Weihe des Siegelschwerts (neu) von Ubeka ================================================================================ Kapitel 10: Kapitel 10 ---------------------- Womit hat der Krieg der Drei überhaupt begonnen? Aus welcher Niedertracht entsprang der Funken für dieses zeitlose Feuer, das nun die Welt umgibt und immer neue unschuldige Leben fordert? Welche Gottheit hat uns diese Wunde beigebracht, die unentwegt vor sich hinschwärt? In Wahrheit war es Vas. Wir beten zu ihm, ja, aber manchmal glaube ich, dass wir das nicht tun, weil er in uns Sterblichen Ehrfurcht entfacht – sondern Angst. Und man fürchtet ihn zurecht. Genauso wie ein Herdfeuer sich nie an eine Form gewöhnen will, sich gegen seine Schranken wirft und bei der erstbesten Gelegenheit herausspringt – genauso ist Vas ein launischer Gott, der sich dann und wann der Zerstörung hingibt, während er uns an anderen Tagen wärmt und behütet. Das alles begann mit seinen Schwestern, Kin, Daera und Olphe, welche so viel Verstand und Fantasie besaßen, dass sie beschlossen, 'Lasst uns diese trostlose Leere nach unserem Gutdünken formen. Eine Welt schaffen, die weit und bezaubernd und voller Leben ist, an dem wir uns nie sattsehen wollen.' Kin schritt als Erste zu Werke, indem sie die Erde schuf und die Berge, Täler und Hügel. Danach kam Olphe, welche die Meere und Flüsse füllte, damit im fruchtbaren Grund ihrer Schwester Samen keimen und Wälder sprießen mochten. Und dann folgte Daera, hauchte die Luft und sang die Winde, um Bewegung in diese bis dahin stille und reglose Welt zu bringen. Sobald alles vorbereitet war, riefen sie schließlich zum Leben. Kins alleiniger Ruf erweckte die Krabbeltiere, die Spinnen und die Würmer, die nichts weiter brauchen als frische Erde, um sich zu laben. Olphe indes füllte die Wässer mit Fischen und Daera breitete die Schwingen der Vögel aus, auf dass sie sich zum Himmel erhöben. Als die drei dann schließlich gemeinsam riefen, rotteten sich die ersten Pferde und Kühe und Schafe zusammen, die von Kins Pflanzen aßen, Olphes Wasser tranken und Daeras Luft zum Atmen brauchten. Und letztlich, als die Schwestern sich auf dem Gipfel der Hyperionsfest versammelten für einen letzten Ruf, formten sie mit ihren Stimmen die Kolph, Harpyien, Menschen und die Ikaner, die ihnen dreien so ähnlich waren im Herzen und im Geiste. Somit näherte sich die Schöpfung ihrem Ende. Nur eine Sache blieb. So besorgt um das, was sie aus bloßem Nichts hervorgebracht hatten, gaben Kin, Daera und Olphe je einen Teil ihrer Kräfte und schufen das Geschenk der Göttinnen, den Dreizack von Oreichalkos, den sie den Sterblichen schenkten, um sich an seinen Gaben zu weiden. Und so wäre es wohl auch geschehen, wäre da nicht noch jemand gewesen: der eifersüchtige Bruder Vas. Er raste vor Wut und schimpfte seine Schwestern selbstsüchtig, dass sie ihn nicht eingeladen hatten, mitzuwirken an ihrer Welt. Zornig auf die Sterblichen hinabstarrend, ließ sein Blick allein blühende Wälder zu Staub zerfallen und reißende Flüsse zu leeren Gräben austrocknen. Mehr vermochte er jedoch nicht, denn gemeinsam boten die Schwestern ihm die Stirn und unterdrückten jeden weiteren Einfluss seinerseits auf ihr Werk. Aber das Feuer in Vas' Herzen wurde damit nur weiter angeschürt. Niemand weiß, wie lang Vas brauchte, um zu erkennen, dass er so nie siegreich sein würde. Doch als ihm schließlich der zündende Einfall kam, fackelte er nicht lange, der Schöpfung seiner Schwestern auf viel hinterhältigere Weise zu schaden. Eine nach dem anderen suchte er die Göttinnen auf, gab sich reumütig und versöhnlich gegenüber seinen geliebten Geschwistern, wobei er sie für all ihre großen Taten pries – und jeder einzelnen offenbarte, dass sie von allen dreien die großartigste sei. Olphe erlag seinen Schmeicheleien als Erste und glaubte sich fortan selbst ihren Schwestern weit überlegen. Als diese sie mit ihrem Stolz konfrontierten, beharrten alle darauf, am meisten Vas' Ansehen zu genießen, und nannten einander Lügnerinnen. Ein heftiges Beben ließ die Erde erzittern, als Kin erzürnte, weil ihre Schwestern sie für unterlegen hielten, während Daera mit peitschenden Winden und Stürmen um sich schlug und Olphe die Wasser über die Ufer treten ließ. Alles nur ein Auftakt, denn die größte Katastrophe brach erst aus, als die drei Schwestern erstmals im Streit auseinander und getrennte Wege gingen. Kin zog sich in die Berge zurück, Daera stieg auf in die Himmel und Olphe vergrub sich in den Eingeweiden der Erde, wo sie fortan ihre eigene Unterwelt regierte. Die Einheit der Schwester war gebrochen – und mit ihr der Dreizack, der in drei Splitter zerbarst, jeder verdorben vom Hass der Göttinnen aufeinander. Die einzelnen Zacken kamen zu nichtsahnenden Sterblichen, die jeder von einer Göttin auserwählt worden waren. "Geh!" riefen die Schwestern, "Zieh aus und preise meinen Namen und diese Macht, mit der ich dich gesegnet habe! Und dann nutze sie, um mir auch die anderen zwei Zacken zu bringen." Vas' böser Plan trug reiche Früchte. Nicht lange, schon waren die Auserwählten verführt von der endlosen, verdorbenen Macht der Zacken und dem gierigen Flüstern der Göttinnen. Sie waren verflucht, nichts mehr anzustreben, als den Dreizack wieder zu vereinen und den Sieg über die anderen beiden Auserwählten zu erringen. So kam der Krieg der Drei in die Welt – und mit ihm Boshaftigkeit, Verzweiflung und Zerstörung. Verzückt schaute Vas zu, wie die Sterblichen