Camera Obscura von Wolfi-sama ([Masato/Ogi]) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- -      Hast du schon die Kosten für das Badehaus durchgerechnet?", fragte Ogi abwesend und faltete seine Beine in einen Schneidersitz.            "Nur weil ich gerade nicht zum Set kann heißt das nicht, dass ich meine Arbeit nicht mache."            Ogi blickte von den Unterlagen auf, die um ihn herum auf dem Boden lagen und schaute Masato über den großen Bogen Papier hinweg an, den er in der Hand hielt. Vergangene Woche hatte er sich bei einem kleinen Missgeschick beim Aufbau des Teehauses eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen und musste nun auf Anraten des Arztes die nächsten paar Tage weitab vom Set zuhause verbringen, um sich nicht noch weiterem Stress auszusetzen oder seine Verletzung womöglich noch zu verschlimmern. Leider ließ der straffe Zeitplan nicht zu, dass er tatsächlich entspannte. Eher im Gegenteil; jetzt, da Masato die Vorgänge am Set für eine ganze Woche nur aus der Ferne dirigieren konnte, fraß die Vorbereitung und Koordinierung noch mehr Zeit als vorher.             Sie hatten es zwei Tage lang über Telefon versucht, und während die Arbeiten am Set einigermaßen reibungslos vonstatten gingen, hatte sich recht schnell gezeigt, dass ausgerechnet Ogi nicht ordentlich arbeiten konnte, wenn Masato nicht vor Ort war. Anstatt sich auf den Dreh wichtiger Szenen zu konzentrieren, war er unruhig zwischen den Kulissen herumgelaufen, um sicherzustellen, dass auch tatsächlich alles so aussah wie er es sich vorgestellt hatte. Auch waren kurzfristige Änderungen im Drehbuch bereits mehrmals in ein mittelschweres Chaos ausgeufert, da die Arbeit der anwesenden Bühnenbildner Ogi partout nicht zufriedenstellen konnte.            Letzten Endes hatten sie es dann zwar mit Müh und Not geschafft, die Hälfte ihres Tagespensums zu erreichen, aber Ogi hatte entschieden, dass er so keinen weiteren Tag arbeiten konnte oder wollte. Noch am gleichen Abend hatte er sich mit Masato  verabredet, um die Pläne für die nächste Woche durchzusprechen.             "Wir liegen aktuell noch im Budget."  Masato breitete seine Zeichnung auf dem Schreibtisch aus und schlug die Beine übereinander. "Also wenn du nicht spontan das halbe Skript über den Haufen wirfst, sollten wir für die nächsten drei Episoden versorgt sein."            "Ich hab noch nicht entschieden, wo die letzte Szene der nächsten Folge stattfinden soll. Im Zweifel mache ich es an Sonooka-kuns Performance fest und sehe, welche Atmosphäre besser passt", murmelte Ogi ohne wirklich auf Masatos Antwort einzugehen. Er ließ seinen Blick über die vielen Unterlagen gleiten, die er um sich herum ausgebreitet hatte. Das meiste davon waren Skripte und grobe Storyboard-Zeichnungen, die zum Teil jedoch nur mit viel Fantasie als solche zu erkennen waren.             "Es könnte sein, dass wir noch was passendes im Lager haben. Da ist noch einiges vom Dreh von Leidenschaft in Licht und Schatten übrig geblieben, das wir nutzen könnten."             Ogi machte ein eintöniges Geräusch und stützte sich mit einer Hand auf seinen Knöcheln auf, bevor er nach einem vollgeschriebenen Zettel vor sich langte. "Ich dachte, das wäre alles entsorgt worden."            "Das war der Plan", sagte Masato und sah Ogi dabei zu, wie er sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr strich, "aber nach dem Angebot für die Serie kam eine Anweisung von ganz oben, alle Requisiten zu behalten, die nach dem Dreh noch zu gebrauchen waren. Der Wiederaufbau der großen Kulisse war schon kostspielig genug."            Wieder beließ Ogi es bei einem nichtssagenden "Mhh."             