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Freunde mit gewissen Vorzügen

von

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Yojis Blick wanderte zu dem kleinen Fenster seines Apartments empor. Er seufzte tief, drehte sich um und stieg wieder in den Wagen. Dort oben heute Nacht allein zu sein, war mehr, als er ertragen konnte. Er ließ den Wagen an und lenkte ihn in Richtung eines anderen, bekannteren Gebäudes. Er würde in ein paar Stunden ohnehin dort eintreffen müssen. Vielleicht konnte er im Gemeinschaftsraum hinter dem Laden noch ein wenig Schlaf finden.
 

Ohne es wirklich zu merken, zog er eine weitere Zigarette aus der Tasche, zündete sie an und atmete tief ein. Nein, diese Nacht war wirklich nicht so verlaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Yoji seufzte noch einmal, als die Erinnerung an den vergangenen Abend an ihm vorbeizog.
 

Er war ausgegangen, hatte eine schöne Frau getroffen und seine übliche Tour abgezogen. Komplimente, Drinks, witzige Bemerkungen. Das volle Programm. Es war gut gewesen. Doch dann hatte sie ein wenig zu tief ins Glas geschaut und hatte angefangen zu reden. Sehr viel zu reden. Über ihre Kinder – Yoji hatte sich an dieser Stelle gewundert, wie sehr er sich wohl im Alter seiner Auserwählten verschätzt hatte - ihren Mann, wie er sie behandelte oder vielmehr nicht mehr behandelte. Dass ihr geliebter Ehemann ihr gegenüber nur noch kalt und abweisend war und nicht einmal mehr wirklich mit ihr sprach und wie sehr sie das alles mitnahm. Yoji hatte ihr zugehört, an den richtigen Stellen genickt und sie ansonsten erzählen lassen. Er wusste, dass Frauen sich manchmal Dinge einfach nur von der Seele reden wollten, ohne dass er aufgefordert war, ihre Probleme zu lösen. Es half ihnen, die Spannung abzubauen. Manchmal war er neidisch auf diese Fähigkeit. Andererseits hatte er auch eine recht effektive Methode gefunden, mit Frust umzugehen: Einen Drink, eine Frau, jede Menge Sex und dann einfach nicht mehr daran denken. Viele Probleme lösten sich so von selbst in Luft auf. Warum also hätte er etwas daran ändern sollen?
 

Er hielt in einer kleinen Seitenstraße des Blumenladens, stieg aus und schlug die Tür gerade fest genug zu, um seine Anspannung nicht mehr vor sich selbst verheimlichen zu können. Ein Hund begann wegen des ungewohnten Geräuschs zu bellen, bis sein Besitzer ihn anschnauzte, dass er die Klappe halten sollte. Yoji hatte dem kleinen Aufruhr mit einem Lächeln zugehört. Immerhin wusste er jetzt, dass er noch existierte und jemand gezwungen hatte, es zu bemerken. Er merkte selbst, wie kindisch das war. Trotzdem erweckte es in ihm eine seltsame Zufriedenheit. Bemerkt zu werden war wichtig. Es gab für Yoji nichts Schlimmeres, als wenn ihn jemand ignorierte. So wie die Frau an diesem katastrophalen Abend.
 

Nachdem sie sich ausgesprochen hatte, hatte er sein Bestes versucht, um den Abend zu retten. Aber dann war ihr Ehemann aufgetaucht und von da an war es nur noch bergab gegangen. Sie hatte Yoji abserviert wie einen alten Hut aus der Kollektion vom letzten Jahr. Er hatte dem Pärchen noch eine Weile zugesehen, wie sie erst gestritten, aneinander angeschrien hatten und sich dann schließlich in die Arme gefallen waren wie in einem dieser französischen Filme, die er noch nie verstanden hatte. Das glückliche Paar hatte die Bühne verlassen und er war allein zurückgeblieben. Zwar hatte er sein Glück noch in einigen anderen Etablissements versucht, aber er war irgendwie nicht über die Zurückweisung hinweggekommen. Irgendwann war er dann zu betrunken und die Nacht zu weit fortgeschritten, um noch irgendetwas zu retten. Also war er alleine nach Hause gefahren in dem Bewusstsein, dass er vor etwas flüchtete. Ebenso wie er es jetzt tat, indem er statt zu Hause zu schlafen, mitten in der Nacht in den Blumenladen einbrach.
 

Er schloss die Hintertür auf und glitt in die Dunkelheit dahinter, ohne das Licht anzumachen. Der Geruch nach frischen Blumen und feuchter Erde schlug ihm entgegen. Eine neue Lieferung Rosen wartete noch in einer Ecke des Lagerraums auf ihn. Er hatte sie nach Feierabend nicht mehr versorgen wollen und so waren sie wohl das erste, was ihn in der Frühe erwartete. Jetzt jedoch war das Einzige, was ihn interessierte, seinem erschöpften Körper eine Ruhepause zu gönnen.
 

Er öffnete die Tür zum Gemeinschaftsraum, schlüpfte hindurch und schloss die Tür hinter sich so leise wie möglich. Er lehnte sich dagegen und atmete tief durch. Auch hier roch es nach Blumen, die Luft war weniger feucht, dafür ungleich kühler. Eine Wohltat für die Kopfschmerzen, die sich ankündigten, allerdings weniger angenehm für den Rest seines Körpers. Er begann sich unwohl in seiner Haut und vor allem aber in seiner Kleidung zu fühlen. Sie waren leicht verschwitzt, rochen nach Rauch, Bier und verbrauchtem After Shave. Vor allem aber nach Rauch.
 

Yoji verzog das Gesicht über diese unwillkommene Entdeckung. Normalerweise hätte er den Geruch überhaupt nicht bemerkt, aber heute schienen seine Sinne ihm wohl Streiche spielen zu wollen. Erst die falsche Frau, jetzt der falsche Geruch. Zum Glück wusste Yoji ein sehr effektives Mittel, um den Geruch von altem Rauch zu überdecken. Man übertönte ihn einfach mit frischem Rauch.
 

Er ließ sich auf die alte Couch fallen und versuchte die unangenehme Berührung seines feuchtkalten Ledermantels auf dem nackten Stück Haut seines Rückens zu ignorieren. Er überlegte, ob er wieder aufstehen sollte, um ihn auszuziehen, entschied sich dann aber dagegen. Es war die Mühe nicht wert und ohne den Mantel wäre es nur noch kälter gewesen. Ein kleines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er daran denken muss, dass Ken ihn einmal gefragt hatte, ob es wohl Aberglaube war, der Yoji davon abhielt, etwas anzuziehen, das seine Bauchnabel bedeckte.

Er schnippte sich eine Zigarette in den Mund und holte das Feuerzeug aus seiner Hosentasche. Er wollte es gerade benutzen, als eine kalte Stimme die Dunkelheit in zwei Hälften schnitt.
 

„Denk nicht mal dran.“
 

Yoji stockte in der Bewegung, bis er erkannte, wer sein Gegner in der Dunkelheit war. Er seufzte, nahm die Zigarette wieder aus dem Mund und fragte mit einem Grinsen:

„Was stört dich denn daran, Aya-kun?“

„Im Gemeinschaftsraum wird nicht geraucht“ Ayas Stimme machte klar, dass das nichts war, über das er verhandeln würde. „Geh duschen, Kudo, und lass mich in Frieden.“

„Wie du gerade so richtig bemerkt hast, ist das hier der Gemeinschaftsraum“, antwortete Yoji und gähnte genüsslich. „Das heißt, ich habe genauso viel Recht hier zu sein wie du. Außerdem lasse ich mir von dir nichts vorschreiben, Fujimiya-San.“
 

Er steckte sie sich Zigarette wieder zwischen die Lippen und zündete sie mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht an. Er würde doch hier nicht vor Aya katzbuckeln, nur weil der meinte, mal wieder den Kommandoton rausholen zu müssen. Er blies den Rauch aus und drückte sich ein Stück im Sitz hoch, um über die Rückenlehne des Sofas einen Blick auf den anderen Mann zu werfen.
 

Aya saß in einem der uralten Sessel, die Kritiker die Frechheit hatte, Mobiliar zu nennen. Er sah aus dem kleinen Fenster über seinem Kopf. Yoji fühlte förmlich das Eis in seinem Blick. Rasiermesserscharfes, tödliches Eis. Yoji bekam schon eine Gänsehaut bei dem Gedanken daran.
 

„Solltest du jetzt nicht da draußen sein und Schulmädchen vögeln?“ Ayas Stimme hatte einen hässlichen, gehässigen Ton.

„Ich vergreife mich nicht an Schulmädchen!“, fauchte Yoji sofort. „Meine Dates sind alle volljährig. Wir haben Spaß zusammen. Es geht dabei nicht immer nur ums Vögeln.“
 

Yoji ließ sich wieder in den Sitz sinken. Seit wann war Aya denn so vulgär? Und warum antwortete er überhaupt auf so was? Als wenn Aya etwas davon verstehen würde. Frauen waren wunderbare Geschöpfe für Yoji. Seine kleinen Schätze. Er brachte sie zum Lachen und verschaffte ihnen eine gute Zeit. Er zog sie hinab in die sündigen Tiefen der Lust und stieg durch ihren Genuss selbst in ungeahnte Höhen auf. Wenn die Frau in seinem Armen glücklich war, dann war Yoji es auch. Und wenn sie gingen ließen sie stets ein kleines bisschen Wärme zurück, die ihn tröstend in den Schlaf begleitete. Aber was wusste Aya schon von Wärme und Trost?
 

Yoji schnaubte bei dem Gedanken. Nein, davon verstand Aya nun wirklich nichts. Yoji sah noch einmal zu Aya hinüber und verlor sich irgendwie in dem Anblick. Der Mann mit der eiskalten Maske. Ob es wohl wirklich nur eine Maske war? Ob es darunter noch etwas anderes gab als diese Mischung aus Wut und Zorn? Einen Mensch mit echten Gefühlen?

'Neugierige Katzen verbrennen sich die Tatzen', dachte Yoji bei sich. Andererseits konnte er einfach nicht anders. Da waren diese Worte in ihm, die einfach raus mussten. Sonst, so war er sich sicher, würde er platzen.
 

„Warum fragst du eigentlich nach den Mädchen, Aya?“, grinste er über die Sofalehne hinweg. „Bist du eifersüchtig?“

Aya warf ihm einen finsteren Blick zu.

„Natürlich nicht“, blaffte er. „Ich habe es nicht nötig, andere zu belästigen, um mich abzulenken. Ich kann sehr gut für mich alleine sein, wenn mich gewisse Leute nur endlich lassen würden.“
 

Yoji war mit dieser Aussage überhaupt nicht zufrieden. Da war doch etwas faul. Aya hatte eine natürliche Begabung, selbst inmitten einer Menschenmenge ganz für sich allein zu sein. Dafür musste er nicht mitten in der Nacht in den Gemeinschaftsraum schleichen. Irgendetwas ging hier vor. Das war sie wieder die krankhafte Neugier. Yoji stand auf und ging langsam zu Aya hinüber. Er sah ihn so lange eindringlich an, bis der andere ihn nicht mehr ignorieren konnte.
 

„Was willst du, Kudo?“, knurrte er und zog die Beine näher an den Körper. „Bist du jetzt hinter mir her?“

Die Frage verwirrte Yoji einen Augenblick lang, dann stieg er schnell in das Spiel ein. Er lehnte sich ein wenig vor, setzte ein gewinnendes Lächeln auf und zwinkerte Aya zu.

„Hättest du gerne, dass ich es wäre?“

„Nein, verdammt“, fauchte Aya mit einem angewiderten Gesichtsausdruck.

„Nicht?“, fragte Yoji und zog einen Schmollmund. „Jetzt bin ich aber beleidigt. Mir kann schließlich keiner widerstehen.“

„Du bist betrunken. Geh schlafen“, murmelte Aya mehr zu sich selbst und sah Yoji dabei nicht einmal an. Stattdessen hing sein Blick an einigen Unterlagen, die auf dem Tisch vor ihm ausgebreitet waren. Es war zu dunkel, um sie lesen zu können, aber im Licht des Mondes, das durch das Fenster hereinschien, konnte Yoji einen ihm bekannten Schriftzug erkennen. Es war der Name des Krankenhauses, in dem Ayas Schwester lag. Noch bevor er eine Frage stellen konnte, hatte Aya ihm schon einen harten Stoß verpasst, der Yoji rückwärts taumeln ließ.
 

„Das geht dich nichts an“, knurre Aya und stopfte die Papiere wieder zurück in einen großen Umschlag. „Also geh jetzt endlich.“

„Ich bin nicht dein Kratzbaum, Kätzchen“, murmelte Yoji und untersuchte die Stelle, wo Aya ihn getroffen hatte. „Vielleicht sollte dir wirklich mal jemand nachstellen. Ein bisschen mehr Sex zu haben, würde dich bestimmt etwas geselliger machen.“

Als er Ayas Gesichtsausdruck sah, setzte er ein spitzbübisches Grinsen auf. „Oder vielleicht überhaupt mal irgendwelchen Sex zu haben.“
 

Er sah den Schlag kommen und reagierte blitzschnell, indem er einfach einen Schritt zur Seite trat. Aya fuhr herum und holte erneut aus. Yoji wollte zurückweichen, da fühlte er die Wand in seinem Rücken. Mit einem wütenden Knurren stürzte sich Aya auf ihn und Yoji blieb nichts anderes übrig, als die Hand abzufangen, die auf sein Gesicht gezielt hatte. Er schloss die Finger um Ayas Faust, drückte sie nach unten und drehte seinen Arm herum. Aya folgte der Bewegung, sodass er mit dem Rücken zu Yoji stand, doch darauf hatte der nur gewartet. Er fing auch Ayas andere Hand ein und hielt ihn an sich gezogen fest.

Yojis Atem ging stoßweise von der Anstrengung. Er lachte, als Aya versuchte, sich zu befreien.

„Du brauchst es gar nicht erst zu versuchen“, neckte er ihn. „Ich habe hiermit schon wildere Tiere als dich eingefangen.“

„Lass mich los“, stieß Aya wütend hervor. Er kämpfte gegen Yojis Umklammerung an, zerrte an seinem Arm und gab dann plötzlich auf. Yoji hörte seinen Atem in der Dunkelheit.

„Ok, du hast gewonnen. Glückwunsch.“

„Mhm, mhm, mhm“, machte Yoji. „Und was fange ich jetzt mit meinem kleinen, wilden Kätzchen an?

„Es wieder alleine lassen?“, antwortete Aya langsam. Seine Stimme zitterte. Nur ganz vage, aber Yoji bemerkte es trotzdem. Wie interessant.
 

Yoji fühlte den warmen Körper vor sich. Das war irgendwie...nett. Auch wenn es natürlich nur Aya war, der da gegen ihn gelehnt stand. Yoji fühlte den Wunsch nach der zärtlichen Berührung einer Frau erneut in sich aufsteigen. Das hier war zwar nicht ganz so befriedigend, aber auch auf seine ganz eigene Weise angenehm.

Yoji spürte Ayas Herzschlag unter dessen Shirt gegen seine Brust hämmern. Das Mondlicht ließ seine helle Haut fast weiß erscheinen wie frischer Schnee, während seine Haarfarbe der von getrocknetem Blut ähnelten. Yoji fragte sich, wie es wohl sein würde, seine Finger durch diese Haare gleiten zu lassen. Ob Aya wohl schnurren würde wie ein richtiges Kätzchen? Er war versucht, es auszuprobieren.
 

Plötzlich merkte Yoji, was er da gerade gedacht hatte. Er musste sofort damit aufhören. Er lockerte seinen Griff und gab Aya die Möglichkeit, sich zu befreien. Aber der bewegte sich nicht. Vielleicht hatte er Angst, dass Yoji ihn zum Narren halten wollte. Dass es eine Falle war. So blieben sie beide in der Dunkelheit stehen und lauschten ihrem gemeinsamen Atmen. Yoji konnte nicht umhin zu denken, dass das Gefühl, Aya im Arm zu halten irgendwie beruhigend war. Er schloss für einen Moment die Augen.
 

„Du bist frei“, sagte Yoji heiser. „Du kannst gehen, wann immer du willst.“

Seiner Bemerkung folgte eine kurze, schwere Stille. Sekunden schienen sich zu Minuten zu dehnen, bis Aya sie schließlich doch brach.

„Bin ich das?“, flüsterte er. „Ich glaube nicht, Kudo. Ich werde nie wieder frei sein.“

Yoji schüttelte langsam den Kopf.

„Ich halte dich nicht mehr fest, also kannst du doch einfach gehen“, wiederholte er, obwohl er das Gefühl hatte, dass Aya nicht von ihrem kleinen Gerangel sprach.

„Ich weiß“, antwortete Aya fast unhörbar. „Ich weiß nur nicht, ob ich wirklich gehen will.“

„Das musst du selber wissen“, murmelte Yoji und versuchte den Stich zu ignorieren, den ihm dieser Satz versetzte. Er ließ Aya vollständig los und trat einen Schritt zur Seite. Er atmete kurz durch, riss sich zusammen und setzte wieder sein Playboy-Lächeln auf.

„Ich zwinge niemandem meinen Willen auf.“
 

Aya stand einfach da, im Mondlicht, und antwortete nicht auf das Angebot. Yoji zuckte innerlich ein wenig zusammen, als er erkannte, dass es tatsächlich ein Angebot gewesen war. Aber gut, er stand zu seinem Wort und würde auch die Konsequenzen tragen.

Das Eigenartige an der Sache war, dass es keine Konsequenzen gab. Aya zuckte nur kurz mit den Schultern. Er wandte Yoji weiter den Rücken zu, drehte sich dann zur Tür und schickte sich an, den Raum zu verlassen. Im Türrahmen blieb er noch einmal stehen. Yoji sah, wie er seine Faust ballte und hörte einen leisen, beinahe traurig klingenden Laut.
 

„Vielleicht bin ich niemand, den man fragen sollte“, sagte Aya leise. „Vielleicht bin ich jemand, den man sich einfach nehmen muss.“

Mit diesen Worten verließ er den Gemeinschaftsraum endgültig und ließ Yoji allein zurück. Der blinzelte überrascht. Er starrte auf den Türrahmen und konnte sich nicht entscheiden, ob er das gerade wirklich gehört hatte oder ob ihm seine Sinne erneut einen Streich gespielt hatten. Unbewusst griff er nach einer neuen Zigarette und ließ sich damit in den Sessel am Fenster fallen.
 

'Wer bist du und was hast du mit Aya gemacht?'

Yoji war verzweifelt. Und müde. Vor allem aber verzweifelt. Seit fast zwei Wochen versuchte er jetzt an Aya heranzukommen und war noch keinen Schritt weiter.
 

Er hatte es zunächst auf die klassische Art versucht, hatte einen ruhigen Moment abgewartet und war zu ihm gegangen. Aya war gerade dabei gewesen, Ordnung im Gewächshaus zu schaffen. Er hatte Pflanzen von A nach B geräumt, die Bestände notiert, Bestelllisten ausgefüllt. Also hatte Yoji sich neben ihn gestellt und gefragt:

„Möchtest du darüber reden?“

Aya hatte ihn angesehen, als wüsste er nicht, wovon Yoji spräche.

„Freitagnacht?“, hatte Yoji ein wenig nachgeholfen, aber Aya hatte sich einfach umgedreht und weiter gearbeitet.

