Stolen Dreams Ⅷ von Yukito ================================================================================ 2. Kapitel ---------- Wenn Kim mal nicht damit beschäftigt war, in der Schule gefangen gehalten zu werden oder auf Peter Pan durch die Wälder zu preschen, saß er meistens in der kleinen Stadtbücherei und verschlang ein Buch nach dem anderen. Fantasy-Romane, Dramen, Thriller, Liebesromanzen – nichts war vor ihm sicher. Natürlich traf er gelegentlich auch auf ein Werk, dessen Handlung ihn zu Tode langweilte oder dessen Figuren die Charaktertiefe eines Toasters besaßen, aber den meisten Büchern konnte er etwas abgewinnen. Er liebte das Gefühl des Buchrückens, den Geruch von bedrucktem Papier und die Abenteuer, die nur darauf warteten, von ihm erlebt zu werden. Kim hatte gerade erst einen Roman beendet, als er einen Blick auf die Uhr warf und enttäuscht feststellte, dass die Bücherei in einer halben Stunde schließen würde. Das war leider nicht genug Zeit, um ein weiteres Buch anzufangen, aber Kim konnte sich ja eines ausleihen. Er legte das Buch zurück, griff nach einem anderen, das jedoch bloß ein ödes Sachbuch über Politik war, das sich irgendwie im falschen Regal verirrt hatte, und fand einige Minuten später ein Werk, dessen Inhaltsangabe auf der Rückseite recht vielversprechend klang. Nachdem Kim das Buch ausgeliehen und sicher in seinem Rucksack verstaut hatte, schwang er sich auf sein Fahrrad und fuhr nach Hause. Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont und tauchte das ruhige Dörfchen, in dem Kim lebte, in goldgelbes Licht. Eine kühle Brise kam auf, die ihm das schwarze Haar zerzauste und leicht nach Autoabgasen roch. Kim seufzte. Er war hier geboren und aufgewachsen, aber trotzdem fühlte sich die Gegend nicht wie sein Zuhause an. Er hatte Heimweh; Heimweh nach einem Ort, an dem er noch nie gewesen war oder der vielleicht sogar gar nicht existierte. Um ehrlich zu sein, war es Kim mittlerweile auch egal, wohin er gehen könnte – Hauptsache weg von hier. Weg von der Schule, weg von Hausaufgaben und Verpflichtungen, weg von der Zukunft, weg von der drögen Welt der Erwachsenen; einfach weg. Kim wartete verzweifelt auf den Tag, an dem ihn eine Eule nach Hogwarts, ein Kaninchen ins Wunderland oder ein Pferd nach Mittelerde bringen würde, aber eine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass dieser Tag niemals kommen würde. Kim war dazu verdammt, zur Schule zu gehen, zu arbeiten und unglücklich zu sterben, weil er sich seine Träume niemals erfüllen können würde. Als Kim nach Hause kam, hatten seine Eltern bereits mit dem Abendessen angefangen. Es war verdächtig ruhig, was den Jungen ein wenig nervös machte, denn immer, wenn seine Eltern schwiegen, war irgendetwas vorgefallen. „Ist alles okay?“, fragte Kim, als er die Stille nicht mehr aushalten konnte. „Wir haben deine letzte Klassenarbeit gefunden“, antwortete Dad und sah seinen Sohn vorwurfsvoll an. „Warum hast du uns nicht gesagt, dass du eine Fünf hast?“ „Warum wohl – weil ich darauf verzichten kann, mir von euch eine Standpauke anhören zu müssen.“ „Junger Mann, deine Note wird nicht besser, indem du sie versteckst. Denk doch mal an deine Zukunft. Was soll aus dir werden, wenn du weiterhin solche Noten schreibst?“ Kim legte die Gabel ab und seufzte. Er wusste, dass seine Eltern es nicht so meinten, aber wenn sie auf diese Art und Weise über seine schulischen Leistungen sprachen, fühlte er sich, als würde sein Wert als Mensch von seinen Klassenarbeiten abhängen. „Es war ein Ausrutscher“, sagte er. „Nächstes Mal werde ich mir mehr Mühe geben, versprochen.“ „Das sagst du schon seit mehreren Jahren“, zischte Dad gereizt. „Und ich habe langsam, aber sicher die Schnauze voll davon. Ab heute darfst du nicht mehr zum Stall und wenn deine nächste Note nicht mindestens eine Drei ist, werden wir Peter Pan verkaufen.“ „Dad!