zu kämpfen begannen, und er schenkte ihnen das Feuer, um einander niederzubrennen. Jahrhundertelang galt all sein Interesse der großen Tragödie, mit welcher er die Welt gestraft hatte. Vielleicht wusste er, dass dies eines Tages zu ihrem Ende führen mochte. In Hesproys existieren zwei feste Glaubensrichtungen, was ihn bewegt hat, schließlich einen eigenen Auserwählten ins Feld zu schicken. Es gibt die, die glauben, dass Vas' vernebeltes Herz irgendwann Mitgefühl empfand für all die unschuldigen Seelen, die er dazu verdammt hatte, unter den Verwüstungen der Drei zu leiden, sodass er angewidert von seinem früheren Tun versuchte, es wiedergutzumachen, indem er ihnen einen Retter schickte. Und dann gibt es etwas weniger eingelullte Leute, die sagen, dass Vas noch immer nicht zufrieden war und sich allmählich sogar langweilte vom immerzu gleichen Ablauf des Krieges, sodass er beschloss, einen eigenen Stein in dieses Spiel um die ultimative Macht und die Herrschaft über die Welt zu werfen. Eine weitere Beleidigung seiner Schwestern, deren Auserwählten er mit Freuden ins Verderben rennen lassen würde. Ich frage mich, wer Recht hat. Bin ich ein Held? Oder bloß ein weiteres Werkzeug der Vernichtung? * * * "Zischender Stahl noch eins, du kostest mich noch'n Jahr meines Lebens oder zwei." Dämmriger Sinne öffne ich meine Augen. Vor ihnen hockt eine beunruhigte Sira auf meiner Brust und betrachtet mich besorgten Blickes. Das war aber nicht ihre Stimme. Während mein Blick sich langsam entnebelt, bemerke ich, dass da noch mehr Leute sind: Die Kolph-Frau von gestern hockt zu meiner Linken, mich neugierig musternd. Und zu meiner Rechten... Phentos! Was für ein Glück! Doch nicht das falsche Haus. Mein Magen eilt mir jedoch mit lautem Grummeln voraus, als ich den Schmied begrüßen will. Während ich mir fast die Bettdecke über den Kopf ziehen will vor Scham, entlockt es der Frau ein herziges, heiseres Lachen. "Siehste?" meint sie triumphierend, "Hab gesagt, der Bursche wird Hunger haben! Kannst du aufstehen? Ich hab etwas Hammel gemacht für dich. Mit vollem Magen redet sich's bestimmt einfacher." Ich würde fast alles essen im Moment, wenn ich ehrlich bin, also setze ich mich auf der strohgestopften Matratze auf und schaue mich um. Sieht aus wie das Erdgeschoss des Turms. Wesentlich geräumiger als angenommen. Meine Augen haben längst den klobigen Tisch in einer Ecke des Zimmers entdeckt, auf dem ein großer Teller dampfendes Fleisch wartet, als Phentos grummeltt, "Weiß noch nicht mal deinen Namen und du kochst ihm schon zu Mittag. Soll mir das was sagen, Liebling?" "Sei nicht albern, Phen," schmunzelt sie, herausfordernd mit ihren dicken, schwarzen Wimpern klimpernd, "Denkst du, ich steh auf Ikaner-Jungen? Ich bezweifle, dass er den ganzen Hammel allein verdrückt. Also setz dich schon, Dummerchen, es ist auch was für dich da." Phentos verdreht die Augen, doch seine schmunzelnden Mundwinkel strafen seine genervte Miene Lügen. "Er sollte trotzdem wissen, wie die bezaubernde Köchin heißt. Marin, das ist mein Schatz Khalta. So atemberaubend schön, dass es dir die Füße weggezogen hat, wie ich hörte." Drauf bringe ich grade noch ein gequältes Lächeln zustande. Oh man, wie peinlich. "Tschuldigung," murmle ich, doch Phentos winkt ab und bedeutet mir, mich doch endlich an den Tisch zu setzen und reinzuhauen. Ich lass ihn nicht länger warten und falle über das Fleisch her. Erst nachdem ich die ersten Bissen quasi ohne zu kauen verschlungen habe, fällt mir auf, dass ich noch barbarischer wirken muss als die beiden Kolph, die mit ihren messerscharfen Zähnen saftige Brocken vom Fleisch reißen. Falls sie es merken, zeigen sie's nicht. Schließlich ergreift Phentos doch das Wort, zögerlich und nachdenklich gerade noch ein wenig kauend, "Also, öhm... Sira hat da so ein paar Sachen erwähnt, während du geschlafen hast." Mitten in meiner Bewegung erstarre ich. Das aufgespießte Stück Fleisch schwebt vor meinem offen klaffenden Mund, ehe ich die Gabel langsam zum Teller zurückbewege, an den sich zugleich auch meine Augen heften, als würden die Worte, die ich suche, sich irgendwo im rötlichen Saft des Fleisches verbergen. Selbst ein wenig unbehaglich macht Phentos weiter, "Ich hab mich schon gewundert, dich so schnell wieder zu sehen. Aber dass das wirklich was mit dem Dreizack zu tun hat... ehrlich gesagt fühl ich mich ja fast schuldig." Überrascht schaue ich auf. "Das klingt, als hättest du nicht den geringsten Zweifel an dem, was Sira dir erzählt hat!" "Hab ich auch nicht," sagt er mir in aller Ernsthaftigkeit, "Hab doch gesagt, über den Dreizack macht man keine Witze. Und dass der Vierte hier vor mir hockt, ausgelaugt und ohne seine berühmte Waffe, wäre ein besonders schlechter Scherz." "Ich hab ihm so ziemlich alles erzählt," erklärt Sira, "Fast die ganze Nacht durch, um genau zu sein." Zähneknirschend wirft Khalta ein, "Was mich sehr gefreut hat." Anstatt darauf zu reagieren, flucht Phentos "Verruchte Harpyien! Können meinetwegen von Daera und Olphe lieber heute als morgen geholt werden! Ausgerechnet in solchen Zeiten lassen diese Biester sich hier wieder blicken. Hab so gehofft, dass wir die während der Zweiten Dämmerung das letzte Mal gesehen haben." Ich kann nicht anders, als zu sagen, "Die Harpyien werden das geringste Übel aus der Zweiten Dämmerung sein, mit dem wir es wieder zu tun kriegen, wenn wir sie nicht schnappen und Selet und die Klinge zurückholen." "Ich