The Rain People von _Amsterdam_ ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Route 119 bedeutete Regen, wusste jedes Kind in Hoenn. Wusste auch Ruby. Aber was bedeutete Regen, an sich? Wusste das eigentlich noch jemand? Wie häufig dachten Kinder in Hoenn darüber noch nach? Meteorologen hielten tausende langweilige Erklärungen für Regen für sie bereit. Daher verloren die Kinder das Interesse am Regen. Kaum jemand fragte seine Eltern mehr danach. Dieses Unwissen über den Regen war etwas, was Hoenn schon einmal an den Rand des Unterganges brachte. Ruby aber war in einer Regennacht geboren. Er träumte häufig vom Regen. Er konnte Wasser in jeglicher Form, auch als See oder Ozean, stundenlang beobachten. Schweigend, mit unerklärlicher Ehrfurcht. Oder war diese Ehrfurcht, die Ruby beim Betrachten des Ozeans empfand, nicht doch etwa einfach erklärbar? Spürten nicht alle Lebewesen Ehrfurcht vor ihrem Ursprung, dem Ozean? Vielleicht besaßen Zellen noch das Gedächtnis von ihrem ursprünglichen Zustand. An ihre ersten Tage. Als sie vereinzelt im Wasser dahintrieben. Vielleicht wollten sie dorthin zurück. Rubys Traum war es, einmal den Ozean zu erforschen. Daher wurde er Trainer. Er wollte die Erlaubnis, Surfer, Kaskade und Taucher zu benutzen. Dann könnte er mit seinen Pokémon den Ozean zurückerobern. Zurückzuerorbern? Ja. Ruby glaubte daran schon als Kind, im Urlaub. Der Ozean um Hoenn gehörte jemandem, dem er nicht gebührte. Als hätte eine feindliche Präsenz den Ozean durchtränkt. Route 119 bedeutete aber erst einmal Regen, keinen Ozean. Hohes, dichtes Gras schoss ungebändigt aus dem lehmigen Boden. Den Landstrich durchzogen Wasserfälle, brüllend. Sie stürzten hinab von den Höhen der Berge, ihre Lebendigkeit tränkte den Lehm. Sie ließ hier einen Dschungel sprießen. Wo Wasser ist, ist auch Leben. Wo Wasser im Übermaß fließt, kann man sich vor Leben kaum retten. Ruby war es Leid, auf Myrapla zu treten. Seine Beine juckten vor Stachelsporen. Seine Kleidung war von Dreck unerkennbarer Farbe. Ruby war müde - und zufrieden. Er hatte es nämlich. Er hatte endlich ein Barschwa an der Angel. Bald, stellte Ruby sich vor, besäße ein Milotic, wie auch sein Idol, der Arenaleiter Wallace. Damit würde er den Ozean erobern. Auch mit siebzehn trieb ihn diese Vorstellung an. Man belächelte Ruby dafür. Ruby zog seine Angel ein, an der er kurz zuvor voller Glück ein Barschwa sah. Sein Fahrrad stand kurz darauf bereit. Das Fahrrad hatte sich kurz zuvor selbst aufgebaut, aus einem federleichten Metallteil. Ruby trat hastig in die Pedalen. Er wollte noch vor Dämmerung Route 119 verlassen und Baumhausen erreichen. Der Regen schellte ihm ins Gesicht. Doch diese Wetterlage war ihm nie unangenehm gewesen. Er liebte das Fahrradfahren, im Regen genoss er es noch mehr. Mehr Sorgen bereiteten ihm wilde Pokémon. Je tiefer er in den Dschungel vordrang, desto mächtigere Biester lauerten in dessen Gräsern und Flüssen. Voll ausgewachsene Voltenso und Geradaks hatte Ruby schon gesehen. Die unumstrittenen Herrscher dieses Dschungels aber, das waren die Tropius. Eine Herde Flugsaurier spreizten ihre Flügel aus Blättern in der Ferne, auf dem Wasserfall. Ein exotischer Anblick, der gefährlich werden konnte. Es war nicht ratsam, näher zu fahren. An der Quelle hatten die intelligenten Biester eine Art Plantage errichtet. Ruby hatte ohnehin nicht vor, den Tropius ihr Gebiet streitig zu machen. Sein Superschutz würde nicht mehr lange wirken. Ruby fuhr schneller. Er wollte sich Gefechte mit wilden Pokémon ersparen, die schwer und unnötig waren. Er erinnerte sich an Sapphire. Sie hätte sich jetzt sicherlich mit den Tropius angelegt. Er und Sapphire - sie waren Regenmenschen. Das Leben galt als beschwerlich, als zerbrechlich. Aber