Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 37: Gregor ------------------ Tschirp, tschirp… Obwohl das Fenster am anderen Ende meines Zimmers geschlossen war, konnte man das fröhliche Lied des kleinen Spatzen, der auf der äußeren Fensterbank saß und aus Leibeskräften die leicht dissonant klingenden Töne in die Welt hinaus schmetterte, deutlich hören. Ich liebte diese Tage, an denen der Winter langsam den Rückzug antritt, die Sonne als hell leuchtender Ball am stahlblauen Himmel steht, die Pflanzen ihre ersten, zarten Triebe recken und die Tiere ihre Lebensgeister wieder erwecken. Frühlingsanfang hatte jedes Jahr etwas von Neubeginn, Wiedergeburt und wild pulsierender Kraft. Am liebsten hätte ich an solchen Tagen jedes Mal auf einem kleinen Berg in der Sonne gestanden, den Wind auf der Haut gespürt und tief, tief durchgeatmet. Ich konnte mir einfach nichts vorstellen, das sich belebender und befreiender angefühlt hätte. Doch heute konnte ich mich an dem langsam erwachenden Frühling einfach nicht erfreuen. Wie Feuer brannte das schlechte Gewissen in meinem Magen und mein Puls raste, obwohl ich mir angestrengt einzureden versuchte, dass alles okay war. Als ich es nicht mehr aushielt, ließ ich mein Buch sinken und lugte ein wenig ängstlich über den Rand hinweg. Vroni saß am Fußende meines Bettes und starrte mit einem dermaßen eisigen Blick zu mir herüber, dass ich das Gefühl hatte, mein Blut müsste mir augenblicklich in den Adern gefrieren. „Alles okay?“ Überrascht stellte ich fest, dass meine Stimme fester und sicherer klang, als ich mich fühlte. Die Härte in Vronis Augen ließ meinen Puls in die Höhe schnellen und schnürte mir die Lungen ab. „Alles bestens.“ Vronis Ton war genauso kalt wie ihr Blick und so schneidend, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn ich auf einmal geblutet hätte. Seufzend legte ich das Buch zur Seite und zog die Beine an. Mit einem dicken Klos im Hals betrachtete ich Vronis wie versteinert wirkenden Züge. So wie sie mich ansah, wirkte sie wie eine antikgriechische Rachegöttin – strahlend schön und grausam. Als ich ihrem eisig brennenden Blick nicht mehr standhalten konnte, begutachtete ich meine Jeans. Auf Höhe der Knie war der Stoff auf den Innenseiten bedrohlich dünn und würde sicher bald Risse bekommen. Vroni räusperte sich geräuschvoll, doch ich sah dennoch nicht auf. Ich wusste ja, weshalb sie so sauer war, und konnte der Anklage in ihren Augen einfach nichts entgegen setzen. Vor etwa einer Viertelstunde war ich zum gefühlten tausendsten Mal einem ihrer Annäherungsversuche ausgewichen und hatte Vroni wieder mal zurückgewiesen. Ich küsste und berührte sie wirklich gerne, doch wann immer sie ihre Hand in Richtung meines Genitals gleiten ließ, erstarrte ich unwillkürlich und ich konnte nicht anders als mich sofort zurück zu ziehen. Vorsichtig warf ich einen schnellen Blick in ihre Augen, nur um dann wieder auf meine Beine zu starren. Unter der gefrorenen Kruste aus Wut lagen Enttäuschung, Schmerz und Selbstzweifel in dem baumrindenartigen Braun ihrer Iris. Betreten sammelte ich imaginäre Fusseln von meiner Hose und versuchte durch heftiges Schlucken, das bittere Brennen des schlechten Gewissens aus meinem Mund zu vertreiben. Es war ja nicht so, dass ich Vroni unattraktiv fand und nicht mit ihr schlafen wollte, ich fühlte mich einfach noch nicht dazu bereit. Ich wusste, dass ich mit ihr darüber hätte reden müssen. Doch was hätte ich sagen sollen? „Tut mir leid, dass ich leider keinen Sex mit dir habe, aber ich hab Angst davor, weil ich mir nicht sicher bin, dass ich dabei nicht womöglich permanent an meine Schwester denken muss.“? Wohl kaum. Das Einzige, was ich heraus bekam, war ein schwaches „Sorry.“. Vroni stieß ein trockenes, verbittertes Lachen aus. „Ja, klar.