Solche Versuche hatte er noch einige unternommen. Wenn er hätte schätzen müssen, hätte er auf ungefähr 28 getippt. Keiner von ihnen hatte irgendein Wort aus Aya herausbekommen, dass keine Beleidigung oder eine Aufforderung, ihn in Ruhe zu lassen, gewesen wäre. Nach und nach war er immer schweigsamer und schweigsamer geworden, seine Blicke Yoji gegenüber kälter und kälter. Inzwischen ignorierte er ihn komplett und wich ihm aus, so gut das in dem kleinen Blumenladen möglich war. Es brachte Yoji um den Verstand und um seinen Nachtschlaf. Auf einem geraden Weg würde er also nicht an seine Informationen kommen. Jetzt würde er es mit List und Tücke versuchen.
 

Aya arbeitete gerade an einem Blumengesteck. Ein wundervolles Arrangement aus gelben und weißen Kamelien, das Yoji einmal mehr anerkennen ließ, dass Aya zwar nicht unbedingt der freundlichste Verkäufer sein mochte, seine Arbeiten aber mit Abstand die kunstvollsten waren. Oft genug verlangten Kunden Arrangements, die er ausgeführt hatte. Vor allem die besser betuchten Kunden. Aya beendete seine Arbeit und ging zum Schaufenster, um einen Platz dafür zu suchen. Yoji sah das Gesteck noch einmal an. Aya hätte es auch einfach auf dem Tisch stehen lassen können, da es vermutlich innerhalb kürzester Zeit einen Käufer fand.

Yoji bemerkte plötzlich das kleine Messer, das auf dem Arbeitstisch lag. Es war Ayas persönliches Lieblingsmesser. Kurz, scharf, mit einem hellgrünen Griff. Der Rest von ihnen arbeitete eher mit einer Schere, aber Aya hantierte grundsätzlich mit diesem Messer. Ohne lange zu überlegen, griff Yoji danach und steckte es ein. Wer Wellen in einem Teich erzeugen wollte, musste eben einen Stein werfen.
 

Aya kehrte zurück, nahm das Gesteck und drapierte es im Schaufenster. Yojis Blick glitt zur Uhr. Bald würde die Schule aus sein, dann würde zunächst ein abgehetzter Omi im Laden erscheinen und kurz darauf eine schnatternde Horde Schulmädchen hier einfallen. Wenn er Glück hatte, konnte er Ayas Reaktion noch abwarten, bevor das geschah.
 

Aya kam wieder, um ein neues Gesteck zu beginnen. Seine Hand griff zu der Stelle, wo gerade noch das Messer gelegen hatte, und verharrte in der Luft über der leeren Arbeitsfläche. Ein winziges Stirnrunzeln entging Yoji ebenso wenig wie der suchende Blick, der über den Tisch glitt. Der beherbergte zwar etliche Utensilien, aber das Messer wäre, hätte es dort gelegen, sofort zu sehen gewesen. Yoji stellte sich vor, wie es hinter Ayas Stirn arbeitete. Nicht etwa, dass sich das auf seinem Gesicht irgendwie widergespiegelt hätte, denn das war die gleiche, ausdruckslose Maske wie immer. Aber Yoji wollte, dass dort drinnen irgendetwas passierte. Er wollte, dass Aya ihn endlich wieder wahrnahm, dass er ihn meinetwegen gegen die Wand schleuderte, ihn am Kragen packte, und ihn fragte, ob er eigentlich noch ganz bei Trost war, sich an Ayas Allerheiligsten zu vergreifen. Oder zumindest an etwas, was dem nahe kam. Was er stattdessen bekam, war ein Blick. Ein eiskalter, abschätzender Blick.

'Komm schon, frag mich. FRAG MICH!', dachte Yoji und musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu grinsen. Das Messer war weg und außer ihm und Aya war niemand im Laden, weil Ken noch einige Bestellungen auslieferte und Omi eben erst Schulschluss gehabt hatte. Wenn also das Messer nicht auf einmal Beine oder Flügel bekommen hatte, gab es nur eine logische Erklärung. Aya musste das ebenfalls wissen. Jeden Moment würde er...irgendetwas machen.
 

Ayas Mund bewegte sich. Er öffnete ihn, nur wenige Millimeter, holte Luft und...kniff die Lippen zusammen, drehte sich um und ging zum Regal, wo Omi und Ken ihre Sachen hatten. Er griff nach Kens Schere, legte sie betont langsam auf den Tisch und griff dann nach einem Kenzan. Ohne Yoji weiter zu beachten, begann er ein neues Gesteck. Eine orange Lilie. Yoji schnaubte. Na wenn er meinte. Sollte er nur kommen. Yoji konnte dieses Spiel gerne noch weiter spielen.
 

In der nächsten Zeit machte Yoji es sich zur Aufgabe, Ayas Arbeit zu sabotieren, wo es nur ging. Er ließ Werkzeuge und Materialien verschwinden, gab Bestellungen nicht weiter, verräumte Blumen, die Aya sich bereitgestellt hatte, wieder im Lager, wenn der gerade nicht hinsah. Einmal ging er sogar so weit, den Schlüssel zum Laden zu verstecken, sodass Aya erst zu Omis Schule fahren musste, um den Ersatzschlüssel zu holen, statt Yoji zu fragen, ob er ihn gesehen hatte. Da Aya ihn und Ken danach allerdings mit der aufgebrachten Kundschaft alleine ließ, strich Yoji diese Idee schnell wieder von seiner Wie-errege-ich-Ayas-Aufmerksamkeit-Liste. Der Erfolg nach zwei weiteren Wochen waren jedoch nur eine saftige Strafpredigt von Omi und eine Drohung von Ken, dass er ihn demnächst durch die Wand prügeln würde, wenn er nicht mit dem Unsinn aufhörte. Reaktion von Aya: Null. Es war zum Haare raufen, wenn das nicht ein unverzeihliches Vergehen an Yojis unwiderstehlichem Äußeren gewesen wäre. Er musste einen neuen Plan entwickeln.
 

Wenn Aya nicht mit ihm sprechen wollte, so würde er seine Informationen eben direkt an der Quelle holen. Das bedeutete allerdings, dass er sich in ungleich gefährlicheres Territorium als den gemeinsamen Arbeitsplatz im Blumenladen vorwagen musste. Er musste in Ayas Zimmer einbrechen und diesen Umschlag bekommen. Vielleicht konnten ihm die Unterlagen, die Aya vor ihm versteckt hatte, einen Hinweis darauf geben, was hier los war. Unabdingbar für ein Überleben dieses Unterfangens war allerdings, dass Aya ihn dabei nicht erwischte. Letzteres wiederum stellte insofern ein Problem dar, dass Aya im Grunde nie aus dem Haus ging. Er lieferte keine Bestellungen aus; das erledigten Ken und Omi. Ebenso die Einkäufe. Und natürlich ging er nie aus. Es gab zwar Zeiten, in denen er in dem schall- und blickdichten Kellerraum trainierte, aber das geschah normalerweise zu Zeiten, in denen Yoji das Gebäude schon verlassen hatte. Nach Ladenschluss länger zu bleiben, um das Glück zu haben, diesen Zeitraum zu erwischen, wäre zu auffällig gewesen. Zudem traute er Aya durchaus zu, sein Training an einem solchen Abend ausfallen zu lassen. Was er also brauchte, war etwas, das Aya für mindestens eine halbe Stunde beschäftigte, während Yoji noch anwesend war. Außerdem musste es etwas sein, bei dem er möglichst nicht bemerkte, wo Yoji hinging, denn sonst, so war sich Yoji sicher, würde er als Trainingsattrappe für die nächste Schwert-Übung herhalten müssen.
 

Die Gelegenheit, auf die Yoji gewartet hatte, ergab sich zwei Tage später. Ein Stammkunde hatte noch am späten Nachmittag angerufen und einen dringenden, aufwendigen Auftrag erteilt. Er hatte einen Aufpreis von 25 Prozent geboten, wenn er das Gesteck noch heute abholen konnte. Natürlich war es Aya zugefallen, diesen Auftrag zu bearbeiten. Während Yoji, Ken und Omi die Laufkundschaft und die kreischenden Mädchen abfertigten, war Aya in einer Art Trance versunken, aus der er erst wieder auftauchte, mit der besten Arbeit, die Yoji je gesehen hatte. Das Gesteck war einfach...perfekt. Es gab keinen Zweifel, dass der Kunde mehr als zufrieden sein würde, der Preis mehr als angemessen war und dass dieses Gesteck seinen Platz an Omis Ehrenwand finden würde, wo er zu Werbezwecken besonders gut gelungene Arbeiten ausstellte. Und gleichzeitig war das die perfekte Gelegenheit, um Aya endlich dranzukriegen.
 

Yojis Magen zog sich zusammen, wenn er daran dachte, was er zu tun vorhatte, aber er sagte sich, dass der Zweck die Mittel heiligte. Also riss er sich zusammen und als Aya sich die Hände säuberte, trat Yoji mit einem schnellen Schritt zu dem Gesteck, holte tief Luft und warf es auf den Boden. Die weiße Porzellanschale, die die Grundlage gebildet hatte, zerbarst mit einem lauten Klirren, das alle im Laden zusammenschrecken ließ. Aya fuhr herum, sein Blick raste zu der zerstörten Arbeit und dann ohne Halt weiter zu Yoji. Hass. Der reine Hass loderte Yoji entgegen und ließ ihn unwillkürlich schlucken. Vielleicht war er jetzt doch einen Schritt zu weit gegangen. Ayas Faust schloss sich um das kleine, grüne Messer.
 

„Oh, Yoji, was hast du getan?“ Omi schob sich zwischen Aya und Yoji und rettete ihn damit vermutlich vor einem unrühmlichen und sehr blutigen Tod auf dem Boden des Blumenladens.

„Ich bin wohl mit meiner Schürze daran hängen geblieben“, stammelte Yoji, als wäre er ebenso entsetzt wie die anderen. „Ich...es tut mir leid, Aya. Du wirst wohl noch einmal von vorne beginnen müssen.“

„Das schafft er nie“, meinte Ken mit einem Blick auf die Uhr. „Der Kunde wird jeden Augenblick hier sein. Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Vielleicht, wenn wir alle zusammen...“

„Der Kunde hat aber Ayas Arbeit bestellt“, erinnerte Yoji die beiden jüngeren Team-Mitglieder, die gerade in hektische Betriebsamkeit ausbrechen wollten. „Wir werden den Kunden verlieren, wenn er nicht erhält, was er bestellt hat.“

Aya musterte ihn mit einem kalten Blick. Der Hass war verschwunden, die Maske wieder zurück an ihrem angestammten Platz. Einzig die Tatsache, dass er jetzt das Handtuch, mit dem er sich die Hände abgetrocknet hatte, zusammengeknüllt auf den Tisch legte, statt es wie sonst akkurat aufzuhängen, ließ eine leichte Aufgewühltheit vermuten.
 

Ohne ein weiteres Wort ging Aya zum hinteren Ausgang des Ladens. Yoji hörte die Tür des Kühlraums klappen, dann kam Aya mit einem weiteren Gesteck in den Händen zurück. Es war lange nicht so perfekt wie das, was Yoji ruiniert hatte, aber mit einer liebevollen Sorgfalt zubereitet, die Yoji staunen ließ. Astern und Prunkwinden in ausgewählten Violetttönen in einer dunklen Tonschale. Weit weniger kostspielig als das, was der Kunde bestellt hatte, aber auf eine anrührende Weise einzigartig.

„Gebt dem Kunden die hier zusammen mit meiner Entschuldigung“, sagte Aya. Er nahm seine Schürze ab verließ den Laden in Richtung Wohnung. Yoji starrte ihm hinterher.

Omi sah mit einem bedrückten Gesicht auf die Blumen. „Ich glaube, die waren für seine Schwester gedacht“, sagte er leise.

Yoji unterdrückte mit Mühe ein Aufstöhnen. Es hatte es verbockt, und zwar gründlich.
 


 

Yoji trug sein schlechtes Gewissen eine ganze Woche lang mit sich herum. Er erledigte seine Arbeit gründlich, erschien pünktlich am Arbeitsplatz, ging am Wochenende nicht einmal aus, obwohl ihn die Wände seiner Wohnung an den Abenden fast zu erdrücken schienen. Ja, er war kurz davor, den Plan aufzugeben. Bis er eines Abends kurz vor Feierabend, als er bereits dabei war, die großen Blumenkübel in den Laden zu räumen, Ayas Stimme aus dem Gewächshaus hörte. Es waren wenige Worte, kurz und knapp. Nicht viel mehr als Ja und Nein, aber der gepresste Ton ließ Yoji aufhorchen. Er ließ den Kübel mitten im Weg stehen und schlich sich zur Tür, hinter der Aya telefonierte. Als er dort ankam, hatte der bereits aufgelegt. Yoji spähte durch die Tür und sah etwas Unerwartetes.
 

Aya hatte sich mit beiden Händen auf den Pflanztisch gestützt, das Handy vor ihm inmitten der wenigen Krumen von Blumenerde, die noch nicht weggewischt worden waren. Das allein war schon etwas, das Aya normalerweise nie getan hätte. Was aber wirklich ungewöhnlich war, war Ayas Haltung. Er sah...traurig aus. Nein, eher verzweifelt. Yoji konnte zwar sein Gesicht nicht sehen, aber die Hände, die sich in die Kante der Tischplatte krallten, den verkrampften Rücken, der Kopf zwischen die Schultern gezogen, so als könne er so einem unbekannten Unglück entgehen. Yoji legte die Hand an die Tür. Er war hin- und hergerissen. Sollte er jetzt zu Aya gehen? War er in der Position dazu? Oder riskierte er damit ernsthafte Verletzungen? Die Ladenglocke holte ihn aus seinen Überlegungen.
 

„Hey, Yoji, was soll das? Was macht der Topf hier mitten im Weg?“ Ken war eben von einer Lieferung wiedergekommen und sichtlich verärgert über das Hindernis in seinem Weg, an dem er mit den Transportkisten nicht vorbeikam.

Yoji verbot sich einen letzten Blick ins Gewächshaus und verließ seinen Horchposten so schnell wie möglich. Wenn Aya entdeckte, dass er gelauscht hatte, konnte die Sache mit den Verletzungen immer noch zur Wahrheit werden.

„Ich habe mir einen Fingernagel abgebrochen und war auf der Suche nach einem Pflaster“, antwortete Yoji leichthin und zerrte den schweren Kübel ein Stück weit zur Seite, sodass Ken daran vorbeigehen konnte.

„War ja klar, dass das nicht lange anhalten würde“, murmelte Ken und ging in Richtung des Gewächshauses. Aya öffnete gerade die Tür und ließ Ken vorbei. Dabei huschte sein Blick kurz in Yojis Richtung, der sich möglichst unbeteiligt zeigte. Er gab vor, seinen Fingernagel zu untersuchen und schnitt eine versteckte Grimasse, als er Ayas Missfallen an seinem unbedeutenden Problem sah. Zumindest bildete er sich ein, dass der kalte Blick eine Spur Unmut enthielt. Yoji seufzte innerlich. Jetzt war er also wieder der oberflächliche, unzuverlässige Playboy. Nun gut, damit konnte er leben. Es war die perfekte Tarnung, um endlich hinter Ayas Geheimnis zu kommen. Jetzt brauchte er nur noch eine neue Idee. Eine wirklich gute und vor allem wasserdichte Idee.

„Uh, das Zeugt stinkt.“ Omi zog eine Grimasse. „Bist du dir sicher, dass du das richtig angesetzt hast?“

Ayas Reaktion war nur ein kurzes Nicken.

Omi schüttelte den Kopf, hielt sich die Hand vor Mund und Nase und nuschelte durch die zusammengepressten Finger: „Mach, was du willst, ich arbeite nicht damit.“

Ken betrat nun ebenfalls das Gewächshaus und schnüffelte wie ein Hund. „Was ist denn hier verreckt?“

„Ayas Verstand“, gab Omi leicht grün um die Nase zurück. „Er hat irgendein ominöses Rezept für einen neuen Dünger ausprobiert und das da ist das Ergebnis.“ Er wies auf einen kleinen, weißen Eimer, der, so unschuldig er aussah, stank wie ein verendetes Stinktier. Wie drei verendete Stinktiere.

„Wenn du das hier drinnen benutzt, wandere ich aus“, versprach Ken. „Schaff das raus und bete, dass die Nachbarn dir nicht auf die Schliche kommen. Damit kann man ja einen ganzen Stadtteil ausräuchern.“

Yoji fühlte sich versucht, Aya beizustehen, aber er konnte nicht. Das Zeug stank wirklich bestialisch. Allein der Gedanken, einen Spritzer davon an seiner Haut zu haben. Ein Date konnte er dann für mindestens drei Tage vergessen. Nicht, dass er momentan welche gehabt hätte. Aber die Möglichkeit zu erhalten, war ihm wichtig.

„Ich bin raus hier. Sagt Bescheid, wenn ich die Stadtreinigung anrufen soll“, verkündete Ken und zog dabei den verdächtig blassen Omi mit sich. Zurück blieben Yoji, Aya und der Eimer.
 

„War nicht dein bester Plan, großer, weiser Anführer“, rührte Yoji ein wenig in der Wunde herum.

„Wer hat gesagt, dass ich das bin?“, fauchte Aya zurück. Yoji blinzelte. Wo war das denn hergekommen? War Aya etwa in Streitlaune? Nun, das ließ sich vielleicht ausbauen.

„Bist du nicht?“, bohrte er weiter. „Du tust doch immer so, als wüsstest du alles, könntest alles, niemand kann dem großen Abyssinian das Wasser reichen. Wir unwürdige Maden dürfen uns glücklich schätzen, dass wir überhaupt die gleiche Luft atmen dürfen wie du.“

Aya öffnete den Mund zu einer Erwiderung, dann klappte er ihn wieder zu und presste die Kiefer aufeinander. Das Feuer, das eben noch in seinen violetten Augen gelodert hatte, erlosch und wich dem ewigen Eis. Er drehte sich abrupt um und begann irgendeine Pflanze umzutopfen. Yoji hätte am liebsten in den Tisch gebissen. Das war doch zum Mäusemelken mit diesem sturen Bock.
 

Yojis Finger gruben sich in die weiche Erde unter seinen Fingern. Sie war durchgeweicht vom morgendlichen Gießen und es würde eine gründliche Reinigung erfordern, wenn er nicht mit Trauerrändern wie ein Maulwurf unter die Leute gehen wollte. Eine sehr gründliche Reinigung. Eine Idee begann sich in Yojis Gehirn zu formen.

Er griff eine gute Handvoll der feuchten, schwarzen Erde und wog sie in der Hand. Aya stand immer noch mit dem Rücken zu ihm. Mit einem maliziösen Grinsen holte Yoji aus und warf.
 

Der Drecklumpen klatschte gegen Ayas Hinterkopf und fiel dann in den Kragen seines weiten Pullovers. Aya versteifte sich augenblicklich und fuhr herum. Yoji hatte schon eine neue Ladung in der Hand und holte bereits aus. Er hatte allerdings nicht mit Ayas hervorragenden Reflexen gerechnet. Der Anvisierte duckte sich blitzschnell und ging hinter dem Pflanztisch in Deckung.