sie beide wuchsen heran, ohne Sorge und Not. Wie Myrapla unter dem Regen gedeihten sie im behüteten Wurzelheim. Verschont von allem, was die große weite Welt um ihren Schlaf brachte. Rubys Vater war Arenaleiter. Sapphires Eltern Professoren. Sie hatten für ihren Wohlstand ausgesorgt, noch ehe sie Kinder bekamen. Einzelkinder, natürlich, denen alle Aufmerksamkeit zukam, die sie wünschten. Ruby und Sapphire konnten sich, bis sie zehn waren, nicht vorstellen, dass es eine Welt außerhalb von Wurzelheim gab. Mit Kriegen, Leid und Hunger. Doch auch diese Erkenntnis hielt sie nicht ab, als sie ihre jungen Köpfe heimsuchte. Kaum klopfte die riesigen Welt an ihren kleinen Häuschen, rebellierten sie gegen ihre Eltern. Ruby und Sapphire verließen Wurzelheim, damals nur von ihren Startern begleitet. Um ausgerechnet jene Welt zu sehen, vor der ihre Eltern sie behütet hatten. Aus Trotz, oder aus Sehnsucht nach der großen Ferne. Sapphire wollte jedenfalls leuchtende Großstädte sehen. Und Ruby den Ozean. Aber nicht den Ozean, den Urlauber sahen, sondern den richtigen, tiefen Ozean. Nur die wohlhabendsten Kinder konnten es sich leisten, aus Spaß zu reisen. Und auch nur dann, falls ihre Eltern es goutierten. Als Ruby und Sapphire vierzehn waren, ging es für sie los. Metarost, Faustahaven, Graphitport, Malvenfroh, Bad Lavastadt ... Bald würde auch die Route 119 in Rubys Reiseerfahrung eingehen. Nur noch eine Meile. Die Arenaleiterin von Baumhausen galt als Schönheit. Sein Barschwa - erst gerade gefangen, nicht gerade rücksichtsvoll - sollte dringend ins Center. Die schillernden Speichen von Rubys Rad rotierten durch den Regen, der hier Tage anhalten konnte. Eine Hängebrücke zeigte sich. Laut PokéNav die einzige Verbindung zwischen Dschungel und Festland. Ruby erinnerte sich nicht, jemals schneller gefahren zu sein. Wie konnte es jetzt also geschehen, dass jemand ihn überholte? Ein Mädchen, noch dazu? Er sah langes, braunes Haar flattern, vom Regen gepeitscht. Die Fahrerin überholte ihn nicht nur, sie bog ab und versperrte die Brücke. Eine Frechheit! Rubys Kampfgeist war geweckt. Er beschleunigte, bis er die Figur einholte. Abrupt drückte Ruby durch - aber die Bremse, nicht das Gaspedal. Die Verkehrssünderin hatte blaue Augen, erwies sich. Trug einen roten Regenmantel und schwarze Shorts. Ihre sportliche Figur veranschaulichte, wie sie Ruby überholt hatte. Sapphire! Rubys Herz wagte einen Sprung. Hier? Auf Route 119? Ja. Sapphire nahm ihren Helm ab, der sie zuvor unerkenntlich machte. Der Regen rann ihre Haare herunter. Sapphire ließ sie nicht länger, als bis zu ihren Schultern wachsen, obwohl sie dick und kräftig waren - ja nicht zu weiblich aussehen! Ihre graublauen Augen blitzten. Vergnügt, herausfordernd. Natürlich würdigte Sapphire Ruby keines unmittelbaren Blickes. "Sapphire", sagte Ruby. "So heiße ich", sagte sie. "Was machst Du hier?" Nach einer kurzen Pause, in der Ruby Atem holte: "Sage bloß, du hast fünf Orden. Nein. Oder? Du hast keine fünf Orden. Du weißt nicht einmal, was ein Normal-Typ ist." "Genau. Von anderen Typen ganz zu schweigen", Sapphire lachte, dann, aufsehend: "Dein Vater ließ Grüße ausrichten. Er sagte übrigens auch, ich hätte eindeutig mehr Talent, als du." "Das sagt er jedem", seufzte Ruby. Ruby fragte sich in dem Moment, weswegen sie nicht zusammen reisten. Wenn sie stets dieselben Orte besuchten. Mit vierzehn hatten sie sich freilich noch davor geschämt. Aber jetzt, mit siebzehn Jahren? "Dann finden wir es doch heraus?" "Was finden wir heraus?", horchte Ruby auf. "Wer mehr Talent hat." "Ich weiß nicht, ob ich bereit für einen Kampf bin." "Natürlich bist du bereit", entschied Sapphire. Kämpfe waren aufregend, aber auch anstrengend. Wie auch Sapphires gesamtes