werd helfen, wo ich nur kann," verspricht Phentos, weicht meinen Augen jedoch plötzlich aus, das Gesicht beunruhigt verzerrt. Oh nein, das kann nichts Gutes heißen. Belegter Stimme fährt er fort, "Bloß fürchte ich, dass das nicht viel sein wird. Nicht mal, wenn ihr die Klinge noch hättet." "Wieso? Die Kolph sind-" "Meister ihres Fachs, ja, ja. Es braucht aber mehr als einen Meister, um eine heilige Klinge zu fertigen. Die Klinge war verloren, sobald sie entzweigebrochen ist. Ich fürchte, ihr Zauber ist auf ewig verflogen." "Ab-aber dann sind wir verloren!" stottere ich. Khalta unterbricht mich plötzlich, "Sag das nicht, wenn du's nicht genau weißt! Phen kann vielleicht kein neues, heiliges Schwert schmieden – oder sonst jemand in dieser Stadt – aber bei der alten Klinge ist das auch nie so passiert." "Nein?" fragen Sira und ich fast einstimmig. Phentos lehnt sich zurück und erklärt, "Nun, nicht wirklich. Gibt zwar Leute, die reden, als wären sie dabei gewesen, als der erste Vierte auserwählt worden ist, und als hätten sie gesehen, wie Vas ihm das Schwert in die Hand gedrückt hat, aber das ist Mist. Macht ja auch keinen Sinn, wenn man mal überlegt: Vas besitzt keine wahre Macht in unserer Welt. Dafür haben die Schwestern gesorgt. Aber er ist ein Gott und weiß damit ein paar Ecken mehr als wir – zum Beispiel, was es braucht, um einem Schwert eine Klinge zu verleihen, die selbst die Auserwählten der Götter verletzt." Khalta reibt sich die Schläfen. "Phen, bitte," seufzt sie, "Spann den Burschen nicht so auf die Folter, sonst fällt er noch vom Stuhl." "He, letztes Mal wollte er mir nich' mal glauben, dass der Krieg der Drei noch andauert!" Er räuspert sich verlegen, als ihm sein kleiner Ausbruch bewusst wird. Dann fährt er fort, "Wie dem auch sei... Vas hat dem ersten Vierten nicht einfach gesagt 'Lauf los und töte die Drei'. Erst gab er ihm eine Prüfung, um zu sehen, ob er überhaupt in der Lage war, diesen Kampf zu führen. Und falls ja, würde er zudem auch noch alle Mittel besitzen, den Verfluchten Drei tatsächlich die Stirn zu bieten: Vier Wunder der Götter nämlich, mit denen gewöhnlicher Stahl zum Schrecken der Drei wird, der Klinge von Vas." "Das heißt also," fasse ich zusammen, "wenn wir an diese vier Wunder rankommen, könnten wir ein x-beliebiges Schwert in eine neue Klinge von Vas verwandeln?" "So ziemlich, ja." "Das sind doch großartige Neuigkeiten!" rufe ich, mit neu aufflammender Hoffnung von meinem Platz aufspringend, "Worauf warten wir noch? Was sind diese Wunder und wo finden wir sie?" Diesmal können mir beide nicht in die Augen schauen. Nicht schon wieder... Seufzend lasse ich mich in den Stuhl zurückfallen. "Was ist jetzt das Problem?" "Nun, zum Einen... kennen wir nur eins von vier Wundern," gibt Phentos zu. Seine Frau ergänzt, "Und darüber hinaus hättest du unverschämtes Glück, wenn du allein da dran kämest. Sag, was, denkst du, ist das Wertvollste, was wir Kolph brauchen?" Ich überlege nur einen Moment, ehe ich schulterzuckend entgegne, "Nun, gutes Erz, würde ich raten." "Pah, Erze! Die gibt's im Berg wie Sand am Meer, da haben wir selbst in tausend Jahren noch genug von." Phentos schüttelt den Kopf. "Nee, es ist Holz! Bauholz. Holzkohle. Werkzeuge. Aber hast du irgendeinen einzigen Wald gesehen auf dem Weg hierher?" "Nun, nach dem, was man sich so erzählt über die Wälder hier, hab ich einen großen Bogen um sie gemacht." "Richtig so. Außer uns soll da auch keiner ran, sonst war's das endgültig mit dem bisschen, was uns noch bleibt, ehe wir den ganzen Berg abgeholzt haben werden. Schon vor dem Krieg mit Ellyrûrûn und dem Bürgerkrieg und all dem haben wir zwar beschlossen, neue Wälder zu pflanzen, aber vielleicht ist es längst zu spät. Außer Kin hat Gnade mit uns. Du siehst also, wir wollen's uns mit ihr nicht verscherzen und scheren uns viel um das bisschen Grün, das uns hier geblieben ist." Ich bin nicht sicher, dass ich ihm wirklich folgen kann. "Was hat all das denn mit den Wundern zu tun?" "Eins ist hier. Auf der Hyperionsfest, inmitten unseres Heiligtums, des Urmanngartens. Und den darf niemand betreten außer den Hohepriestern und unserem Boss Molldum. Und von denen seh ich kennen in absehbarer Zeit das Wunder pflücken gehen." "Die Hohepriester sind momentan irgendwie aufgescheucht," meint Khalta, "Etwas von eurer kleinen Prophezeiung muss zu ihnen durchgesickert sein und jetzt glauben sie wohl, die Welt geht jeden Moment unter." Ausnahmsweise seh ich da mal keine größeren Schwierigkeiten, "Nun, dann gehen wir eben zu ihnen und überzeugen sie, dem Prophezeiten zu helfen! Höchste Zeit, dass dieser Dreckstitel mir was anderes als Ärger einbringt." Khalta und Phentos wechseln einen langen, skeptischen Blick. Der Schmied zuckt schließlich mit den Achseln. "Nun, es zu versuchen, kann nicht wehtun. Und selbst wenn – das muss ein Kolph aushalten." "Er ist aber kein Kolph," wenden Sira und Khalta ein, doch Phentos ist ganz unbeirrt, als er mich plötzlich beim Arm packt und rauszerrt. Gah, ich glaube, es zu versuchen, tut jetzt schon weh! * * * "Am besten schauen wir erst beim Boss vorbei," sagt Phentos später, während er mich durch die Stadt zieht wie ein kleines, verlorenes Kind. Gut, vielleicht wirke ich auch so auf die Kolph. Nun da es Tag ist, ist einiges mehr los und selbst wenn ich es versuchen würde, könnte ich mich nicht zurechtfinden in diesem Gewimmel. Alle Farbtöne der Welt sind vertreten in den Schuppenkleidern