„Was soll das, Kudo?“, giftete er aus der Deckung heraus. „Bist du jetzt total durchgedreht?“

'Nein, aber verzweifelt', dachte Yoji, als ihm ein neuer Gedanken durch den Kopf schoss. Noch hatte er Aya nicht da, wo er ihn haben wollte. Mindestens eine halbe Stunde im Badezimmer verschwunden. Es gab nur noch einen Ausweg. Es war verrückt und ekelhaft und so gar nicht seine Art, aber es musste sein.
 

Yoji schnappte sich kurzerhand den Eimer mit der stinkenden Brühe und goss den Inhalt großzügig hinter den Pflanztisch. Es folgte ein entsetzter Aufschrei und das Geräusch eines zerbrechenden Blumentopfs. Die Tirade an Schimpfworten, die dann folgte, hörte Yoji schon nicht mehr, denn er hatte es vorgezogen, den Raum fluchtartig zu verlassen. Der Geruch war wirklich widerlich. Außerdem bestand die Gefahr, mit einer Blumenkelle ausgeweidet zu werden und das wollte er dann doch lieber vermeiden.
 

Yoji raste in den Laden und an Ken und Omi vorbei, die ihn ansahen, als wäre er der Teufel persönlich. Wobei das nicht so ganz stimmte, denn der war jetzt hinter ihm her.

„Ihr habt mich nicht gesehen“, rief Yoji den beiden zu, riss die Tür zur Wohnung auf und stolperte hindurch. Nur Sekunden später hörte er hinter sich entsetzte Aufschreie.

„Aya, wie siehst du denn aus?“

„Das ist ja widerlich. Bleib mir bloß vom Leib.“

„Wo? Ist? Er?“

Ein Brüllen wie von einem Tier. Yoji drückte sich tiefer in die Ecke zwischen Wohnzimmertür und Wand und betete, dass Aya, der gerade die Treppe hinauf gestampft kam, ihn nicht fand.
 

„Bleib sofort stehen!“ Omi Stimme war erschreckend energisch. „Wenn du so durch die Wohnung läufst, tropfst du alles voll. Warte, ich hole ein Handtuch.“

Schritte, Türenklappen, ein wütendes Schnauben. Poltern auf der Treppe, dann Kens Stimme.

„Und wer macht die Sauerei jetzt wieder weg? Also ich bestimmt nicht.“

Yoji grinste in der Zwischenzeit hinter der Tür in sich hinein. Das Blut rauschte durch seine Adern, sein Herz klopfte und er fühlte sich lebendig. Als hätte er einen Preis gewonnen. Ihm tat schon das Gesicht weh, aber er konnte einfach nicht aufhören zu grinsen. Wie gerne hätte er jetzt einen Blick in den Flur geworfen. Diese kleine Jagd mit Aya war irgendwie aufregend gewesen. Ganz kurz blitzte ein Bild in seinen Gedanken, in der Aya Yoji erwischte, ihn zu Boden warf und... Er rief sich selbst zur Raison. Er musste jetzt an den Plan denken.
 

Draußen knallte die Tür des Badezimmers zu, Wasser begann zu rauschen. Soweit gut, jetzt mussten sich nur noch Omi und Ken wieder in den Laden verkrümeln. Allerdings schien Ken nicht gewillt, dabei mitzuspielen.

„Kommt nicht infrage“, zeterte er, nachdem Omi vorgeschlagen hatte, sich um die Bescherung zu kümmern.

„Aber Ken“, versuchte es Omi erneut, „wir können den Laden nicht einfach schließen. Aber mit den Spuren, die Aya hinterlassen hat, können wir ihn auch unmöglich geöffnet lassen. Blumenladen hin oder her. Die schicken uns das Gesundheitsamt auf den Hals. Willst du den Herren dann erklären, was sie in unserem Keller finden?“

Ken murmelte etwas Unfreundliches, das Yojis Namen enthielt und seufzte dann.

„Aber nur den Laden“, knurrte er. „Den Mist im Gewächshaus können die beiden selber wegputzen. Die sind doch vollkommen durchgeknallt.“

„Ken!“

„Ja ist doch wahr! Komm, ich hol den Eimer, du nimmst den Mob. Und Yoji schuldet mir was. Aber so was von!“
 

Endlich verließen die beiden den Flur und Yoji konnte immer noch den beruhigenden Klang der Dusche durch die Wand hören. Gut, dann hatte er freie Bahn. Er schlich über den Flur, verharrte kurz vor der Badtür und warf einen prüfenden Blick auf das dunkle Holz. Von drinnen war außer Wasserrauschen nichts zu hören. Aber was hatte er auch erwartet? Dass Aya unter der Dusche sang? Wahrscheinlich schmiedete er stillschweigend Rachepläne. Yoji merkte, dass seine Handflächen feucht wurden. Lieber nicht darüber nachdenken. Er hatte nur noch wenig Zeit.
 

Er huschte weiter zu Ayas Tür und drückte probehalber die Klinke hinunter. Die Tür gab nicht nach. Abgeschlossen. Aber das war für Yoji nur eine Formsache. Einige Handgriffe später schwang die Tür geräuschlos nach innen auf. Yoji schlüpfte hindurch und schloss sie leise wieder. Er sah sich in dem kleinen Raum um. Er war noch nie hier gewesen und stellte fest, dass er auch nichts verpasst hatte. Bett, Couch, Schrank, Kommode, Regal, Schreibtisch. Fertig war Ayas kleine Welt. Himmel, das war ja noch schlimmer als bei ihm zu Hause. Allerdings wesentlich aufgeräumter, wie Yoji neidlos anerkennen musste. Gut, das würde seine Suche nur vereinfachen.

„Also gut, wo bist du?“, fragte er leise und ging seine Möglichkeiten durch.

Den Kleiderschrank schloss er aus. Niemand bewahrte einen Brief im Kleiderschrank auf. Sockenschublade? Da hätte er vielleicht bei Ken gesucht. Eventuell auch noch bei Omi, wobei der so etwas vermutlich eher im Nachtschrank aufbewahren würde. Aber Aya...wo würde Aya so etwas verstecken?
 

Yojis Blick blieb am Schreibtisch hängen. Natürlich, wo auch sonst? Er trat an den kleinen Tisch und öffnete nacheinander die beiden Schubladen. Papier, Stifte, Büroklammern, Post-its, aber kein Umschlag. Yoji schloss die Schublade wieder und sah den Tisch prüfend an. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Er roch es geradezu, dass hier etwas faul war. Was war es?

Er öffnete eine der Schubladen nochmal und blickte hinein, ohne den Inhalt wirklich zu sehen. Nachdenklich maß er die Tischplatte mit einem prüfenden Blick, verglich sie mit den Maßen der Schublade. Er schloss die Schublade und betrachtete den Boden um die Tischbeine herum. Yojis Gesicht hellte sich auf, als er fand, wonach er gesucht hatte. Kleine, unauffällige Abdrücke neben dem Tischbein. Sie zeugten davon, dass der Tisch bewegt worden war. Zudem waren die Schubladen zu klein. Sie hätten viel tiefer sein müssen, um bis zum hinteren Ende der Tischplatte zu reichen. Mit einem triumphierenden „Ha!“, rückte er den Tisch von der Wand ab und griff an dessen Rückseite. Er fühlte das knisternde Papier unter seinen Finger und hielt kurz darauf den dicken Umschlag in seinen Händen. Er überlegte kurz, ob er ihn mitnehmen sollte, doch das würde Aya sicherlich auffallen. Zumal er keine Chance sah, den Umschlag unbemerkt wieder zurückzulegen. Also musste er die Unterlagen hier durchsehen.
 

Er zog den Papierstapel heraus und verteilte ihn auf dem Schreibtisch. Da waren verschiedene Arten von Blättern. Yoji sortierte sie gedanklich. Es gab dickes, weißes Papier mit dem farbigen Schriftzug des Krankenhauses, dann waren dort dünnere Papiere, die den gleichen Schriftzug aber in schwarz-weiß trugen. Kopien. Yoji betrachtete sie und stellte fest, dass es allesamt Rechnungen waren. Die Originale waren allem Anschein nach Artzberichte. Er überflog die Texte. Sie sprachen davon, dass Ayas Schwester in nächster Zukunft vermutlich nicht aufwachen würde. Es wurde über mögliche Komplikationen spekuliert, Gegenmaßnahmen erörtert. Irgendwo fand er eine Verzichtserklärung. Keine gute Prognose also. Er legte die Papiere zur Seite und sah sich eine weitere Abteilung an. Dabei handelte es sich um Prospekte von anderen Krankenhäusern. Ein Hospiz war darunter.
 

Yoji lauschte. Etwas hatte sich verändert. Er überlegte und erkannte: Die Dusche war verstummt. Aya konnte jeden Augenblick aus dem Bad kommen. Yoji hatte maximal noch einige Minuten. Er wollte schon alles wieder zurück in den Umschlag stecken, als ein handgeschriebener Zettel zu Boden flatterte. Yoji erkannte Ayas Handschrift. Der Zettel war bedeckt mit Zahlen. Sehr hohen Zahlen. Verschiedene Kolonnen, die sich zu vielstelligen Summen addierten. Alle verschieden, aber alle hoch. Die kleinste der Zahlen war unterstrichen, darunter eine weitere Rechnung, die Zahlen wurden kleiner, bis ganz unten eine zweistellige Zahl stand. 33. Was hatte das zu bedeuten?
 

Yoji atmete tief durch. Höchste Zeit zu verschwinden. Er stopfte die Papiere zurück, versteckte den Umschlag wieder und stellte den Tisch wieder zurück an seinen Platz. Er huschte zur Tür und spähte in den Flur. Niemand zu sehen. Er wollte eben die Tür schließen, als er ein Geräusch hörte. Die Badtür öffnete sich. Yojis Herz setzte einen Schlag aus. Er ließ die Tür Tür sein und drückte sich in eine Ecke des Flurs, die von Ayas Tür aus nicht einsehbar war. Wenn er sehr viel Glück hatte, würde der einfach vom Bad in sein Zimmer gehen und Yoji wäre gerettet. Wenn nicht...nun das stellte sich Yoji lieber nicht vor.
 

Er hörte das Tappen von nackten Füßen auf dem Fußboden. Unwillkürlich musste Yoji darüber nachdenken, was Aya anhatte. Seine Kleidung war durch die Düngerdusche sicherlich vollkommen ruiniert. Keiner der anderen hatte ihm neue Kleidung gebracht, denn sein Zimmer war verschlossen gewesen. Yoji kam zu dem Schluss, dass Aya somit maximal ein Handtuch tragen konnte. Irgendwie brachte ihn der Gedanke zum Grinsen, auch wenn sein Leben nur vom Schatten eines Flurerkers abhing. Die Vorstellung, dass Aya sich nur mit einem Handtuch bekleidet auf ihn stürzen könnte, hatte einen interessanten Beigeschmack.
 

Die Schritte waren stehengeblieben. Yoji hielt den Atem an. Aya hatte vermutlich entdeckt, dass seine Tür offen war. Was würde er jetzt tun? Nach dem Eindringling suchen? Wohl kaum, solange er nur ein Handtuch um die Hüften hatte. Yoji beglückwünschte sich noch einmal mehr zu seiner formidablen Idee, die ihm trotz Improvisation sogar den Rückzug sicherte. Er hörte ein unwirsches Knurren, Aya murmelte etwas, dann schloss sich die Tür hinter ihm. Yoji atmete erleichtert auf. Nun nur noch schnell die Treppe hinunter, durch den Laden und...
 

„Yoji Kudo, bleib sofort stehen!“

Autsch. Yoji hatte gar nicht gewusste, dass Omi so eine gute Aya-Imitation drauf hatte. Er drehte sich mit einem freundlichen Lächeln herum. Als er seine beiden Kollegen sah, sackten seine Mundwinkel jedoch sofort wieder nach unten. Die beiden waren stinksauer. Ayamäßig sauer.

„Du wirst jetzt die Schweinerei im Gewächshaus beseitigen“, sagte Ken und hielt Yoji Eimer und Wischmob entgegen.

„Ich...“

„Jetzt“, bekräftigte Omi.

Yoji hob beschwichtigend die Hände. Er wusste, wann er verloren hatte. „Ist ja gut, ich gehe ja schon. Ist es sehr schlimm?“

„Schlimmer.“
 


 

Omi hatte gelogen. Es war nicht schlimmer, es war abartig. Absolut unmenschlich, jemandem so eine Arbeit aufzubrummen. Allerdings musste Yoji zugeben, dass er es wohl irgendwie verdient hatte. Sein Magen rebellierte, aber er hatte Erfahrung im Umgang mit Übelkeit. Er atmete flach durch den Mund und versuchte, das Kribbeln in der Nase zu ignorieren. Nach fünf Minuten hatte er das Gefühl, er hätte sich an den Geruch gewö...nein, doch nicht. Es war immer noch abartig.
 

Nachdem er schon eine ganze Weile gewischt und geschrubbt hatte, öffnete sich die Tür des Gewächshauses. Er hörte Schritte in seine Richtung kommen. Er sah nicht hin und beugte sich stattdessen tiefer über die grauen Steinfliesen, die er gerade mit einer harten Bürste und Seife bearbeitete. Er wusste, dass es Aya war. Wobei das Geräusch nicht passte. Es war nicht das feste, wütende Ausschreiten, das er erwartet hatte. Es war mehr das feine Klack-Klack eleganter Highheels. Seit wann trug Aya Stöckelschuhe? Yojis Blick wanderte zwei Zentimeter nach oben. Stöckelschuhe mit Söckchen? Yoji Stimmung hellte sich schlagartig auf. Er hätte diese Füße küssen können. Wortwörtlich.

„Manx!“, strahlte er und richtete sich auf.

„Was ist denn das für ein Gestank?“, fragte Manx und hielt sich die Nase zu.

„Kleiner Unfall“, grinste Yoji. „Ein Auftrag?“

„Ja, in den Keller bitte.“ Manx drehte sich um und ging ein wenig schneller als notwendig zum Ausgang. An der Tür blieb sie noch einmal stehen.

„Und Balinese? Bleib bitte auf der anderen Seite des Raumes, ok?“

Yoji blinzelte verblüfft, bis die Erkenntnis langsam in seinen Geist tröpfelte. Er roch an sich und verzog dann das Gesicht. Ok. An der Bitte war etwas dran.
 

Die anderen Teammitglieder warteten bereits im Keller. Omi und Ken schienen sich soweit beruhigt zu haben und Aya? Der maß ihn mit einem Blick, den Yoji nicht zu deuten wusste. Manchmal wünschte er sich wirklich eine Gebrauchsanweisung für diesen Mann. Eine dicke Gebrauchsanweisung. Aber andererseits: Wann hatte Yoji schon mal eine Gebrauchsanweisung benutzt? Er war mehr so der Typ für Versuch und Irrtum.
 

Manx legte eine dünne Mappe auf den Tisch.

„Wir haben einen neuen Fall für euch. Es gibt eine Reihe von eigenartigen Todesfällen. Die Opfer waren allesamt vollständig ausgeblutet. Alle von ihnen zeigten Anzeichen von Gewalteinwirkung.“

Ken machte ein Geräusch irgendwo zwischen einem Lachen und einem Schnauben. „Natürlich hatten sie die. Ich meine, das muss ja ein wahres Schlachtfest gewesen sein.“

„Nicht so ganz“, antwortete Manx kryptisch. „Schaut euch die Fotos an.“
 

Manx breitete einige Bilder auf dem Tisch aus. Sie zeigten alle samt tote, nur spärlich bekleidete Körper. Allerdings waren diese nicht etwa zerstückelt oder aufgebrochen. Es waren, wenn überhaupt, nur minimale Verletzungen zu sehen. Yoji trat an den Tisch und versuchte zu ignorieren, dass die andere von ihm zurückwichen. Er nahm eines der Bilder und sah genauer hin.

„Fesselmale“, sagte er. „Aber da sind auch noch andere Verletzungen. Brandwunden, blaue Flecke, kleinere Schnitte. Vermutlich Folter. Aber wo ist die tödliche Verletzung Manx?“

Manx antwortete nicht und reichte ihm ein weiteres Foto. Eine Nahaufnahme. Ein weißer Hals mit zwei kreisrunden Löchern genau über der Halsschlagader. Yoji kannte so ein Bild. So etwas gab es in fast allen gängigen Vampirfilmen.

„Ein Vampir-Kult?“

Manx nickte bedächtig. „Wir vermuten etwas in diese Richtung. Leider sind unsere Informationen mehr als dürftig. Die Ermittlungen haben lediglich eine Adresse ergeben.“

„Mehr nicht?“ Aya trat nun ebenfalls an den Tisch. Yoji machte ihm unbewusst Platz. Die violetten Augen huschten über die Fotos.

„Was soll das für ein Fall sein, Manx?“, knurrte Aya. „Hat Kritiker keine Leute, die er für so was einsetzen kann?“

„Zwei unserer Leute wurden leider enttarnt. Ihre Leichen fand man zerstückelt im Hafenbecken.“

„Aber das passt nicht zusammen“, mischte sich Omi ein. „Warum auf der einen Seite diese intakten Leichen, auf der anderen Seite diese Brutalität. Könnten es zwei Täter gewesen sein?“

Manx presste die Lippen zusammen. Als sie weiter sprach, war ihre Stimme von Widerwillen geprägt.

„Wir vermuten, dass sich die Opfer freiwillig in die Hände ihrer Peiniger begeben. Es ist quasi unmöglich etwas herauszufinden, weil man gegen eine Mauer aus Schweigen läuft. Niemand sagt etwas.“

„Sie wollten umgebracht werden?“ Ken hatte die Augen aufgerissen und starrte Manx ungläubig an. „Aber das ist krank!“

Manx zuckte mit den Achseln. „Es gibt eine Menge merkwürdiger Leute. Ich weiß nicht, ob sie ihren Tod beabsichtigt hatten oder ob es sich um Unfälle handelt. Oder ob die Opfer sich aus Angst oder aus einer romantisierten Vorstellung heraus keine Hilfe suchen. Ich weiß nur, dass wir es nicht erlauben können, dass jemand blutleere Leichen in ganz Tokio verteilt. Bisher hat die Presse zum Glück noch keinen Wind davon bekommen, aber das kann sich jederzeit ändern. Wir wollen vor allem verhindern, dass dieses kranke Gesindel noch mehr Zulauf bekommt. Also, wer ist dabei? Ich brauche zwei Freiwillige für einen Undercover-Einsatz.“
 

Vier Hände schnellten nach oben.

Manx sah Omi an. „Du nicht, Bombay, du bist zu jung. Ich brauche dich für die Vorbereitungen. Du musst die Recherche übernehmen und die anderen beiden so gut wie möglich briefen. Wir müssen sie in eine Szene einschleusen, die Fremden gegenüber eher misstrauisch ist.“

Omi nickte. „Geht klar, Manx.“

„Was ist mit mir?“, wollte Ken wissen. Manx taxierte ihn. Dann schüttelte sie den Kopf. „Allenfalls als Backup. Du passt leider nichts ins Profil. Abyssinian und Balinese werden gehen. Ihr habt drei Tage für die Vorbereitungen.“
 

Yojis Blick huschte zu Aya und entdeckte, dass der ihn ebenfalls ansah. Der Ausdruck in seinem Gesicht war undeutbar. Eine Mischung aus... Yoji wusste es nicht und bevor er noch weiter darüber nachdenken konnte, war der Moment vorbei. Ayas Gesicht war wieder ausdruckslos wie immer. Er funkelte Yoji dunkel an.