Masato atmete hörbar aus und verschränkte die Arme. "Wenn du eine neue Location brauchst, dann sag es. Ich bin am Donnerstag mit Katsuki-san verabredet, um uns den Schlossgarten anzusehen. Vielleicht finden wir in der Umgebung was."            "Das ist zu spät."            "Die Szene steht erst für Ende nächster Woche an; wir hatten schon weniger Zeit."            Ogi lachte trocken: meist war er für die straffen Zeitpläne verantwortlich gewesen. "Recht hast du."            Sein Blick wanderte über die Aufzeichnungen auf dem Blatt Papier, das er in den Händen hielt, und las sich wahllos einige Sätze des Skripts durch, um sich in die Szene hineinzudenken. Es ging um den jungen Soldaten, der von Soichiro gespielt wurde. Eine emotionale Szene nach einem Streit mit seinem besten Freund und Kameraden, bei dem viele verletzende Worte gefallen waren, die womöglich das Ende ihrer Freundschaft bedeuteten, sollten sie es nicht schaffen, sich wieder zusammenzuraufen.            Amüsiert schnaubend legte Ogi den Zettel beiseite und schüttelte den Kopf, woraufhin Masato stirnrunzelnd das Kinn hob.            "Mh?"             "Nichts besonderes", log er und stützte sich nach hinten auf beiden Händen auf, "aber ich denke, es kann nicht schaden, sich noch nach einer anderen Location umzusehen."            Masato stimmte seufzend zu und streckte sich nach einer der unteren Schubladen seines Schreibtisches. In ihr lagen mehrere Mappen mit Bildern und Zeichnungen von Orten in der näheren Umgebung, die vorrangig als Inspiration für seine Kulissen dienten, sich aber sicher auch bei der Suche nach Drehorten als hilfreich herausstellen könnten.             Er nahm alle drei heraus und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Nach einem kurzen Blick auf die Beschriftungen reichte er Ogi die zwei unteren und schob die andere beiseite, um sich wieder der Kopie des aktuellen Skriptes zu widmen, über das sie eben gesprochen hatten.            Ogi nahm die Hefter kommentarlos entgegen und besah sich die Jahreszahlen, die auf dem Umschlag neben den Nummern 3 und 4 vermerkt waren. Während der Inhalt von Mappe 3 insgesamt sechs Jahre an Aufzeichnungen und Fotos beinhaltete, hatte Masato die vierte Mappe offenbar erst vor einem Jahr angefangen.             "Ah, ich erinnere mich an diese Mappen", sagte Ogi mit einem unerwartet offenen Lächeln auf den Lippen und sah zu Masato auf, "Du hast immer Ordnung gehalten, aber bei diesen Dingern konnte man schon froh sein, wenn irgendwo ein Name stand. Ganz zu schweigen von einer Wegbeschreibung."      Masato nickte knapp und machte eine vage Geste in Ogis Richtung. "Schau, ob du darin was findest. Dürfte alles in einem Umkreis von etwa 40 Kilometern liegen."             Nach einem verstehenden Nicken wandte Ogi sich erneut ab und blätterte durch die losen Zettel. Masato hatte schon immer ein Auge für geeignete Locations gehabt, weswegen es Ogi nicht gerade überraschte, gleich mehrere Orte zu finden, die ihm gefielen. Besonders interessierte ihn das großformatige Foto eines kleinen Sees, der zu allen Seiten von einem dichten Wald umgeben war und dessen Ufer leicht zugänglich zu sein schien.             Ogi zog das Foto vorsichtig zwischen den anderen Blättern hervor und hielt es schweigend in Masatos Richtung, während er mit der anderen Hand weiter durch die Mappe blätterte.            "Der See befindet sich auf einem Privatgrundstück", sagte Masato, "Man kann mit dem Auto relativ nah an den See fahren und das Ufer ist breit genug, um beim Filmen nicht direkt im Unterholz zu sitzen. Mit der Erlaubnis des Besitzers könnten wir dort sicher problemlos drehen, sofern unser Budget es zulässt."             "Mhh", gab Ogi zerknirscht zurück und ließ das Foto zurück zwischen die groben Bleistiftzeichnungen gleiten.            "Es gibt noch zwei weitere Seen, die als Drehorte ziemlich beliebt sind."            "Ich will nichts, das beliebt ist." Ogi sah kurz zu Masato auf. Es war ein Wunder, dass er ihn noch nicht wieder rausgeworfen hatte.             "Ich will was besonderes", setzte er nach und bemerkte, wie Masatos Blick für einen flüchtigen Moment auf die letzte Mappe fiel, die er soeben aus der Schublade geholt hatte. Als wollte er sich selbst darin bestärken, dass sie so auch nicht weiterkamen, schüttelte Masato halbherzig den Kopf und stützte sich auf dem Schreibtisch auf, um aufzustehen. Seinem Zögern nach zu urteilen, setzten ihm die Kopfschmerzen immer noch zu.             "Ich mache mir 'ne Tasse Tee", kündigte Masato an, "Du auch?"            "Kaffee", sagte er einsilbig und drängte sich dazu, Masato direkt anzuschauen, anstatt den Schreibtisch hinter ihm. Vielleicht konnte es nicht schaden, einen Blick in die dritte Mappe zu werfen, die Masato ihm vorenthalten hatte. Wenn sie nicht von Nutzen wäre, hätte Masato sie wohl kaum mit den anderen aus der Schublade geholt..            "Gut, bin gleich wieder da."            Masatos ernster Tonfall ermahnte ihn gleichzeitig, während seiner Abwesenheit nichts anzufassen, das nicht ihm gehörte, aber er wusste genauso gut wie Ogi, dass es wenig Zweck hatte, ihm etwas zu verbieten. Besonders wenn es um ihre Arbeit ging, kannte Ogi keine Scham. Ogis gemurmeltes "Danke" erreichte ihn schon nicht mehr.             In der gleichen Sekunde, in der Masato die Tür hinter sich schloss, ließ Ogi die Bilder neben sich auf den Boden fallen und stolperte eilig zum Schreibtisch, wo die Mappe halb versteckt unter einer von Masatos Zeichnungen lag. Sie war schmaler als die anderen beiden; sehr viel schmaler.             Stirnrunzelnd klappte er die Mappe auf und blätterte für einen Moment schweigend durch die wenigen Fotos und Skizzen, die Masato darin gesammelt hatte.             "Masato, was zum.."             Er sagte es nur ungern, aber hätte er nicht gewusst, dass diese Sammlung Masato gehörte, hätte er gedacht, sie stamme von einem Amateur, der nicht einmal wusste, wie man eine Kamera bediente. Die Orte auf den Bildern waren nicht unbedingt unansehnlich, aber nur ein Bruchteil von ihnen eignete sich als Location oder war eine brauchbare Inspiration für Kulissen.             In der Erwartung, dass es vielleicht die allererste Mappe war, die Masato zusammengestellt hatte, warf Ogi einen Blick auf den Umschlag.             "Nummer 2?"            Masato hatte doch wohl nicht so kurz nach seinem Abschluss verlernt, wie man—            Dann fiel Ogi der Streit wieder ein.             Nur wenige Monate nachdem sie gemeinsam ihre Schule beendet hatten, war alles aus dem Ruder gelaufen. Aufgestaute Gefühle und unausgesprochene Probleme hatten sich an nur einem einzigen gemeinsamen Abend entladen und rückblickend wusste Ogi gar nicht mehr, wie dieser eine Streit es geschafft hatte, sie beide so sehr auseinander zu reißen. Sie hatten sich auch vorher schon öfter gestritten, aber es war nie so weit gekommen, dass sie an die Grenzen ihrer Freundschaft gestoßen waren.             Er erinnerte sich an das ein oder andere Thema, das in dieser Nacht aufgekommen war; das meiste davon Beschwerden seitens Masato, weil er wegen Ogis Unzuverlässigkeit und sprunghaftem Gemüt oft nicht ordentlich hatte arbeiten können.            Der Rest war irgendwo versteckt in seinen Erinnerungen, überlagert von neuen Erfahrungen und dem unbewussten Drang, den Streit gänzlich hinter sich zu lassen. Wer weiß, wie sie beide heute zueinander ständen, wäre dieser eine Abend nicht so ausgeufert. Vielleicht hätten sie sich gemeinsam einen Namen in der Szene gemacht, der weit über die Grenzen ihres Kantons hinaus bekannt war? Oder vielleicht wären sie sogar..            