Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 1: Teil 1 - Verflucht; Gregor ------------------------------------- Kleine Schweißtropfen rollten über meine Stirn und drohten, mir in die Augen zu fallen, während ich angestrengt auf das schwarzweiß gemusterte Brett vor mir starrte. Es war Hochsommer – August, um genau zu sein – und die Sonne stand als dicker, gelber Ball am azurblauen, wolkenlosen Himmel. Die Temperaturen waren innerhalb der letzten Wochen auf schweißtreibende 38°C geklettert und es wehte nicht mal ein klitzekleines Lüftchen, das ein wenig Abkühlung versprochen hätte. Ich saß auf einem unserer alten, durchgesessenen Liegestühle mit dem rotweißen Muster und beobachtete meine kleine Schwester aus den Augenwinkeln. Mel planschte mit ihrer besten Freundin Josephine durch unseren erst in diesem Frühjahr gebauten Pool und winkte zu unserer Mutter herüber, die sich irgendwo hinter mir mit einem störrischen, grünen Sonnenschirm abmühte. Ich fragte mich, ob Mel daran gedacht hatte, sich mit Sonnenschutz einzureiben, und schüttelte sogleich innerlich den Kopf über mich. Ich machte mir immer zu viele Gedanken um meine Schwester. Mit ihrem zierlichen Körperbau, den großen, dunkelgrünen Augen und dem süßen Schmollmund wirkte sie so fürchterlich zerbrechlich, dass ich ständig Angst hatte, sie könnte der Welt nicht gewachsen sein. Wenn sie nicht in meiner Nähe war, wurde ich sofort besorgt und malte mir aus, was ihr alles passieren könnte. Doch in letzter Zeit wurde ich selbst dann nervös, wenn sie sich in meinem Blickfeld aufhielt und ich meine Hand über sie halten konnte. Dann brach mir der Schweiß aus und das Atmen fiel mir zunehmend schwerer. Während ich ihren schmalen Körper betrachtete, der durch das glitzernde Wasser glitt, fragte ich mich wieder einmal, was eigentlich mit mir los war. Wieso bekam ich regelrecht Panik, wenn meine Schwester mich anlächelte? „Schachmatt.“ Überrascht blickte ich zu meinem Vater herüber, der mich breit angrinste und seinen weißen Springer kurz vor meinem König platzierte. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass er in der Lage gewesen war, mich Schach zu setzen – von Matt ganz zu schweigen. „Du hast ja geschummelt...“, murrte ich, als ich plötzlich das Patschen von blanken Füßen hinter mir hörte. Mel stand hinter mir und lehnte sich neugierig über die Rückenlehne meines Liegestuhls. Aus ihren langen, dunkelbraunen Haaren tropfte Wasser und auch ihre nackte Haut zwischen den schwarzen Bikiniteilen mit den knallroten Kirschen schimmerte nass. Mein Herz hämmerte plötzlich mit beinah doppelter Intensität. „Was ziehst du denn für einen Flunsch?“, neckte sie mich liebevoll. Ihre weiche Stimme brachte meine Nackenhaare dazu, sich aufzustellen. Warum zur Hölle spielte mein Körper so verrückt? Schließlich wusste ich doch genau, dass es nur meine Schwester war, die hinter mir stand – meine kleine Schwester, die ich seit dreizehn Jahren kannte und liebte und die der vermutlich wichtigste Mensch in meinem Leben war. Außerdem wäre von diesem Mädchen selbst dann keine Gefahr ausgegangen, wenn wir uns nicht so gut gekannt hätten. Selbst wenn sie eine messerschwingende Mörderin gewesen wäre, hätte ich keinen Zweifel daran gehabt, dass ich ihre dünnen Ärmchen von mir hätte fern halten können. Warum machte mich ihre Gegenwart neuerdings so nervös? „Greg hat mal wieder verloren.