte, konnte Magie sich auch gegen einen selbst wenden oder ungeahnte Ausmaße erreichen. Das größte Risiko war, dass jeglicher Nutzen von Magie, je nach Art der gewählten Form, stets eine gewisse Menge an Energie benötigte, die sie sich direkt aus dem Körper ihres Nutzers abzweigte. Falls man in einem geschwächten Zustand magische Kräfte nutzte, konnte unter Umständen bleibende, gesundheitliche Schäden die Folge sein, schlimmstenfalls sogar der Tod. Wäre Teepo nicht so besessen von dem Gedanken der Rache gewesen, hätte er erst entscheiden müssen, ob er seinem Körper den Nutzen von Magie derzeitig auch zumuten konnte. Immerhin hatte der Kampf mit den zwei Pferdegesichtern ihre Spuren hinterlassen, doch daran dachte er nicht. Inzwischen hatte er den Kopf gesenkt und atmete flach, spürte die Magie durch seinen Körper fließen, die wesentlich stärker zu sein schien, als er es gewohnt war. Da er im Umgang mit dieser Fähigkeit schon reichlich Erfahrung gesammelt hatte, floss der magische Strom bald nach außen und zeigte sich in Form einer dunklen Aura, von der er eingehüllt wurde. Dadurch, dass ab und zu zwei Ströme gegeneinander rieben, entstand ein Luftwirbel, der mit seinen langen Haaren spielte. Erneut riss Teepo schlagartig die Augen auf, in denen das feurige Rot zurückgekehrt war, und stieß einen lauten Schrei aus. Gleichzeitig zog der finstere Schein um seinen Körper sich zu einer Kugel zusammen, nur um sich im nächsten Atemzug in ein Feuer zu verwandeln, das sich wieder rasend schnell auseinander dehnte und alle Hindernisse dabei aus dem Weg räumte. Eine Explosion. Hitze erfüllte die Atmosphäre. Flammen schlugen samt einer Druckwelle zwischen den Splittern hervor. Das Holz, aus dem der Wagen bestand, zersprang förmlich. Knisterte. Es folgte ein ohrenbetäubender Knall. Man konnte das aufgeregte Wiehern von Pferden hören. Hufeisen donnerten über den Boden. Ein verbrannter Geruch erfüllte die Luft. Asche regnete herab. Stille kehrte ein. Alles geschah so schnell, dass jeder normale Mensch erst eine gewisse Zeitspanne benötigt hätte, um realisieren zu können, was gerade geschehen war. Sogar Teepo brauchte eine Weile, bis er sich orientieren und die Situation erfassen konnte, obwohl er es war, der diese Magie benutzt hatte. Über ihm erstreckte sich ein sternenklarer Nachthimmel und offenbar hielt er sich gerade am Fuße eines Berges auf, der neben ihm mit seiner Spitze in der Dunkelheit verschwand. Überall um ihn herum flogen einige glühende Holzsplitter von weit oben herab zu Boden, wie Glühwürmchen. Teepo lag mitten zwischen den kläglichen Resten des Wagens, von dem so gut wie nichts mehr übrig geblieben war, und hustete schwer. Sein Körper zitterte, jedoch nicht vor Erschöpfung wegen der feurigen Explosion, sondern vor Kälte. Für den Frühling war es eine ganz schön kühle Nacht. Langsam richtete er sich auf – auch seine Fesseln waren in der Explosion verbrannt – und betrachtete das Werk der Zerstörung, das er angerichtet hatte. Erstaunt weiteten sich seine Augen. „Wow.“ Seit wann ist meine Magie denn so stark? Ich habe bei weitem nicht mit so viel Kraft gerechnet. In der Tat hatte es den Wagen in sämtliche Einzelteile zerrissen, auch die Ladung im Inneren, sehr zum Leidwesen des Besitzers, dessen Stimme auch sofort in der Nähe ertönte. „Sag mal, spinnst du?“, sagte er, für Teepos Geschmack, in einem viel zu ruhigen Ton, obwohl doch ein winziger Hauch von Verzweiflung zu hören war. „Das Teil war nicht gerade billig. Und die Ware ...“ „Hm?!