Ogi schüttelte den Kopf und klappte die Mappe zu. Nicht jetzt.             Die Jahre nach ihrem Abschluss waren zu den dunkelsten seines Lebens geworden und er war nicht gewillt, ihnen selbst in Gedanken noch mehr wertvolle Lebenszeit zu opfern. Besonders nicht hier und in Masatos Gegenwart.            Schweigend begutachtete Ogi die Reihe an Schubladen, von der eine nicht komplett geschlossen worden war. Er kniete sich hin, um sie zu öffnen, fand sie jedoch leer.            Der Inhalt der zweiten Schublade war unter einem großen Umschlag verborgen, in den Ogi nur mäßig interessiert hineinlinste. Es waren Fotos von Sonooka und Kaname in ihren Kostümen, die Masato ihnen vermutlich als Erinnerung an den Dreh schenken wollte. Viel interessierter war er an einem kleinen Stapel dunkelblauer Hefter, die er als die wiedererkannte, die Masato an der Akademie mit sich herumgetragen und fleißig mit Bildern und Zeichnungen gefüllt hatte. Ogi legte den Umschlag achtlos beiseite und nahm stattdessen eine Mappe nach der anderen aus der Schublade. Im Gegensatz zu den Bänden 2, 3 und 4 sah man diesen ihr Alter deutlich an.            Anscheinend hatte Masato sie in der Vergangenheit schon öfter als Inspiration benutzt und sie so an einen Punkt gebracht, an dem der Umschlag am Rücken auseinander riss.             Schon ein flüchtiger Blick in den ersten der fünf Hefter ließ Ogi erleichtert aufatmen. Diesen Bildern hier sah man zwar an, dass sie von einem Anfänger stammten, aber sie machten weit mehr her als die Zumutungen aus der anderen Mappe. Er blätterte lächelnd durch die Fotos von Seen und weitläufigen Gärten und erkannte unter ihnen viele Orte wieder, die er damals gemeinsam mit Masato besucht hatte.            In einigen erkannte er Setbilder wieder, die Masato für ihr Abschlussprojekt erstellt hatte. Eindrucksvolle Sets, die sich deutlich von denen der anderen Studenten abgehoben hatten. Wäre er nicht gerade noch ein Student gewesen, hätte man denken können, er wäre schon Jahre im Geschäft.             Ogi hielt bei einem Foto inne und versuchte sich zu erinnern, wie weit die Location von ihrem derzeitigen Set entfernt war. Definitiv weiter als die von Masato zuvor veranschlagten 40 Kilometer, aber vielleicht war es die Mühe noch wert, das Team dort hinzubringen. In der Erwartung, noch länger damit beschäftigt zu sein, setzte Ogi sich auf Masatos Platz und lehnte sich zurück.             Er streckte seinen Arm, um das Foto auf den Schreibtisch zu legen und arbeitete sich seelenruhig durch die anderen Mappen.             Und langsam aber sicher bemerkte Ogi, dass auch bei diesen Bildern etwas fehlte. Qualitativ waren sie einwandfrei und bestätigten einmal mehr, wieso Masato eine wahre Bereicherung für ihr Team war, aber Ogi wurde das bedrückende Gefühl nicht los, dass auch diese Mappen nicht vollständig waren. Er konnte nur nicht genau sagen, wieso.                        "Fündig geworden?", fragte Masato zerknirscht, als er mit zwei Tassen in den Händen zurückkehrte und Ogi an seinem Schreibtisch sitzen sah, die blauen Hefter vor sich ausgebreitet und mit etwas Pech komplett durcheinander.             "Mhm", machte Ogi und hatte nicht einmal den Anstand, sich dafür zu entschuldigen, sich an Masatos Sachen bedient zu haben, "Wir müssten schauen, wie weit die ein oder andere Location entfernt ist und ob wir das mit unserem Budget stemmen können, aber das ein oder andere war dabei."             