all der Kolphs, welche die Treppen des Gerüstlabyrinths auf- und abrennen, teils mit zwei vollen Fässern auf den Schultern. Hier und da lassen große Flaschenzüge metallene Käfige tiefer in die Kluft hinab, wo eifrig Loren hin- und hergeschoben werden. Die Luft ist erfüllt mit dem Klang von Hämmern und Schreien, um all die Leute bei der Arbeit zu koordinieren. "Wahrscheinlich wird mindestens einer der Hohepriester bei Molldum warten," erzählt Phentos weiter, "Sie mochten es schon immer, ihn zu belästigen, aber jetzt hören sie kaum auf damit." "Besser so," sage ich, während ich versuche, zu erkennen, wohin wir gehen, "So können wir zwei Vögel auf einen Streich abschießen. Und das wortwörtlich, denn ich hätte nur zu große Lust, einen dieser Geier vom Himmel zu pflücken, um Selet und Dūs zurückzukriegen!" "Dass das Mädel, das du in Keslynth gesucht hast, allen Ernstes die Prinzessin war..." "Ich hab's auch erst nicht glauben können. Aber ehrlich gesagt, wenn man sie mal kennen lernt, verhält sie sich auch dementsprechend." Manchmal ein wenig zu sehr. Aber das kommt von mir, dem man kaum überlassen sollte, Entscheidungen zu treffen, so wie alles bisher läuft. Phentos lacht, "In manchen Belangen führt jede Frau sich auf wie die Prinzessin ihres eigenen kleinen Königreichs. Aber erwähn bloß gegenüber Khalta nicht, dass ich das gesagt habe! Bwahaha!" Da kommen wir beim Stadttor vorbei. Ich habe es letzte Nacht nicht bemerkt, doch der Tunnel wird umrahmt von einem großen Marmorgebilde voll Einkerbungen, bunten Fresken und Lettern, die ich noch nie gesehen habe. Ganz oben ein Relief von zwei gekrönten Kolph mit Hämmern in den Händen, die einander den Rücken zugewandt haben. Einer von ihnen scheint von dannen zu gehen, den Kopf stolz erhoben und die Lippen fest aufeinandergepresst, während der andere beschämt zu Boden starrt. Grade will ich Phentos nach der Geschichte hinter dem Bild fragen, doch da kommt ein Wächter aus dem Tunnel gerannt, etwas mit sich schleppend. Halt, nicht etwas. Jemanden! "Dūs!" hauche ich fassungslos und reiße mich blitzschnell von Phentos los, um zu dem Vas-Ikaner zu stürmen. Bei den Göttern, er sieht furchtbar aus! Überall, an den Armen und im Gesicht prangen dunkle, rote Klauenspuren. Manche sehen sogar noch frisch aus! "Olphe sei geduldig, was ist passiert?!" "Kennst du ihn?" will die Wache wissen. "Er ist mein Kamerad, wir wurden auf dem Weg hierher getrennt. Dūs, bitte, sprich!" Er antwortet mit einem Hustanfall, wobei blutige Tropfen aus seinen aufgeplatzten Lippen fliegen. Verflucht, das sieht echt nicht gut aus. Doch er schafft es schließlich, etwas zu sagen. Seine Stimme ist heiser und kaum mehr als ein Flüstern, "Marin... gut... es geht mir gut." "Verarsch mich nicht! Von wegen es geht dir gut!" "Harpyien... sie haben Selet entführt... ich wollte..." Ein weiterer Hustenanfall erschüttert seinen Körper, bis er beinahe aus dem Griff der Wache fällt. Ich übernehme schnell. Er wirkt gebrechlich und knöchern wie ein alter, abgenagter Mann. "Wir lassen dich sofort behandeln!" verspreche ich, "Und dann lassen wir die Kolph helfen, Selet zu retten!" "Nein," krächzt er, "Müsst ihr nicht. Sie ist... sicher... Ich habe... sie lang genug abgelenkt. Sie konnte entkommen." "Wohin?" frage ich ungeduldig, "Dūs, wo ist Selet?!" "Weiß... nicht. Musste schließlich... um mein Leben kämpfen." Kurz huscht etwas ähnliches wie ein sarkastisches Lächeln über sein verkrampftes Gesicht. Seine Lider flattern. "Nein, schlaf jetzt nicht ein!" flehe ich, "Wir bringen dich an einen ruhigeren Ort, wo wir uns um deine Wunden kümmern können!" Erwartungsvoll schaue ich Phentos an. "He, frag erst gar nicht!" entgegnet er, "Khalta und ich päppeln den schon wieder auf." Dūs hat jedoch andere Pläne, "Nein... nicht nötig. Bloß... was zu essen. Schrammen sind egal." Es wird mir zu viel, "Hör auf, das zu sagen! Ich bin überrascht, dass du überhaupt noch lebst nach alledem!" Phentos schlägt sich aber nach einigem Überlegen auf seine Seite, "Scheint mir ein zähes Kerlchen zu sein für einen Barrah. Der kommt schon wieder auf die Beine. Wenn er also bloß was futtern will, treiben wir schnell was auf! In der Nähe gibt's 'nen Essenstand. Geht schneller, als wenn wir Khalta schon wieder belästigen. Folgt mir!" Ich schüttle den Kopf. Na gut, alle dem furchtlosen Anführer hinterher. Oder besser gesagt: schauen wir, wie schnell er mich im Getümmel verliert nun, wo ich gleich doppelt so viel zu schleppen habe wie vorher. Spiel du nur den zähen, kühlen Kerl, Dūs, aber mich legst du damit ganz sicher nicht rein, so wie du grad auf meinem Rücken lastest wie ein nasser Sack Kartoffeln. Dieser Stand sollte mal besser irgendwelche verzauberten Bohnen oder sowas im Angebot haben, die diesen Vas-Ikaner im Nu wieder auf die Beine bringen! * * * Zum Glück ist es nicht weit. Nur völlig überlaufen. Hauptsächlich Minenarbeiter und der ein oder andere Pilger, der weiß, dass man sich selbst mit dem Segen der Gottesmutter Kin nicht den Bauch vollschlagen kann. Ich folge Phentos mit wackeligen Schritten, während Dūs' Gewicht sich ständig ungünstig verlagert. "Bist du noch wach?" frage ich. "Ja," entgegnet er mit einer Stimme, die ich erwarten würde, wenn ich mein Ohr gegen einen Grabstein pressen würde. Dann wiederum bin ich bereits Toten begegnet, denen es besser ging als ihm, von daher... Etwas langes, ledriges streift plötzlich mein Fuß. Vielleicht der Schweif eines