“ Sofort suchte sein Blick nach dem Wagenbesitzer und er fand ihn auch schnell, denn dieser stand nur knapp fünf Meter entfernt bei einem Lagerfeuer, wie Teepo also richtig vermutet hatte. Dass diesem Typen trotz der Explosion von eben nichts zu fehlen schien und alles weitere in seinem Umkreis heil geblieben war, nahm er nicht wahr, noch nicht. Zunächst musterte er ihn nun endlich mal genau. Bei dem Entführer handelte es sich nur um einen Jungen, der höchstens zwei bis drei Jahre alter als Rei sein konnte. Sein dunkelblaues Augenpaar begutachtete gerade den Schaden, den Teepo angerichtet hatte, und wirkte wie ein tiefer, ruhiger See, in dem viel zu viele Geheimnisse verborgen lagen. Seufzend strich sich der andere mit einer Hand durch sein kurzes, zerzaustes Haar, das exakt die gleiche Farbe besaß wie seine Augen. Von der Kleidung her, die in schwarz und rot gehalten war, machte er einen schlichten, praktisch veranlagten Eindruck und wirkte dadurch beinahe harmlos. Dieses Bild wurde aber durch ein Schwert, das er auf dem Rücken gebunden bei sich trug, ein wenig vernichtet. Ehrlich gesagt hatte Teepo etwas anderes erwartet. Jemand eindrucksvolleren, einen richtigen Gegner eben. Dieser Junge kam nicht gerade so rüber, als wäre er ein Krimineller oder jemand, der für solche Leute Aufträge ausführte. Und das Schwert auf seinem Rücken? Wie sollte Teepo ihn einschätzen? „Gute Güte, die Ware ...“ Abermals glitt dem Fremden ein Seufzen über die Lippen. „Und die Pferde haben sich auch aus dem Staub gemacht. Wie soll ich denen das nur erklären?“ „Hey!“, forderte Teepo empört seine Aufmerksamkeit. „Wen kümmert schon das blöde Zeug, das da drin war? Beantworte mir lieber meine Fragen! Warum hast du mich entführt?!“ Wenig interessiert schielte sein vermeintlicher Entführer zu ihm rüber, mit den Gedanken sichtlich nach wie vor bei der verlorengegangenen Ladung. „Du brauchst nicht so zu schreien, ich verstehe dich auch, wenn du normal mit mir sprichst.“ „Bitte?! Du hast mich verschleppt, also habe ich ja wohl einen guten Grund wütend zu sein!“ „Ich etwa nicht?“, erwiderte der Junge, weiterhin gefasst. „Erst willst du in meinen Wagen einbrechen und dann jagst du ihn regelrecht in die Luft. Hörst du mich deswegen rumbrüllen? Das würde mir meine Ware auch nicht zurückholen, oder? Also beherrsch dich mal ein wenig.“ Fassungslos starrte Teepo diesen Kerl an. Versuchte er ihn etwa gerade zu belehren? Was für ein Spielchen sollte das werden? Diese Art, wie er mit ihm sprach ... Irgendwie sorgte sie dafür, dass er sich wie ein kleines Kind fühlte, das zwar etwas wirklich Schlimmes angestellt hatte, statt mit Schelte aber nur mit ernsten Worten überschüttet wurde. Genau das war es, was ihn störte. Der Typ verhielt sich ihm gegenüber wie ein autoritärer Erwachsener bei einem Kleinkind, nicht wie ein verärgerter Fremder, der einen Dieb erwischt hatte. Teepo wollte gerade der Kragen platzen, doch da erhob der andere zuerst das Wort. „Ich muss sagen, ich habe nicht erwartet, dass du über solch ausgeprägte Magie verfügst. Das ist beeindruckend.“ „Hm ...“ Wie von selbst legte sich seine schlechte Laune nach diesen Worten ein bisschen. Zufrieden mit dieser Aussage und auch geschmeichelt, stimmte er dem nickend zu. „Ja, ich bin eben was Besonderes.“ „Leider scheinst du dir über das Ausmaß deiner Fähigkeiten nicht wirklich bewusst zu sein.“ Und da kehrte die Empörung auch schon zurück. „Hä? Was laberst du da?! Das war eine hervorragende Vorstellung! Das soll mir erst mal einer nachmachen.“ Über diese Worte musste der ehemalige Wagenbesitzer amüsiert schmunzeln, wodurch er nicht an Sympathie gewann, im Gegenteil. In seinen Augen funkelte eine Erkenntnis, als er die Arme verschränkte und Teepo mit einem Lächeln eindringlich ansah. Im Zusammenhang mit dem folgenden Satz sorgte dieser im Grunde freundliche Gesichtsausdruck dafür, dass Teepo doch ein bisschen nervös wurde. „Ich sehe schon. Ein Kind wie du würde sich auf dem Schwarzmarkt gut verkaufen.“ „W-Was?“, wiederholte er ungläubig, als hätte er sich nur verhört. „Schwarzmarkt?“ ... Wer war dieser Kerl? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)