Masato näherte sich langsam dem Tisch. Er stellte Ogi die Tasse hin und nippte vorsichtig an seiner eigenen, sein Blick auf die vielen Fotos gerichtet, die er über die Jahre gesammelt hatte.             "Ich habe dir diese Mappen absichtlich nicht gegeben", sagte er und tippte mit dem Zeigefinger auf eins der Fotos, "die Lagerhalle hier wurde schon vor einem Jahr abgerissen. Die meisten der Gärten sind mittlerweile auch verwahrlost."            Ogi sah auf. "Und das weißt du woher?"            "Ich war da."            Mit einer stummen Geste verscheuchte er Ogi von seinem Platz und warf einen kurzen Blick auf die Schubladen an seinem Schreibtisch, "Ich bin vor ein paar Monaten hingefahren, weil ich nachsehen wollte, was sich in der Zwischenzeit getan hat."            "Wieso hast du nichts gesagt? Wir hätten gemeinsam gehen können."            "Du warst beschäftigt, deswegen dachte ich mir, dass es keinen Zweck hat, dich zu fragen." Er mied Ogis stechenden Blick und schob mit seiner freien Hand notdürftig die Fotos zusammen. "Nächstes Mal sage ich Bescheid."            "Hm", brummte Ogi verstimmt und langte nach seinem Kaffee, "die da vorn interessieren mich. Weißt du von denen auch, wie sie mittlerweile aussehen?" Er zeigte auf einen niedrigen Stapel Bilder, die er aus den Ordnern herausgenommen hatte und setzte sich anschließend wieder auf den Boden.             Masato sortierte die Fotos in zwei Stapel und reichte Ogi den, von denen er wusste, dass sie nach wie vor in einem vorzeigbaren Zustand waren.             "Bei der alten Weberei bin ich mir nicht sicher, ob sie noch steht, aber das lässt sich in Erfahrung bringen", sagte er und lehnte sich zurück, "Wir könnten gemeinsam hinfahren."            Ogi besah sich für einige Sekunden das Foto der Weberei und schüttelte schlussendlich den Kopf. "Ich denke es ist den Aufwand nicht wert; mir gefallen die Seen besser."      Etwas überrascht von Ogis Reaktion schnaubte Masato und setzte ein halbherziges "Okay?" nach ohne es wie eine Frage klingen zu lassen, "Ich wollte es dir nur anbieten."                  Es dauerte bis tief in die Nacht, bis sie ihre Auswahl auf zwei Locations eingegrenzt hatten und Masato Ogi suggerierte, dass sie für heute genug geschafft hatten und ihm die Kraft und die Nerven fehlten, um weiterzuarbeiten. Im Grunde war es ihm egal, wie lange Ogi nachher noch wach bleiben würde, aber er brauchte endlich etwas Schlaf.             "Nimm die Bilder mit und entscheide dich in Ruhe, welche Location wir nehmen", sagte Masato, als sie eine halbe Stunde später gemeinsam an der Haustür standen, "und melde dich, wenn du morgen wieder vorbeikommen willst. Nicht, dass du wieder die Leute am Set verrückt machst."             Ogi lächelte schief. "Und sieh du zu, schnell wieder gesund zu werden. Man sieht sich, Masato~" Er wandte sich ab und hob zum Abschied die Hand.             "Man sieht sich", wiederholte Masato leise und war sich nicht sicher, ob Ogi ihm eine gute Besserung gewünscht hatte, weil er ihn schnell wieder am Set haben wollte oder weil er sich tatsächlich um ihn sorgte. Er tippte auf ersteres.             Mit dem unangenehmen Gefühl als hätte Ogi Masatos Energie mit sich genommen, schlenderte Masato zurück in sein Zimmer und besah sich schweigend das mittelschwere Chaos, das Ogi veranstaltet hatte. Seine halbvolle Kaffeetasse stand neben den ganzen Zetteln auf dem Boden und Masatos Bett war voll mit Notizen zu vagen Set-Ideen die Ogi zwischendurch in den Sinn gekommen waren und für den Moment vollkommen irrelevant für ihren Dreh waren.             