“ Dann machte sie ein knurrendes Geräusch, das wie ein unterdrückter Schluchzer klang. Doch als ich ihr einen besorgten Blick zu warf, war ich Gesicht bereits wieder die starre, kalte Maske von vorher. „Wann willst du mir eigentlich endlich sagen, dass du mich nicht liebst?“ Ruckartig riss ich den Kopf hoch und starrte sie aus großen Augen an. „Bitte?!“ Vronis Miene blieb vollkommen regungslos und unbewegt, während sie erklärte: „Du musst dir keine Mühe geben. Ich hab’s inzwischen eingesehen. Vermutlich hast du irgendwann bemerkt, wie ich dich immer angesehen habe und hast dir dann zusammen gereimt, dass ich mich in dich verliebt hatte. Ich bin dir ja sogar irgendwo dankbar, dass du zumindest versucht hast, mich glücklich zu machen. Aber ich will nicht, dass du dich länger meinetwegen zu irgendwas zwingst. Du musst nicht mit mir schlafen – du musst mich nicht einmal mehr küssen, denn ich beende diese Farce jetzt. Ich will keinen Freund, der nichts für mich empfindet.“ Mit diesen Worten rutschte sie vom Bett und strebte Richtung Tür, während ich noch immer starr vor den Trümmern meines Lebens stand, zu fassungslos, um auch nur einen Ton heraus zu bekommen. Wieder einmal blitzte Mels Gesicht vor meinem geistigen Auge auf, doch dieses Mal grinste sie mich hämisch und triumphierend an. Am liebsten hätte ich laut geschrieen. Diese Gefühle für meine Schwester waren wie eine schwere, dunstige Giftwolke, die durch alle Ritzen und Dichtungen sickerte und einfach alles kaputt machte, an das ich mein Herz hängte. Ich hatte durch sie meine Familie verloren, mein Zuhause und jetzt anscheinend auch noch das einzige Mädchen neben Mel, das mein Innerstes berührte. Vroni zögerte kurz vor der Türschwelle und ich ballte verzweifelt die Hände zu Fäusten, bis meine Knöchel weiß hervor stachen und sich meine Nägel in die Haut gruben. Nein, ich würde nicht jetzt nicht weinen und ich würde jetzt auch nicht aufgeben, auch wenn ich vielleicht meine einzige Möglichkeit auf ein einigermaßen glückliches Leben verspielt hatte. „Trag es wie ein Mann!“, bläute ich mir selbst ein. „Versuch alles – bis zum bitteren Ende. Kämpf!“ „Aber das alles hat doch gar nichts mit meinen Gefühlen für dich zu tun.“, presste ich endlich hervor, als Vroni schon dabei war, die Tür hinter sich ins Schloss zu ziehen. Überrascht hielt sie inne und wandte sich langsam zu mir um. „Womit dann?“ „Mit... mit mir.“, stammelte ich zögerlich, wobei ich das Gefühl hatte, das Herz schlüge mir bis zum Hals. Zweifelnd kam Vroni wieder auf mich zu und setzte sich mit einem wenig überzeugt wirkenden Gesichtsausdruck auf meine Bettkante. Schnell griff ich nach ihrer wie immer leicht kühlen Hand und verschränkte meine Finger mit ihren, während ich mit den Augen ihren Blick suchte. Anders als von mir befürchtet, zog sie sich nicht zurück, sondern hob nur überrascht die Augenbraunen. Für einige Minuten schwiegen wir Beide, da wir nicht wussten, was wir hätten sagen sollen, doch dann setzte Vroni zaghaft an: „Mit wie vielen Mädchen warst du eigentlich schon zusammen?“ Ich blinzelte sie irritiert an und zuckte dann unwohl mit den Schultern. „Wie meinst du das ‚zusammen’?“ Sie rollte übertrieben theatralisch mit den Augen. „Na, zusammen halt. Intim.“ Sofort schoss mir das Blut in die Wangen und meine Haut flammte in einem eindrucksvollen Dunkelrot auf. Sollte ich einfach lügen? Nach kurzem Ringen entschied ich mich dann doch lieber für die Wahrheit – Vroni würde sie ja sowieso früher oder später herausfinden. „Mit noch gar keinem.“ Vroni riss die Augen auf und starrte mich mit so grenzenlosem Unglauben an, dass ich mich noch mehr schämte und am liebsten im Boden versunken wäre. Ja, ich war eine achtzehnjährige, männliche Jungfrau. Na und?! Trotzig presste ich meine fast vollständig verheilten Lippen aufeinander und hielt ihrem Blick eisern stand. „Du willst mich auf den Arm nehmen, oder?