Kolphs, aber das ist auch schon längst egal. Tatsache ist, dass ich endgültig das Gleichgewicht verliere und mein Versuch, irgendwie Haltung zu bewahren, zu nichts führt, außer dass ich volle Kanne in die Menge stolpere. "'Tschuldigung, tut mir leid, m-mein Fehler!" rufe ich prompt, als ich jemandem aus Versehen mir der Schulter anremple und gleich darauf jemand anderem auf den Schwanz trete. Während ich noch zurücktaumle, wirke ich zwei Wunder gleichzeitig: erstens, dass ich Dūs sich nicht irgendwo den Kopf stößt, und zweitens, dass ich nicht noch mehr Aufruhr verursache. Wobei Letzteres wenig Wert hat, wenn ich mir so anhöre, was gebrüllt wird, und wie irgendwo die ersten Schüsseln umgestoßen werden. I-ich verschwinde dann mal lieber! "Äh, ich such schon mal 'nen Sitzplatz!" ruf ich Phentos im Gehen zu und sehe zu, dass ich so weit wie möglich wegkomme von dem wütenden Mob, während er noch ansteht. Als er uns etwas später mit einer großen Schüssel dampfender Suppe aufspürt, sind seine Lippen nicht mehr als ein dünner Strich, welcher stumm aber deutlich die Worte spricht 'Das ist das letzte Mal, dass ich dich zum Essen einlade'. U-ups. Nachdem wir sichergestellt haben, dass Dūs die Schüssel ohne Probleme halten kann, und er sich hungrig darüber hermacht, ist es an uns, ihn ins Bilde zu rücken. Er wischt sich den Mund an seinem zerfetzten Stulpen ab, sobald wir geendet haben, und meint, "Wenn ich das so höre, möchte ich fast wieder glauben, dass Vas tatsächlich über dich wacht. Selbst, wenn du den falschen Weg einschlägst, landest du trotzdem am richtigen Ort." "Ehrlich gesagt hat er eher eine Hälfte unverschämtes Glück und die andere allergrößtes Pech," merkt Sira schnippisch an. Ich kann ihr ausnahmsweise nicht widersprechen. Ich ergänze, "Von dir könnte man aber dasselbe sagen, Dūs. Ohne dich wäre Selet in Kürze bei Dyonix gelandet. Danke." "Nichts zu danken, dazu wurde ich ausgebildet." Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter, ehe er wieder in die Schüssel starren kann. "Nein, ernsthaft," sage ich, "Niemand hat dich ausgebildet, meine Fehler auszubaden. Wär ich nicht so halsstarrig gewesen, wäre sie gar nicht erst entführt worden!" Weiß treten die Knöchel meiner Hände unter der Haut hervor, als ich sie zu Fäusten balle. "Aber noch ist sie nicht in Sicherheit... du weißt wirklich nicht, wohin sie geflohen ist?" Dūs runzelt die Stirn. "Wie ich schon sagte: nein. Auch wenn wir Schattenlosen einen etwas besseren Blick zu besitzen scheinen als manch anderer, heißt das noch nicht, dass wir Augen auf dem Rücken haben, Marin." "Schon gut! Tut mir ja leid, aber... gah, ich sollte erleichtert sein, aber ich bin's einfach nicht! Ich hab das Gefühl, dass sie jeden Moment wieder geschnappt wird, wenn ich sie nicht sofort suchen gehe. Und dann bin ich schon wieder schuld!" "Marin, du musst nicht-" Ich raste aus, "Ich meine, ich bin der Vierte und ich kann nicht mal ein einzelnes Mädchen beschützen!" Ein paar vorbeilaufende Kolph werfen uns irritierte Blicke zu. Sira sagt, "Ja, nur weiter so, dann erwarten uns die Hohepriester vielleicht mit einem Willkommensbankett." Gelassen sich an Dūs' Wange abstützend, meint sie, "Nun bleib mal locker, geh zu diesen hohen Tieren hin und frag ganz lieb, ob sie nicht auch Ausschau halten nach dem Prinzesschen, wenn keine geröstete Harpyie für sie dabei rausspringt." "Das lässt der Boss sich nie im Leben entgehen," meint Phentos. "Solange du dir bei ihm nicht auch so ein Denkmal setzt." * * * Die Residenz des Bosses ist etwas außerhalb der Stadt, gelegen auf einem ausgelagerten Hang, der weiter den Berg hinauf führt. Auf den letzten, wenigen Schritten, die Dūs zum Glück wieder auf seinen eigenen zwei Beinen bestreiten kann, schwindet allmählich die Kakophonie der Stadt. Schließlich erreichen wir ein Gebäude, das deutlich imposanter ist als die einfachen Behausungen der Kolph im Rest der Stadt. Zwei große Statuen und zwei ausgedehnte, blühende Blumenbeete flankieren die lange Treppe, die hinaufführt zum Eingang des Palastes. Abgesehen von den Wachen stehen dort oben im Schatten offener Arkaden noch drei andere Personen, allesamt gekleidet in lange, dunkle Roben mit braunen und mattgrünen Akkzenten. "Die Hohepriester, nehme ich an?" frage ich Phentos flüsternd. Er nickt verbissen. "Ja, das ganze Pack auf einmal. Oh je, das wird 'n ganzes Stück Arbeit." Während wir die Stufen hinaufgehen, werfe ich ihnen immer wieder einen Blick zu. Eine von ihnen erwidert ihn, starrt uns regelrecht an mit diesem selbstgerechten Blick, den ich selbst bei Orson nur selten gesehen habe. Aber die da hat wohl Jahre auf die Perfektion dieses Gesichtsausdrucks verwendet. Im Gegensatz zu all den anderen Kolph-Frauen, die ich gesehen habe, ist sie alles andere als hochgewachsen, sondern eher untersetzt. Und ihr Gesicht gleicht dem einer Kröte. Die Säulen schieben sich vor sie, während wir weitergehen, bis wir einen Blick auf den nächsten Kolph erhaschen können, der genauso ungeschult im Lächeln ist, aber wenigstens eine Aura von verdienter Autorität ausströmt. Nicht, dass er es irgendwie mit der letzten Frau im Bunde aufnehmen könnte. Dūs bleibt unvermittelt stehen, als er sie sieht, eine große Vas-Ikanerin. Ihr schmales, scharf geschnittenes Gesicht ist halb-verborgen unter ihrem schwarzen Haar, das aus ihrer losen Kappe hervorsprießt wie ein Vorhang aus schwarzer Seide. Ihre langen, spitzen Ohren ragen beinahe senkrecht aus