„Drei Tage“, knurrte er, drehte sich um und verließ den Keller. Yoji atmete hörbar aus. Er hatte verstanden. Bis nach der Mission herrschte Waffenstillstand. Was danach geschah? Nun ja, das musste sich zeigen. Vorerst hatten sie eine Mission vorzubereiten.

Yoji Mundwinkel zuckte. Er konnte es einfach nicht verhindern. Aya saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und sah auf die vorbeiziehenden, dunklen Straßenzüge. In wenigen Minuten würden Yoji ihn in der Nähe des verdächtigen Clubs aussteigen lassen, damit er seinen „Arbeitsplatz“ einnehmen konnte. Yoji würde zu späterer Stunde als Kunde des Clubs dazu stoßen. Sie würden versuchen, den Betreiber des Clubs ausfindig zu machen und diesen dann eliminieren. Soweit der simple Plan, der leider so viele Lücken aufwies. Und Ablenkungen. Wie zum Beispiel Ayas Outfit.
 

„Was?“, bellte Aya plötzlich. Er starrte Yoji an, die Augenbrauen zu einem bösen Knäuel zusammen gezogen.

„Es ist nur...“, begann Yoji und wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte. „Ich kann nicht...also nicht, wenn du so aussiehst.“

Er machte eine wedelnde Geste, die Aya im Gesamten einschloss.

„Wer hat dich eingekleidet?“

„Omi.“

„Schminke?“

„Ken.“

„Im Ernst?“
 

Aya antwortete nicht, aber Yoji war sich sicher, dass Aya ihn gerade veralberte. Das war so gar nicht aya-mäßig. Vielleicht versuchte er, sich auf die Rolle vorzubereiten. Als Bedienung in diesem Club konnte er schlecht den böse vor sich hin starrenden Attentäter geben. Trotzdem fand Yoji sein Äußeres irgendwie irritierend. Es waren gar nicht mal die Kleidung, die, abgesehen davon, dass sie ganz schwarz war und ein wenig mehr Haut zeigte, als Aya das gewöhnlich tat, nicht unbedingt von Yojis normalen Club-Outfits zu unterscheiden waren. Eventuell lag es wirklich am Make-up, obwohl das im Grunde auch nur aus etwas dunklen Lippgloss und mit einem schwarzen Stift betonten Augen bestand. Was Yoji wirklich irritierte, war das Halsband. Es war aus etwa zwei Finger breitem, schwarzen Leder und hatte als einzige Verzierung einen silbernen Metallring an der Vorderseite. Unwillkürlich stellte sich Yoji vor, wie jemand eine Leine an diesem Ring befestigte. Wahrscheinlich war genau diese subtil suggestive Wirkung beabsichtigt. Es war eine ablenkende und, wenn er ehrlich war, auch irgendwie anregende Vorstellung. Also nicht, dass er etwas für diese Spielrichtung übrig gehabt hätte, aber Aya an einer Leine...er musste schon wieder grinsen.
 

„Wir sind da.“, holte ihn Aya aus seinen Gedanken. Yoji stoppte den Wagen und ließ den anderen aussteigen.

„Tu nichts, was ich nicht auch tun würde“, konnte er sich nicht verkneifen, Aya nachzurufen. Wenn es nicht so dunkel gewesen wäre, hätte er schwören können, dass der ihm daraufhin eine obszöne Geste zeigte.
 

Yoji betrat den Club um kurz nach halb zwölf. Die Atmosphäre war, wie erwartet, düster. Dunkler Samt an den Wänden, spärliche Beleuchtung, schwarze Kerzen in silbernen Leuchtern, das Personal ausschließlich in Schwarz gekleidet. Yoji entledigte sich seines Mantels und ließ einen Schein über die Theke der Garderobe wandern. Er war ebenfalls eingekleidet worden und alles, was er trug, war teuer. Allein einer seiner Schuhe kostete vermutlich einen Monatslohn. Es war sinnvoll, den Garderobier davon zu überzeugen, dass er den ungleich teureren Mantel am Ende seines Besuchs wieder erhalten wollte.
 

Yoji schlenderte durch den Club, steuerte wie durch Zufall die Bar an, hinter der Abyssinian Stellung bezogen hatte. Yoji hob nur einen Finger, als wäre völlig klar, was er als Bestellung aufgeben wollte, und der Mann auf der anderen Seite der Theke nickte leicht. Ein weiterer Blick, er stellte das gefüllte Glas mit der linken Hand auf den Tresen. Also noch kein Treffer im Bereich des Personals. Abyssinian berührte flüchtig seine Nase. Eine Spur. Ein kurzer Blick in den hinteren Teil des Clubs. Yoji drehte sich mit dem Getränk in der Hand herum und sah sich um. Er bemerkte die Tür, auf die Abyssinian ihn aufmerksam machen wollte, erst auf den zweiten Blick. Sie war nahezu perfekt in die Wandvertäflung in diesem Bereich eingelassen und hätte sich nicht einer der Sicherheitskräfte allzu offensichtlich daneben Stellung bezogen, wäre sie ihm wohl nicht aufgefallen. Yoji schnaubte innerlich. Wäre das sein Angestellter, würde er ihn achtkantig feuern.
 

Yoji löste sich vom Tresen und schlenderte weiter. Er musste jemanden finden, der ihn in den privaten Bereich des Clubs brachte. Er ging die augenscheinlichen und versteckten Angestellten durch. Gorilla, Gorilla, Gorilla, Äffchen. Bingo! Ein affektiert agierender, junger Mann, der sich in einer Runde Geschäftsleute rekelte. Er saß auf dem Schoß eines der Männer und ließ sich eine farblose Flüssigkeit in den Hals gießen. Zur Belustigung der Anwesenden prustete er die Hälfte wieder aus und besprühte damit einen weiteren Mann, der sich grölend auf die Schenkel schlug und bei einer Bedienung eine weitere Bestelllug aufgab. Yoji blieb ein Stück weit von der Gruppe entfernt stehen und versuchte, die Aufmerksamkeit des Jungen zu erregen. Er hatte mit einem Blick erkannt, dass die Gruppe von Anzugträgern sich weit unter der Preisklasse bewegte, in der Yoji vorgab zu sein. Wenn der Kerl gut war, musste er versuchen, den großen Fisch an Land zu ziehen, bevor er ihm durch die Lappen ging. Tatsächlich entschuldigte sich der Junge nur wenige Augenblicke später von der Truppe und kam auf Yoji zu.

„Kann ich Ihnen helfen?“, gurrte er und legte wie zufällig die Hand auf Yojis Arm.

„Ich glaube nicht“, gab Yoji gelangweilt zurück. Er ließ den Blick durch den Club schweifen. „Man sagte mir, dies wäre ein Geheimtipp, aber wie ich sehe, gibt es hier nur durchschnittliche Unterhaltung.“

Der Junge dachte kurz nach. „Ich werde sehen, ob ich jemanden finde, der ihnen helfen kann“, versprach er und wuselte davon. Kurz darauf kam er mit einem weiteren Mann zurück. Der nickte dem Jungen zu und entließ ihn wieder zu seinen Geschäftsleuten. Dann taxierte er Yoji.
 

Der starrte zurück, entschlossen sich nicht einschüchtern zu lassen. Der Mann war verglichen mit ihm, ein wahrer Hühne. Groß, dunkelhaarig, die langen Haare zu einem tiefen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er trug ebenfalls schwarze, enganliegende Kleidung, die durch ein auffällig hohen Anteil von Leder auffiel. Seine Handgelenke wurden von breiten Lederarmbändern umschlossen, die Finger waren mit silbernen Ringen geschmückt. Als er sprach, konnte Yoji sein Zungenpiercing gegen die Zähne schlagen hören. Entweder war es schlecht gemacht oder sehr groß. Yoji tippte auf letzteres.

„Sie suchen etwas Besonderes?“, fragte der Mann und Yoji hatte das Gefühl, dass die tiefe Stimme bis in seinen Magen vibrierte. Der Akzent war fremd. Yoji vermutete irgendein osteuropäisches Land. Der Typ war ohne Zweifel eindrucksvoll, aber mit Sicherheit nicht der Clubbesitzer. Geschäftsführer vielleicht.

„Haben Sie das denn?“, fragte Yoji, nicht ganz sicher, wie die Terminologie für das lautete, was er suchte. Er leckte sich die Lippen. „Ich hatte nach etwas einer etwas einschneidenderen, tiefergehenden Erfahrung gesucht.“

Der Mann musterte ihn, der Blick huschte über die Kleidung, die Schuhe, den mit Brillanten besetzten Ring an Yojis Hand.

„Folgen Sie mir“, sagte der tiefe Bass und steuerte die Tür an der Rückseite des Clubs an. Der Wachmann beeilte sich, die Tür zu öffnen, und Yoji betrat den weniger gut besuchten Teil des Clubs. Schwarz gestrichener Beton und roter Samt erwarteten ihn. Wieder die unvermeidlichen Kerzen. Yoji fragte sich ernsthaft, wie sie es schafften, dass der Club noch nicht abgebrannt war. Sie gingen durch einen Gang, von dem verschiedene Türen abgingen. Es war keine Frage, dass er auf der richtigen Spur war.
 

Der Manager geleitete ihn in einen Raum, der mit den unterschiedlichsten Gerätschaften gefüllt war. Die meisten davon entweder aus schwarzem Leder oder silbernem Metall. Auf einem Bett lag eine laszive Dame im einem aufreizenden Kostüm. Schwarz und rot, Samt und Spitze. Wenig davon. Yoji betrachtete sie und traf auf kokett niedergeschlagene Augen.

„Meister?“, hauchte sie.

Hinter Yoji ging noch einmal die Tür auf. Zwei weitere Männer vom Typ Gorilla betraten den Raum. Sie waren, wie die eng über ihren muskulösen Oberkörpern anliegenden Jacketts deutlich zeigte, bewaffnet. Yoji rechnete seine Chancen durch. Er würde unmöglich die beiden Sicherheitsleute und den Manager ausschalten können, dem er durchaus zutraute, auch ohne offensichtliche Bewaffnung einiges auszuteilen. Außerdem bestand die Chance, dass sich auf die Dame vom Bett noch in den Kampf einmischte. Immerhin hatte Manx gesagt, dass die Opfer sich hier freiwillig verstümmeln ließen. Er brauchte Hilfe. Er brauchte Abyssinian.
 

Yoji betrachtete die Dame auf dem Bett und rümpfte ein wenig die Nase. „Habt ihr noch etwas anderes da? Ich steh mehr auf Rothaarige.“

Der Manager schüttelte leicht den Kopf. „Die anderen Mädchen sind zurzeit leider nicht frei.“

Yoji tat, als müsse er überlegen. „Was ist mit der Bedienung hinter dem Tresen? Steht die zur Auswahl? Ich fand ihn ganz anziehend.“

Der Manager winkte einen der Gorillas heran. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr, der Mann nickte und verschwand durch die Tür.
 

Yoji wanderte derweil durch den Raum, als würde er ihm gehören. Er musterte die verschiedenen Gerätschaften, tat so, als würde er einige von ihnen prüfen, und horchte dabei auf die Geräusche im Flur. Wann würde die Verstärkung eintreffen? Und wie sollten sie den Besitzer des Clubs ausfindig machen? Es widerstrebte ihm, sich mit den kleinen und mittelgroßen Fischen zufrieden zu geben. Aber wenn es nicht anders ging, würde das wohl ausreichen müssen. Allzu lange würde er die Tarnung nicht mehr aufrecht erhalten können.
 

Draußen waren Schritte zu hören, die Tür wurde geöffnet und der Wachmann kam mit Abyssinian im Schlepptau wieder herein. Der benahm sich, als wisse er nicht genau, was er hier solle. Yoji setzte ein charmantes Lächeln auf und trat zu ihm

„Ah, mein kleiner Nachtfalter. Wie schön, dass du zu uns stößt. Wir feiern eine kleine Party, weißt du.“

Er betete, dass Abyssinian ihn verstand. Schmetterling war ihr Codewort für den Zugriff. Die Variation war nicht abgesprochen, er konnte nur auf die Intuition des anderen hoffen. Ganz in seiner Rolle bewegte er sich auf den anderen Mann zu, strich ihm leicht mit der Hand über die Wange. Abbysinian wendete sich ab, schlug die Augen nieder. Yoji langte stattdessen nach einer der längeren Haarsträhnen an der Seite des Kopfes und ließ sie durch die Finger gleiten. Er fühlte, wie sein Mund trocken wurde. Ehrliches, echtes Verlangen loderte für einen Moment in ihm auf, bevor er es unter Kontrolle bekommen konnte. Verdammt, das war so nicht geplant. Es würde seine Rolle zwar überzeugender machen, aber er war schließlich auf einer Mission.
 

Yoji räusperte sich und wandte sich dann an den Manager. „Sehr hübsch“, schnurrte er. „Aber noch nicht so ganz domestiziert, wenn mich nicht alles täuscht. Ich selbst bin ein wenig ungeübt darin. Wäre es vielleicht möglich, dass mir dabei jemand zur Hand geht? Jemand mit viel Erfahrung, denn ich glaube, diese kleine Wildkatze braucht eine wirklich harte Hand.“

Der Manager nickte knapp. Er hielt die Hand an sein Ohr und murmelte etwas. Ein Headset. Yoji hatte es nicht gesehen; es musste entweder gut versteckt sein oder er hatte nicht genau genug hingesehen. Er machte Fehler, das war nicht gut. Je eher dieses Fiasko jetzt ihr Ende fand, desto besser.
 

Die Tür öffnete sich erneut und eine Frau trat ein. Aber was für eine Frau! Sie trug ein bodenlanges, rotes Kleid, dessen Ausschnitt sich zwischen ihren Brüsten bis zu ihrem Bauchnabel erstreckte. Dunkle Haare waren zu kunstvollen Locken gerollt worden, die ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen perfekt einrahmten. Ein blutroter Lippenstift versprach auf vollen Lippen die pure Sünde. Yoji blinzelte für einen Augenblick sprachlos.

„Aleksey sagte mir, dass es hier Probleme gibt?“ Sie glitt in den Raum und einer der Wachmänner beeilte sich, die Tür wieder hinter ihr zu schließen.
 

Jetzt, da sie näher trat, wurde sich Yoji bewusst, dass sie eher klein war. Ihre Ausstrahlung hingegen beherrschte den Raum und die darin anwesenden Männer derart, dass es Yoji schwerfiel, sich der Wirkung zu entziehen. Er riss sich zusammen und setzte ein entgegenkommendes Lächeln auf.

„Meine Teuerste“, erwiderte er und wollte sich der Dame nähern. Aleksey, wie der Manager wohl hieß, trat einen warnenden Schritt vor, so unterließ Yoji die galanten Handküsse lieber. Er fürchtete, sich auf dem Boden mit dem Kopf unter einem schweren Stiefel wiederzufinden, wenn er die Dame anrührte.
 

Die Dame in Rot berührte den Hühnen sanft am Arm und er trat sofort zurück und senkte den Kopf.

‘Interessant’, dachte Yoji. ‘Er kuscht also vor ihr. Möglicherweise haben wir unsere Zielperson gefunden.’

“Ich gehe recht in der Annahme, dass Sie die Besitzerin dieses Etablissements sind?”, fragte er leichthin. Er erntete einen leicht geneigten Kopf, aber keine Antwort. Nun gut. Keine Auskünfte dann. Er brauchte eine Ablenkung.
 

Er griff nach dem Ring an Abyssinians Halsband und zog ihn näher zu sich. “Ich habe dieses Schmuckstück in der Auslage entdeckt und würde es gerne noch etwas schleifen lassen. Meinen Sie, das wäre möglich?”, fragte er und lächelte erneut, diesmal ein wenig demütiger. “Sie müssen wissen, ich bin da nicht unbedingt ein Experte, aber ich bewundere andere gerne bei ihrer Arbeit.”

Die Frau trat näher an Abyssinian heran, faste nach seinem Kinn, drehte seinen Kopf nach rechts und nach links. Sie ließ das Kinn los, fuhr mit den Fingern über seine Arme, die Brust, den Bauch hinab. Weder ihr noch Yoji entging das leichte Zucken, das daraufhin erfolgte. Ohne zu zögern, holte sie mit der Hand aus und schlug zu. Sekunden später zeichnete sich ein roter Handabdruck auf Abyssinians Wange ab. Sie lächelte böse und Yoji konnte dabei ihre Eckzähne sehen. Diese waren kosmetisch verändert worden, sodass sie jetzt spitz aus dem Gebiss herausragten. Ein Grund mehr anzunehmen, dass sie den Besitzer oder besser die Besitzerin des Clubs gefunden hatten.

“Ich sehe, was Sie meinen”, sagte die Frau. Yoji sah das Verlangen in ihrem Blick. Ihr gefiel der hübsche, rebellische, junge Mann. Sie wollte ihn zähmen, das konnte Yoji sehen. Vor allem, wenn er auch noch anbot, dafür zu bezahlen.

“Meinen Sie, wir könnten das in einem etwas privateren Rahmen vollziehen?”, hauchte Yoji eine Frage in ihre Richtung. Sie musterte ihn und gab dann ein Handzeichen. Die zwei Wachen verschwanden nahezu geräuschlos aus der Tür.

“Die beiden können auch gehen”, sagte Yoji und wies auf das Mädchen, das immer noch wie in Trance auf dem Bett lag und den devoten Hühnen.

“Die Kleine geht, aber Aleksey bleibt. Er wird den Jungen anweisen, ihm vorführen, was er zu tun hat.”

Yoji verstand. Zwischen Manager und Besitzerin ging offensichtlich mehr vor, als eine reine Geschäftsbeziehung. Gut, dann würde es das Pärchen eben zusammen erwischen. Er nickte zustimmend. Als das Mädchen von Aleksey vor die Tür gebracht worden war, trat Yoji zu dem Mann, strich bewundernd über seinen Arm und ging langsam um ihn herum. “Ja wirklich, er sollte bleiben. Er ist doch so ein hübscher, kleiner Schmetterling.”
 

Es ging alles sehr schnell. Während Yoji den Draht um Alekseys Hals wickelte, schlitze Abyssinian der Dame in Rot den Hals mit dem Messer aus seinem Stiefelschaft auf. Sie griff sich an die sprudelnde Wunde, taumelte noch einen Schritt vorwärts und brach dann zusammen. Yoji hatte mehr zu kämpfen, denn der Riese wehrte sich gegen den Tod. Er griff nach Yoji und ließ sich, als er ihn nicht erwischen konnte, rückwärts gegen die Wand fallen. Die Luft wurde aus Yojis Lungen gepresst, die Spannung in seinem Draht erschlaffte. Plötzlich ging ein Ruck durch Alekseys Körper und der Hühne ging vor ihm in die Knie. Auf dem Boden bildete sich eine Lache seines Blutes. Abbyssinian musterte ihn kalt.
 

“Mission abgeschlossen”, sagte er und wischte die Klinge mit dem Saum des roten Kleides ab. “Verschwinden wir.”

Er wollte bereits zur Tür gehen, aber Yoji hielt ihn zurück.

“Wenn wir jetzt da raus gehen, haben wir die gesamte Mannschaft am Hals. Wir sollten uns entweder eine Hintertür suchen oder eine Tarnung überlegen.”