“, schrie Kim so laut und schrill, dass es ihm selbst in den Ohren wehtat. „Das kannst du nicht machen! Du weißt, wie sehr ich das Reiten liebe, und--“ „Ich weiß nur, dass es dich vom Lernen ablenkt.“ Mit diesen Worten stand Dad auf, was bei ihm bedeutete, dass die Diskussion beendet war. Aus Angst, er könnte tatsächlich sein Lieblingspferd verlieren, verbrachte Kim von da an jede freie Minute in seinen Schulbüchern. Oft genug verspürte er den Wunsch, das Buch aus dem Fenster zu werfen, zum Stall zu fahren und mithilfe eines langen Ausrittes seine Sorgen zu verdrängen, aber bei dem Gedanken an Peter Pan wurde ihm bewusst, was für Konsequenzen diese Handlung gehabt hätte. Das Lernen verlief eigentlich ganz gut, aber in der Nacht vor der wichtigen Klassenarbeit war Kim so nervös, dass er nicht schlafen konnte. Am nächsten Morgen kreuzte er mit bemerkenswerten Augenringen in der Schule auf und realisierte erst, als die Arbeitsblätter vor ihm lagen, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Die Figuren im Koordinatensystem sahen aus, als hätte ein Rechtshändler zum ersten Mal mit seiner linken Hand geschrieben und versucht, eine Mischung aus chinesischen, thailändischen und koreanischen Schriftzeichen zu schreiben, und selbst nachdem Kim die Aufgabenstellung zehnmal gelesen hatte, wusste er immer noch nicht, was von ihm gewollt war. Ihm blieb nichts anderes übrig als die Aufgaben so gut wie möglich zu lösen, sich über die seltsamen Lösungen zu wundern, die Klassenarbeit abzugeben, sich auf die Toiletten zurückzuziehen und die Augen aus dem Kopf zu weinen. Das Ergebnis war schlimmer als Kim erwartet hatte. Er hatte eine Sechs bekommen und bloß zwei von hundert Punkten erzielt. Na großartig... Ich habe so viele Stunden meiner Zeit für diese Scheiße geopfert und wofür? Für absolut gar nichts! Mithilfe von stundenlangem Flehen und dem Versprechen, dass die nächste Klassenarbeit besser ausfallen würde, gelang es Kim, seine Eltern zu überzeugen, ihm noch eine Chance zu geben. Er war unbeschreiblich glücklich, sein Lieblingspferd behalten zu dürfen, aber das Schicksal gab nur vor, ihm wohlgesonnen zu sein. Peter Pan starb wenige Wochen später an einer Kolik. Schon als Kim an diesem Tag in den Stall kam, merkte er, dass irgendetwas mit seinem Pferd nicht stimmte, und noch am gleichen Abend wurde er Zeuge, wie das kranke Tier seinen letzten Atemzug machte. Den Jungen übermannte eine so starke Trauer, dass er nicht weinte oder schluchzte, sondern stumm und ausdruckslos beobachtete, wie die Sonne langsam unterging und ein großes Weizenfeld in helles Licht tauchte. Hinter ihm standen Dad, der mit dem Tierarzt redete, und Mom, die überlegte, wie sie ihren Sohn trösten konnte, aber Kim nahm sie gar nicht wahr. Er fühlte sich, als wäre er in einem Traum und würde bald aufwachen; als wäre all dies gar nicht real. „Kim, ich weiß, dass du diesen Verlust nicht so gut verkraften kannst, aber... du wirst darüber hinwegkommen. Wenn du willst, können wir dir auch ein neues Pferd kaufen. Nicht als Ersatz, sondern als Ablenkung... also, ich hoffe, du weißt, wie ich das meine.“ Kim verstand, was seine Mutter ihm mitteilen wollte, aber er wollte ihr Angebot nicht annehmen. Alles, was er wollte, war von hier wegzulaufen und nie wiederzukommen. Jetzt wo sein bester Freund ihn für immer verlassen hatte, gab es nichts mehr, für das es sich lohnen würde, hier zu bleiben. Als ich einem Kumpel von mir erzählt habe, dass mein bester Freund ein Pferd ist, hat er sich über mich lustig gemacht, aber ich habe mich nicht dafür geschämt, denn im Gegensatz zu einem menschlichen Freund wäre Peter Pan nie auf die Idee gekommen, mich anzulügen, zu betrügen oder hinter meinem Rücken durch den Kakao zu ziehen. Er war ein Freund, auf den man sich immer verlassen konnte. Ich frage mich, ob Alexej auch solche Freunde hat, schließlich konnte er unmöglich alleine klargekommen sein, nachdem er damals