Er schob müde die Zettel auf seinem Bett zusammen und legte den losen Stapel auf seinen Schreibtisch, der ebenfalls mit Fotos und Zeichnungen übersät war. Ihm behagte es nicht, das Chaos über Nacht liegen zu lassen, aber er hatte im Augenblick nicht die Kraft oder Lust, Ogis Unordnung zu beseitigen. Wenn er morgen hier vorbeikam, konnte er selbst aufräumen.             Kurz überlegte er, ob er zumindest die Mappen wieder vervollständigen und an ihren alten Platz zurücklegen sollte, entschied aber, es auf später zu verschieben. Sein Blick wanderte unbewusst zu den Schubladen, an denen Ogi sich zuvor bedient hatte. Zwei der Schubladen standen nach wie vor offen.             Es schien als hätte Ogi sich tatsächlich nur an ihnen bedient anstatt alle von ihnen zu durchsuchen.             Träge streckte Masato sich nach dem großen Umschlag und setzte sich hin. Anstatt jedoch die beiden Fotos von Soichiro und Kaname herauszunehmen, griff er nach den anderen beiden Fotos, die sich im Umschlag befanden. Es waren Gruppenfotos, die sie nach dem Drehschluss von Leidenschaft in Licht und Schatten geschossen hatten. Eines davon das endgültige Foto, das im Kleinformat an Crew und Cast verschenkt wurde, das andere eines, auf dem einige die Augen geschlossen oder sich unaufmerksam abgewandt hatten. In der Mitte standen Soichiro und Kaname, direkt neben ihnen er und ein auffallend gut gelaunter Ogi, der in die Kamera strahlte.            Masato hatte Ogi lange nicht mehr so aufgeweckt und sorglos gesehen, weswegen er sich darum bemüht hatte, neben der offiziellen Fotografie auch diese zu bekommen. Zwischen diesem und dem letzten Foto, das er von Ogi besaß, lagen einige Jahre, die sie beide damit verbracht hatten, dem jeweils anderen bestmöglich aus dem Weg zu gehen. Durch die Arbeit waren sie unweigerlich wieder am gleichen Set gelandet, aber sie waren mittlerweile beide erwachsen genug, sich zumindest dort wie Erwachsene zu benehmen.             Er legte drei der Fotos zurück in die Schublade und haderte einen Moment mit sich selbst, ob er die unterste Schublade öffnen sollte. Anscheinend hatte Ogi nach dem Fund der blauen Mappen nicht mehr weitergesucht.             Zögerlich zog Masato die Schublade auf und fand die schlichte Holzbox in genau der Position in der er sie zuletzt gelassen hatte. Wieder hielt er inne. Der Tag war lang gewesen und er war sich uneins darüber, ob es förderlich war, so spät noch diese Büchse der Pandora zu öffnen. Besonders, wenn Ogi ihm am nächsten Tag erneut einen Besuch abstatten würde.             Sich selbst darin bestärkend, dass das Foto vom Drehschluss ein ausreichender Grund war, die Box aus ihrem halbherzigen Versteck hervorzuholen, reckte er sich nach ihr und legte sie vorsichtig auf seinem Schreibtisch ab.             Masato öffnete seufzend den Verschluss der Schachtel und besah sich still die Stapel an kleinformatigen Fotos, die sich darin befanden. Ganz oben auf einem der Stapel lag ein verschwommenes Polaroid, das Ogi von sich selbst geschossen hatte. Er erinnerte sich daran, wie Ogi es ihm am selben Abend in einem leicht angeschäkerten Zustand präsentiert hatte und je länger er damit zubrachte, sich Ogis strahlendes Gesicht in Erinnerung zu rufen, desto schwerer wurde der Druck in seiner Brust.             Schon vor Jahren hatte er die Fotos aus seinen Mappen aussortiert, auf denen Ogi zu sehen war. Sie hatten teilweise auch Fotos voneinader gemacht, aber auf der Mehrheit der Bilder war nur Ogi zu sehen. Ein unverbrauchter und lebensfroher junger Mann, der nicht von der Arbeit zerfressen war. Für Masato war es immer wieder merkwürdig zu sehen, wie viel sich im Laufe der Jahre getan hatte. Irgendwo zwischen damals und jetzt war der Ogi verloren gegangen, der Masato so sehr fasziniert hatte. Er war auch heute noch jemand, den man nicht so leicht vergaß, aber es war nicht mehr die gleiche fesselnde Energie, die von ihm ausging.             