Sein Blick wanderte im Raum umher und blieb an etwas hängen, das an einem Haken an der Wand baumelte. Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er ging zu dem Haken, nahm seinen Fund von der Wand und bot ihn Abyssinian an,

“Denk nicht mal dran, Balinese.”

“Willst du stattdessen lieber den ganzen Club hochnehmen. Du hast die Wachen gesehen. Wir sind nur zu zweit. Du hast nicht mal eine richtige Waffe.”

„Ich werde keine Leine tragen.“

Yoji zuckte leichthin mit den Schultern und hängte die Lederschnur wieder an ihren Platz.

„Ein Versuch war´s wert.“
 

Im nächsten Moment fand er sich erneut gegen die Wand gedrückt; Abyssinians Hand an seiner Kehle. Ein metallischer Geruch stieg Yoji in die Nase. Abysinnians Oberteil war blutgetränkt, ein Spritzer der roten Flüssigkeit war auf seiner Wange verschmiert. Die violetten Augen sprühten Feuer. „Wir sind hier auf einer Mission und nicht im Koneko, du Idiot. Du wirst uns noch umbringen mit deinen Spielchen.“
 

Spielchen? Yoji konnte sich nicht erinnern...oh naja vielleicht ein bisschen. Er schnaufte.
 

„Ok, du hast Recht. Ich habe mich nicht so ganz professionell verhalten. Aber willst du das jetzt wirklich über den beiden Leichen besprechen?“

Abyssinians Blick wanderte kurz zu den beiden toten Körpern. „Du hast Recht. Hier ist nicht der richtige Ort und Zeitpunkt.“

„Dann wird es einen richtigen Ort und Zeitpunkt geben?“

Die Hand löste sich von seinem Hals. „Ja wird es. Morgen. Jetzt sehen wir erst mal zu, dass wir hier in einem Stück herauskommen.“

Piep. Piep. Piep.

'Was für ein nerviges Geräusch.'

Piep. Piep. Piep.

'Was zur Hölle ist das?'

Piep. Piep. Piep.

'Oh man, geh weg. Lass mich schlafen!'

Piep. Piep. Piep.
 

Endlich drang es in Yojis Gehirn vor, dass das enervierende Geräusch sein Wecker war. An einem Sonntagmorgen! Seine Hand tastete sich aus der Decke heraus, suchte nach der quälenden Geräuschquelle und schubste sie versehentlich vom Nachtisch. Jetzt quäkte das blöde Ding eine Etage tiefer weiter und er kam nicht heran. Mit einem Grunzen schob er sich ein Stück weiter in Richtung Bettrand, seine langen Finger glitten suchend über den Boden. Jeans, Socke, Unterhose (zu einem unordentlichen Knäuel zusammen geknüllt) Flasche, Schuh, noch eine Socke, aber kein Wecker. Es piepte weiter und weiter und...verstummte plötzlich.

'Wenn ich gewusste hätte, dass er irgendwann aufgibt, hätte ich mich auch einfach umdrehen und mich totstellen können.'

Yoji rollte herum und ließ sich rückwärts in das Kissen sinken. Warum genau hatte er den Wecker überhaupt gestellt? War Montag? Immerhin hatte er Samstagnacht eine Mission gehabt, da war es ungeschriebenes Gesetz, dass er Sonntag freihatte. Alle anderen nutzten diese Vereinbarung auch. Alle außer Aya.
 

Aya!
 

Verdammt, sie waren verabredet. Um zehn Uhr morgens. Mitten in der Nacht quasi. Allerdings hatte Yoji sicherheitshalber der Uhrzeit zugestimmt und dafür darauf bestanden, dass er aussuchen durfte, wo sie sich trafen. Ihm schwebte ein bestimmtes Café vor. Die umgebaute Lagerhalle am Hafen, deren obere Etage ein rustikales Ambiente zwischen Beton und Stahlträgern hatte, wurde oft genug von Nachtschwärmern als letzte Anlaufstelle vor dem Heimweg genutzt. Später am Morgen war nicht mehr so viel los, man hatte seine Ruhe und konnte sich unterhalten, während die Bedienungen die Runde machten und Kaffee nachschenkten, so oft man wollte. Manchmal blieb er, wenn die Müdigkeit es erlaubte, noch so lange, bis diese besondere Art von Ruhe eintrat. Keine beängstigende Stille, sondern eine befriedende Ruhe, die schwer zu beschreiben war. Sonne, die durch hohe Fenster schien, Staub, der in der Luft tanzte, leise Gespräche und der Geruch nach guten Essen und warmem Kaffee in der Luft. Sie bot gleichzeitig Freiheit und Geborgenheit und damit hoffentlich einen guten Hintergrund für das Gespräch, dass er mit Aya führen wollte. Wenn der es zuließ, verstand sich. Aber hatte Aya nicht zugestimmt, dass sie sich unterhalten mussten? Also half es nichts, er musste sich aus dem Bett erheben und duschen gehen. Obwohl...einmal noch umdrehen. Nur ganz kurz.
 


 

Mit quietschenden Reifen schlidderte der Seven um die Ecke und kam genau vor dem Koneko zum Stehen. Am Straßenrand eine einsame Gestalt, die jetzt, da Yoji aus dem Wagen stolperte, bedeutsam auf die Uhr sah.

„Du bist zu spät“, stellte Aya fest.

Yoji fuhr sich durch die noch nassen Haare, bemühte sich, wenigstens einen Knopf seines kurzärmeligen Hemdes zu schließen, verfehlte das richtige Knopfloch und stand als schiefes Bild des Jammers vor dem anderen Mann.

„Tut mir leid, hab verschlafen“, murmelte er. Normalerweise nahm er so was ja auf die leichte Schulter, aber heute war ihm das irgendwie peinlich. „Willst du einsteigen?“

Ayas linke Augenbraue wanderte ein Stück weit nach oben. Er antwortete nicht, ging an Yoji vorbei und sprang auf den Beifahrersitz, ohne die Tür zu öffnen. Yoji grinste. Ok, er war noch im Geschäft. Er ahmte Ayas Geste nach und streifte den Sicherheitsgurt über.

„Dann mal los.“
 

Die Fahrt verlief in völligem Schweigen. Wie viel anders es doch war als gestern Abend. Da war Yoji angespannt gewesen, konzentriert und gleichzeitig waren seine Gedanken im Dreieck gesprungen. Aya hatte wirklich Recht damit, sauer auf ihn zu sein. Er konnte vielleicht zwei Jobs nebeneinander machen, aber drei bekam er nicht auf die Reihe. Erst einmal musste er das Rätsel namens Aya lösen, wenn er sich wieder auf den Rest konzentrieren wollte. Wobei es Rätsel nicht so ganz treffend beschrieb. Gordischer Knoten erschien ihm passender.
 

Das Café war schon sehr leer. Es würde gegen Mittag schließen und erst gegen Abend wieder öffnen. Trotzdem wies ihnen die Bedienung freundlich einen Tisch zu. Yoji sah flüchtig auf die Uhr und verfluchte einmal mehr, dass er verschlafen hatte. Sie hatten kaum mehr als eine halbe Stunde bis zum offiziellen Torschluss. Trotzdem zwang er sich zur Ruhe, atmete tief durch und versuchte, die Atmosphäre in sich aufzunehmen. Er lehnte er sich zurück, nahm einen Schluck aus der weißen Tasse in seinen Händen und sah Aya erwartungsvoll an.
 

Aya reagierte nicht. Er wandte den Kopf ab und sah aus dem Fenster. Yoji beobachtete, wie das Sonnenlicht die roten Haare seines Gegenübers in Flammen setzten, der blassen Haut einen warmen Schimmer verliehen. Es ließ Aya lebendig wirken, seine Gesichtszüge weicher, jünger. Yoji spürte eine winzige Sehnsucht, dieses Licht zu erhalten. Den Moment festzuhalten und die Wärme, die darin lag. Unbewusst lehnte er sich vor, legte die Arme auf den Tisch, die Hände flach auf die Resopalplatte. In dem Moment, als seine Finger die unsichtbare Mittellinie des Tischs überschritten, ruckte Ayas Kopf zu ihm herum. Die violetten Augen taxierten ihn. Yoji nahm langsam die Hände wieder auf seine Seite und stützte sich auf die Ellenbogen, das Kinn in den Händen verborgen. Er hatte eine Grenze überschritten, den ersten Stein geworfen. Nun musste er warten, was weiter geschah.
 

„Du warst in meinem Zimmer.“

Es war eine Feststellung, keine Frage, also wartete Yoji ab. Aya wollte reden, dann sollte er das tun. Manchmal war es einfacher, gar nichts zu sagen. Irgendwann fingen die Leute nach Yojis Erfahrung, von selber an zu reden. Er hatte zwar nicht erwartet, dass diese Methode auch bei Aya wirkte, aber sie tat es.

„Hast du was Interessantes gefunden?“
 

Ah, eine Frage jetzt. Yoji war somit gezwungen zu antworten. Er setzte ein breites Grinsen auf und hörte sich selber sagen: „Abgesehen davon, dass du einen furchtbaren Musikgeschmack hast, keine Unterwäsche trägst und anscheinend nackt schläfst, meinst du?“

Was als Nächstes geschah, ließ Yoji fast an seiner Sinneswahrnehmung zweifeln. Er blinzelte und sah noch einmal genauer hin, aber es war ohne Zweifel ersichtlich. Um Ayas Nase hatte sich ein hauchzarter Rotschimmer gebildet. Hatte Yoji mit seiner albernen Bemerkung, die sein Mund schneller ausgespuckt hatte, als sein Gehirn ihn hatte davon abhalten können, etwa ins Schwarze getroffen? Aber welche davon stimmte? Unwillkürlich ließ er seinen Blick tiefer wandern und verharrte an der Tischkante.
 

„Lass das“, fauchte Aya. Der Rotton vertiefte sich nicht. Also war es wohl das andere. Aya schlief nackt? Yojis Grinsen wurde noch breiter. Er biss sich schnell auf die Innenseite der Wange. Das war nicht förderlich. Er hatte vorgehabt, Aya nach dem Briefumschlag zu fragen, doch jetzt fand er sich hier und tat...was eigentlich genau? Wenn Aya eine Frau gewesen wäre, hätte er gesagt, dass er gerade ziemlich plump und hemmungslos flirtete. Verdammte, große Klappe. Er atmete tief durch. Er musste dringend zurück zum Thema kommen.
 

„33“, schleuderte er Aya auf den Tisch. „Erzähl mir davon.“

Ayas Augen wurden groß. Der plötzliche Themenwechsel hatte ihn aus der Bahn geworfen.

„Es...du hast...ihn gefunden?“

Yoji verzogen einen Mundwinkel zu einem herablassenden Lächeln. „Ich war Profi-Schnüffler, schon vergessen? Dein lächerliches Geheimfach kannst du vielleicht vor jemand anderen verstecken, aber nicht vor mir. Ich hab zwei Minuten gebraucht, um es zu finden.“

„Wann?“ Unglaube zeichnete sich auf Ayas Zügen ab.

„Als du duschen warst nach der Aktion mit dem Dünger. Glaubst du, ich bin dir die ganzen Wochen einfach aus Langeweile auf die Eier gegangen?“

Aya schwieg. Seine Finger spielten mit dem unbenutzten Löffel vor ihm. Nebenbei registrierte Yoji, dass er noch nichts getrunken hatte. Trank Aya überhaupt Kaffee? Yoji hatte nicht gefragt. Es ging ihm auf, dass er wirklich wenig über den Mann wusste.
 

Er winkte einer Bedienung und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Kurz darauf stellte die junge Frau eine Tasse Tee vor Aya auf den Tisch. Der sah auf und blickte erstaunt zu Yoji.

„Siehst du“, sagte der und tippte sich gegen die Nase. „Ich kann gut beobachten. Außerdem sehe ich, dass du etwas auf dem Herzen hast. Mag ja sein, dass du eine unglaubliche Selbstkontrolle hast, aber ich glaube nicht, dass es gesund ist, wenn du so was die ganze Zeit mit dir rumschleppst. Also entweder rückst du jetzt mit der Sprache raus oder wir schweigen uns noch eine Weile an und gehen dann wieder nach Hause. Ich für meinen Teil würde lieber hören, was es mit dem Umschlag auf sich hat. Geht es um deine Schwester?“
 

Aya drehte sie Tasse in seinen Händen. Er sah aus dem Fenster und wieder zurück in die Tasse. Als Yoji schon fast glaubte, dass er niemals anfangen würde zu reden, sagte er ganz leise: „Jahre.“

„Was?“ Yoji glaubte zuerst, sich verhört zu haben.

„33 Jahre. Der Zeitraum, den ich als ungelernte Kraft auf dem Bau arbeiten müsste, um das Geld zusammen zu kriegen, damit ich meine Schwester in ein anderes Krankenhaus verlegen lassen könnte, um sie dort bis an ihr Lebensende versorgen zu lassen.“

„Aber...“ Yojis Mund blieb offenstehen. „Woher willst du das wissen? Da gibt es so viele Variablen.“

„Ich habe die ungünstigsten zusammen gerechnet und das kam dabei heraus.“
 

Yoji nahm einen Schluck Kaffee. Das Getränk schmeckte bitter und er hätte sich liebend gerne eine Zigarette angezündet.

„Warum bleibst du nicht einfach bei Weiß?“

Die Frage war Yoji entschlüpft, bevor er sie zurückhalten konnte. Aya hatte damals nicht viel darüber gesprochen, warum er zurückgekommen war, nachdem Omi die Gruppe wieder ins Leben gerufen hatte. Yoji hatte vage Vermutungen über seine Gründe gehabt, aber bei dem Sturkopf wusste man ja nie so genau, woran man war.

Aya presste die Lippen zusammen. „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch kann. Ich...ich habe den Unfall meiner Schwester und den Tod meiner Eltern gerächt. Takatori ist tot. Jetzt bleibt mir nur noch...“

Er machte eine hilflose Geste, sah wieder aus dem Fenster.
 

Yoji sah ebenfalls hinaus. Er kannte das Loch, in dem Aya steckte, sehr gut. Er war oft genug selbst hineingefallen. Aber anders als Aya hatte er sich wieder aufgerappelt, hatte Hilfe angenommen, hatte sich anderen anvertraut, hatte Trost und Zuflucht gefunden, auch wenn dieser oft nur flüchtig gewesen war. Eine Krücke, um wieder auf die Füße zu kommen. Und er hatte etwas, für das es sich zurückzukehren lohnte. Aya hatte das offensichtlich nicht. Oder besser, er sah es nicht. Vielleicht brauchte es jemandem, der es ihm zeigte.
 

Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen. Fast hätte er gelacht, weil so etwas Profanes wie dieses tiefe Knurren ihn aus seinen trübsinnigen Gedanken holte. Allerdings war es auch etwas, mit dem Yoji etwas anfangen konnte. Ein Problem, das er lösen konnte.
 

„Du brauchst was zu essen“, stellte Yoji fest.

Aya sah ihn erstaunt an.

„Dein Magen. Er hat geknurrt. Du musst was essen. Komm mit.“
 

Yoji stand auf und sah über die Schulter zurück. Aya saß immer noch an seinen Platz. Yoji seufzte, drehte sich um und stemmte die Hände in die Hüften.

„Muss ich dich jetzt über meine Schulter werfen und tragen oder kommst du freiwillig mit?“

Langsam stemmte sich Aya vom Tisch hoch und stellte sich vor Yoji.

„Zufrieden?“

„Nein, erst wenn du mitkommst.“

„Wohin?“

„Wirst du schon sehen.“
 

Yoji drehte Aya den Rücken zu und schlenderte los in Richtung Küche. Er war sich sicher, dass Aya ihm dieses Mal folgen würde. Tatsächlich hörte er hinter sich die Schritte des andere Mannes. Er lächelte leicht. Ganz vielleicht hatte er ja auch dessen neugierige Seite ein wenig reizen können. Vielleicht war es aber auch nur die Angst, dass Yoji ihn tatsächlich wortwörtlich auf den Arm nehmen würde.
 

Sie kamen an der Doppeltür an, die zum Küchenbereich führte. Yoji winkte einer Bedienung und wies mit dem Zeigefinger auf die Tür. Er zog fragend die Augenbrauen nach oben. Die junge Frau lachte und nickte. Man kannte ihn hier. Er hatte schon oft den Morgen nach einer durchzechten Nacht hier verbracht und dass er manchmal noch Hunger hatte, wenn die Küche eigentlich schon geschlossen hatte, war bisher nie ein Problem gewesen.
 

Als er Ayas zweifelndes Gesicht sah, nahm er den anderen kurzerhand bei der Hand und zog ihn in die Küche. Drinnen war es ähnlich ruhig wie im Gastraum. Eine Bedienung zählte ihre Bons, einer der Küchenhelfer räumte einen Geschirrspüler aus und ordnete die Gerätschaften für den nächsten Tag. Kein Vergleich mit der betriebsamen Atmosphäre, die noch vor kurzem hier geherrscht haben musste und deren Echos noch zwischen den Küchenzeilen umherwehte. Yoji lotste Aya mit sich zu einem mittelgroßen Mann, der an einem großen Brett stand und Gemüse in kleine Würfel schnitt.

„Masao-San“, grüßte Yoji und schlug dem Mann auf die Schulter. „Mein Mann der Stunde. Ich brauche deine Hilfe.“

„Yoji!“ Der Mann drehte sich lachend herum und wischte sich die Hände an seiner Schürze ab.

„Du weißt, ich habe bereits alles weggeräumt“, jammerte er gespielt verzweifelt. „Hat dich die Damenwelt wieder so lange in Atem gehalten, dass du einen alten Mann von seinem Feierabend abhalten musst?“

„Nein, dieses Mal war ich mit einem Kollegen verabredet. Aber du kennst mich, ich habe verschlafen. Nun hat der Arme meinetwegen nichts zu essen bekommen. Komm, erweiche dein steinernes Herz und mach ihm noch etwas. Bitte. Für mich.“

Der Koch warf einen Blick auf Aya und seine Augen blitzten auf. „Ich sehe, es ist ein Notfall. Na los, setzt euch hinten an einen Tisch. Ich zauber euch noch was.“

Yoji grinste Aya triumphierend an und schob in Richtung eines kleinen Raums, in dem die Küchenarbeiter sonst ihre Pause verbrachten. Hier war es unordentlicher und ein wenig schmuddeliger als im Restaurant. Essensdüfte vergangener Tage schwebten noch in der Luft, alte Zeitschriften lagen herum. Yoji ließ sich auf einen der billigen Stühle fallen und legte die langen Beinen auf einen zweiten Sitz. Aya stand immer noch in der Tür.

„Was tun wir hier?“

„Essen.“

„Aber...“

„Setz dich, sonst wird er sauer.“

Yoji komplementierte Aya auf einen Stuhl und drehte seine eigene Sitzgelegenheit herum, sodass seine Beine nun rechts und links der Lehne herunter baumelten. Nur zwei Minuten später kam Masao mit einem Teller herein. Darauf lag ein frisches Omelette, aus dem kleine, bunte Gemüsepunkte herausspitzten. Er stellte den Teller vor Aya und drückte ihm ein Paar Stäbchen in die Hand.