ihrem Kopf, als wollten sie jedes einzelne Geräusch der Welt um sie herum einfangen. Sie betrachtet uns jedoch nicht lange und dreht sich wieder weg, bis alles, was wir von ihr ausmachen können, die gespaltene, gelbe Kerbe ist, welche ihren Nasenrücken kreuzt. "Ich wusste gar nicht, dass auch Barrahs unter den Hohepriestern sind." "Sie ist etwas Besonderes. Hohepriestern Basgorn hat viele Jahre unter dem ehemaligen Hohepriester Fabis die Schriften studiert, aber sie beschäftigt sich heutzutage mehr damit, andere Loquien zu bereisen, als sich um das Heiligtum zu kümmern wie Armos und Mophla. Mophla ist die kleine." "Die hab ich ja jetzt schon ins Herz geschlossen." "Stell dich besser gut mit ihr. Sie ist die Älteste von den dreien und hat immer das letzte Wort." Nachdem ich kurz meine Chancen abgeschätzt habe, sie auf meine Seite ziehen zu können – und zu einem eher ernüchternden Ergebnis gekommen bin – frage ich Phentos, "Aber das Wort eures Bosses zählt immer noch mehr als das der Hohepriester, oder?" "Wär ich mich nicht so sicher," sagt er, sich über den Nacken fahrend. Großartig, dann heißt es wohl hoffen, dass ich an die religiöse Leidenschaft dieser drei appellieren und sie überzeugen kann, dass, mich ins Heiligtum zu lassen, wortwörtlich ist, was die Götter von ihnen wollen. "Kommst du, Dūs?" rufe ich unserem Schattenlosen zu, der immer noch zu der anderen Schatten-Ikanerin hinüberstarrt. "Dūs?" probiere ich es noch mal. Diesmal hört er mich und schließt ohne weitere Worte wieder zu uns auf. Nicht nur die Priester haben uns skeptisch beäugt, sondern auch die Wachen. "Was ist euer Begehr?" fragt die eine. "Wir wollen Boss Molldum um Erlaubnis bitten, den heiligen Garten betreten zu dürfen," sagt Phentos. "Soll das 'n Witz sein?" "Mitnichten," übernimmt Dūs für Phentos. Trotz der Verletzungen wirkt er herausfordernd und streng. "Ich würde Angelegenheiten solcher Wichtigkeit ungerne hier auf der Türschwelle besprechen, aber wenn ihr es unbedingt wissen müsst..." Er deutet zu mir. "Dies ist der Prophezeite, der Vierte unseres Zeitalters-" Prompt schneidet ihm das lauthalse Gelächter der einen Wache das Wort ab. Die andere sieht gar nicht so amüsiert aus und schlägt ihrem Kollegen halbherzig vor die Brust, damit er aufhört. "Gibt's denn irgendeinen Beweis dafür?" will der zweite Wächter dann wissen, "Für Möchtegerns haben wir nichts übrig." Ich zucke fast merklich zusammen unter dem Wort, als es kurzzeitig Kora vor meinem geistigen Auge auftauchen lässt. Möchtegern. "Wenn du uns die Ehre gäbest, Sira," bittet Dūs. Widerwillig klettert sie aus meiner Tasche. "Die Víly freunden sich nicht einfach mit irgendwem an, wie ihr ja sicher wissen dürftet. Auch wenn es wenig beweisen mag, denke ich, dass es der Aufmerksamkeit des Bosses gebührt." Die Wächter wechseln einen unsicheren Blick. Plötzlich machen sie den Weg frei. "Nicht so schnell!" ruft da eine Stimme, begleitet von drohenden Schritten. Urgh, es sind die Hohepriester. Und die Sprecherin ohne Zweifel das Froschweib Mophla. Ihr missmutig verzogener Mund lässt ihre grünen Lippen aussehen wie ein Paar fetter, bebender Raupen, während sie sich mit den anderen zwei Hohepriestern zu uns gesellt. "Wieso glaubt ihr, dass es beim Boss liegt, zu entscheiden, wer unser Heiligtum betreten darf und wer nicht?!" Armos bemüht sich, die Situation ein wenig zu entschärfen, "Wir haben zufällig mitgehört." Trotzdem sieht er nicht minder ungehalten aus als Mophla. "Wenn ihr wirklich Fuß setzen wollt in unseren heiligen Garten, dann solltet ihr auch uns um Erlaubnis bitten." "Wir sollten das drinnen bereden," schlägt die einzige Barrah-Hohepriesterin vor. Von allen dreien sieht sie am besonnensten aus, beinahe zuvorkommend. "Wir werden euch zur Audienz begleiten." "Ich sollte wohl erwähnen, dass der Boss grad nicht da ist," fällt da der einen Wache ein, "Aber in seiner Abwesenheit kümmert sich seine Tochter Aigavlov um alles." "Es ehrt uns gleichermaßen, dass wir angehört werden," bedankt Phentos sich. Doch welch Feindseligkeit auch immer zwischen uns und den Wachen schwindet, kann ich geradezu in meinem Nacken wachsen spüren, als wir, gefolgt von den Hohepriestern, zum Audienzzimmer geführt werden, einem kleinen Saal, der ausgiebig vom Sonnenlicht erhellt ist, das zwischen den Säulen zu unserer Linken hereinfällt. Auf einer niedrigen Estrade wartet ein verlassener, hölzerner Thron. Kaum sind wir eingetreten, geht jedoch die Hintertür des Zimmers auf und ein versteiftes Kolphmädchen kommt herein in einem Kleid aus dünner Seide, das von ihren schmalen Schultern hinabgleitet und sich an ihre dezenten, aber robusten Rundungen schmiegt. Ihre Klauen schimmern wie geschliffenes Elfenbein. Die Hände gefaltet, verbeugt sie sich vor uns und lässt sich auf dem Thron nieder, der ein wenig zu groß ist für ihre zierliche Gestalt – die mich immer noch um gut einen Kopf überragt. Sie schafft es nicht ganz, uns anzusehen, als sie uns begrüßt, "Ich heiße Euch willkommen im Namen meines Vaters, Molldum, dem Boss der Kolph der Hyperionsfest. Ich bin Aigavlov, seine Tochter. Leider ist mein Vater grade nicht in der Stadt, weswegen ich ihn vertrete. Und wer seid Ihr?" "Ich bin Phentos. Und das sind meine Freunde Marin, Dūs und Sira, die Víla. Die drei sind vom Fuße des Berges zu uns gekommen, um Eure Hilfe zu erbitten." "N-nun... was können wir Euch tun, wenn ihr diese Mühen auf Euch genommen habt?" "Nun, es sind zwei