Spiel lieber nicht mit mir von JayD94 ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Sechsjährige Patientin stürzt von einem Baum auf den Kopf und erleidet schwere, innere Verletzungen. Die Ärzte versuchen, die Blutungen zu stoppen, doch keine Aussicht auf Besserung. Am nächsten Morgen jedoch weist die Patientin wie durch ein Wunder keinerlei Schmerzen oder Einschränkungen auf, als ob sie nie einen Unfall gehabt hätte. Ärzte können sie noch am selben Tag entlassen und versprechen, dass keine Folgen entstehen werden“, begann ein Artikel über Clarice Sandoragé. Mittlerweile waren sechs Jahre vergangen. Sie machte keinerlei Anzeichen darauf, dass irgendwelche Krankheiten oder Folgen auftraten und führte ein unbeschwertes Leben in einer sechsköpfigen, mittelständigen Familie. Clarice trug sehr gern Kleider, hatte eine blasse Haut und mandelförmige, bernbraune Augen. Ihre blonden, langgewellten Haare trug sie stets zu einem Zopf gebunden. Die rote Schleife liebte sie besonders dann, wenn ihre Mutter sie zurechtmachte. Ausgerechnet heute feierte sie ihren zwölften Geburtstag, woraufhin sie selbstverständlich beglückwünscht wurde. Die Kinder amüsierten sich in dem Garten der Familie Sandoragé, welcher sich hinter dem Haus befand. Währenddessen unterhielten sich einige Eltern auf der hinteren Veranda oder tranken zusammen in der Stube aus der Bohle. Die Mutter befand sich in der Küche, um das Festmahl vorzubereiten. „Es grenzt wahrlich an ein Wunder, dass die Kleine noch nicht einmal einen Kratzer abbekommen hat“, so eine der Eingeladenen. Sie wussten alle, was damals passierte. „Sie hatte eben einen guten Schutzengel“, bemerkte der Bruder. Das Pärchen hatte insgesamt vier Kinder. Die Älteste darunter war Odile. Mit ihren 15 Jahren war sie ziemlich reif und übersprang sogar die erste Stufe in der Mittelschule. Genau wie ihre Schwester sah sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten zum Verwechseln ähnlich und war ein Schachgenie. Weil sie sich in ihrer Freizeit um die Schule kümmerte, war sie oft erst spät Zuhause und demzufolge kaum bei der Familie. Auch heute machte sie keine Ausnahme, denn an jedem Mittwoch arbeitete sie mit ihren Kameraden an einem Schulprojekt. Nur, dass sie dieses Mal nicht Zuhause lernte, denn dort war es definitiv zu voll. Ganz anders war Louis. Er war 14 Jahre alt, hatte kurzes, braunes Haar und liebte Eishockey. Da nun der Winter angebrochen war, hatte er wieder mehr Zeit, denn die Wettkämpfe waren vorüber. Zwar waren seine Freunde nicht eingeladen, doch er hatte trotzdem seinen Spaß. Obwohl er noch so fit war, aß er unter anderem wahnsinnig gern. Er wartete also nur noch darauf, bis der Braten endlich serviert wurde. Zu guter Letzt gab es neben den Geschwistern noch die kleine, neugierige Evangeline, die mit ihren süßen, sechs Jahren alles bekommen könnte, was sie wollte, wenn sie nur ihren Hundeblick aufsetzte. Natürlich wusste sie das und punktete genau heute, um an noch mehr Süßigkeiten zu kommen, was sie kriegen konnte. Sie liebte Süßes. „Du isst zu viel, Evangeline!“, hieß es dann, doch niemand wollte ihr ihre Sammlung nicht wegnehmen. Stattdessen stopften sie ihr noch mehr in den Mund, denn heute war immerhin ein besonderer Tag. „Joyeux anniversaire, joyeux anniversaire, joyeux anniversaire, Clarice, joyeux anniversaire!“, sang die französische Gemeinschaft in einem Chor für das Geburtstagskind, als die mit 12 Kerzen bestückte Erdbeertorte in den Raum gebracht wurde. Es war Tradition, dass sich allesamt in einem Zimmer aufhielten, bis die Gastgeberin die Kerzen auspustete, um sich etwas zu wünschen, und die Stücke dann mit Freuden verteilte. Erst danach wurden die Geschenke geöffnet. Unter den vielen Präsenten war etwas dabei, worüber sich der junge Teenager am meisten freute, denn von ihren Eltern bekam sie eine neue Geige aus Fichten- und Ebenholz. Die antike Geige kam aus Deutschland und war zudem frisch rötlich lackiert. Natürlich sprang die 12-Jährige auf, nahm sich die Violine und spielte darauf. Clarice war trotz ihres jungen Alters ein Naturtalent und begann relativ früh, darauf zu spielen. Wahrscheinlich hatte sie dieses Talent von ihrer Tante, denn diese hatte das Geschenk ausgesucht. Fast bis zum späten Abend lang testete sie alle Saiten und spielte jedes klassische Lied, das sie kannte. Zum Schluss unterhielt sie ihre Gäste mit einem französischen Volkslied, woraufhin Jeder mitgesungen hatte. Anschließend gingen sie nach Hause. Auch am Rande von Paris war es üblich, dass sich die Kinder in dem Alter zwei Küsse auf die Wangen gaben – jeweils zur Begrüßung und selbstverständlich auch zum Abschied. „Es ist schon spät und morgen ist Schule, ab ins Bett mit euch. Papa holt Odile ab und ich mache noch die Küche sauber. Vergesst nicht, euch die Zähne zu putzen“, so die Mutter, die bereits am Abtrocknen war. „Maman!“, rief Louis in einem genervten Unterton. „Clarice und Evangeline sind beide auf dem Sofa eingeschlafen. Darf ich nicht noch ein wenig aufbleiben?“ „Nein, Louis! Ich bringe sie später rauf. Heute ist Clarice‘ Geburtstag und du hast immer noch Konsolenverbot!“ „Aber, wenn ich es dir doch sage, Maman, Clarice hat Juliette und Clémence wirklich mit Absicht geschubst. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Warum glaubst du mir denn nicht?“ „Schwachsinn! Clarice würde so etwas niemals tun und das weißt du auch.“ Wütend legte sie den Teller auf den Tisch, verschränkte ihre Arme und forderte auf: „Abmarsch ins Bett mit dir! Sofort!