„Iss. Du siehst aus, als könntest du es brauchen.“
 

Aya starrte auf das Besteck, dann auf den Teller, dann auf Yoji. Der zwinkerte ihm zu und stützte das Kinn auf die Fäuste. Er konnte sehen, wie Aya überlegte. Der Duft des Omelettes begann den kleinen Raum auf appetitliche Weise zu füllen. Ein erneutes Magenknurren gab schließlich den Ausschlag. Aya begann zu essen. Schweigend sah Yoji ihm zu, obwohl er wusste, dass das extrem unhöflich war. Er merkte auch, dass es Aya unangenehm war, aber er musste trotzdem weiter hinsehen. Er wusste nicht warum, aber irgendwie hatte der Anblick auf ihn eine sehr befriedigende Wirkung.
 


 

Aya zwang sich weiter ruhig zu atmen. Einen Bissen nehmen, kauen, schlucken. Eigentlich ganz einfach, wenn da nicht Yoji gewesen wäre, der ihn beobachtete und sich aus unerfindlichen Gründen freute wie ein Schneekönig. Warum, das entzog sich Ayas Verständnis. Vielleicht, weil er Aya dazu gebracht hatte, sein Geheimnis auszuplaudern. Etwas, das ihn nach Ayas Meinung absolut nichts anging. Er brauchte kein Verständnis, keine Hilfe, kein Mitleid.

Ein kurzer Blick bestätigte ihm, dass Yoji ihn immer noch beobachtete. Der Mann war wie ein Mückenstich. Je mehr man versuchte, ihn zu ignorieren, desto mehr wollte man kratzen. Und wenn man dann kratzte, war man erst recht geliefert. Egal was man tat, es wurde schlimmer und schlimmer. Man verfing sich in einem Spinnennetz, aus dem es kein Entkommen gab. Er gab es nur ungern zu, aber er hatte sich verheddert und das sehr gründlich.
 

Bis zu diesem einen Abend vor ein paar Wochen war Yoji nur ein Kollege gewesen; jemand, mit dem er zusammen arbeitete und den er ansonsten nicht weiter beachtete. Inzwischen aber geisterte sein Bild so oft durch Ayas Gedanken, dass es ihn schon aufregte, wenn er darüber nachdachte. Das Absurdeste war, dass er besonders oft an ihn denken musste, wenn er nicht anwesend war. Arbeiteten sie zusammen im Laden, fand Aya eine eigenartige Befriedigung darin, ihn zu ignorieren, wohl wissend, dass das den anderen unglaublich nervte. War er aber allein, fühlte er sich dieser Tätigkeit auf unangenehme Weise beraubt. Vermutlich wurde er inzwischen verrückt.
 

„Schmeckt´s?“
 

Aya atmete tief ein und nahm einen neuen Bissen. War ja klar, dass Yoji nicht einfach die Klappe halten konnte. Tat er ja nie. Was wollte er denn jetzt noch? Dass sich Aya bei ihm bedankte? Da konnte er lange warten.

Ungläubig sah Aya, wie sich plötzlich eine Hand in sein Blickfeld mogelte, ein Stück Omelette schnappte und in Yojis Mund beförderte. Genüsslich kauend grinste der andere ihn an.

„Lass das. Das ist meins“, grollte Aya.

„Tja, so ist das manchmal“, sinnierte Yoji. „Erst will man es nicht haben, aber wenn man es dann wieder hergeben soll, ist es einem auch nicht recht.“

Er leckte sich langsam die Finger ab und sah Aya dabei direkt in die Augen. In Ayas Magen begann es zu kribbeln. Sein Atem beschleunigte sich. Er merkte, dass sein Mund offenstand. Das musste total dämlich aussehen. Schnell presste er die Kiefer aufeinander und legte mit einer entschiedenen Geste die Stäbchen beiseite.

„Ich bin satt. Wenn du den Rest möchtest?“

Yoji schüttelte den Kopf. „Ich will lieber eine rauchen. Kommst du mit?“
 

Aya wurde sich bewusst, dass er im Grunde keine Wahl hatte. Natürlich hätte er mit dem Bus zurückfahren können, aber er wusste nicht einmal wirklich, wo sie waren. Die Vorsicht, die er normalerweise neuen Orten und Menschen gegenüber an den Tag legte, war ihm irgendwie abhanden gekommen. Er war in Yojis Bugwelle mitgeschwommen und hatte sich einlullen lassen von dem trügerischen Gefühl von Sicherheit. Ärger stieg in ihm auf.

Yoji schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Nur ein kleiner Spaziergang am Wasser. Danach bringe ich dich zurück.“

Aya dachte kurz nach. Es war den Aufwand im Grunde nicht wert. Zumal ihm die Aussicht auf eine unter Umständen recht lange Busfahrt mit unzähligen, fremden Menschen auch nicht behagte. So nickte er nur knapp und folgte Yoji. Der Koch winkte ihnen nach, als Yoji ihm noch einen Dank zurief. Aya schwieg, sein Blick auf Yojis Füße gerichtet. Er fühlte sich wie ein Fremdkörper in dieser Welt, die nicht seine war.
 

Draußen wurde es etwas besser. Ein frischer Wind trieb den Geruch des Wassers von ihnen weg. Einige Seevögel kreisten über ihren Köpfen. Yoji steckte sich eine Zigarette an und atmete tief ein. Es fiel Aya auf, das er drinnen nicht geraucht hatte, obwohl das nicht verboten war. Hatte er etwa auf ihn Rücksicht genommen? Schnell schob Aya den unliebsamen Gedanken als unwahrscheinlich beiseite. Warum sollte Yoji das tun? Es ergab keinen Sinn. Aber was ergab schon Sinn bei diesem Chaos auf zwei Beinen? Ein Chaos, das ihn jetzt dämlich angrinste, die Zigarette zwischen den Lippen, die langen Haare vom Wind ins Gesicht geweht, die Daumen lässig in die Hosentaschen der engen Jeans gesteckt.
 

Aya spürte, wie sich seine Mundwinkel ein bisschen bewegten. Fast hätte er ungläubig nach seinem Gesicht getastet. Hatte er etwa gerade gelächelt? Eilig setzte er wieder eine verschlossene Miene auf und ging los an Yoji vorbei auf die Hafenkante zu. Es war ihm egal, ob Yoji ihm folgte. Er brauchte jetzt gerade Raum. Viel Raum. Der Blick auf das Wasser mit der Skyline im Hintergrund genügte seinen Ansprüchen nicht annähernd. Am liebsten wäre er gerannt. Da war so viel in seinem Kopf, was nicht zusammenpasste. Was ihn störte, bei seiner Arbeit und seinen Aufgaben behinderte. Und entschieden zu viel davon hatte mit Yoji zu tun.
 

Schritte kamen näher und holten zu ihm auf. Yoji schnaufte ein wenig.

„Du musst wohl immer die Sportskanone raushängen lassen, was? Ach nein, das ist ja Ken. Vielleicht den gefühllosen Assasinen-Schwertkämpfer?“

Da war er ja wieder, der Mückenstich. Aya gab lieber gleich auf. Schweigen würde ihn ohnehin nicht weiter bringen.

„Gefühle sind in einem Kampf nur von Nachteil. Sie behindern dein Urteilsvermögen und machen dich langsam“, belehrte er Yoji. Der blies die Backen auf und schnaubte.

„Also ich mag meine Gefühle. Sie lassen mich mehr wie einen Menschen und weniger wie einen Eisschrank wirken. Solltest du auch mal probieren.“

Aya blieb stehen und funkelte ihn an. „Was? Was sollte ich probieren?“

„Na leben. Gefühle haben. Spaß haben. Du hast mal gesagt, dass du den Namen deiner Schwester angenommen hast, um an ihrer Stelle weiter zu leben. Ich sage dir, das ist Bullshit. Deine Schwester hat, wenn du es so machst, ein ziemlich armseliges Leben.“
 

Bevor Aya wusste, was er tat, hatte er die Hand zur Faust geballt und damit auf Yojis Nase gezielt. Es knirschte, als er traf, und Sekunden später schoss das Blut aus Yojis Nasenlöchern.

„Oh Scheiße!“, jaulte der auf und beugte sich vor, damit die rote Suppe auf den Asphalt statt auf seine Hosen tropfte. Er spuckte aus, nestelte ein Taschentuch hervor und grinste Aya von unten her schief an.

„Den hab ich wohl verdient. Aber ernsthaft, du solltest mehr Spaß haben.“

Aya antwortete nicht. Er hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, was Yoji unter Spaß verstand, und er war sich ziemlich sicher, dass das nicht sein Ding war.

„Wenn das wieder verheilt ist, gehen wir beide mal aus“, bestimmte Yoji und begann sich, das Taschentuch in die Nasenlöcher zu stopfen. Aya antwortete nicht. Er überlegte, ob das in seinen Ohren wie eine Drohung oder wie ein Versprechen klang. Vermutlich ein bisschen von beidem.

„Yooo-jiii, erzählt es uns nochmal!“

„Oh ja, bitte!“

„Hast du tatsächlich mit zwei Männern gleichzeitig gekämpft?

„Wollten sie wirklich der alten Dame die Handtasche klauen?“

„Hat einer von ihnen dich geschlagen?“

„Oh, der arme Yoji. Seine Schönheit wurde von diesen Monstern geschändet.“

„Wir sollten einen Opferschrein errichten und für seine baldige Besserung beten.“
 

Die Mädchen drängten sich um Yoji, der es sich leise lächelnd auf einem Stuhl bequem gemacht hatte. Jede von ihnen wollte ihre Mitleidsbekundungen, ihre Genesungswünsche, ihre Entrüstung über die schlimme Tat zuerst loswerden. Als es kurz davor war, dass sich drei der Mädchen prügelten, stand Yoji auf und hob schlichtend die Hände.

„Ich bin euch wirklich dankbar, für eure Aufmerksamkeit. Aber wisst ihr, ich muss jetzt wirklich wieder arbeiten.“

„Arbeiten?“ Ein entsetzter Aufschrei ging durch die kleine Traube von Schulmädchen. „Aber Yoji, du kannst doch so nicht arbeiten. Komm, setz dich, die anderen können das doch für dich übernehmen.“

Yoji strich sich bedächtig über das Pflaster, das auf seinem Nasenrücken klebte. Darunter zeichneten sich die Ränder eines Blutergusses ab. Er seufzte und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken.

„Wisst ihr, ihr habt vielleicht Recht. Ich kann es einfach nichts riskieren, die Wiederherstellung meiner Vollkommenheit durch eine unbedachte Bewegung zu gefährden. Womöglich wäre ich dann für mein Leben gezeichnet.“

Wildes Geschnatter antwortete ihm und er bekam einen bösen Blick quer durch den Laden zugeschossen.
 

„Kudo, da wartet noch eine Lieferung auf dich.“

Eines der Mädchen drehte sich zu Aya um und funkelte ihn wütend an. „Wie kannst du nur so etwas sagen? Sieht doch, wie der arme Yoji zugerichtet wurde. Dieser hässliche, brutale Schläger hat ihn total ruiniert.“

Aya schnaubte nur und wendete sich wieder den Blumen zu, die er gerade neu ausrichten wollte. Das Gezwitscher um Yoji herum schwoll wieder an. Ein bösartiger Betrachter hätte vielleicht sagen können, er benutze seine Verletzung als Ausrede dafür, nicht arbeiten zu müssen. Seinen Kollegen war dieser Gedanke auf jeden Fall schon gekommen.
 

Omi lehnte sich über den Kassentresen zu Ken. Er warf einen verschwörerischen Blick auf Aya und Yoji und flüsterte dann: „Erklär es mir nochmal. Ich versteh´s immer noch nicht.“

Ken rollte mit den Augen. „Was ist denn da dran so schwer zu verstehen? Yoji und Aya hatten Streit. Aya hat Yoji eins auf die Nase gegeben. Streit beendet. Männer machen das so.“

Omi runzelte die Stirn. „Ach ja? Das erscheint mir eine dumme Methode zu sein. Sie hätten darüber reden können.“

Ken prustete los. „Aya und Yoji? Vielleicht wenn die Hölle zufriert, aber keinen Tag früher.“
 

Yoji war die schnatternde Herde irgendwann losgeworden und ins Gewächshaus geflüchtet. Grinsend lehnte er sich an die Wand unter dem Oberlicht und steckte sich eine Zigarette an. Er legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch aus. Kurz darauf klappte die Tür; jemand zerrte etwas Schweres über den Boden. Yoji öffnete ein Auge halb und sah Ayas roten Schopf irgendwo in der Nähe des Fußboden herumschwirren. Ein leises Fluchen und mehr Gezerre. Yoji löste sich von der Wand und schlenderte zu Aya hinüber. Interessiert betrachtete er seinen Kollegen dabei, wie der versuchte, den Riss in einem Riesensack Blumenerde zu stopfen. Natürlich ohne Erfolg, denn der Sack hatte nun mal ein Loch und war anscheinend fest entschlossen, seine krümelige, braune Fracht auf dem Fußboden zu entladen.
 

„Du hast da ein Loch“, stellte Yoji fest.

„Ja danke, hab ich auch gemerkt“, knurrte Aya. „An der Türschwelle steht eine Schraube hoch.“

Er ruckelte weiter an dem Sack, bemüht die Stelle mit dem Loch so weit zusammenzufassen, dass er das weitere Herumkrümeln verhindern konnte. Leider war der Sack enorm unkooperativ und kippte schließlich um. Ein Berg Blumenerde ergoss sich bis vor Yojis Füße. Er hob eine Augenbraue.

„Soll ich dir helfen?“

„Nein danke, das schaffe ich allein“, fauchte Aya. „Du bist doch krank.“

„Muss ich dich daran erinnern, wem ich das verdanke?“
 

Ayas Blick hätte in einigen Ländern dieser Erde sicherlich einen Waffenschein erfordert. Yoji seufzte. Dieser Kerl war derart stur. Hatte Yoji etwa erwartet, dass sich daran irgendetwas änderte, nur weil sie ein nettes Frühstück zusammen gehabt hatten? Vermutlich nicht. Nie wäre Aya auf die Idee gekommen, jemanden zu fragen, ob er ihm half, den Sack zu schleppen. Und das Ergebnis ruinierte nun Yojis Schuhe. Irgendwie schien es Karma zu sein.

„Ich gehe einen Besen und Kehrschaufel holen. Du stopfst derweil das Loch und dann tragen wir das schwere Ding gemeinsam nach hinten.“

„Sag mir nicht, was ich tun soll.“

„Ich hab dich auch lieb.“
 

Ups, wo war das denn jetzt hergekommen? Yoji drehte sich schnell um und verschwand rumorend in der Ecke mit dem Putzzeug. Er suchte ziemlich lange nach dem Besen, bis er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte. Er hatte in den letzten Tagen definitiv zu viel von dieser amerikanischen Sitcom gesehen. Die, wo die Frau immer Recht hatte, der Mann ein totaler Sack war und am Ende trotzdem immer bekam, was er wollte. Das schien irgendwie abgefärbt zu haben.

Er „fand“ schließlich das Gesuchte und kehrte zurück zu dem großen Haufen Erde. Aya hatte inzwischen die Ecke mit dem Loch mit einem festen Band umwickelt und so das Loch verschlossen. Schweigend begannen sie, die Erde wieder in den Sack zurückzuschaufeln.
 

Die Tür klappte erneut und Omi betrat das Gewächshaus.

„Hey, ich wollte fragen, ob ich euch was zum Mittagessen mitbringen soll.“ Er sah die Erde und runzelte die Stirn. „Was macht ihr da?“

Yoji setzte ein halbes Lächeln auf. „Wir legen ein Hochbeet an, Omi. Das siehst du doch.“

Das Runzeln wurden tiefer. „Ist das nicht ein bisschen tief unten für ein Hochbeet?“

Yoji sah, dass Omi kurz davor war, sich Ayas Zorn zuzuziehen, obwohl der Kleine nun wirklich nichts dafür konnte. Schnell sprang Yoji ein, bevor Aya Luft holen konnte.

„Wir nehmen gerne was. Das Übliche, du weißt ja. Ach und wollt ihr heute Abend immer noch ins Kino, du und Ken?“

Omis Gesicht hellte sich auf. „Ja, es gibt diesen neuen Actionfilm. Ken hat gemeint, das wäre was für uns.“

„Was dagegen, wenn ich mich anschließe? Mit dem Gesicht kann ich einfach noch nicht unter Leute gehen.“ Yoji wies anklagend auf seine Nase.

„Ja klar, gerne“, nickte Omi. „Halb acht geht’s los.“

„Super, ich bin da.“
 

Yoji schickte noch ein Lächeln hinterher, bevor Omi wieder sie Szenerie verließ. Als Yoji wieder zu Aya sah, konnte nicht umhin, die Veränderung auf dessen Gesicht zu bemerken. Nicht etwas, dass diese groß gewesen wäre, aber Yoji hatte inzwischen ein wenig Übung darin, Aya zu beobachten. Es gab durchaus Abstufungen in den finsteren Blicken und missmutigen Gesichtsausdrücken. Er hatte immer noch schlechte Laune, das war ersichtlich. Aber statt reinem Zorn war da etwas anderes. Yoji konnte nicht den Finger darauf legen, was es war, aber es störte ihn.

„Ist was?“, fragte er gerade heraus, obwohl er sicher war, dass er keine Antwort bekommen würde. So einfach würde Aya es ihm nicht machen. Wenn er eine Antwort wollte, musste er diese schon selber finden.
 

Er schaufelte weiter Erde in den Sack, fegte die Krumen zusammen und reckte sich schließlich, weil ihm von der unbequemen Haltung der Rücken wehtat. Aya band die obere Öffnung des Sacks ebenfalls zu und sah Yoji auffordernd an.

„Bekomme ich ein Bitte?“, neckte Yoji. Ein eisiger Blick antwortete ihm. „Oder ein Danke, wenn wir fertig sind? Du könntest mich zum Essen einladen. Oder ins Kino.“

Er grinste, doch ihm entging nicht, wie die Schattierung des Blicks eine Spur dunkler wurde. War das ein Hinweis? Was hatte er gesagt, dass das ausgelöst hatte? Während er sich endlich dazu bequemte, den Sack mit anzuheben, fiel es ihm auf einmal wie Schuppen von den Augen. Kino. Sie hatten Aya nicht gefragt, ob er auch mitkommen wollte. War es das gewesen? Yoji musterte Ayas Rücken, der ihm zugedreht worden war, kaum dass sie den Sack abgeladen hatten. Vielleicht sollte er...
 

„Hey, Aya, willst du auch mit ins Kino?“

Aya würdigte ihn keines Blickes. Die Stimme war voller Eis. „Ich wüsste nicht, was ich weniger gerne tun würde.“

Ok, das war deutlich gewesen. Mister Fuyimia wollte den Freitagabend also alleine verbringen. Gut, konnte er haben. Yoji würde sich auf jeden Fall amüsieren. Nicht so prächtig wie sonst, aber bestimmt besser als Aya. Sollte der doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.
 


 


 

Die Tür fiel krachend ins Schloss, als Omi und Ken lachend das Haus verließen. Aya ließ sich auf dem Bett zurücksinken und blickte an die Decke. Es war herrlich friedlich im Haus. Kein Geräusch, kein Getrampel auf der Treppe, kein wiederholtes Schlagen der Kühlschranktür, kein ständiges Ein und Aus der Flurbeleuchtung, die jedes Mal einen störenden Lichtstreifen unter seiner Tür hindurch sandte. Er schloss für einen Moment die Augen und genoss das seltene Gefühl der Ruhe.
 