Wesen, für das selbst ihre Eltern mit "anstrengend" beschrieben. Ruby amüsierte die Einsicht, Sapphire wäre anstrengend, als wäre sie etwas Neues. Vielleicht war er aber auch einfach froh, sie zu sehen. In Rubys Handschuh expandierte ein Pokéball. In ihm ruhte das Potenzial, den Kampf zu eröffnen. Der Regen fiel weiter. Kapitel 2: ----------- Ein Kampf gegen Sapphire hatte für Ruby immer auch den Charakter eines Rituals. Eines festen Rituals für einen jungen Mann, der ansonsten fast ohne Bindungen lebte, der bei der erstbesten Gelegenheit auf Reisen ging. Immer, wenn sie kämpften, erinnerte sich Ruby an die Monate, die dazwischen vergingen. Und wie diese Monate immer nur auf diese Kämpfe hinausliefen. Diese ganze Staffete "Fangen, Trainieren, Reisen" war eigentlich nur für diese Kämpfe mit Sapphire. Sie waren für Ruby der Höhepunkt. Sapphire hatte ihr neues Schwalboss in den Kampf geschickt, einen prächtigen Raubvogel, mit blauem und weißem Gefieder. Im Brustkorb schlug, stolz angeschwellt, ein kraftvolles Herz. Ruby beeindruckte, wie das so leichte, so windhörige Schwalboss sich schnell bewegen konnte. Dagegen beeindruckte Rubys Geradaks weniger. Ein weißer Dachs mit grauen Streifen, seine blauen Augen besahen den fliegenden Gegner mit Ehrfurcht. Ruby schärfte seinem Pokémon einen zuversichtlichen Blick ein. Doch auch er selbst fühlte sich nicht unbedingt zuversichtlich. Sapphire war eine kämpferische Trainerin und ihm ebenbürtig - mindestens. "Ruckzuckhieb!", forderte Sapphire. Ehe Geradaks sich versah, wurde es getroffen. Schwalboss glitt durch die Luft, wie Wellen durchs Wasser, wonach es nach unten beschleunigte. Der Dachs zuckte überwältigt zusammen, als Schwalboss ihn rammte und durch die feuchte Erde schliff. Auch Ruby erstaunte die Geschwindigkeit, doch er befahl sofort einen Konter, um die Nähe zu nutzen: "Kopfnuss!" Geradaks nutzte die Kraft seiner Hinterpfoten für einen Rush vorwärts, wobei es seinen Schädel Schwalboss in die Brust drückte. Bald war das Kräftemessen vorüber, und Geradaks versetzte dem Raubvogel einen Stoß, viel schwerer, als der Ruckzuckhieb. So schien es zumindest. Denn das getroffene Schwalboss verflüchtigte sich in rote und blaue Farbe, wie ein Tagtraum im Regen. Doppelteam! Wo sich Schwalboss eigentlich befand, war auf einmal nicht mehr auszumachen. Geradaks umkreisten viele Flugbahnen in roter und blauer Farbe, aber kein klarer Körper mehr. Schwalboss bewegte sich so schnell, dass kein Auge mehr mitkam. Geradaks sah kein Ziel. Ruby regte es auf, dass Sapphire glaubte, dieses Manöver würde Schwalboss einen Vorteil geben. "Das hatten wir schon, das ist Doppelteam!", dozierte Ruby Geradaks, "Schnüffler, dann Kopfnuss!" Wie befohlen, nutzte der Dachs seinen Geruchssinn, um Schwalboss zu orten. Die Nase des Pokémon schwoll an, witterte Federn. Geradaks schloss seine Augen. Jetzt wusste der Dachs, welche Flugbahn Schwalboss tatsächlich durchschnitt. Doch das half ihm noch immer wenig. Zwar steuerte Geradaks die richtige Richtung, um mit Kopfnuss anzugreifen. Doch Schwalboss, selbst als es entdeckt wurde, blieb der schnellere Kämpfer. Der Raubvogel war darauf vorbereitet, verfolgt zu werden. Er drehte einen Salto in der Luft und war nun derjenige, der Geradaks verfolgte. Geradaks liefen sehr schnell, nicht viel langsamer, als Schwalboss flogen. Doch ihre Schwäche war das Abbiegen. Dafür brauchte Geradaks viel zu lange, sodass Sapphire einen Angriff befehlen konnte: "Aero-Ass!", rief die junge Frau. Schwalboss beschleunigte rasant, mit einem schrillen Jagdschrei. Nur noch eine rot-blaue Silhouette schnitt durch die Landschaft. Zwei scharfe Krallen zogen tiefe Furchen im Lehm und erfassten auch Geradaks. Rubys Pokémon rollte ins Gras, am Rücken verletzt. Ruby durchfuhr es eiskalt, wie es ihn jedes Mal durchfuhr, wenn seine Pokémon litten. Doch auch Sapphire fand keine Zeit zum Triumphieren. Im Gegenteil, ihre Augen weiteten sich, als auch ihr Schwalboss zu Boden stürzte. An den Krallen des Vogels, die zuvor Geradaks verletzten, hing eine Eisenkugel. Ein nutzloses, schweres Item, von dem Sapphire nicht wusste, woher es plötzlich kam. Die massive Kugel kettete die Füße ihres Pokémon ein; ein Schwalboss, das nicht fliegen konnte. "Kannst Du mir erklären, was abgeht, Ruby?" Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Doch es lag auch Neugier in ihrem Blick. Wie kam eine Eisenkugel an die Füße ihres Schwalboss? "Offerte", erklärte der junge Mann, "Eine Attacke, bei der man sein eigenes getragenes Item dem Gegner aufzwingt." "Und woher kommt dann überhaupt diese Eisenkugel?" Sapphire schaute noch immer ungläubig, als hätte Ruby etwas getan, was er nicht durfte. "Die Erklärung hebe ich mir für später auf", sagte Ruby, "Ich glaube nicht, dass Du sie jetzt akzeptieren würdest." Seine Stimme war voller Erleichterung. Diese Kombination aus Offerte und Mitnahme, der scheinbar nutzlosen Fähigkeit von Geradaks. Sie hatte tatsächlich gewirkt und den Kampf entschieden. "Risikotackle!", befahl Ruby. Geradaks, verletzt und aufgebracht, stürmte aus dem hohen Gras. Diesmal hatte der Dachs alle Zeit der Welt für seinen Anlauf, denn ein festgekettetes Schwalboss war kein Schwalboss mehr. Mochten die Lüfte das Revier seines Gegners sein, so waren Geradaks gewissermaßen die Vögel des hohen Grases. Ihr Körper war darauf angelegt, vorwärts zu preschen. Das tat Geradaks auch, ohne jegliche Rücksicht auf die Umgebung. Als Geradaks auf Schwalboss prallte, entwurzelte der Winddruck selbst das Gras. Trotz der Eisenkugel schleuderte es den Raubvogel hoch in die Luft. Doch selbst in der Luft dort breitete Schwalboss seine Flügel nicht mehr aus. Schwalboss fiel zu Boden, auf den Rücken, plump, wie ein Stein. Eine der stärksten Normal-Attacken, Risikotackle, hatte einen Volltreffer gelandet. Auch Geradaks konnte nicht länger einen Kampf bestreiten. Der Rückstoß seiner eigenen Attacke beendete, was Schwalboss Ruckzuckhieb und Aero-Ass angefangen hatten. Geradaks blieb liegen. Ein erschöpftes Pokémon, das einem ungleichen Kampf noch Genugtuung abrang. Ruby erinnerte sich, wie sie ihre ersten Pokémon selbst fingen. damals, mit erst zwölf Jahren. Er ein Zigzachs, weil es niedliche Kulleraugen hatte. Und sie ein Schwalbini, weil es immer auf andere herabsah. Seitdem waren fünf Jahre vergangen, und diese Wesen waren immer treu bei ihnen geblieben. Nun lagen sie nebeneinander im Gras. Es dauerte, der Regen fiel, und es dauerte, ehe die Trainer ihren Pokémon dankten, sie mit Laserpointern in ihre Bälle befahlen. Das Adrenalin tränkte die Adern der jungen Menschen, es berauschte sie, wie stark sie mittlerweile geworden waren, wie lebendig ihre Kämpfe, die früher noch ein lustiges, unästhetisches Gerangel zeigten. "Das habe ich vermisst", gestand Sapphire, mit einem Lächeln. Ruby ersparte ihr den Kommentar, den sie forderte. Dass er auch sie vermisst habe, nicht nur dieses "das", nicht nur ihre Kämpfe. Das war ihm zu selbstverständlich, als dass er es äußern würde. Sapphire und er tauschten nie Selbstverständlichkeiten aus; sie hatten sie von Anfang an irgendwie schon alle gekannt. Es roch nach tropischen Pflanzen im Dschungel, fiel Ruby jetzt erst auf. Er war tagelang unter diesem Regen, über dieser lehmigen Erde. Es roch nach Leben, das diese Komponenten gaben. Ein aufregender Geruch, an dem man sich nur erfreuen konnte. Rubys Voltenso und Sapphires Kapilz sahen einander in die Augen, nicht unbedingt freundlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)