vor fünf Jahren mein Haus verlassen hatte. ~*~ Als Kim seine blaugrünen Augen öffnete, fühlte er sich wie ein Mensch, der soeben aus dem Koma erwacht war – er hatte keine Ahnung, wo er sich befand und wie er hierher gekommen war, und für ein paar Sekunden wusste er sogar nicht, wie sein eigener Name lautete. Er brauchte mehrere Minuten, um sich an das Grundlegende zu erinnern, doch die Frage, wo er war, blieb ein Mysterium. Kim wusste nur noch, dass er seine Sachen für die Klassenfahrt nach Russland gepackt hatte und dass er gemeinsam mit seiner Klasse in einem Kunstmuseum gewesen war, in dem es ein Gemälde von einem Mann gegeben hatte, dessen Name Kim aus einem Buch kannte. „Ja... ja, ich habe ihn. Bis jetzt läuft alles wie geplant.“ Kim wunderte sich über die weibliche Stimme, aber noch viel mehr wunderte er sich über die Tatsache, dass jene Stimme die koreanische Sprache benutzte. Er bemerkte, dass er auf einem grünem Sofa lag, und richtete sich vorsichtig auf. Der Raum, in dem er sich befand, war nicht besonders groß. Er hatte keine Fenster, nur eine Tür und hässliche Betonwände, an denen Graffitis, Kritzeleien und ein vergilbtes Plakat hingen. An der Wand links von Kim standen mehrere Regale, in denen sich Kartons, Zeitschriften, Dosen und andere Sachen stapelten, gegen die rechts von ihm lehnte sich eine junge Frau, die geschätzt in ihren späten Zwanzigern oder frühen Dreißigern war. Sie hatte glatte schwarze Haare, die ihr bis zum Kinn reichten, dunkle Augen – die genaue Farbe konnte Kim nicht erkennen – und eine kleine Tätowierung von einem weißen Kaninchen unter dem linken Schlüsselbein. Als sie bemerkte, dass Kim sie beobachtete, beendete sie ihr Telefonat mit einem hastigen „Er ist wach, ich rufe dich später noch einmal an“ und ließ ihr Handy in der Innentasche ihrer Jacke verschwinden. Anschließend löste sie sich von der Wand und kam auf Kim zu, der keinen blassen Schimmer hatte, welches Verhalten jetzt angemessen wäre. Sollte er sie fragen, was passiert war, oder ihr zuhören oder doch lieber--? „Listen, you little shit. I don't care who you are or what you want, but you better do what I say or I'll...“, sagte sie und fuhr fort, aber Kim hörte ihr nicht mehr zu. Er fühlte sich, als wäre sein Gehirn ein Schwamm, der nur eine geringe Wassermenge aufnehmen konnte und nun unter einem Wasserfall platziert wurde. Der Raum, die Frau, ihre Worte, die ganze Situation – es war einfach viel zu viel auf einmal. Was in den nächsten paar Minuten passierte, nahm Kim nicht wahr. Ihm kam es vor, als wäre er ein Computer, der abstürzte, sich neu startete und dabei einige Daten verloren hatte. Er wusste bloß, dass die Frau vor ihm leicht genervt und irritiert schaute und fragte: „Anyone home?“ „Ähm...“, murmelte er und schluckte nervös, weil seine Kehle sich ziemlich kratzig und trocken anfühlte. „Kön-könnten Sie vielleicht Koreanisch sprechen? Ich... ich war noch nie sonderlich gut in Englisch.“ „Meinetwegen“, erwiderte sie schnippisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hauptsache du hörst mir zu.“ „I-ich versuch's.“ „Also, nur falls du mich nicht verstanden hast: Ich bin Lee, du wirst mit mir mitkommen und wenn du mich nervst oder dich mir widersetzt, wirst du es sofort bereuen. Ist das jetzt in deinem Schädel angekommen oder muss ich es noch auf zehn anderen Sprachen wiederholen?“ „Äh... nein danke, nicht nötig.“ „Gut. Dann komm.“ „Aber wo gehen wir hin? Und wo bin ich hier? Und...?“, fragte Kim, doch Lee ignorierte ihn und marschierte auf die Tür zu. „Kommst du?