Nach einer Weile griff Aya nach seinem Buch und begann zu lesen. Eine halbe Stunde später war er immer noch auf der gleichen Seite. Die Worte schienen durch seine Augen nicht in sein Gehirn vordringen zu wollen. Frustriert legte er das Buch beiseite und starte wieder an die Decke. Die anfangs so angenehme Ruhe, begann auf seine Ohren zu drücken. Er setzte sich auf. Sein Blick glitt durch das Zimmer, aber es bot ihm nur das gewohnte Bild. Er sah den Schreibtisch an, dachte an den Umschlag, den er dort versteckt hatte und an...nein. Nein, an ihn würde er jetzt nicht denken. Aya sprang vom Bett, durchmaß sein Zimmer mit schnellen Schritten und trat auf den Flur hinaus. Er war menschenleer und ruhig. Zu ruhig. Er begann durch die Wohnung zu tigern auf der Suche nach Ablenkung.
 

Omi hatte seine Zimmertür nicht ganz geschlossen. Aya warf einen Blick hinein und konnte ein Augenrollen nicht verhindern. Hier drinnen herrschte fröhliches Chaos. Der Schreibtisch war garniert mit Schulbüchern und -heften, dazwischen eine aufgerissene Kekspackung und ein halbleerer Softdrink, aus dem bestimmt schon seit drei Tagen die Kohlensäure entwichen war. An der Seite lag ein ausgebautes Computerteil, mehrere Disketten und ein kaputter Dart. Auf dem Bett verstreut lagen etliche Fachzeitschriften und ein Manga neben den Sachen, die Omi tagsüber im Laden getragen hatte. Anscheinend hatte er sich schnell noch umgezogen, bevor sie losgegangen waren.

Aya schloss die Tür, nur um sie zehn Sekunden später wieder zu öffnen, die Sachen vom Bett zu schnappen und in Richtung Badezimmer abzutransportieren. Entschieden warf er sie in den Wäschekorb. Der Korb war halb voll. Normalerweise war morgen Waschtag, aber mit einem halbleeren Korb lohnte es nicht, zum Waschsalon zu fahren. Aya überlegte. Er steckte den Kopf aus dem Bad und musterte Kens Tür mit einem misstrauischen Blick. Der hatte bekanntlich ein Talent dafür, seine Sachen immer ewig in seinem Zimmer zu horten, bis ihm dann mitten in der Woche einfiel, dass er nichts mehr zum Anziehen hatte. Inzwischen hatte er dagegen sogar ein System entwickelt, dass die Sachen in verschiedene Kategorien von Dreckigkeit einteilte, sodass er wusste, in welchem Haufen er in diesen Notfällen noch brauchbare Sachen fand. Anstatt sie einfach zu waschen.
 

Aya unterdrückte nur halb ein Schnauben. Mit einem entschiedenen Griff schnappte er sich den Wäschekorb und machte sich auf, um Kens Zimmer zu filzen. Zwanzig Minuten später kehrte er mit reicher Beute zurück. Der Korb ließ sich nicht mehr schließen. Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach acht. Noch mindestens anderthalb Stunden Zeit für Ruhe und Entspannung.
 

Aya sah zu seiner angelehnten Zimmertür, drehte sich um und ging in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank und starrte hinein. Ein trostloses Bild erwartete ihn. Er hatte kein Licht eingeschaltet und so war die Beleuchtung des Kühlschranks die einzige Lichtquelle. Als er ihn wieder schloss, war es dunkel um ihn herum. Der Bewegungssensor im Flur hatte das Licht dort wieder verlöschen lassen. Aya ließ sich rückwärts gegen die Küchenzeile fallen und blickte aus dem Fenster, durch das ihm die unzähligen Lichter der Stadt entgegen blinkten.
 

Sein Magen fühlte sich eigenartig an. Vielleicht hatte er Hunger. Er nahm einen Apfel aus dem Obstkorb und wog ihn in der Hand. Er atmete tief aus und legte den Apfel wieder zurück. Entschlossen drückte er sich vom Schrank ab, ging schnell durch den Flur und flüchtete in sein Zimmer. Er ließ die Tür ins Schloss schnappen und sank dahinter zu Boden. Neben sich auf dem Teppich sah er einen hellen Streifen unter der Tür hindurch scheinen. Er zählte in Gedanken bis 223. Das Licht im Flur erlosch. Vielleicht sollte er das Intervall des Sensors mal neu einstellen, sodass es länger hell blieb. Ja wirklich, das sollte er tun.
 


 

Ken steckte sich ein Stück Popcorn in den Mund und kaute geräuschvoll. „Also das hat er jetzt nicht gemacht, oder? Mit einem Messer gegen fünf schwer bewaffnete Guerillas? Ist doch totaler Humbug.“

Yoji grinste. „Du weißt doch, die Guten erkennt man immer daran, dass sie mehr Leute umbringen, weil die Bösen einfach nicht zielen können.“

„Ja aber die Szene mit der Explosion war doch total schlecht recherchiert“, moserte Omi. „Mit so wenig Sprengstoff kannst du unmöglich ein ganzes Gebäude in die Luft jagen.“

„Vielleicht hatten die da ihre Benzinvorräte gelagert“, lenkte Ken ein, nahm noch einen Schluck von seiner Cola und ignorierte genau wie seine beiden Freunde die bösen Blicke, die sie von den übrigen Kinozuschauern immer wieder bekamen. Die drei saßen in der hintersten Reihe und nahmen munter weiter den Film auseinander. Yoji hatte seine langen Beine gegen den Vordersitz gestemmt, Ken verschwand fast hinter einem Eimer mit Popcorn und Omi saß im Schneidersitz zwischen den beiden und bediente sich abwechselnd an Kens Popcorn und Yojis Cola.
 

„Oder es war ein geheimes Waffenlager“, frotzelte er gerade. „Aber apropos Waffen. Habt ihr gemerkt, dass der Typ vorhin achtmal geschossen hat, bevor er das Magazin wechseln musste? Ich frage mich, wer da immer nicht aufpasst. Man sollte doch denken, dass bis sechs zählen nicht so schwer ist.“

Yoji stieß Omi in die Seite. „Ruhe jetzt, der Held rettet gerade die vollbusige Blondine. Oh na klar, jetzt muss er sich das Shirt ausziehen, um den kleinen Kratzer an ihrem Bein zu verbinden. Ist euch mal aufgefallen, dass der Typ den halben Film über quasi nur mit freiem Oberkörper rumrennt? Ich meine, wo bleibt denn da die Gleichberechtigung? Ich fordere, dass die Gerettete da jetzt auch blank zieht.“

„Jaaa!“, rief Ken begeistert. „Los, wir wollen auch mal was zu sehen bekommen! Och nö, jetzt schwört sie ihm erst mal stundenlang ihre ewige Liebe. Wer hat denn den Kitsch da reingeschrieben? Das ist ja nicht zum Aushalten.“

„Ich dachte, du stehst auf Kitsch“, stichelte Yoji und fuhr an Omi gewandt fort. „Ken ist nämlich tief in seinem Herzen ein kleiner Romantiker.“

„Ich geb dir gleich mal Romantiker“, knurrte Ken und bewarf Yoji mit einer Hand voll Popcorn.

Yoji grinste ihn breit an. „Ach, und ich hatte das Gefühl, du hast diese süße Kleine heute Morgen doch ein wenig zu lange zur Pflege dieses Spathiphyllums beraten. Ich meine, komm schon. Die Dinger kriegt man quasi nur kaputt, wenn man sie durch einen Fleischwolf jagt.“

„Irgendwer muss die Arbeit ja machen, wenn Euer Hochwohlgeboren sich den ganzen Tag nur hofieren lässt“, murrte Ken und ließ sich tiefer in den Sitz sinken. Er hatte anscheinend nichts mehr zu der Sache zu sagen.
 

Yoji pflückte ein Stück Popcorn von seinem Shirt und warf es zu Ken zurück. „Du solltest die Chance nutzen, Ken, und dich mal ins Nachtleben stürzen. Spätestens in zwei Wochen bin ich wieder hergestellt, dann ist die Damenwelt vor mir nicht mehr sicher. Ich meine, ich würde dich ja mal mitnehmen, aber das wäre nicht fair. Man stellt ja auch nicht ein Gänseblümchen neben eine Orchidee und erwartet, dass es jemand kauft. Hey, Ken, warte!“
 

Ken war aufgesprungen und drängelte sich durch die Reihe der Kinositze nach draußen.

Omi sah Yoji böse an. „Du musst es aber auch immer übertreiben.“

Yoji machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Tut mir leid. Ich bin halt nicht ausgelastet. Sollen wir ihm nachgehen?“

Omi nickte. „Der Film ist eh gleich vorbei. Vielleicht holen wir uns noch einen DVD mit einem guten Film. Eventuell hebt das ja Kens Laune.“
 

Yoji folgte Omi und konnte sein schlechtes Gewissen nicht so ganz ignorieren. Ken wartete draußen mit einem finsteren Gesichtsausdruck. Yoji stieß ihn in die Seite und legte den Arm um seine Schultern.

„War nicht so gemeint, ok? Hat halt jeder so seine eigene Methode.“

„Du bist manchmal echt ein Arsch, Yoji.“

„Ja, aber deswegen liebt ihr mich doch so.“ Yoji blinzelte Ken mit klimpernden Wimpern an.

Der machte entsetzt einen Schritt zur Seite. „Ieh, nimm bloß den Arm weg. Sonst kommt noch jemand auf komische Ideen.“

„Also was jetzt? Holen wir uns noch einen Film?“ Omi stand bereits am Ausgang des Kinos.

„Ja und was zu essen“, ergänzte Ken.“ Ich habe einen Bärenhunger.“

„Du hast gerade einen halben Eimer Popcorn in dich reingestopft“, rief Yoji entsetzt. „Wo lässt du das nur alles?“

„Ich mache viel Sport“, grinste Ken. „Solltest du auch mal probieren.“

„Nein danke, ich stehe mehr auf Matratzensport“, winkte Yoji ab. „Aber beim Film wäre ich dabei. Irgendwelche Vorlieben? Ich lade euch ein.“
 

„Wie wäre es mit Kill Bill? Der hat wenigstens eine gescheite Frauenquote“, schlug Omi vor. „Außerdem stehe ich auf den Animeteil.“

„Du meinst, du stehst auf Gogo Yubari“, grinste Yoji und sah sich fragend um. „Wer ist dafür?“

Drei Hände hoben sich.

„Also gut, dann einmal Vorlage für feuchte Träume für Omi und ne Pizza für Ken und was krieg ich?“

„Noch eine aufs Maul, wenn du nicht gleich ruhig bist und in die Hufe kommst“, bot Ken grinsend an. Yoji hob abwehrend die Hände und gab spitze Schreie von sich, als wäre er eine Jungfrau in Nöten. Lachend versteckte er sich hinter Omi, während Ken versuchte, ihn zu erwischen.

Sie alberten auf dem Weg noch herum und Yoji kam nicht umhin zuzugeben, dass so ein Abend mit Freunden durchaus seinen Reiz hatte. Vielleicht sollte er das öfter machen. Ganz kurz dachte er darüber nach, wie es wohl gewesen wäre, wenn Aya dabei gewesen wäre. Ganz sicher weniger lustig, aber vielleicht auf andere Weise reizvoll. Eventuell konnte er ihn ja noch überreden, sich den Film mit ihnen zusammen anzusehen.
 


 

Als sie in der Wohnung ankamen, war nirgendwo Licht zu sehen. Während sich Omi um den Film und Ken um Teller und Getränke kümmerte, ging Yoji zu Ayas Tür. Er hob die Hand, überlegte kurz und klopfte. Von drinnen war nichts zu hören. Er atmete tief durch und drückte die Klinke herunter.

Die Tür ließ sich nur einen Hauch weit öffnen, dann stieß sie auf ein Hindernis. Was war das? Hatte Aya die Tür blockiert? Yoji schob stärker und wurde mit einem grummelnden Laut belohnt. Er quetschte sich durch den schmalen Türspalt und stand im dunklen Zimmer. Auf dem Boden hinter der Tür saß Aya in sich zusammengesunken und schlief. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, der Körper in einem unmöglichen Winkel gegen die Wand gelehnt, wo Yoji ihn zur Seite geschoben hatte.
 

Yojis Blick wurde weich. Er beugte sich zu Aya herunter, schlang den Arm unter den Achseln hindurch um seinen Oberkörper und zog ihn auf die Füße. Aya murmelte etwas.

„Komm, mein Freund, ich bringe dich ins Bett“, versprach Yoji.

Er legte Aya auf die Matratze, nestelte die Decke unter ihm hervor und breitete sie über seinen Schultern aus. Er betrachtete das schlafende Gesicht einen Moment lang; die entspannten Gesichtszüge, die schmalen Lippen, die jetzt ein Stück weit offen standen. Yoji machte unwillkürlich eine Faust. Ansonsten, so war er sich sicher, hätte er diese Lippen berühren müssen, durch diese Haare streichen müssen und...uff. Yoji fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Das war jetzt nicht, was er erwartet hatte. Das war Neuland. Unerforschtes Territorium mit einem sehr gefährlichen Bewohner.
 

Yoji hörte Omis Stimme, die nach ihn rief. Er warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf das Bett, drehte sich um, schlich aus dem Raum und zog die Tür leise hinter sich zu.

Yojis Wecker zeigte 6:23 Uhr. Sein Besitzer lag wach auf dem Bett und hatte eine Zigarette zwischen den Lippen. Die Aschespitze hatte bereits eine beträchtliche Länge erreicht und drohte bei der kleinsten Bewegung abzubrechen. Allerdings bewegte Yoji sich nicht. Nicht seit er um kurz nach sechs den Wecker ausgestellt und sich wenig später die Zigarette angezündet hatte.

Der Wecker indes schmollte. Hatte er doch einmal seinen Job zu seiner eigenen Zufriedenheit erledigt, nur um herauszufinden, dass der Mann, den er seit Jahren versuchte, pünktlich aus dem Bett zu schmeißen, bereits seit längerem wach lag und nachdachte. Das war einfach nicht fair. Im nächsten Leben würde er eine Stehlampe werden. Der traten zwar alle auf die Füße, aber wenigstens gab es danach immer eine Erleuchtung. Eine solche hätte sein Besitzer allem Anschein nach auch gebrauchen können.
 

Yoji begriff es einfach nicht. Wie hatte er nur so blind sein können? Gut, bei seinem ersten Zusammentreffen mit Aya war er betrunken gewesen und seine alkoholgetränkte Anhänglichkeit war nichts, was ihn im Nachhinein aus der Ruhe gebracht hatte. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er manchmal den Mund etwas zu voll nahm. Die zweite, verdächtige Gelegenheit war diese Sache im Club gewesen. Aber meine Güte, er war in einer Kammer voll mit irrem Sex-Spielzeug gelandet. Wem würde da nicht der eine oder andere Gedanke kommen, selbst wenn man nicht so der Kink-Typ war? Dass er gerne mit Aya zusammen war, war zwar relativ eigenartig, aber vielleicht einfach eine Art von schrägem Helfer-Syndrom. Aber alles zusammen genommen, gepaart mit vielen Kleinigkeiten und dann noch dieser Drang, Aya anfassen zu wollen, während dieser schlief, das war definitiv nicht mehr normal. Also nicht unnormal im Sinne von abartig. Aber ungewöhnlich für einen Yoji Kudo, der normalerweise eher auf hübsche Beine in kurzen Röcken, denn auf flache Hintern in engen Hosen stand.
 

Er brachte es fertig, noch einen Zug aus der Zigarette zu nehmen, bevor sich die Asche endgültig der Schwerkraft ergab. Fluchend wischte er die Bescherung auf den Boden und stellte fest, dass er mal wieder aufräumen könnte. Andererseits hatte er seit Wochen keinen Besuch mehr hier empfangen. Schon gar keinen weiblichen. Noch ein Strich auf der Liste mit verdächtigen Momenten. Yoji kam zu dem Schluss, dass er, wenn es um ihn selber ging, nicht unbedingt der beste Detektiv auf diesem Erdball war. Andererseits kam man wohl kaum durch das Leben, das er führte, ohne ein gewisses Maß an Selbsttäuschung. Immerhin hatte er es herausgefunden, bevor es jemand anderes merkte. Ken oder Omi vielleicht. Oder noch schlimmer: Aya! Er hätte ihm vermutlich nochmal eine reingehauen und dieses Mal die Nase wirklich gebrochen.
 

Yoji erhob sich mit einem Seufzen und schlurfte in Richtung Bad. Das hier war definitiv nicht seine Uhrzeit. Vielleicht würde eine Dusche helfen.

Er drehte das Wasser an, wartete, bis es eine angenehme Temperatur hatte, stellte sich unter den prasselnden Wasserstrahl und blieb eine ganze Weile einfach darunter stehen. Erst als ihm aufging, dass er sich vielleicht waschen sollte, bevor das warme Wasser aufgebraucht war und er mit Seife in den Haaren eine halbe Stunde warten musste, bis wieder neues bereit gestellt war, kam ein wenig Leben in ihn. Er prustete und schüttelte sich, um die Müdigkeit zu vertreiben, wenngleich auch nur mit mäßigem Erfolg.

Während er sich einseifte, kam ihm ein neuer Gedanke. Hatte er eigentlich schon mal mit einem Mann das Bett geteilt? Ja doch, das war auf alle Fälle schon vorgekommen. Diese Fälle waren zwar schon ziemlich lange her und ließen sich an einer Hand abzählen, aber leugnen ließen sie sich auch nicht. Zweifellos hatte sein Interesse dabei eher den ebenfalls anwesenden Damen gegolten. Gut, bei einer dieser Gelegenheiten, bei der er ziemlich betrunken gewesen war, hatte ein recht offenherziger Typ ihm einen nicht ganz üblen Blowjob verpasst. Ansonsten hatte sich Yoji, was Körperkontakt anging, eher zurückgehalten. Was halt so passierte, wenn man nackt zusammen herumturnte, aber nichts, was Yoji dazu gebracht hätte, anzunehmen, dass er an einem Mann ernstere Interesse haben könnte. Wenn er jedoch an Aya dachte... Oh na prima! Die Beweise verhärteten sich.
 

Yoji lächelte schief. Rudimentäre Reste seines Wortwitzes war also noch vorhanden. Vielleicht würde er die ganze Sache dann doch irgendwie durchstehen. Jetzt galt es aber erst mal, sich dem Problem südlich der Gürtellinie zu widmen. War doch gar kein so schlechter Start in den Tag.
 