Dinge, um genau zu sein," mache ich an Phentos' Stelle weiter, "Auf dem Weg hierher sind wir von Harpyien angefallen word-" Ein erstickter Schrei vonseiten der Priester schneidet mir das Wort ab. Armos stammelt, "H-Harpyien?! S-seid ihr euch da sicher?!" Seine Schuppen sind plötzlich aschfahl. Nanu, wer hätte gedacht, dass Harpyien den Kolph so große Angst bereiten können? "Wir waren selber ziemlich überrascht. Die Sache ist die... sie haben unsere Begleiterin entführt." Ich stocke. Ob das wirklich der richtige Weg ist? Schlimm genug, dass wir nun wirklich drauf beharren, dass ich der Vierte bin, aber wenn ich ihnen von Selet erzähle, habe ich all ihre und Halsänns Anstrengungen, unentdeckt zu bleiben, zunichte gemacht. Hilflos schaue ich zu Dūs. Komm schon, du warst doch vorhin auch so wortgewandt! Doch jetzt ist selbst er um Worte verlegen, "Ja... richtig... Ein Mädchen, von fünfzehn Jahren. Mit kräftigem, braunen Haar und olivfarbener Haut. Die Harpyien haben sie bei ihrem Angriff auf uns verschleppt." Basgorn hebt fragend eine Braue. "Weshalb sollten sie das tun?" Mist, ich wusste einfach, dass irgendjemand diese Frage stellen würde! Gut, tief durchatmen, Augen zu und durch. "Nun," fange ich an, "Dieses Mädchen, müsst Ihr wissen... ist niemand Geringeres als Prinzessin Selet Ardorakk." Mophla verliert die Fassung. "Genug von diesen Lügen!" faucht sie, "Aigavlov, glaubt ihnen bloß nicht! Am Eingang haben sie auch noch behauptet, sie wollen ins Heiligtum und der Pimpf da sei der Vierte! Solche Häretiker werden wir hier nicht dulden! Aus der Stadt jagen sollten wir sie oder einsperren, bis sie verrotten!" "Aber wir sagen die Wahrheit!" "Wo sind dann eure Beweise?!" plärrt Armos, "Denkt ihr, wir glauben euch das so einfach?!" Ausgerechnet ein Priester schreit nach Beweisen. Aber was soll ich ihm sagen? Ich habe nichts vorzuzeigen, was auch nur irgendetwas beweisen könnte. Verdammt, hätten wir doch wenigstens noch die Prophezeiung, dann- "Lest diese Schriftrolle," spricht Dūs und zieht etwas unter seinem Wappenrock hervor. Ich fass es ja nicht! Al'Harzhalas Prophezeiung! "Woher hast du- Wann hat- Hat Selet sie dir gegeben?!" stammle ich fassungslos, doch er ignoriert mich und reicht das Pergament den Hohepriestern. "Lest aufmerksam," sagt er noch. Dann stürmt plötzlich einer der Wachmänner herein. "Äh, bitte verzeiht," hechelt er, "Aber da ist noch jemand, der Euch sprechen will, Majestät. Und er sagt, er will nicht warten. Irgendein Adeliger aus den Höhen von Eristoth." "Oh Götter, nicht noch einer," stöhnt Aigavlov, der wir alleine offenbar schon zu viel Störung sind in einer Stadt, wo um jede Ecke ein Amboss singt und eine Esse faucht. "Er wird sich in Geduld üben müssen. Bitte sagt ihm, zu warten, bis ich hier fertig bin-" "Eure Majestät Aigavlov!" tönt da jemand hinter der Wache. Den Kolph beiseite schiebend, stolziert ein frischgebackener Erwachsener herein, seine schmale Nase so hoch tragend, dass der spitze, geknickte Hut fast von seinem kastanienbraunen Haarschopf purzelt. Sein langer Umhang schlägt breite Falten, sodass es aussieht, als ob die verschnörkelten Stickereien an dessen Saum zum rhythmischen Klacken seiner Schnabelschuhe tanzen. Was ist denn das für einer? "Verzeiht, dass ich hier so hereinplatze," redet er auch schon los wie ein Wasserfall, während wir alle noch viel zu perplex oder in die Schriftrolle vertieft sind, um auf diese Unverschämtheit zu reagieren, "Aber ich bin hier auf einer wichtigen Mission, denn-" Er stoppt mitten im Satz, als er Phentos, Dūs, Sira und mich erblickt. Seine hellen Augen weiten sich, dann zeigt er plötzlich auf mich. "Dich kenn' ich doch! Du bist dieser gemeine Hund, der mir meine Suppe gemopst hat!" "Hä?" ist alles, was ich sagen kann, bevor er mich plötzlich anspringt und zu Boden drückt. Ich packe seine Hände, um ihn abzuschütteln. Als das nichts nützt, lasse ich mein Knie in seinen Bauch schnellen, um ihm die Luft zu nehmen. Rothaar keucht auf, will mich aber immer noch nicht loslassen. "Was zur Hölle stimmt mit dir nicht?!" krächze ich, mit ihm raufend und durch den halben Thronsaal rollend. Bis Phentos brüllt, "Masseleisen und ausgegangene Esse, hört ihr wohl mal auf?!" Wie eingefroren halten wir mitten in der Bewegung inne, die Hände am Hals des anderen. "Wenn ihr euch kloppen wollt, erledigt das in den Gruben, aber nicht hier!" Aigavlov reibt sich derweil seufzend die Schläfen, "Bei Olphe, was ist heute nur los...?" "Ah, richtig, richtig, mein Fehler, Majestät! Verzeiht," meint Rothaar und richtet sich auf. Ich bleibe auf dem Boden zurück und wünschte, jemand würde diesen Kerl ins nächste Verließ werfen, bevor er in seinem Wahnsinn noch jemanden umbringt! "Erlaubt mir, mich vorzustellen," sagt er mit einer allzu großzügigen Verbeugung und einem Wurf seines flatternden Umhangs, "Ich bin Ralph Sturmbock, Sohn von Graf Gordan Sturmbock von Kesselrode, und komme zu euch mit einer dringlichen Bitte!" "Klasse, noch einer," grummelt Aigavlov, räuspert sich aber schnell und fragt, "Wie mögen wir Ost-Kolph euch helfen?" "Nun, ich will Eure Zeit nicht unnötig mit Details verschwenden, drum komme ich gleich zur Sache: unsere Ländereien plagt seit kurzer Zeit eine... nun, ernstzunehmende Anzahl Eindringlinge von jenseits der Höhen. Dem Anschein nach Cholger, welche die umliegenden Dörfer überfallen und nach Osten drängen. Es beschämt mich, das zu sagen, aber Haus Sturmbock verfügt einfach