“ Juliette und Clémence waren beide Klassenkameradinnen, welche definitiv nicht eingeladen werden sollten, wenn es nach Clarice ging, doch ihre Mutter hatte wie sonst auch immer die gesamte Klasse, ihre Eltern und natürlich auch einige Lehrer eingeladen. Es war vollkommen normal, denn die Eltern verstanden sich mitunter am besten. Deshalb freuten sie sich auch, wenn ein Kind in der Klasse Geburtstag hatte, Jemand neu heiratete oder in der Schule etwas anstand. Jedes Mal bereiteten sie sich einen Monat vorher darauf vor und sprachen ab, wer sich um welche Aufgaben kümmern sollte. Den Kindern kam es nur zugute, es sei denn, Störenfriede wie Juliette und Clémence würden sich dazugesellen. Nun war der Tag aber vorbei und Louis versteckte sich wütend unter seiner Bettdecke, während er auf einem Handhelden spielte. „Ich habe keine Lust mehr darauf! Clarice darf alles und mir glaubt man kein Wort… Am besten sage ich nie wieder mehr etwas“, versprach sich Louis schluchzend. Vor einigen Monaten konnte er bereits beobachten, dass etwas nicht stimmte. Seine Schwester veränderte sich nicht nur von der Blässe ihrer Haut her, denn immer mehr wurde sie auch kälter und handgreiflicher. Wenn er sich an den Vorfall vor drei Monaten zurückerinnerte, dann musste er sich nur die Narbe am Knie anschauen, denn an dem Tag wurde er von ihr vom Fahrrad gestoßen, weil er sich lieber mit Freunden im Kino treffen wollte, statt Clarice zur Oper zu begleiten. Arien waren noch nie etwas für den Burschen und deshalb ging er wirklich nur dann mit, wenn er von seinen Eltern aufgefordert wurde. Noch dazu kam, dass er nie vergessen würde, was sie zu ihm sagte: „Schade, dass du nicht auf dem Kopf gefallen bist, Brüderchen.“ Noch heute verspürte er ein unwohles Gefühl dabei. Seine Hände zitterten. Sein Atem ging schneller. Kopfschüttelnd versuchte er, den Gedanken von sich abzuschütteln, ließ seinen Gameboy neben sich fallen und hielt sich seine Ohren zu. Ein kalter Schauer lief ihm dem Rücken runter, als dann die Tür plötzlich aufsprang. Er hörte Schritte, die immer näherkamen. Als die Person direkt hinter ihm stehenblieb, hielt er die Luft an. Leise drückte er den Schalter an seinem Gerät runter, um ihn auszuschalten. Er zuckte, als seine grausame Schwester ihm zuflüsterte: „Wenn du nicht wie July und Cléo enden willst, solltest du lieber schweigen, Brüderchen.“ Sein Herz raste wie wild. Er wusste genau, wen sie gemeint hatte, doch was genau, konnte er sich nicht einmal im Traum zusammendichten. Also blieb er stillschweigend auf der Seite liegen und versuchte, einzuschlafen. Die Nacht war kalt. Besonders im Winter. Zwar lag kein Schnee, doch die ganze Nacht regnete es in Strömen. Die Fenster waren in allen Schlafräumen offen, sodass sich Louis eine Erkältung zugezogen hatte. Am liebsten wollte er zuhause bleiben, doch wie er seine Mutter kannte, ließe sie ihn selbst bei 40 Grad zur Schule gehen. Mühsam zwang er sich ins Bad, machte sich frisch und zog sich um. Anschließend lief er ins Wohnzimmer, nahm sich vorher noch sein Buttercroissant vom Tisch und setzte sich auf das weiche Sofa. Da die Familie ausnahmslos überall Teppiche gelegt hatte – selbst im Bad, war es verboten, Schuhe in der Wohnung zu tragen. Genüsslich aß er sein Frühstück, trank den Orangensaft, den seine Mutter ihn bereitstellte, und sah fern. Gerade liefen die Nachrichten und was er dort sah, kräuselten ihm seine wenigen Nackenhaare zusammen. Juliette und Clémence kehrten nicht nach Hause und waren seit der Feier spurlos verschwunden. Fassungslos sah er zu seiner Schwester, die gerade den Raum betrat und sich zu ihm setzte. Sie tut so, als sei nichts gewesen, dachte er, und ich weiß, dass sie etwas damit zu tun hat. Schwer schluckte er, legte den Teller ab und erhob sich. Dann zog er sich die Schuhe an und schrie: „Ich fahre mit dem Fahrrad zur Schule, Maman.“ Sichtlich im Gesicht verschwitzt nahm er seinen Schulranzen und fuhr los. Auf dem Weg zur Schule machte er sich Gedanken darüber, wie seine Schwester es geschafft hatte, sie verschwinden zu lassen. Noch dazu fiel ihm auf, dass Clarice nun die Blässe einer Toten angenommen hatte. Ihre Augenringe machten dies zusätzlich deutlich. Außerdem hustete sie, als ob sie krank geworden wäre. Vielleicht war das alles auch nur ein Zufall, doch dann dachte er an den Vorabend zurück. Nachdenklich stellte er das Rad ab, lief in den Klassenraum und setzte sich auf seinen Platz. Den ganzen Tag über konnte er sich kaum konzentrieren, doch die Lehrer schätzten ihn so ein, dass er sowieso kaum mitarbeitete, weshalb seine innere Unruhe nicht auffiel. Mit seinen Freunden verbrachte er die letzten Stunden im Sportunterricht. Wenigstens sie merkten, dass etwas nicht stimmte. Entmutigt zog er sich wieder um, lief zu seinem Fahrrad, als dann Evangeline auf ihn zugerannt kam und mitteilte, dass Clarice in der Pause umgekippt war. „Was ist passiert, Evangeline?“, wollte er wissen. „Maman musste sie abholen. Nimmst du mich auf deinem Fahrrad mit, Louis? Sonst muss ich in der Tagesstätte warten und ich mag das da nicht.“ „Ja, steig auf, aber vorher rufen wir Mama an.“ Nach dem Anruf fuhr er los, kaufte noch einige Sachen ein, die er besorgen sollte, worum seine Mutter ihn bat, und brachte sich und seine kleine Schwester nach Hause. Dort angekommen hörte er, dass über Clarice gesprochen wurde. Konzentriert lauschte er den Gesprächen seiner Eltern, die sogar zu streiten begannen. Es hieß, dass sein Vater wegen der Arbeit kaum noch Zuhause war und die Mutter nicht alles allein schaffte. Sie weinte. Auch Odile schien, im Wohnzimmer zu sein, denn er hörte sie sagen: „Wir bekommen das schon hin. Der Arzt soll gut sein und wenn es euch hilft, werde ich mich nach der Schule um den Haushalt kümmern. Papa muss jetzt noch mehr arbeiten, da wir uns sonst keinen Neuropsychologen leisten können, Maman. Louis ist auch schon alt genug. Er soll auf Evangeline aufpassen und kann sie abholen. Es wird alles wieder gut, ja?