Stolen Dreams Ⅷ von Yukito ================================================================================ 6. Kapitel ---------- Als Kim zum ersten und letzten Mal durch den Wald geritten war, hatte er wegen der Dunkelheit kaum etwas erkennen können, weshalb ihn die Natur jetzt umso mehr überwältigte. Das hier war ein Paradies. Genau so hatte er sich einen gewissen Ort aus einem Buch vorgestellt, das von einem Planeten handelte, auf dem die Menschheit schon lange ausgestorben war. So weit das Auge reichte, waren nur Baumkronen in verschiedenen Farben und Berge zu sehen. Ein schreiender Greifvogel kreiste über den strahlend blauen Himmel und alles roch nach gedeihenden Pflanzen, Holz und Baumharz. Kim konnte sich gar nicht sattsehen. Er saß auf dem hübschen Falben, der einem Mann gehört hatte, der nicht mehr lebte, und betrachtete mit leuchtenden Augen seine Umgebung. Er und Adrian, der auf dem monströsen Apfelschimmel thronte, standen vor dem Fluss, den Kim gestern überquert hatte. Das Wasser plätscherte leise und glitzerte im Sonnenlicht. „Gefällt es dir?“, fragte Adrian sanft lächelnd. „Natürlich. Wem würde das hier nicht gefallen? Es ist wunderschö-- warte. Mir ist gerade jemand eingefallen“, antwortete Kim und musste an seine Mitschüler denken, die diesen Anblick sicherlich nicht gewürdigt hätten, weil die meisten von ihnen nur Make-up und Videospiele im Kopf hatten. „Da hat aber jemand schnell seine Meinung geändert.“ Adrian lachte. „Aber du hast recht – es ist wirklich schön hier. Vor allem die Luft. Ich habe früher viel Zeit in Großstädten verbracht. Der Gestank dort treibt einen fast in den Wahnsinn.“ Kim wollte seine Zustimmung ausdrücken, als sein Blick auf etwas Dunkelbraunes hinter Adrians Rücken fiel. Zuerst hielt er es für einen seltsamen Ast, aber als er näher hinsah, erkannte er, dass dieses Ding viel zu glatt und eben war, um von der Natur geformt worden zu sein. Es war ein Gewehr. „Was ist los?“, fragte Adrian, als er Kims besorgten Blick bemerkte. „Noch nie eine Waffe gesehen?“ „Nein. Woher auch?“ „Du musst dir deswegen keine Sorgen machen. Ich brauche es nur, um mir einige Tiere vom Leib zu halten.“ Er sah flussabwärts, nahm die Zügel in eine Hand und zeigte mit der anderen in die Ferne. „Solche Tiere zum Beispiel.“ Kim trieb sein Pferd an, damit es ein paar Schritte nach vorne ging und er besser sehen konnte. Dort hinten, so weit entfernt, dass sie kurz davor waren, Kims Sichtfeld zu verlassen, standen zwei große Tiere im Wasser. Sie besaßen massige Körper, braunes Fell und kurze Hälse. „Sind das Grizzlybären?“ „Wahrscheinlich. Für Schwarzbären sind sie zu groß.“ Kim konnte seine Faszination nicht in Worte fassen. Während es hier bestimmt noch mehr interessante Tiere außer Bären gab, war das Beste, das man in deutschen Wäldern antreffen konnte, ein frei herumlaufender Hund, der sich von seinem Besitzer losgerissen hatte, laut bellend durch den Wald hetzte und nicht nur die Vögel und Mäuse aufschreckte, sondern auch nicht selten Kims Pferd in Panik versetzte. Kim selbst fand das überhaupt nicht amüsant. Die Kontrolle über sein Pferd zu verlieren war ungefähr so angenehm wie ohne Sicherheitsgurte oder Ähnliches in einer Achterbahn zu sitzen und um sein Leben zu bangen. Es war die reinste Hölle und jeder Mensch, der seinen Hund nicht im Griff hatte, konnte sich auf das, was Kim ihnen zu sagen hatte, gefasst machen. Allerdings kümmerte es die Wenigsten, was für einen Schaden ihr Köter hätte anrichten können, und Kim war heilfroh, meilenweit von diesen arroganten Idioten entfernt zu sein. „Gibt es hier noch andere gefährliche Tiere?“, wollte er von Adrian wissen, dessen Apfelschimmel gemächlich aus dem Fluss trank. „Es gibt einige Viecher, die nicht ganz harmlos sind, aber eigentlich hast du nichts zu befürchten. Lass sie einfach in Ruhe, dann werden sie dich auch in Ruhe lassen. Und notfalls hast du immer noch mich.“ „Und was ist, wenn ich alleine draußen bin?“ Adrian sah Kim an, als hätte dieser gefragt, ob die Erde eine Scheibe sei. „Bitte?“ „N-nichts. Schon gut.“ „Okay... Komm, ich zeige dir eine Strecke, auf der man gut ausreiten kann.