“, fauchte sie so ungeduldig, dass Kim augenblicklich vom Sofa aufsprang und ihr folgte. Er hätte wirklich gerne ein paar Antworten erhalten, aber Lee wirkte nicht sonderlich gesprächig oder geduldig. Sie führte ihn durch einen langen Flur, der keine Fenster und nur ein paar Türen besaß. Es roch nach Alkohol, Essen und Zigarettenqualm. Auch einige Stimmen waren zu hören, aber Kim konnte weder ihre Besitzer noch ihre Sprache identifizieren. Leicht verunsichert lief er Lee hinterher und betrat wenige Augenblicke später ein Zimmer, das ein bisschen wie ein Büro aussah. Plötzlich blieb Lee stehen. Kim war so sehr mit der Betrachtung seiner Umgebung beschäftigt, dass er beinahe gegen ihren Rücken geprallt wäre und eine Kollision gerade noch rechtzeitig verhindern konnte. „Siehst du den Typen dort?“, fragte Lee und deutete auf einen Mann, der gefesselt, geknebelt und zusammengeschlagen auf dem Boden lag, wo einige Blutspuren zu sehen waren. „Das könntest du sein, wenn du auf blöde Ideen kommst.“ Erneut fühlte Kim sich mit der Situation überfordert. All die Fragen, der er Lee unbedingt stellen wollte, schwirrten in seinem Kopf herum und ließen keinen Platz für andere Sachen, weshalb er ihr wie ein hirnloser Zombie folgte und nicht einmal in Erwägung zog, die Flucht zu ergreifen, sich zu weigern oder einfach wegzurennen. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein wusste er, dass etwas hier definitiv nicht mit rechten Dingen zuging und dass er nicht hier sein sollte, aber sein Gehirn verarbeitete diese Informationen mit der Geschwindigkeit eines Computers, der die Arbeit von zwanzig Rechnern machen musste und gerade abstürzte. Es dauerte nicht lange, bis Lee das Gebäude verließ und Kim durch einen Hinterhof leitete, der von rostigem Maschendraht umzäunt wurde. Auf dem feuchten Untergrund – es nieselte leicht – lagen ein Eimer, mehrere zerbrochene Flaschen und schmutzige Pfützen. Der Boden bestand aus Pflastersteinen, zwischen denen überall verkümmerte Pflänzchen sprossen, und je weiter Kim durch den Hinterhof ging, desto mehr fühlte er sich, als wäre er die Hauptperson eines Krimis oder Horrorromans. Hinter dem etwa zwei oder drei Meter hohem Maschendrahtzaun stand ein Auto. Als Lee es erreichte, hielt sie Kim die Tür der Rückbank auf und machte den Verschluss ihrer Lederjacke zu, sodass man die Tätowierung von dem weißen Kaninchen nicht mehr sehen konnte. „Ähm... Können Sie mir wenigstens sagen, wo wir hinfahren?“, fragte Kim zaghaft. „Das wirst du sehen, sobald wir da sind.“ Kim, der bereits mit so einer Antwort gerechnet hatte, wollte unnötigen Stress vermeiden, weshalb er schweigend in das dunkle Auto stieg und sich anschnallte. Lee machte die Tür hinter ihm zu, setzte sich auf den Sitz des Fahrers und startete den Motor. Ungefähr eine halbe Stunde später parkte sie, aber Kim konnte nicht sehen, wo er sich befand, weil der Regen heftiger geworden war und die Fenster des Autos zu undurchsichtigen Scheiben gemacht hatte. Er wurde von Lee, die mit jeder verstrichenen Minute ungeduldiger zu sein schien, aus dem Auto gezerrt und-- „Lass mich los!“ Der Moment, in dem Kim das Flugzeug erblickte, war der Moment, in dem er plötzlich wieder klar denken konnte. Alles in ihm schrie danach, sich von Lee loszureißen, um Hilfe zu schreien und das Weite zu suchen, aber leider hatte die junge Frau ihn fest im Griff. „Halt die Schnauze und komm mit.“ „Ich werde nirgendwo hingehen und erst recht nicht in dieses Flugzeug! Bringen Sie mich nach Hause! Ich--!“ Bevor Kim sich versah, spürte er ein unangenehmes Ziehen an seiner Kopfhaut, einen dumpfen Schmerz an seiner Schläfe und etwas Flüssiges an seiner Wange, das sicherlich kein Regen war. Lee hatte ihn an den schwarzen Haaren gepackt und seinen Kopf mit voller Wucht gegen die Motorhaube gestoßen. „Ich sagte, du sollst die Schnauze halten“, zischte sie bedrohlich leise. „Entweder hörst du mit diesem kindischem Theater auf oder ich werde dich zusammenschlagen, bis du nicht mehr laufen kannst.“ Kim wusste, dass das keine leere Drohung war. Nachdem Lee ihn losgelassen hatte, wischte er sich das Blut vom Gesicht und sah ein, dass er keine andere Wahl hatte, als in das Flugzeug zu steigen. 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