“ In deren Stimmen konnte er pure Verzweiflung raushören. Was aber war geschehen? Ein Neuropsychologe musste bezahlt werden, damit es seiner jüngeren Schwester wieder gutging? Hatte sie einen Unfall gehabt? Seine Hände waren noch ganz verschwitzt gewesen. Sofort bat er Evangeline darum, hoch aufs Zimmer zu gehen, während er mit den anderen sprach. Dabei erfuhr er, dass Clarice lediglich ein Neuropsychologe empfohlen wurde, da der Hausarzt ratlos war, denn von den Werten her war sie stabil. Allerdings baute sie immer mehr ab, was auch ihm nicht entfallen war. Einige Tage vergingen und Clarice war nicht mehr am Bett gebunden. Auffallend war jedoch, dass wirklich Jeder sie aus der Schule gemieden hatte. Niemand wollte sie mehr auf seiner Geburtstagsfeier dabeihaben. Natürlich hatten sie mitbekommen, was sie getan hatte. Wenn sie nur alle ehrlich wären und nicht schweigen würden, hätte seine Mutter ihm geglaubt, doch nicht einer hielt zu ihm. Stattdessen sprachen sie kein Wort mehr mit dem „Monster“. So nannte man sie nun. Erst nach einigen Wochen nach den Ferien verschlimmerte sich Clarice‘ Zustand. Sie hatte nun einen Therapeuten, welcher die Familie regelmäßig besuchte. Schon lange aber fiel ihrem Bruder auf, dass sie ständig Selbstgespräche führte. Ganz oft war sie gemein zu den anderen, bedrängte sie oder drohte ihnen. Auch Louis war keine Ausnahme, denn in den Ferien hatte sie ihm nahezu die Hölle heißgemacht, indem sie seine Sportsachen im Garten verbrannte. Bei ihren Eltern war sie die liebe Nette, doch die Kinder in ihrer Umgebung hatten sie mittlerweile kennengelernt. Viele fürchteten sich vor ihr. Nur der neue Schüler hatte Mitleid mit ihr. Er lernte sie kennen und spielte auch in den Pausen mit ihr. Louis spielte derweil den Beobachter. Vielleicht fehlte seiner Schwester ein Freund? Also beließ er es dabei und wünschte sich, dass sich alles zum Besten wenden würde. Drei Tage später aber bekam er mit, wie sich der neue Freund Claude von ihr verabschiedete. Auf dem Hof erklärte er, dass niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte, solange er mit ihr Kontakt hatte. Also versprach er, ihre Freundschaft zu kündigen, woraufhin Clarice nur stehenblieb und ein „Okay“ von sich gab. Kurz darauf ging sie zu ihrem Bruder. Stillschweigend blieb sie stehen. Weil Louis von ihrem Termin wusste, schlug er vor: „Soll ich dich heute zum Therapeuten begleiten?“ Sie nickte nur. „Dann gehen wir nach der Schule hin, einverstanden?“ Natürlich wollte er sie beruhigen. Trotz allem, was vorgefallen war, wollte er das Beste für Clarice. Sie hatte einen Freund verdient und wenn er darüber nachdachte, dann ging es ihr deutlich besser. Sie war weniger griesgrämig und lachte auch ab und zu. Natürlich tat sie ihm leid. Also begleitete er sie zum Doktor. Als er dann dort etwas hörte, nachdem er das Bad verließ, traute er seinen Ohren nicht, denn Clarice sprach zu Jemanden: „Versprichst du mir, dass er nur mein Freund sein wird?“, obwohl niemand außer die Zwei in dem Wartezimmer war, während sich ihre Mutter mit dem Arzt unterhielt. „Mit wem redest du, Clar?“ Louis nannte sie oft beim Spitznamen. „Na mit meiner besten Freundin. Willst du sie kennenlernen?“ „Hier ist niemand. Oder telefonierst du?“ „Ich telefoniere nicht. Sie begleitet mich überall hin und ist immer da.“ Er zögerte kurz. „Sie sagt, sie will dein Freund sein.“ Sie lächelte kaum ohne Gefühle. „Eh, danke, aber ich bleibe lieber bei meinen Freunden.“ „Ich bin immer so traurig, wenn niemand mehr mein Freund sein will, Louis“, begann sie. Sie schluchzte, sah ihm dann gar emotionslos in die Augen und fuhr fort: „Aber dann ist Sammy da und macht alles, dass ich nicht mehr weinen muss, verstehst du?“ Kurze Pause. „Wir sind doch Freunde, oder?“ Er nickte gezwungen. Wenn er jetzt ehrlich seine Meinung äußerte, wusste er nicht, ob er dann auch plötzlich verschwinden würde. Vielleicht würde sie ihm etwas viel Schlimmeres, als sie bereits getan hatte, antun? Er musste vorsichtig sein. Deshalb beschloss er, es in einer ruhigen Minute, wenn sie allein waren, seiner Mutter zu erzählen. Seine Schwester war entweder schizophren oder einfach nur wahnsinnig. Seufzend setzte er sich auf einen der Stühle, die in einer Reihe vor dem Besprechungsraum standen. Stillschweigend beobachtete er Clarice, wie sie einer Puppe die Haare bürstete. Dabei sang sie leise vor sich hin und sprach ab und zu mit Jemanden. Das war unheimlich. Louis wollte hier ganz schnell weg. Ob seine Mutter ihm nun glaubte oder nicht, könnte er später immer noch erfahren. Mutig stand er auf und wollte gerade etwas sagen, als Clarice versprach: „Sie tut dir nicht weh, Louis, wenn du mir nicht wehtust, hörst du? Du musst nur lieb zu mir sein.“ „Nein, das denke ich nicht. Ich habe nur voll vergessen, dass Pierre auf mich wartet. Wir wollten doch Hockey spielen.“ „Verlässt du mich auch, Louis?“ „Nein, Clarice, ich verlasse dich nicht und ich würde dir niemals wehtun!