“, brachte sie schließlich heraus, wobei ihre Stimme klang als wüsste sie nicht, ob sie wütend sein oder lauthals lachen sollte. „Nein.“ Zu mehr als einem kurzen Schnappen war ich vor lauter Scham nicht in der Lage. Warum war mir meine Jungfräulichkeit plötzlich so peinlich? Schon früher hatten meine Freunde darüber Witze gerissen, doch denen hatte ich stets mit geradezu stoischer Ruhe begegnen können. „Bist du... Bist du eigentlich schwul und ich bin dein Versuchskaninchen, ob auch was bei Frauen läuft?“ Noch immer hörte Vroni sich vollkommen verwirrt an. Perplex sah ich ihr in die nun verletzlich wirkenden Augen und brach dann in lautes Gelächter aus. Schwul? Wenn es doch so einfach gewesen wäre! „Nein, bin ich nicht. Männer und Jungs sind mir vollkommen egal.“ „Aber... aber... Warum dann? Ich versteh das einfach nicht. Ich meine, sei ehrlich, du siehst blendend aus und bist auch nicht auf den Kopf gefallen. Eigentlich müssten die Mädchen bei dir Schlange gestanden haben.“ Nachdenklich wiegte ich den Kopf hin und her, während das Kompliment einfach an mir abprallte wie ein Tennisball von einer Backsteinmauer. Ich hatte mir nie viel aus meiner Attraktivität gemacht. „Na ja, mag schon sein.“, gab ich zu. „Aber ich hab mich einfach sehr lange nicht für Mädchen interessiert. Meine Eltern haben sich deswegen sogar schon Sorgen um mich gemacht, glaub ich. Zumindest hat mein Vater eine Zeit lang immer wieder Andeutungen gemacht, dass er mich auch dann lieben würde, wenn ich schwul wäre, während meine Mutter immer halb erstarrt ist, wenn ich einen meiner Kumpels umarmt habe... Ich hab mich aber, wie gesagt, auch nie für Jungs interessiert – jedenfalls nicht auf diese Weise. Befreundet war ich natürlich mit einigen, aber ich hatte auch immer weibliche Freunde. Das war bei mir von jeher ziemlich ausgeglichen.“ Grübelnd strich Vroni sich mit der freien Hand ein paar dunkle Strähnen aus dem Gesicht. Heute hatte sie zur Abwechslung mal kein Gel in den Haaren und ließ sie stattdessen weich und locker fallen. „Und wann hat sich das geändert? Also, dass du dich nicht für Mädchen interessiert hast, meine ich.“ Sanft drückte ich ihre Hand und wartete darauf, dass sie mir in die Augen sah, bevor ich antwortete: „Letztes Jahr.“ „Oh.“ Zarte Schamesröte ließ ihre Wangen rosig leuchten. Ich lächelte sie strahlend an, doch ich hatte plötzlich das Gefühl, mein Innerstes bestünde aus einer verwesten Masse aus modrigem Holz und öligschwarzem Schleim. Ich fühlte mich wie ein Verräter, obwohl ich die Wahrheit gesagt hatte. Ich interessierte mich tatsächlich erst seit dem letzten Jahr für Frauen. „Du... du meinst...?“ Vronis Stimme zitterte bedenklich und brach schließlich weg. Ich strich ihr lächelnd mit dem Fingerknöchel über die Wange. „Wollen wir diesen blöden Streit nicht einfach vergessen?“ Für einen kurzen Moment sah Vroni mich noch zweifelnd an, doch dann warf sie sich in meine Arme und begann sich küssend einen Weg von meinem Hals hinauf zu meinen Lippen zu bahnen. Ich atmete einmal tief durch und versuchte, die düstren Gedanken zu vertreiben, was mir jedoch nicht gelang. Es ließ sich einfach nicht leugnen: Dadurch, dass ich Vroni nicht darin berichtigte, dass sie glaubte, sie sei der Grund für mein plötzliches Interesse an Frauen, war ich im Grunde nicht besser als ein widerlicher, feiger Lügner. Nein, eigentlich war ich sogar noch schlimmer. Ich hatte gewusst, dass sie eine solche Aussage auf sich beziehen würde, und hatte meine Antwort dennoch so formuliert. Ich hatte die Wahrheit schändlich missbraucht und zu einer Lüge verbogen. Wieder tauchte das Bild einer gehässig grinsenden Mel hinter meinen geschlossenen Lidern auf und mir fiel ein Spruch ein, den ich vor etwas längerer Zeit einmal gelesen hatte: Die Liebe macht die Liebenden zu Lügnern. Wie wahr... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)