Masato fragte sich, ob Ogi bemerkt hatte, wie viele von diesen Fotos fehlten und was für Schlüsse er daraus gezogen hätte.             Fakt war, dass er sie anfangs noch aus Eigenschutz aus seinen Arbeitsmaterialien entfernt hatte, aber nachdem sie für Leidenschaft in Licht und Schatten wieder jeden Tag miteinander zu tun gehabt hatten, hatte Masato sich oft dabei ertappt, in Erinnerungen zu schwelgen. Ogi war lange Jahre sein bester und engster Freund gewesen und auch nach so langer Zeit spürte er noch bei jedem ihrer Treffen, wie viel der große Streit zerstört hatte.             Er blätterte gedankenverloren in den Fotos und fand darunter auch einige, die Ogi vor dem Lagerhaus zeigten, das vor einer Weile abgerissen worden war. Bilder von ihm, wie er Masato freudestrahlend erzählte, wie wunderschön es dort war und wie perfekt sich dieser Ort für ihre Dreharbeiten eignete.        Masato verlor sich für einige Minuten darin, die Fotos anzusehen, auf denen Ogi in die Kamera lachte. Besonders lang betrachtete er das, auf dem Ogi ihm gegenüber am Tisch gesessen hatte, vollkommen durchnässt, weil er auf dem Weg vom Imbiss zu ihrer Studentenwohnung in den Regen gekommen war. Er hatte seine nassen Haare nach hinten gestrichen und hätte er andere Kleidung angehabt, hätte es auch genauso gut ein Foto von ihm gewesen sein können, das ihn kurz nach einer Dusche zeigte. Ein Bild, das sich tief in Masatos Erinnerungen gefressen hatte und ihn immer wieder daran erinnerte, wie oft er davor gewesen war, einen Schritt auf Ogi zuzumachen.       Letzten Endes war es an den vielen kurzlebigen Affären gescheitert, die Ogi während ihres letzten Jahres an der Akademie unterhalten hatte. Er war teilweise tagelang nicht mehr nach Hause gekommen und irgendwann war Masatos Verständnis und Geduld in Frust umgeschlagen. Der Gedanke daran, wie leichtfertig Ogi sich wildfremden Menschen öffnete, während er auf ein Zeichen wartete, dass seine Gefühle nicht einseitig waren, hatte ihn immer tiefer in eine Lage gedrängt, in der er zunehmend gereizt auf Ogis Verhalten reagierte. Masato hatte zugunsten ihres Studiums darauf verzichtet, sich Ogi anzuvertrauen und nach dem Streit waren sie schnell so weit auseinandergedriftet, dass sich danach einfach nie der richtige Moment ergeben hatte, darüber zu sprechen.       Er hatte sich während seiner Arbeit darum bemüht, sich die Zerrissenheit und Enttäuschung nicht anmerken zu lassen und seinen eigenen Stil anzueignen, der weit von dem seines Vaters entfernt war und damit auch von dem, was Ogi an ihm so sehr geschätzt hatte. Nach zwei Jahren, in denen er bei jedem Set-Entwurf gegen sich selbst gearbeitet hatte, hatte er einsehen müssen, dass er seiner Karriere so keinen Gefallen tat und war zu seinem ursprünglichen Stil zurückgekehrt, auch wenn es ihn an die beiden größten Verluste in seinem Leben erinnerte.       Lange hatte er gehofft, seine missliche Gefühlslage einfach auszusitzen und Ogi zu vergessen, doch anscheinend hatte das Schicksal andere Pläne für sie. Und jetzt, da sie sich wieder einigermaßen verstanden, scheute Masato sich davor, alte Wunden aufzureißen und ihre noch fragile Freundschaft zu gefährden.            Frustriert ließ er die Fotos wieder in die Schachtel fallen und lehnte sich zurück, den Blick an die Decke gerichtet.             Es schmerzte ihn zu sehen, wie weit sie nun voneinander entfernt waren, obwohl sie sich so viele Jahre so nah gewesen waren. Ein Teil von ihm bereute, damals nichts gesagt zu haben. Wer weiß, wie sie heute zueinander ständen, hätte er Ogi ins Vertrauen gezogen.  - Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)