“ Daraufhin rannte er aus dem Raum und holte tief Luft. Sein Atem ging schwer. Auch sein Herz raste erneut wie wild. Vollkommen verängstigt lief er in einem hohen Tempo aus dem Gebäude. Zuhause angekommen rannte er zu Odile, die gerade im Wohnzimmer mit Evangeline spielte, und versuchte, ihr alles zu erzählen, was er beobachtet hatte. Da er ununterbrochen und atemlos redete, verstand sie nur die Hälfte und versprach, mit ihren Eltern zu reden. Er hingegen sollte sich beruhigen. Demnach lief er auf sein Zimmer, spielte auf seiner Konsole und telefonierte währenddessen mit seinem besten Freund Pierre. „Deine Schwester ist hübsch, aber sie ist auch verrückt“, lachte sein Gegenüber. „Glaub mir, wenn ich könnte, würde ich hier sofort ausziehen. Die ist krank und hat zum Schluss den Kopf der Puppe abgerissen, weil ich gehen wollte.“ „Ist sie nicht damals unglücklich gefallen? Vielleicht sind das jetzt die Folgeschäden davon?“ „Das kann gut sein. Wenigstens Odile hält zu mir.“ In dem Moment jedoch sprang die Tür auf. Wütend lief Clarice auf ihren Bruder zu und holte aus. Ihr Schlag war so heftig, dass sogar Pierre ihn hören konnte. Verwundert sah er sie an. Sie hingegen drehte sich um und ging. Von unten hörte er noch, wie seine ältere Schwester ihn bat, zum Essen zu kommen. Sofort legte er auf, stoppte das Spiel und lief zu den anderen. Er setzte sich zu Evangeline. „Magst du denn nichts essen, Clarice? Vielleicht möchtest du ja wieder auf deiner Geige spielen? Dein Therapeut sagte, dass dich das ablenken könnte.“ Clarice stand nur auf und blieb eine ganze Weile wie erstarrt stehen. Die Familie schwieg. Der Vater trat erst dazu, weswegen er nichts von dem Vorfall wusste. Die Mutter sah zu ihrer kranken Tochter. Odile seufzte. Evangeline spielte mit dem Essen. Louis versuchte ebenfalls, die Spaghetti irgendwie runterzubekommen. Dann aber schluchzte das kranke Mädchen leise. Sie ging in die Kniebeuge, schüttelte den Kopf und weinte stumm. Daraufhin sprang ihr Vater auf, nahm sie in den Arm und brachte sie anschließend hoch. Währenddessen schwieg sich der Rest der Familie nur noch an. Auch Louis begab sich auf sein Zimmer. Dort bekam er mit, wie sich seine Eltern erneut stritten. Clarice hatte anscheinend ihren Platz gewechselt und schlief nun in dem Zimmer von Odile. Das bedeutete also, dass er sich nun seines mit seiner älteren Schwester teilte. Kurz dachte er nach, schmiss sich aufs Bett und stand wieder auf. Er konnte es nicht ertragen, dass vor der Tür geschrien wurde, weshalb er hinunterging und etwas zu trinken besorgte. In der Küche nahm er einige Schlücke aus dem Glas und goss erneut Wasser ein. Anschließend lief er zu Clarice, klopfte vorher an ihrer Tür und trat dann ein. Vorsichtig näherte er sich ihr. Unbedingt wollte er wissen, was mit ihr los war. Hatte er etwas damit zu tun? Oder war es ein anderer Grund? Als er ihr anbot, etwas zu sich zu nehmen, drehte sie sich hastig zu ihn um und sah ihn nur böse an. Dabei senkte sie ihren Kopf ein wenig, sodass ihre Augen noch mehr von dem Schatten bedeckt waren. In ihren Augen erkannte er sie kaum mehr wieder, schritt zurück und schluckte schwer. „Geht es dir nicht gut? Ich wollte mich entschuldigen, dass ich…“, doch seinen Satz konnte er nicht fortsetzen, da die Blondine ihn nur anfauchte und zischte. Sie setzte sich an den Rand des Jugendbettes und murmelte etwas Undeutliches vor sich hin. „Wir machen uns nur Sorgen. Sei bitte nicht böse auf mich, aber Sammy gibt es nicht, hörst du?“ Daraufhin sprang plötzlich die Tür hinter ihm auf, während die Fenster zuknallten. Vor lauter Schreck ließ er das Glas fallen, schritt noch weiter zurück und schüttelte den Kopf, als er Clarice sagen hörte: „Sammy sagt, dass du sehr tief fallen wirst, wenn du uns nicht in Ruhe lässt, Louis. Sie sagt, dass ich dir wehtun soll. Willst du das?“ Kopfschüttelnd suchte er das Weite. Sie war unheimlich. Noch unheimlicher als zuvor. Sofort schloss er die Tür hinter sich, nachdem er ihr Zimmer verließ. Clarice hatte sich definitiv verändert. Seine Beine zitterten. Das Glas ließ er auf dem Teppich liegen. Krampfhaft versuchte er, nicht vor lauter Angst zu weinen. Wohin sollte er jetzt noch gehen, wenn ihm niemand glaubte? Vorhin hatte er noch aufgegriffen, dass Odile mit ihm schimpfte, weil er schlimme Dinge über Clarice sagte. Es stimmte. Sie hatte eine imaginäre Freundin. Entweder das oder sie war absolut verrückt geworden. Mühsam strengte er sich an, einige Schritte zu gehen, doch seine Beine fühlten sich an, als bestünden sie aus Blei. Bevor er sein Zimmer erreicht hatte, bekam er noch mit, wie Evangeline zu Clarice ging. Er wartete. Stille. Seine Eltern waren nun auch nicht mehr auf der obersten Etage. Vollkommen angespannt ballte er seine Hände, hörte dann den lauten Schrei, welcher von der Jüngsten aus kam, und fiel auf die Knie. Unterdes kam Odile aus seinem Zimmer rausgestürmt und rannte zu ihren beiden Schwestern. Was war gerade passiert? Louis war wie gelähmt. Er konnte sich weder bewegen, noch anständig gehen. Ich werde tief fallen, erinnerte er sich zurück, wenn ich sie nicht in Frieden lasse, aber sie verletzt meine Geschwister. Beinahe wie angewurzelt blieb er auf dem Boden, bemühte sich aber, wieder aufzustehen und schlenderte dann in sein Zimmer. Begeben von Furcht deckte er sich zu und wartete darauf, bis die Brünette wieder eintraf, was sie wenig später auch tat. Sie stellte sich vor Louis und verschränkte ihre Arme. „Zuerst erzählst du deinen Freunden, dass deine eine Schwester verrückt ist und nun bleibst du einfach im Flur stehen, wenn Evangeline fast aus dem Fenster fliegt? Was ist nur los mit dir, Louis? Du sollst uns helfen und nicht noch alles schlimmer machen. Ab jetzt sorgst du dich gefälligst um deine kleine und kranke Schwester, haben wir uns verstanden? Ich möchte nicht mehr hören, dass du schlecht über sie redest“, schimpfte sie. „Außerdem werden wir das Zimmer teilen, bis es Clarice wieder bessergeht.