“ Mit diesen Worten lenkte Adrian sein Pferd nach links und trieb es an. Im Trab ritten er und Kim durch das seichte Gewässer. Das kalte Wasser spritzte gegen die Pferdebeine und verlieh dem goldenen Fell des Falben einen hellen Braunton. Kim konnte es kaum erwarten, endlich zu galoppieren. Er vermisste den starken Wind in seinem Gesicht und die Art und Weise, wie seine Umgebung verschwommen an ihm vorbeirauschte. Die beiden ritten flussaufwärts, bis sie die Kiesbank erreichten, die in der Mitte des Flusses lag und die einzige Stelle war, an der man ihn überqueren konnte. An allen anderen Bereichen war das Wasser zu tief. „Kann ich dich mal etwas fragen?“ sagte Kim zögernd, während er und Adrian durch das kalte Nass wateten. „Damals vor fünf Jahren... du warst in dieser Höhle, weil dich jemand dort sterben lassen wollte, nicht wahr? Was genau ist passiert?“ Adrian antwortete nicht sofort. Da Kim ihm folgte, konnte er nur seinen Rücken sehen, seine breiten Schultern, seine muskulösen Arme und das Gewehr, das quer an seinem Rücken hing und über seine rechte Schulter ragte. Immer, wenn er den Russen sah, musste er aufgrund dessen kräftigen Körperbaus an einen Wrestler oder Gladiator denken. Die Vorstellung, wie Adrian eine Gruppe von Gegnern zusammenschlug, wollte einfach nicht aus seinem Kopf verschwinden. „Es stimmt, dass jemand meinen Tod wollte“, sagte Adrian schließlich und sprach gerade laut genug, um das plätschernde Wasser übertönen zu können. „Ich war gewissen Menschen ein Dorn im Auge.“ „Was für Menschen?“ „Menschen, denen du nicht begegnen möchtest.“ „Redest du von Verbrechern? Warst du früher jemand, der sich mit kriminellen Banden angelegt hat?“ Als Kim seinen Satz beendete, erreichte er das Ende des Flusses. Adrian sagte nichts und sah auch nicht zurück, um zu schauen, wie weit Kim von ihm entfernt war, sondern schnalzte mit der Zunge und verschwand im nächsten Moment zwischen zwei Bäumen. Kim zögerte nicht lange und wechselte ebenfalls in den Galopp. Er preschte direkt in den Wald hinein und heftete sich an den Apfelschimmel, der dafür, dass er sicherlich ein stolzes Gewicht auf die Waage brachte, erstaunlich schnell rennen konnte. Zuerst hatte Kim Bedenken, weil er sein Pferd erst seit einer halben Stunde kannte und sich in einem fremden Gebiet befand, aber der Falbe reagierte perfekt auf jeden Befehl und schien überhaupt nicht schreckhaft zu sein. Ein dunkler Vögel in der Größe einer Amsel wurde von den beiden Pferden verscheucht, tauchte aus einer niedrigen Baumkrone auf und kollidierte beinahe mit dem Falben, aber dieser schnaubte bloß, zuckte mit den Ohren und rannte weiter. Peter Pan, Kims verstorbenes Lieblingspferd, hätte in der gleichen Situation die Beherrschung verloren und Kim abgeworfen. Adrian legte einen Zahn zu und rannte mit vollem Tempo durch den Wald, aber Kim fiel nicht zurück. Der Junge musste grinsen. Er konnte fast schon spüren, wie die Glückshormone durch seinen Körper strömten. Das Gefühl, wie der Wind an ihm zerrte, die Bäume zu einer grünen Masse verschmolzen und die Hufe seines Pferdes im Dreiertakt auf dem Boden aufkamen, war unbeschreiblich. Es fühlte sich an, als würde er fliegen. Vor ihm lag ein dicker Baumstamm, der bestimmt einen ganzen Meter hoch war, doch der Falbe machte keine Anstalten, zu verlangsamen. Er behielt seine Geschwindigkeit bei, sprang mit Leichtigkeit über das dunkle Holz, landete unbeschadet auf der anderen Seite und lief weiter. Kim vergaß beinahe zu atmen. Der Moment, in dem er sich samt Pferd in der Luft befunden hatte, hatte sich wirklich wie fliegen angefühlt. Diese Erfahrung war neu; Kim war bis jetzt nur selten gesprungen, weil Peter Pan kein großer Fan davon war, und selbst wenn Kim ihn dazu hatte bringen können, ein Hindernis zu überqueren, war dieses nicht mal einen halben Meter hoch gewesen. Über große Baumstämme zu fliegen, war Kim also nicht gewöhnt, aber es gefiel ihm auf jeden Fall. Gott, ich liebe diesen Ort. Es dauerte nicht lange, bis der Junge zu Adrian aufschloss. Die Pferde wechselten nur langsam in den Schritt; sie keuchten, pumpten und schnaubten und Speichel tropfte von ihren Mäulern. Adrian und Kim waren ebenfalls außer Atem. Menschen, die vom Reitsport keine oder wenig Ahnung hatten, gingen nicht selten davon aus, dass Reiten so ähnlich wie Autofahren sei und man sich nicht anstrengen musste, aber in Wirklichkeit war genau das Gegenteil der Fall. Auf einem Pferd zu sitzen und dieses zum Laufen zu bringen, war fast genauso kräftezehrend, als würde man die gleiche Strecke zu Fuß zurücklegen. „Siehst du den Hügel dort?