“ Paps verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, lehnte sich in seinem Gartenstuhl zurück und grinste breit. Auf seinem hellblauen Polohemd hatten sich dunkle Schweißflecken gebildet und das dunkelblonde Haar klebte ihm an der Stirn, doch trotzdem konnte ich noch immer verstehen, warum sich so manche Frau den Hals verrenkte, um ihm hinterher zu sehen. Mit seinem jugendlichen Auftreten, den makellosen weißen Zähnen und den leuchtenden, grünblauen Augen sah er wirklich gut aus – das musste ich sogar als heterosexueller Mann zugeben. Ich hoffte, ich würde in dreißig Jahren auch noch genauso viel Elan und Idealismus haben wie mein Vater. Mit seiner ruhigen Art und seiner Eigenschaft, jede kleine Tätigkeit mit so viel Liebe und Aufmerksamkeit zu erledigen als wäre sie die wichtigste der Welt, war er mein großes Vorbild. Mel grinste und zerzauste mir mit ihrer nassen Hand das Haar. Kleine Schockwellen zuckten durch meinen Körper und ich bekam Gänsehaut, die aber zum Glück gleich wieder verschwand, bevor Mel oder Paps sie bemerken konnten. „Mach dir nichts draus, Greg. Papa ist bei Schach einfach unschlagbar.“ Paps schüttelte langsam den Kopf, sodass seine Haare über die Stuhlpolsterung raschelten. „Eigentlich könnte Greg ohne Probleme gewinnen, aber er lässt sich leider einfach zu schnell ablenken.“ Sofort begannen meine Wangen zu brennen, obwohl ich nicht einmal wusste, für was ich mich eigentlich schämte. Ja, gut, ich hatte meine Schwester beobachtet, anstatt auf Paps’ Züge zu achten. Aber das war doch kein Grund, um gleich rot zu werden, oder? Um meine Verlegenheit zu überspielen, grinste ich ein wenig schief und murmelte: „Diesen da, beobachtet hab ich ihn eine lange Zeit. Sein ganzes Leben lang war sein Blick gerichtet auf die Zukunft, den Horizont. Nie war er ganz bei dem, was ihn umgab, nie bei dem, was er tat.“ Mein Vater lachte leise in sich hinein. „Gut gesprochen, junger Padawan.“ Ich rollte mit den Augen, während Mel irritiert ihre Stirn in Falten legte. So sehr ich meinen Vater liebte, manchmal nervte es mich, dass er nahezu immer zu wissen schien, wovon ich redete, auch wenn der Rest meiner Familie mich aus großen, ahnungslosen Augen anstarrte. Wobei dies in diesem Fall wohl eher der Tatsache geschuldet war, dass mein Vater und ich die Einzigen waren, die sich die „Star Wars“-Reihe angesehen und eine beinah zärtliche Liebe für diese Filme entwickelt hatten... Doch grundsätzlich gab mir das Ganze irgendwie das Gefühl, dass ich keinerlei Geheimnisse vor Paps haben konnte. Und mal ehrlich: Welchem Teenager gefällt schon der Gedanke, für seine Eltern ein offenes Buch zu sein? „Hat einer von euch Durst?“ Meine Mutter hatte den Kampf mit dem widerspenstigen Sonnenschirm inzwischen gewonnen und stand leise keuchend unter seinem aufgespannten Stoff. Mel klatschte begeistert in die Hände, nickte und rannte los, um Josephine zu holen, die am Rand des Pools hockte und die Füße ins Wasser baumeln ließ. Ich blickte ihr hinterher und seufzte. Es war leichtsinnig von ihr, so schnell auf den Pool zuzustürzen. Sie könnte ausrutschen, hinfallen und sich womöglich den Kopf anschlagen. Plötzlich berührte mich jemand an der Schulter und ich zuckte heftig zusammen. Sofort wurde die Hand zurückgerissen und eine leise Entschuldigung gemurmelt. Ich sah auf und entdeckte meine Mutter neben meinem Liegestuhl stehen und etwas verlegen lächeln. Ihr kurzes, gelbes Sommerkleid leuchtete wie die Sonne. „Schon okay. Ich war nur mit den Gedanken woanders.“, versuchte ich, mich zu erklären. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte Mutters Blick zu Mel hinüber. Oder bildete ich mir das nur ein? Dann strich sie sich eine Strähne ihres kinnlangen Haares, das mit blondgefärbten Strähnen durchzogen war, hinters Ohr. „Ich wollte nur wissen, ob du auch etwas trinken möchtest.