“ Er nickte, wobei er sie nicht ansah. „Jetzt leg dich hin und schlaf. Versteh endlich, dass du hier nicht der einzige bist, auf den Maman und Papa aufpassen müssen. Eine Familie hält zusammen.“ Louis war sprachlos. Wie konnte sie ihm das antun? Nicht einer glaubte daran, was er gesehen hatte. Sonst hatte er nie gelogen und auf einer Art war er zwar rebellisch, doch nie hatte er es gewagt, Böses für seine geliebte Familie zu wollen. Es regnete in der Nacht. Die Fensterläden wackelten. Die Tür war geschlossen und alles in dem Zimmer war düster. Evangeline war fast aus dem Fenster gesprungen. Hatte sie Clarice etwa schubsen wollen? Was genau war passiert? Louis beobachtete, wie einige Regentropfen auf das innere Fensterbrett niederprasselten. Draußen fegte ein Sturm und es schien, das erste Mal nach Langem neblig in Paris zu werden. Perplex setzte er sich mit dem Rücken an der Wand angelehnt hin, presste seine Beine an sich und weinte leise. Er wusste nicht mehr weiter. Wenn er wollte, könnte er darum bitten, bei seiner Tante zu wohnen. Zwar wohnte sie in Côte d’Azur, doch solange er nichts mehr mit seiner eigenen Schwester zu tun haben musste, war es in Ordnung. Was aber geschah, wenn er sie verließ? Er hätte aufgegeben. Er hätte seine Familie im Stich gelassen. Er hätte sie alle verlassen. Die ganze Nacht dachte er darüber nach, bis es langsam heller wurde. Der Morgen war angebrochen und sein Wecker ertönte. Diesen schrillen Klang in seinen Ohren verabscheute er zutiefst, sodass er hochschreckte und ihn ausmachte. Als Odile ins Zimmer trat, fragte er sich, wann sie den Raum verlassen hatte. Sie erklärte: „Zieh dich an, ich bringe dich zur Schule. Maman wird bei Clarice bleiben, denn heute Nacht ist ihr Freund gestorben, Louis. Bitte sei nicht mehr so egoistisch, ja? Sie hat es sehr schwer.“ „Claude…?“ Völlig geschockt warf er seine Decke von sich weg und wiederholte: „Claude ist tot? Was ist passiert?“ „Er hatte einen Herzinfarkt.“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Dabei war er noch so jung.“ „Er war so alt wie ich, Odile! So Jemand stirbt nicht einfach an einem Herzinfarkt!“ „Louis, ich weiß, das ist ein Schock für alle. Besonders Clarice leidet darunter, denn er war ihr bester und einziger Freund.“ „Ich bleibe heute Zuhause. Mir geht es nicht gut. Bitte lass mich heute Zuhause.“ Sie stimmte zu und seufzte. Der Tag war ebenso trübselig wie der Morgen. Der Therapeut, der gelegentlich vorbeischaute, traf ein und untersuchte die junge Schönheit. Als er gehen wollte, wurde er draußen vor der Eingangstür von dem Vater der Familie aufgehalten. Sie schienen, sich zu streiten. Währenddessen brachte der Sohn den Müll raus, um dem Gespräch folgen zu können. Es ging darum, dass der Arzt eine Psychose diagnostiziert hatte und diese angeblich nicht voraussichtlich heilbar war. Äußerliche Schäden hatte sie zwar keine, doch sie litt unter einem Trauma, welcher vom Unfall von vor sechs Jahren verursacht wurde. Daraufhin war der Familienvater wütend. Seufzend klappte Louis die Tonne wieder zu, erkannte dann aber Clarice vor dem Fenster, die gerade heimtückisch grinste. Sie winkte ihm zu und drehte sich um. Anscheinend redet sie wieder mit ihrer Freundin, nahm der Protagonist an. Dabei bemerkte er nicht, dass die jüngste Sandoragé fehlte. Heute wurde er zwar nicht darum gebeten, ein Auge auf sie zu werfen, doch er fürchtete sich davor, dass ihr etwas zustoßen könnte. Aus diesem Grund entschied er, vorerst zu bleiben. Clarice hatte Evangeline in ihrer Hand und lief mit ihr davon. Wohin, wollte sie nicht verraten, doch auf dem Zimmer hatten sie sich unterhalten. „Wollen wir zusammenspielen, Evangeline? Ich stelle dir Sammy vor, möchtest du sie kennenlernen?“ „Ich weiß nicht. Louis hat gesagt, dass ich nicht mit dir spielen soll.“ „Hör nicht auf ihn, er ist nur neidisch. Du bekommst auch meine ganzen Süßigkeiten, versprochen.“ „Na gut, dann komme ich mit“, stimmte die Kleine ahnungslos zu und ging mit ihr mit. Vorher zogen sie sich noch ihre Jacken und Schuhe an, bevor sie aufbrachen. Vor einem großen Tor hielten sie an, nachdem sie mit dem Bus und der Métro gefahren waren. Mindestens eine Stunde waren sie unterwegs, doch nun schienen sie, angekommen zu sein. Grinsend bleib Clarice stehen, zerrte ihre Schwester vor sich und drückte sie durch die Gitter. Evangeline war schmächtig und klein. Sie passte zwar hindurch, doch sie verlor ihr Gleichgewicht und fiel nach hinten, sodass sie auf dem Boden landete. Verwundert sah sie zu ihr, begann dann aber an, zu weinen. Währenddessen hörte sie ein lautes, bedrohliches Knurren, was immer näherkam. Ein großer Wolfshund näherte sich dem kleinen Mädchen. Er fletschte seine Zähne und knurrte weiterhin. Noch bevor er sie fassen konnte, wurde Evangeline an der Kapuze gepackt und durch die Gitter gezogen. Eine Männerhand hob sie hoch und mahnte das Tier. „Aus, Braké!“, befahl der Regent des Anwesens. Er drehte sich zu Clarice und seufzte. „Ich habe genau gesehen, was du gemacht hast. Wo wohnt ihr? Ich werde euch nach Hause begleiten.