“, fragt Adrian und deutete auf einen kleinen Berg, der etwa so groß wie ein Haus war. „Das ist ein Stolleneingang. Früher haben Menschen dort nach Gold und anderen Erzen gesucht, aber seit einigen Jahren ist er verschüt--“ Er hielt inne und schnupperte. „Riechst du das auch?“ Kim war aufgefallen, dass ein seltsamer Geruch in der Luft hing, aber er konnte ihn nicht benennen. Er dachte fieberhaft nach, doch in dem Moment, als er es erkannte, sprach Adrian es aus. „Das ist Blut.“ Die Pferde schienen den metallischen Geruch ebenfalls bemerkt zu haben. Sie wurden nervös, zerrten leicht an den Zügeln und-- „Kim, bleib jetzt ganz ruhig.“ Angesprochener sah zu Adrian, der langsam nach seinem Gewehr griff und es so hielt, als würde er jemanden in der Ferne erschießen wollen. Verunsichert brachte Kim seinen Falben dazu, einen Schritt zur Seite zu machen, woraufhin er etwas entdeckte, das bis jetzt hinter einen breiten Baumstamm verborgen war. Ungefähr zehn bis zwanzig Meter von Adrian entfernt stand ein dunkler Bär, der kleiner als die Exemplare am Fluss, aber trotzdem groß war. Entweder war es ein Schwarzbär oder ein noch nicht ganz ausgewachsenes Jungtier. Vor dem Bär lag ein gerissenes Karibu, aus dessen Bauch die Organe quollen. Kim hatte das Gefühl, sein Mittagessen wollte seinen Körper auf die gleiche Art verlassen, wie es in ihn gelangt war. „Bleib ruhig“, wiederholte Adrian. „Wir werden jetzt umdrehen, langsam zurückgehen und--“ Der Bär stellte sich auf seine Hinterbeine und wirkte dadurch doppelt so groß. Spätestens hier bekam es Kim mit der Angst zu tun. Dieses Tier war riesig, an seiner Schnauze haftete Blut und seine Pranken sahen aus, als könnten sie innerhalb weniger Sekunden Hackfleisch aus einem Jungen wie ihm machen. Am liebsten würde er sein Pferd wenden und dann so schnell wie möglich-- „Er ist neugierig, nicht aggressiv“, sagte Adrian. „Geh den Weg zurück, den wir gekommen sind, aber langsam. Ich folge dir.“ Kim wollte tun, was Adrian ihm gesagt hatte, aber sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Mit zitternden Händen zog er an den Zügeln, woraufhin sein Pferd den Kopf herumriss und unruhig zu tänzeln begann. „Ruhig.“ Er wusste nicht, ob dieses Wort ihm oder dem Falben galt, aber gebraucht hätten es wahrscheinlich beide. Adrian brachte sein Pferd dazu, sich schützend vor den Jungen zu stellen, und richtete sein Gewehr auf den Kopf des Bären. Selbst wenn der Schuss ihn nicht töten sollte, würde er genug Schmerzen verursachen, um das Tier zu verjagen. Adrian hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache und sein Gespür täuschte ihn nicht. Der Bär glaubte, dass man ihm seine Beute streitig machte, und fletschte die Zähne. Er ließ sich auf alle vier Pfoten fallen und wollte zum Angriff übergehen, doch er hatte nur einen knappen Meter hinter sich gebracht, als Adrian den Abzug betätigte. Er traf mit Absicht nicht das Gesicht des Schwarzbären, sondern den Baumstamm daneben, und das schien zu reichen. Das Tier schreckte zurück, drehte so panisch um, dass es dabei das Gleichgewicht verlor und hinfiel, richtete sich wieder auf und verschwand hinter dem Stolleneingang. Adrian ließ das Gewehr sinken und sah zu Kim, der wie Espenlaub zitterte und wie gebannt auf die Stelle starrte, an welcher der Bär zuletzt gewesen war. Er hatte sich bei dem Schuss fast zu Tode erschrocken, während die Pferde bloß zusammengezuckt waren. „Hey. Ist alles in Ordnung?“, fragte Adrian, doch Kim, dessen Herz so laut schlug, dass er den Russen kaum verstehen konnte, reagierte erst, als er am Arm berührt wurde. „Das reicht für heute. Komm, wir gehen nach Hause.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)