“ Ich nickte stumm und fragte mich, ob es mir nur so vorkam oder ob Mutters Lächeln mir gegenüber tatsächlich jedes Mal ein wenig falsch war. Obwohl sie sich eigentlich immer Mühe mit mir gegeben und mich durchaus liebevoll erzogen hatte, hatten wir nie einen richtigen Draht zueinander gefunden und spätestens seit meiner Pubertät hatte ich jeden Tag das Gefühl, dass wir uns noch ein Stück mehr voneinander entfernt hatten. Kurz darauf kam Mel mit Josephine zurück. Schon von weitem konnte ich das breite Grinsen erkennen, das Mels beste Freundin mir zuwarf. Ich unterdrückte ein Schaudern und wandte mich schnell ab, um Paps beim Zusammenräumen der Schachfiguren zu helfen. So schmeichelhaft Josephines Schwärmerei für mich vielleicht auch sein mochte, mir war sie unangenehm – schließlich war Josephine noch ein halbes Kind. Außerdem interessierten mich Mädchen allgemein eher weniger, obwohl ich Ende des Jahres bereits achtzehn wurde. Mädchen waren hübsch anzusehen und ich hatte einige weibliche Freunde, doch bisher hatte mich keines von ihnen um den Schlaf gebracht. Wann immer einer meiner Freunde ins Schwärmen über seine Freundin geriet, stand ich leicht verwirrt daneben. So etwas war mir einfach fremd. Manchmal fragte ich mich, warum eigentlich. Mit hochkonzentrierter Miene sammelte ich die kleinen schwarzen und weißen Holzfiguren ein und steckte sie in den dafür vorgesehenen Beutel aus dunkelblauem Samt. Josephine kam mit einem koketten Lächeln auf mich zu, doch bevor sie etwas sagen konnte, öffnete sich die Terrassentür und Mutter kam mit einem Holztablett wieder heraus. Auf dem schwarzen, mit Pfingstrosen bemalten Tablett balancierte sie fünf hohe Gläser und einen Krug in dem ihre selbstgemachte, zartgelb gefärbte Zitronenlimonade hin und her schwappte. Bei dem Anblick des eisgekühlten Getränks lief mir augenblicklich das Wasser im Mund zusammen. Ich liebte Mutters Zitronenlimonade! Als Kind hatte ich ihr oft beim Herstellen geholfen und dabei erfahren, dass das Rezept ursprünglich von einem amerikanischen Besatzungssoldaten stammte, der eine Affäre mit meiner Urgroßmutter gehabt und ihr die Zutaten verraten hatte. Seitdem war die Limonade immer wieder verfeinert und verbessert worden, bis sie ihren jetzigen Zustand erreicht hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man sie jetzt noch weiter optimieren konnte. Mutters Limonade war einfach perfekt. Mel reichte mir ein Glas und ich musste augenblicklich grinsen. An jedem Strohhalm hingen verschiedenfarbige Folienschnipsel. Ich nahm an, Mutter war der Meinung, dieses Etwas sei Dekoration. Das war so typisch für sie, dass ich am liebsten laut gelacht hätte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ihr jegliche Wirkung nach außen und die Gedanken der anderen wichtiger waren als alles andere. Ich fragte mich, wie sie wohl reagieren würde, wenn ich ihr einfach aus Jux und Tollerei erzählen würde, ich wäre schwul. Nur mit Mühe konnte ich mir ein Lachen verkneifen. Das Limonadenglas fest in der Hand zog ich mich in den Schatten eines Ahorns zurück und betrachtete meine Familie, die sich im Garten zerstreute. Es war erstaunlich, dass wir alle zusammengehörten, obwohl wir so unterschiedlich waren. Paps war zwar ein sehr ruhiger, bedachter Mensch, konnte aber ein unverbesserlicher Querkopf sein, der sich nicht verbiegen ließ und niemandem nach dem Mund redete. Mutter hingegen war ein überaus geselliger Mensch, der auch schon mal die Gesellschaft von wirklich ätzenden Menschen ertrug, nur damit der Rest der Nachbarschaft sie mochte. Mel erschien wie eine perfekte Mischung aus unseren Eltern. Sie war ein aufgewecktes, neugieriges Mädchen, das zwar niemandem Sympathie heuchelte, den es nicht mochte, aber genau wusste, wie es seine Mitmenschen um den Finger wickeln musste, um zu bekommen, was es wollte. Und ich...? Ja... Wie war ich eigentlich? Wer war ich? In letzter Zeit hatte ich nicht das Gefühl, dass ich das noch wusste. Irgendwie war ich mir selbst fremd geworden, ohne dass ich es gemerkt hatte. Früher hatte ich gewusst, wer der Junge war, der mir im Spiegel entgegen blickte. Doch nun konnte ich mir nicht einmal meine beklemmende Atemnot oder die abnormalen Schweißausbrüche erklären, die mich neuerdings immer in Mels Nähe befielen. Ich hatte mich selbst verloren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)