“ Evangeline weinte noch immer. Clarice knirschte grimmig mit den Zähnen. Auf der Rückbank schwieg sie die ganze Fahrt über. Evangeline hatte sich bereits beruhigt. Der fremde Mann unterhielt sich prächtig mit der Kleinen, indem er Witze erzählte. Außerdem erfuhren sie, dass er einen Sohn in Clarice‘ Alter hatte. Anscheinend ging dieser ebenfalls an ihre Schule, was sie jedoch herzlich wenig interessierte. Sie stiegen allesamt aus. Die Mutter kam sofort auf sie zugerannt, nahm Evangeline auf den Arm und drückte sie fest. Clarice lief ins Haus. Die Erwachsenen besprachen den Vorfall. Auch Evangeline wurde wieder runtergelassen, damit sie im Wohnzimmer auf sie warten konnte. Während sie miteinander redeten, näherte sich Clarice ihrer Schwester und drohte ihr. „Liebst du Papa, Evangeline?“ „Natürlich, Clarice. Aber warum hast du mir vorhin wehgetan? Bist du sauer?“, wollte die Kleinere wissen und schluchzte. „Was habe ich denn falsch gemacht?“ „Wenn du Papa wirklich liebst, darfst du Maman nicht sagen, dass ich dich geschubst habe. Sonst muss sie ihn töten, verstehst du?“ „Was heißt das?“ „Sammy wird sehr böse sein und Papa wehtun, wenn du sagst, dass ich gemein zu dir war.“ „Ist gut, ich werde dich nicht verraten!“ Mutig lief sie aus dem Zimmer. In dem Moment trat Louis ein und ballte wütend seine Hände. Statt seine Schwester aber anzuschreien, rannte er zu Evangeline und umarmte sie. Dann zog er ihr die Jacke und Schuhe aus. Natürlich wollte er wissen, was passiert war, doch seine Mutter kam ihnen zuvor. Sie unterbrach die Zwei und ging mit ihnen ins Zimmer. Dort diskutierten sie den Vorfall, während die schwarze Stretchlimousine, mit der der reiche Mann die Mädchen nach Hause brachte, an dem Haus vorbeifuhr. „Maman, Clarice war gar nicht böse. Sie wollte mir sogar helfen, aber ich bin dann selbst durch die Gitter gefallen. Da passt sie aber nicht durch, Maman“, verteidigte sie ihre Schwester. Für die Anwesenden war das Gespräch beendet. Die Mädchen nahmen sich noch in den Arm, doch Louis ahnte, dass seine Schwester es auf Evangeline aus irgendeinem Grund abgesehen hatte. Heute Morgen wollte er seine Mutter noch darum beten, zu Tante Jeanette zu ziehen, doch nun war er fest entschlossen, zu bleiben. Er musste bei seiner Schwester bleiben, denn sie brauchte ihn. Nachdem sich alle Wege trennten, lief der Jugendliche auf sein Zimmer. Auch er hatte braune Augen, doch die kurzen, braunen Haare hatte er von seinem Vater. Meist lief er ungekämmt aus dem Haus. Heute trug er lockere Kleidung: Ein weißes Shirt und eine dunkelblaue Jogginghose. Seine weißen Tennisschuhe zog er auch nur an, weil er sie noch nie außerhalb trug. Deren Sohle war demzufolge sauber. Nachdenklich grübelte er, was wirklich vorgefallen sein könnte. „Sie fiel durch die Gitter, hieß es, und wurde von einem wütigen Hund beinahe zerfleischt worden. Während ein anderer Zuschauer gesehen haben sollte, dass sie geschubst worden war. Sie wurden von ihm nach Hause gefahren und ins Wohnzimmer geschickt. Mit Sicherheit hat sie ihr gedroht oder sie manipuliert! Ich muss etwas unternehmen, sonst wird es noch für Evangeline zu gefährlich!“ Fest entschlossen wollte er der Sache gerade auf den Grund gehen und sie auffordern, die Wahrheit zu sagen. Dazu hatte er geplant, Odile und seine Mutter mitzunehmen, wenn er sie entlarvte. Stattdessen jedoch orderte seine Mutter den 13-Jährigen an, den Tisch für das Abendbrot zu decken, was er auch tat. Allerdings war er nicht gerade gut gelaunt. Am Tisch schwiegen sich alle an. Keiner wagte auch nur, einen Ton von sich zu geben. Dies war dem Burschen zu wider, weswegen er aufstand und sich anbot, abzudecken. Er räumte also den Tisch ab. Bei der letzten Fuhre blieb er in der Küche und legte das schmutzige Geschirr in den Abwasch. Plötzlich traten Clarice und Evangeline ein, die etwas zu trinken holten. Louis hingegen spülte kurz ab, nahm dann einen Waschlappen und lief wieder in die Stube, um den Tisch zu wischen. „Clarice hat sich verändert. Nun verletzt sie schon ihre Geschwister“, merkte er an und schrubbte weiter. „Sogar die Schule hat Angst vor ihr! Niemand möchte etwas mit dem Monster zu tun haben.“ „Louis, hör auf, so über Clarice zu reden! Sie ist deine Schwester“, brüllte die Mutter. Odile seufzte und gab ebenfalls ihren Senf dazu: „Sie hat es sehr schwer und braucht ihre Familie. Das mit Evangeline war ein Unfall. Du weißt am besten, dass Clarice so etwas niemals tun würde“, doch auch sie wurde lauter. „Ich verstehe nicht, warum uns nicht geglaubt wird! Irgendwann werden wir noch alle sterben! Also ich halte zu Evangeline!“ Als er wieder in die Küche zurückkehrte, drehte sich Clarice hastig um, versteckte anscheinend etwas hinter ihrem Rücken und lächelte ihn unschuldig an. Nicht lange zögerte er, rannte zu ihr und packte sie an den Armen, woraufhin ein Messer aus ihrer Hand fiel. Anschließend schlug er ihr ins Gesicht. Daraufhin verkrampfte sie, sodass er gezwungen war, sie loszulassen. Kurz darauf wurde er von ihr weggeschleudert, ohne dass sie ihn berührte. Auch Evangeline bekam es allmählich mit der Angst zu tun und bat darum, aufzuhören. Louis nahm augenblicklich seine sechsjährige Schwester an die Hand und wollte ins Wohnzimmer flüchten, als direkt vor ihnen die Tür zuknallte. „Wer nicht mein Freund sein will, muss verschwinden, Louis! Ihr habt Clarice ziemlich traurig gemacht“, sprach eine tiefe, düstere Stimme, die aus der blonden Schönheit kam. „Sie hat dich bereits gewarnt.