nicht über die militärischen Provisionen, um sie alleine in Zaum zu halten, während unsere Lehnsherren von Frigus... na ja, etwas nachlässig sind, uns Hilfe zu leisten. Mag sein, dass sie selbst zu kämpfen haben, und's nicht zugeben, Ikaner-Ehre und sowas, wisst Ihr? Somit bedürften wir eines Battalions Eurer stärksten Krieger und, wenn Ihr so gut wäret, genug Waffen, um sie und unsere eigenen Leute auszurüsten!" "He!" rufe ich, "Was ist mit uns, wir waren zuerst da!" "Ihr seid Diebsgesindel, euch anzuhören, wäre Zeitverschwendung!" "Wovon redest du da?! Ich hab nie was gestohlen, erst recht nicht von dir! Ich kenn dich ja nicht mal." "Glaub mir, dein Gesicht hab ich mir gemerkt! Du bist der Kerl, der mich an diesem Suppenstand angerempelt hat, und im nächsten Moment war mein Mittagessen weg! Meine Klamotten haben sogar was abgekriegt, sodass ich mich noch einmal umziehen musste – wärst du also nicht gewesen, wäre ich ohnehin als Erster hier gewesen!" Oh nein, dann ist der Typ also einer der Leute, in die ich vorhin reingestolpert bin. Aber wegen einer Suppe macht der so einen Aufstand?! "Ich hatte alle Hände voll zu tun mit der Person auf meinem Rücken, falls du dich erinnerst," kontere ich dennoch, "Außerdem hab ich's nicht nötig zu stehlen, ich hab mehr als genug Geld hier in meiner Ta-" Oder auch nicht. Denn als ich in meine Tasche greife, ist da keine einzige Münze mehr. Was- ich hab doch nie im Leben so viel ausgegeben! Da sollte noch 'ne Menge übrig sein- "Die Harpyien!" wird mir klar. Verdammt, die haben mir nicht nur die Klinge abgeknöpft, sondern sich gleich noch an meiner Geldbörse bedient, wenn sie schon mal da waren! Grr, das wären dann zwei Faustschläge für Kora, falls ich diesen Aasgeier jemals wiedersehe! Aber vorerst muss ich mich erstmal mit diesem Spinner hier beschäftigen. Vielleicht nicht unbedingt mit meinen Fäustern. Aber er scheint bereit, jeden Moment zu unserer Prügelei zurückzukehren, als Aigavlov sich plötzlich an den Kopf fasst und schreit, "Ich kann das nicht! Um Kins Willen, es ist zu viel! Plötzlich taucht all ihr Leute hier auf und wollt Hilfe, kaum dass mein Paps nicht da ist, um sich um euch zu kümmern!" "B-beruhigt Euch, mein Kind," spricht Armos, den Blick erstmals wieder von der Prophezeiung erhoben. Mophla und Basgorn indes sind immer noch in verschwörerisches Getuschel vertieft, scheinen von all dem Trubel im Raum nicht das Geringste mitbekommen zu haben. "Wir sind hier, um euch mit unserem Rat zur Seite zu stehen. Was beide diese Bittsteller angeht." "Ich weiß ja. Aber findet Ihr das nicht auch langsam seltsam? Mein Vater ist sonst nie so lange weg, wenn er auf den Gipfel steigt." Nun löst auch Basgorn ihren aufmerksamen Blick von dem Pergament. Mit finsterem Blick überlegt sie laut, "Vielleicht ist er aufgehalten worden. Ich will Euch keine Angst machen, doch der Pfad zum Gipfel ist tückisch." Armos stimmt ihr zu, "Jetzt wo Ihr es sagt... Molldum ist tatsächlich ziemlich lange weg." "Nicht verzagen!" verkündet Ralph da mit stolz geschwellter Brust, "Ich werde Euren Boss finden und mich um sein Wohlergehen erkunden, um zu beweisen, dass Haus Sturmbock wahrlich ein vertrauenswürdiger Bündnispartner für Euch ist, solltet Ihr entscheiden, uns mit unserem Dilemma zu helfen. Meine Begleiterin und ich werden schnell wie der Wind eilen und, ehe Ihr Euch verseht, wird Eurer Vater zurück sein!" Oh nein, jetzt will der mich ausstechen! Na, wenn er da mal nicht die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat. "Wir wären natürlich ebenso geehrt, Euch zur Hand zu gehen!" sage ich deshalb. "Ach ja? Denkst wohl, bei mir gibt's noch mehr zu holen?!" knurrt Ralph leise. Ich belasse es dabei, ihn zur Antwort einmal kurz zähnebleckend anzusehen. Dūs seufzt und wendet ein, "Uns ist bereits wenig Zeit vergönnt. Wenn Prinz Sturmbock sich der Sache annimmt, sollte diese Aufgabe bereits in guten Händen sein, sodass wir unseren Besuch des Heiligtums nicht unnötig aufschieben müssen. Sofern die Hohepriester damit einverstanden sind." Auf einmal entgegnet Mophla, "Ich sag euch was: Wenn ihr den Boss findet und er euch erlaubt, die Gärten zu besichtigen, will ich mich nicht querstellen. Diese Schriftrolle beweist zwar nichts, aber wir wollen unsere Zweifel mal zu euren Gunsten ausräumen. Oder, Armos und Basgorn?" "Du bist die Älteste. Dein Wort zählt," beteuern beide einstimmig. Basgorn hat aber noch mehr zu sagen, "Das wäre alles, was eure Bitte anbelangt, unser Heiligtum zu betreten. Doch ich erinnere mich, dass wir auch für euch nach der Prinzessin suchen sollen." Ich schaffe es, mich von meinem Blickgefecht mit Ralph loszureißen, und nicke. "Ja. Soweit wir wissen, könnte sie den Harpyien entkommen sein, aber das macht die Hyperionsfest nicht minder gefährlich. Außerdem sind diese Biester schnell, darum wären wir dankbar für jede Hilfe, die wir kriegen könnten. Verzeiht, dass wir so viel von Euch verlangen." Basgorn spricht mit sanftem Lächeln, "Bitte nicht um Vergebung. Um Hilfe zu beten, ist keine Sünde. Sie jemandem in Not zu verweigern, aber schon." "Vielen Dank. Wir werden den Boss so schnell wie möglich zurückbringen!" "Nicht, wenn ich ihn zuerst finde," meint Ralph. Voller Entschlossenheit verspreche ich ihm, "Keine Sorge, du darfst mit eigenen Augen sehen, wie wir dich schlagen werden." Ein Wunder, dass er mir nicht hier und jetzt eine reinhaut. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)