“ Louis zögerte nicht lang und verschwand aus der Hintertür, die zum Garten führte. In Windeseile versuchten sie beide, vor ihr zu fliehen. Er wusste, dass er es nicht mit ihr aufnehmen konnte. Wer auch immer diese Person in der Küche war, es war nicht Clarice. Jemand hatte Besitz von ihr ergriffen und dies wusste er nun. Vor der Hundehütte, die sie noch von ihrem ehemaligen Haustier hatten, blieben die Zwei stehen. Evangeline sollte sich darin verstecken, bis die Luft rein war. Dies tat sie und setzte sich ganz nach hinten. Dabei umschlang sie ihre Beine, die sie fest an ihren Körper drückte. Dabei sah sie etwas Glitzerndes auf dem Boden und hob es auf. Louis rannte unterdes weiter, um sich ein Versteck zu suchen, doch das Wesen in dem Körper der 12-Jährigen hatte ihn bereits eingeholt. Als er sich mit dem Kopf zu ihr drehte, stolperte er über einen Stein und fiel zu Boden. Er kroch rückwärts weiter. Clarice jedoch näherte sich ihm, hob den Stein hoch und wollte ihn damit gerade verletzen, als Evangeline dazwischenkam, um sie aufzuhalten. Sie umklammerte sie fest und flehte sie erneut an, damit aufzuhören. Die Antagonistin aber stieß sie nur von sich weg, sodass sie ebenfalls fiel. Diese Gelegenheit nutzte der Junge, indem er ihr die Beine wegtrat. Nun lagen alle Drei auf dem Boden. Clarice öffnete ihre Augen und entdeckte die silberne Kette, die aus Evangelines Hand fiel. In dem Moment erinnerte sie sich zurück. Vor ungefähr sechs Jahren stürzte Clarice unglücklich auf dem Kopf. Sie fiel von einem Baum und verlor sofort das Bewusstsein. Dabei trug sie ein schönes Kleid und hatte vor Kurzem zu ihrem Geburtstag eine silberne Kette von ihrer Familie geschenkt bekommen. In einem Traum begegnete sie einem kleinen Mädchen. Sie hatte langgewelltes, goldenes Haar, welches bis zu ihren Knien reichte, rote Augen und eine pfirsichfarbene Haut. Sie trug ein rotes Kleid mit Spaghettiträgern und hatte eine violette Schleife im Haar. Lächelnd trat sie näher und beugte sich zu dem verletzten Kind runter. „Hallo Clarice, ich bin Sammantha. -Schau doch, deine Mutter weint.“ Clarice befand sich quasi direkt über den Köpfen der Trauernden und sah, dass sie gerade auf einer Liege lag. Schmerzerfüllt fasste sie sich an den Kopf und begann, zu weinen. Sie fragte: „Wo bin ich? Wer bist du?“ „Ich möchte dir helfen, wenn du mir hilfst.“ „Maman, bitte nicht weinen! Ich bin doch hier!“ „Sie kann dich nicht hören, weil du vielleicht nie wieder aufwachen wirst.“ „Nein, das geht nicht! Ich bekomme bald eine Schwester und habe versprochen, mich um sie zu kümmern.“ Sie schluchzte. „Ich will zu Maman, bitte bring mich zu Maman!“ „Na gut“, versprach Sammantha ihr, „ich werde dich zu ihr bringen“, und gab ihr die Hand, „aber nur, wenn ich mitkommen und deine Freundin sein darf.“ „Meine Freundin?“ „Damals wurde mir sehr wehgetan und ich war ganz allein. Ich möchte auch eine Maman. Gib mir die Jahre, die du bereits gelebt hast, und ich schenke dir das Leben, einverstanden?“ Selbstverständlich ging sie diesen Handel ein, nahm ihre Hand und stand wieder auf. Clarice Sandoragé hatte die nächsten sechs Jahre mit ihrer neuen Freundin verbracht, die sich Platz in ihrem Körper verschaffen hatte. Dass sie ihrer Familie und ihren Freunden allerdings wehtat, war nicht abgemacht. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie beinahe dafür gesorgt hatte, dass ihre Geschwister verletzt worden wären. Sie erinnerte sich ebenfalls daran, dass sie ihrer damals noch schwangeren Mutter das Versprechen gab, immer für Evangeline da zu sein. Im Prinzip ging sie einen Handel ein, welcher sechs Jahre andauern musste. Sie durfte leben und Sammantha bekam eine Freundin. Wie eine Schwester hatte sie sie behandelt und alles getan, was sie befohlen hatte. Dieses Mal jedoch ging sie zu weit, weswegen das Geistermädchen verschwinden musste, damit Clarice zu ihrer Familie halten konnte. In der Gegenwart forderte sie sie auf, sie zu verlassen, da die Jahre bereits vergangen waren. Die Geschwister hatten sich wieder erhoben und beobachteten den inneren Kampf ihrer Schwester. „Du darfst ihnen nichts tun, sie sind meine Familie!“ Clarice hielt ihre Kette krampfartig fest, während sie sich hin und her wälzte. „Du hast gesagt, dass ich dir die Anzahl meines bisherigen Lebens schenken soll und die sind vorbei, Sammantha.“ „Willst du das denn? Ohne mich bist du ganz allein und traurig. Ich könnte für immer deine einzige Schwester sein, die immer zu dir hält und alle bestraft, die gemein zu dir sind.“ Louis traute seinen Augen nicht. Evangeline umklammerte ihn fester. Auch Odile und die Mutter suchten in der Wohnung nach den Kindern, doch ohne jede Spur. Der Vater war noch nicht Zuhause und würde erst spät von der Arbeit kommen. „Das stimmt nicht, Sammantha! Die Familie bleibt immer zusammen und wenn Clarice traurig ist, dann werde ich zu ihr stehen und sie trösten“, rief Louis, der mittlerweile an dem Klang der Stimmen erkennen konnte, wann seine Schwester sprach und wann das Geistermädchen. „Ich werde immer dein Bruder sein, hörst du? Du darfst dich nicht mehr von ihr manipulieren lassen! Denk daran, was sie mit Claude gemacht hat! Was war damals, weil ich mit meinen Freunden weggehen wollte Clarice?“ „Du hast sie verlassen! Jeder wird sie verlassen!“ „Ich wäre an einem anderen Tag mit dir zu der Oper gefahren.“ Seine Stimme wurde zittriger, als Clarice aufstand und zu ihnen sah. „Du bist meine Schwester. Natürlich hätte ich etwas mit dir unternommen…“ Evangeline weinte bitterlich, denn die 12-Jährige trat immer näher an sie heran. Sie hatte fürchterliche Angst davor, dass sie ihnen wehtun würde, und drückte noch fester. „Ohne mich wird sie wieder in den Zustand versetzt, in dem ich ihr das Leben gab. Wollt ihr etwa, dass sie stirbt?“ Nun lief auch Louis‘ erste Träne. Noch dazu nahm er Evangeline und stellte sich vor ihr, um sie zu beschützen. Vielleicht müsste er jetzt sterben, doch er wollte sie retten. Wenn es bedeutete, dass Clarice nur dann weiterleben konnte, wenn sie alle in Gefahr wären, dann war dies kein Leben, das er führen wollte. Er hätte wegrennen können, doch er entschied sich, der Mann in dem Haus zu sein, der für seine Familie da war. Obgleich seine Schwester nun verrückt war oder nicht, Sammantha gehörte nicht zu den Sandoragés. „Zur Hölle mit dir, Sammy! Du bist nicht mehr meine Freundin“, kam von ihr. Genau in dem Moment schrie sie lautstark auf, als hätte sie starke Schmerzen. Clarice hielt sich an den Kopf und kämpfte erneut um ihr Leben. Stille. „Clarice?“, wisperte die Kleinste und löste sich von Louis, als ihre Schwester zusammenbrach. „Clarice!“ In diesem Augenblick trafen die Erwachsenen und Odile ein. Sie hörten den Schrei und rannten sofort in den Garten. Mittlerweile hatte auch der Vater nach Hause gefunden, welcher zu Clarice rannte und sie hochnahm. Unglücklicherweise fiel sie mit dem Kopf auf den Stein, über den Louis zuvor gestolpert war. Dabei bewegte sie sich nicht. Auch ihr Atem war sehr flach, sodass man denken könnte, sie wäre tot. Nachdem der Rettungsdienst eintraf, wurde die Verfluchte auf die Liege in den Wagen zum Krankenhaus transportiert. Einige Wochen vergingen. Die Sonne zeigte sich ab und zu hinter den Wolken. Auch die Vögel kehrten wieder aus dem Süden zurück und zwitscherten ihre gewöhnliche Melodie zum Morgen. Der Tag war dennoch kalt, doch so allmählich zeigte sich der Frühling. In dem Raum lag Clarice an Schläuchen im Koma. Jeden Tag besuchten sie sie. Louis las ihr etwas vor und hoffte, dass sie in jedem Moment aufstehen konnte. Wenigstens waren die inneren Organe nicht zu sehr beschädigt, sodass sie noch eine Chance hatte. Es schien, als ob sie unglücklich gestürzt wäre, meinte der Chefarzt. Immerhin bestand Hoffnung, dass sie eines Tages aufwachte und genau heute war der Tag gekommen, denn sie öffnete ihre Augen. Gespannt warteten sie ab, was nun geschah. Unter der Sauerstoffmaske konnte man sie kaum verstehen, weswegen diese von dem Arzt entfernt wurde, sodass sie ihre Familie begrüßen konnte. „Wer seid ihr?“ Die Sandoragés weinten einerseits vor lauter Freude, dass sie es geschafft hatte und auf der anderen Seite waren sie geschockt, dass sie sich nicht mehr erinnern konnte. Es hieß, dass sie an einer retrograden Amnesie litt. Zukünftig traten allerdings bleibende Schäden auf, denn immer wieder vergaß sie, was sie getan hatte oder wer ihre Freunde und Familie waren. Sie musste stets an alles erinnert werden. Wenigstens war wieder alles so weit friedlich. Sie besuchte wieder die Schule und versuchte, Geige zu spielen, was ihr seltsamerweise gelang. Zwar war es schade darum, dass sie vehement Erlebnisse und Erfahrungen vergaß, doch irgendwann führte sie ein Tagebuch und lernte Schritt für Schritt, sich an mehrere Dinge in ihrem Leben zu erinnern. Vier Jahre später führte sie ein mittlerweile unbeschwertes Leben mit noch einigen Lücken. Ihre Geschwister erkannte sie immerhin wieder. Auf dem Schulflur begegnete sie Louis, der nun ihr bester Freund geworden war. Ihm hatte sie so einiges zu verdanken. Gelegentlich begleitete er sie zu dem Termin bei ihrem Therapeuten. Auch Evangeline hatte sie liebgewonnen. Odile wohnte mit ihrem Freund noch Zuhause und war noch seltener als vorher bei ihrer Familie. Es war bereits Sommer und in den Ferien sollte eine Geburtstagsfeier geplant werden. Wie früher wurde meist die gesamte Klasse eingeladen, doch dieses Mal handelte es sich um einen Adeligen, welcher plante, die ganze Schule einzuladen. Bisher hatte sie keine Einladung in ihrem Spint gehabt und sie wusste auch nicht, wer genau der Amerikaner war, doch ausgerechnet in der Pause begegnete sie dem Reichen mit ihrem Bruder an seiner Seite. „Das ist Clarice, von der ich geredet habe, Clooth. Sie ist meine Schwester, ziemlich vergesslich und etwas nervig, aber das ist ja normal“, sagte Louis, der anscheinend sein Klassenkamerad war. Clooth Van-Kinley hieß der reiche Junge, der in einem riesigen Anwesen wohnte. Er würde demnächst seinen 17ten Geburtstag feiern, da er im vorigen Jahr im Ausland war. Nun wollte er dieses Ereignis mit der Schule teilen und fragte auch Clarice, ob sie nicht auch kommen wollte. Er hatte blondes, gepflegtes Haar und dunkelgrüne Augen. Auf seiner weißen Jacke mit grünen Ärmeln wurde ein grünes C gestickt, was perfekt zu seinen grünen Sportschuhen passten. Durch die blaugraue Jeans konnte man seine dünnen Beine nicht erkennen. Noch dazu trug er teuren Schmuck. Obwohl er ein reicher Schüler war und sich dadurch ausnahmslos alles kaufen konnte, trug er zwei einfache Silberohrringe an dem linken Ohr. Seine schwarze Designeruhr war ebenfalls ein Hingucker. Nett begrüßte er Clarice und schüttelte ihr die Hand. „Sehr gern komme ich zu deiner Veranstaltung, wenn du das möchtest“, antwortete sie. „Ist das denn nur eine mündliche Einladung oder muss ich noch auf einen Brief warten?“ „Hast du denn keine Einladung erhalten? Dabei habe ich doch ausdrücklich befohlen, dass Jeder an der Schule eine bekommen soll.“ Clooth nahm ihre Hand und küsste sie. „Verzeih mir bitte die Unannehmlichkeiten. Ich werde mich darum persönlich kümmern, dass du deine Einladung erhältst.“ „Wie? Wer bist du denn eigentlich?“ Amüsiert lachte Louis. Dann versprach er ihr, sie Zuhause aufzuklären, und lief mit seinem Kollegen weiter. Sie unterhielten sich darüber, was mit Clarice damals alles passiert war. Selbstverständlich hatte Sammantha nicht erwähnt. „Wir sind eine Familie und wenn es bedeutet, dass Jemand fällt, sind die anderen da, um ihm hochzuhelfen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)