 

Ken stellte den großen Blumentopf neben die andere Ware, die tagsüber vor dem Blumenladen ausgestellt war. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„So, ich hab den letzten drin. Du kannst zumachen, Yoji.“
 

Keine Reaktion. War der eingeschlafen? Irgendwie hatte Ken schon den ganzen Tag das Gefühl gehabt, dass Yoji etwas neben sich stand. Er stand mehr als sonst im Weg herum und hatte den ganzen Tag über quasi keinen Finger gerührt und das, obwohl sein Pseudo-ich-kann-nicht-arbeiten- weil-ich-ja-so-krank-bin-Pflaster seit vorgestern von seiner Nase verschwunden war. Eine Tatsache, die die Fangirls mit hysterischem Kreischen begrüßt hatten. Eine war sogar in Ohnmacht gefallen. Und Yoji? Der hatte das nicht mal bemerkt. Der ultimative Hinweis, dass etwas nicht stimmte, war aber gewesen, dass er pünktlich zur Arbeit erschienen war. Yoji kam nie pünktlich. Er bildete sich vermutlich ein, dass das ein unwiderstehliches Markenzeichen war. Yoji wartete auf niemanden, man wartete auf Yoji. Aber nicht mit ihm. Ken knirschte mit den Zähnen und schrie dann aus vollem Hals:

„Yoooojiii! Schwing endlich deinen Hintern hier her und bring den Schlüssel mit.“
 


 

Ken Stimme zerrte an Yojis Trommelfell wie ein Hund am Hosenbein des Postboten. Dabei hatte er gerade so ein gutes Versteck gefunden, um ein kleines Nickerchen zu halten. Die viel zu kurze Nacht rächte sich gerade ein wenig. Gerade heute, wo er doch so große Pläne hatte. Er war mit Omi und Ken zum DVD gucken verabredet. Danach wollte er sich zum ersten Mal seit langem wieder ins Nachtleben stürzen. Fast kam es ihm vor, als wäre er etwas aus der Übung geraten. Er hatte ewig gebraucht, um sich für etwas zum Anziehen zu entscheiden. Schließlich war etwas Schlichtes in die Tasche gewandert, die jetzt oben in der Wohnung auf ihren Einsatz wartete. Er hatte nicht vor, es zu verderben. Jetzt musste er aber zunächst Teil eins des Plans in die Tat umsetzen. Yoji betrachtete es als Test. Bekam er das hin, konnte er vielleicht auch noch einen Schritt weiter gehen. Aber eins nach dem anderen.
 

Der Laden war geschlossen; sie machten sich alle vier daran, ihre Arbeitskittel abzulegen. Während Ken und Omi bereits in die Wohnung vorgestürmt waren, hatte Yoji es heute nicht eilig. Ungewöhnlich sorgfältig faltete er den dunkelblauen Stoff und legte ihn in sein Fach.

Aya musterte ihn mit einem unergründlichen Blick. „Du bist noch hier?“

„Ja, ich dachte mir, ich starte meinen Ausgang heute mal mit einer kleinen gemütlichen Runde unter Freunden. Also, was willst du essen?“

Ayas Blick schwankte leicht zwischen Verwirrung und Abweisung. „Essen?“

„Ja, wir bestellen was und gucken einen Film. Schlägst du dich zu Ken auf die Actionseite oder kommst du zu Omi und mir? Wir wollten heute lieber was Lustiges gucken.“

„Ich...ich wollte...ich werde...“
 

Was für ein Anblick! Aya verwirrt. Das war ein ungefähr so rar wie ein Lächeln von ihm. Aber Yoji machte sich keine Illusion. Wenn Aya er weiter in dieser Verwirrung beließ, würde der eiserne Vorhang wieder fallen. So legte er ihm den Arm um die Schultern und bugsierte ihn sanft aber bestimmt die Treppe hinauf in die Küche, wo Omi und Ken schon über der Karte des Restaurants gegenüber brüteten. Ken saß auf seinem Stuhl, während Omi halb auf dem Küchentisch hing und mit den Zehen auf der Sitzfläche seines Sitzmöbels balancierte. Als Yoji und Aya eintraten, sahen die beiden auf. Ihre Gesichter zeigten Überraschung.

„Habt ihr schon was ausgesucht, dann gebt Aya mal die Karte“, wies Yoji sie an. „Er isst mit uns zusammen.“

Während Omis Gesicht sich aufhellte, runzelte Ken die Stirn. Er warf einen langen Blick aus dem Fenster.

„Was suchst du, Ken-kun?“, wollte Omi wissen.

„Ich habe nur nachgesehen, ob es draußen vielleicht Gummibärchen regnet. Das hätte mich an diesem Tag nämlich auch nicht mehr gewundert.“

„Ken!“ Omi knuffte ihn in die Seite. „Sei nicht unhöflich. Wir freuen uns sehr, dass Aya sich uns anschließt. Oder Yoji?“

„Unbedingt“, stimmte Yoji zu und musste sich ein Lachen verkneifen. Das lief gar nicht mal so schlecht. Auf jeden Fall ließ sich Aya tatsächlich dazu hinreißen, die Karte anzunehmen, zu studieren, und schließlich eine Nummer zu nennen. Omi hängte sich ans Telefon und erklärte sich bereit, die Bestellung in einer halben Stunde abzuholen. Yoji hingegen ließ Aya nicht zur Ruhe kommen und drückte ihm alles mögliche in die Hand, das er ins Wohnzimmer bringen sollte. Nicht alles davon würden sie wirklich brauchen, aber es hielt Aya hoffentlich lange genug vom Nachdenken ab.
 

Während sie ihr Abendessen gleich aus den verschiedenen Schächtelchen und Boxen heraus zu sich nahmen, schoss Yoji den nächsten Pfeil ab.

„Hey, ich will nach dem Film noch losziehen. Will vielleicht jemand mitkommen? Anwesende Omis ausgeschlossen.“ Er zwinkerte ihrem Jüngsten zu, der ihm die Zunge rausstreckte.

„Ken?“

Ken würdigte ihn keines Blickes.

Yoji wurde etwas lauter. „Ke-hen! Ob du mitkommen willst.“

„Warum?“, grummelte der in seine Nudeln. „Brauchst du noch ein Gänseblümchen an deiner Seite?“

„Och, bist du deswegen etwa immer noch sauer?“ Yoji tat beleidigt, hakte aber diese Hürde auf seiner geistigen Liste ebenfalls ab. Jetzt fehlte nur noch der Höhepunkt.

„Was ist mit dir Aya? Lust mit mir ein paar Clubs unsicher zu machen?“
 

Der Blick aus dem amethystfarbenen Augen war unbezahlbar. Bei normalen Menschen wäre Yoji dieser Blick vermutlich zuteil geworden, wenn er sie gefragt hätte, ob er ihr linkes Bein absägen dürfte. Oder ihre Katze essen.

„Nein“, war allerdings die einzige Verbalisierung des Gesichtsausdrucks. Yoji war unzufrieden. Da ging doch noch mehr.

„Wirklich nicht? Wir hätten bestimmt ne Menge Spaß zusammen.“

„Nein.“

Na dann eben nicht. „Aber den Film guckst du doch mit?“

Er hielt zwei DVDs hoch. „Mad Max oder König der Löwen?“

Ayas nächster Blick stellte klar, dass er an Yojis Geisteszustand zweifelte. Yoji wedelte mit den Filmen. Aya rollte mit den Augen und tippte auf den König der Löwen. Yoji hätte sich beinahe verschluckt. Okaaayyy, das war unerwartet. Er riss sich zusammen und drehte sich mit einem triumphierenden Grinsen zu Ken um.

„Drei zu eins verloren.“

Ken murrte. „Ich mag den Film nicht. Ich muss am Anfang immer heulen.“

„Am Anfang? Du meinst, an der Stelle, wo der Vater stirbt?“, stellte Omi klar.

„Nein, am Anfang, wo sie das Löwenbaby hochheben. Das ist so...ach man, hört auf zu lachen, ihr Arschlöcher!“
 

Während Omi versuchte, Ken zu beruhigen, musterte Yoji unauffällig Aya. Der saß in seinem Sessel und hatte einen, für seine Verhältnisse, friedlichen Gesichtsausdruck. Fast konnte man meinen, es gefiele ihm, hier zu sein, auch wenn er quasi dazu genötigt worden war. Yoji erinnerte sich an das, was Aya ganz am Anfang zu ihm gesagt hatte. Dass man ihn sich einfach nehmen musste. Yoji konnte nicht verhindern, dass dieser Satz, im neuen Kontext betrachtet, einen Schauer seinen Rücken hinunter bis in seine Lendenregion jagte und interessante Bilder in seinem Kopf entstehen ließ, die ihn daran hinderten, etwas mit in die Küche hinauszutragen.
 

Yoji verbrachte den Film in einem angenehmen Halbschlaf, der ihn etwas der verlorenen Nachtruhe regenerieren ließ. Als die Schlussmelodie angestimmt wurde, stand Aya auf und verließ mit einem kurzen Gruß den Raum. Niemand hielt ihn auf. Ken und Omi verschwanden im Bad, um sich kurz darauf in die zweite Runde zu stürzen, während Yoji sich umziehen ging.
 

Als er in den Spiegel sah, konnte er nicht umhin, breit zu grinsen. Er schob sich die Sonnenbrille auf die Nase und musterte sich zufrieden. Ja, das würde hinhauen. Nicht übertrieben, aber definitiv heiß. Ein Hauch Eau de Toilette und ein letzter richtender Griff in den Schritt, dann war er bereit.

„Showtime, Yoji!“
 


 


 


 


 

Es klopfte an Ayas Zimmertür. Bevor er antworten konnte, wurde sie bereits geöffnet und Yoji kam herein. Es trug eine enge, dunkle Lederhose und ein dunkelgrünes T-Shirt, das seinen Bauch unbedeckt ließ. Mit anderen Worten: Er war kurz davor, sich ins Nachtleben zu stürzen.

„Was willst du?“, knurrte Aya und blickte wieder in sein Buch.

„Wir gehen aus.“

Yoji wartete keine Antwort ab, sondern öffnete Ayas Schrank und fing an, seine Kleidung zu durchwühlen. Aya blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Er kam nicht einmal auf die Idee, Yoji körperlich von diesem dreisten Eindringen in seine Privatsphäre abzuhalten.

„Sag mal, hast du was mit den Ohren?“, fauchte er endlich. „Ich habe gesagt, ich komme nicht mit. Und nimm deine Finger von meinen Sachen.“

„Natürlich habe ich dich gehört. Genau wie alle anderen.“ Yoji war fertig mit seiner Suche und klappte den Schrank zu. „Deswegen hast du auch das perfekte Alibi. Jeder wird denken, dass du deinen restlichen Freitagabend hier in deinem Elfenbeinturm verbringst. Nicht der Hauch eines Verdachts, dass du dich etwa wie der unzuverlässige Yoji auf irgendwelchen Partys herumtreiben und vielleicht daran auch noch Spaß haben könntest. Also los, zieh dich um.“

Yoji warf Aya eine schwarze Hose und ein ebensolches Shirt an den Kopf. Aya musterte die Sachen. Es waren die gleichen, die er bei dem Einsatz im Club getragen hatte.

Das soll ich anziehen?“

„Klar. Ist doch gewaschen. Oder meinst du vielleicht, ich nehme dich so mit. Oder in diesem fürchterlichen, orangen Rollkragenpullover? Ich habe schließlich einen Ruf zu verlieren.“
 

Aya sah zu Yoji, der sich mitten im Zimmer postiert hatte und ihn auffordernd ansah. Es war klar, dass er nicht gehen würde. Seinen ruhigen Abend konnte Aya somit vergessen. Er musste zwar zugeben, dass der erste Teil überraschenderweise recht angenehm gewesen war, aber sein Quantum an menschlicher Gesellschaft war für heute definitiv erfüllt. Yoji hingegen schien das anders zu sehen. Aya seufzte innerlich. Wahrscheinlich war es am einfachsten, wenn er einfach mitkam. Langsam erhob er sich vom Bett.

„Warte unten, ich bin in fünf Minuten da.“

„Lass mich nicht zu lange warten, Prinzessin“, grinste Yoji und verschwand.
 

Als Aya die Treppe hinunterkam, stand Yoji bereits vor dem Laden und rauchte. Er sah Aya kommen, warf er die Zigarette auf den Gehweg und trat sie mit dem Fuß aus.

„Das ist verboten“, informierte Aya ihn.

„Mir ist heute eben nach was Verbotenem“, lachte Yoji. „Fährst du oder soll ich?“

„Ich fahre“, bestimmte Aya. Das fehlte ihm gerade noch, dass er sich ständig auf den Beifahrersitz verbannen ließ.

„Soll mir recht sein“, meinte Yoji achselzuckend und stieg nach Aya in dessen Porsche ein.
 

Sie brauchten nicht lange, um in die Innenstadt zu kommen, dafür umso länger, um einen Parkplatz zu finden. Die endlose Flut der bunten Lichter spiegelte sich in den Autoscheiben, während sie durch die belebten Straßen fuhren. Es blinkte und funkelte überall, wo man hinsah. Kaskaden in rot, gold, grün, grellem blau und violett huschten über sie hinweg, hüllten sie ein und fluteten Ayas Sinne, während er versuchte, am Straßenrand einen freien Platz zu erspähen. Aya fluchte ein wenig, als sie sich in die viel zu enge Parklücke zwängten. Da waren Kratzer vorprogrammiert.

„Hey, entspann dich. Das nächste Mal fahren wir mit der Bahn, ok? Ich war mir nur nicht sicher, ob du so viel Stehvermögen hast, bis morgens um fünf durchzuhalten.“

Yoji boxte ihn spielerisch mit dem Ellenbogen in die Seite und breitete dann die Arme aus.

„Ah, süße Versuchung. Wir sind bereit uns dir zu ergeben. Ich rieche quasi schon den Spaß.“

Aya schnupperte. Er konnte neben Abgasen bisher nur den Imbisswagen an der Ecke riechen.
 

Während Yoji sich eine neue Packung Zigaretten besorgen ging, beobachtete Aya die Menschenmengen, die vorbeizogen. Da waren Geschäftsleute und Jugendliche, bunt herausgeputze Gestalten neben Anzügen, kreischende Mädchengruppen, verliebte Pärchen und coole, schweigsame Einzelgänger. Sie alle schienen in Bewegung auf ein unbestimmtes Ziel zu. Es wirkte wie ein Ameisenhaufen, an den jemand Feuer gelegt hatte. Tief in seinem Inneren wünschte sich Aya zurück in die Abgeschiedenheit seines Zimmers, doch ein anderer Teil von ihm fühlte ein gewisses Kribbeln in sich aufsteigen.

Er drehte den Kopf und sah, dass Yoji ihn beobachtete. Als der Ayas Blick bemerkte, grinste er nur.

„Bereit oder nicht, jetzt geht’s los.“

„Wo gehen wir hin?“, wollte Aya wissen.

„Das wirst du dann schon sehen“, antwortete Yoji kryptisch.
 

Sie zogen durch die belebten Straßen. Aya kam zu der Erkenntnis, dass dies wirklich Yojis Element war. Wo Aya sich gegen den Strom bewegte, trieb Yoji einfach mit den Menschenmassen dahin. Er fand ständig unentdeckte Lücken in den sich zusammenballenden Gruppen und wo Aya sich mit Hilfe seiner Ellenbogen Platz gemacht hätte, wich Yoji einfach aus und zog Aya mit sich. Wann immer das geschah, entwand Aya ihm seine Hand Sekunden später wieder. Diese Angewohnheit war ihm an Yoji noch nie aufgefallen. Vielleicht hatte er Angst, dass ihm Aya abhanden kam. Trotzdem fand Aya diese ständigen Berührungen irritierend.
 

Yoji schleppte ihn außerdem immer wieder in irgendwelche Bars, in denen sie manchmal nur Minuten blieben. Er begrüßte die eine oder andere Dame oder auch mal einen der Männer, die dort herumstanden, stellte Aya vor, wechselte ein paar Worte und schwirrte dann schon wieder weiter. Aya vermochte kaum ihm zu folgen. Es war eine bunte, fremde und laute Welt, in die er nicht recht hineinzupassen schien. Schließlich entschied sich Yoji für eine Karaoke-Bar und nötigte Aya, sich in eine Eckbank zu quetschen, auf deren anderer Seite bereits zwei junge Frauen saßen, die die jeweiligen Sänger mit Klatschen und anfeuernden Rufen begleiteten.
 

Yoji zwinkerte den beiden zu und wies auf Aya. „Nur gucken, Mädels, nicht anfassen.“
 

Die beiden kicherten und fingen an zu flüstern. Aya sah ein wenig hilflos zu, wie Yoji an der Bar verschwand und ihn mit diesen beiden albern kichernden Frauen alleine ließ. Er schoss einen finsteren Blick auf sie ab, der die beiden dazu brachte, sich wieder der Bühne zuzuwenden, wo gerade ein leicht korpulenter Mittdreißiger ein schmalziges Liebeslied für seine Angebetete herunter leierte. Aya fühlte sich versucht, die Bar stehenden Fußes wieder zu verlassen, als Yoji bereits wiederkam und sich neben ihn in die Bank schob. Er stellte eine Flasche vor Aya ab, die augenscheinlich ein Mischgetränk mit Alkohol enthielt.
 

„Ich trinke nichts“, sagte Aya.

„Was?“, fragte Yoji und hielt sich die Hand an sein Ohr, als hätte er nicht verstanden. „Das ist dir nicht stark genug? Na da habe ich noch was für dich.“ Er zauberte noch zwei kleine Flaschen mit ungleich zweifelhafterem Inhalt.

„Rot oder grün?“

Aya schüttelte den Kopf.

„Ich trinke nichts.“, wiederholte er.

„Oh doch, das wirst du“, widersprach Yoji. „Du schuldest mir noch was. Also los, runter damit. Oder ich hetzte die beiden Hühner auf dich.“

Er nickte mit dem Kopf zu den beiden Bankbesetzerinnen, die sich schon wieder etwas ins Ohr flüsterten und dabei immer wieder zu Aya und Yoji hinüber schielten.

„Also entweder trinkst du jetzt mit mir oder mit ihnen.“

„Das ist Erpressung“, grollte Aya.

Yoji grinste. „Erpressung ist mein zweiter Vorname. Komm schon, du brauchst was, um ein bisschen lockerer zu werden. Ist auch der letzte für heute.“
 

Es entzog sich Ayas Kenntnis, warum er Yoji etwas schuldete oder warum der ihn unbedingt hatte mitnehmen wollen. Er gehörte einfach nicht hierher. Ayas Augen wanderten zu der kleinen Flasche. Vielleicht war Alkohol in dem Fall doch eine Lösung. Er schraubte den Verschluss ab und stürzte den bunten Inhalt hinunter. Es war widerlich süß und kratzte im Hals, sodass er ohne nachzudenken mit dem anderen Getränk nachspülte.
 

Yoji betrachtete ihn amüsiert. „Du hast ja einen guten Zug am Leib dafür, dass du nichts trinkst.“

Aya fühlte, wie sich die Wärme des Alkohols von seinem Magen her in seinem Körper ausbreitete. Als sie seinen Kopf erreichte, begann er tatsächlich, sich ein wenig zu entspannen. Die Musik erschien etwas weniger laut, das Lachen der Frauen neben ihm einen Hauch weniger schrill und die Tanzbewegungen der zwei jungen Kerle, die gerade versuchten, irgendeinen Rap-Song zum Besten zu geben, wirkten eine Winzigkeit weniger albern. Immer noch albern, aber auf eine rudimentär erheiternde Art und Weise. Er nahm noch einen Schluck aus der Flasche und lehnte sich zurück. Er bemerkte erst jetzt, dass Yoji seinen Arm auf der Rückenlehne drapiert hatte.

Aya wollte sich wieder auf den Tisch vorlehnen, indem er vorgab, zu seinem Getränk kommen zu wollen, aber seine Reaktion war durch den Alkohol verlangsamt. So hatte Yoji bereits nach Ayas Flasche gegriffen und sie ihm in die Hand gedrückt. Er lächelte und prostete Aya zu, bevor sich seine Aufmerksamkeit wieder der Bühne zuwandte. Aya zwinkerte ein paar Mal und stellte fest, dass er immer noch an der Rücklehne und somit an Yojis Arm gelehnt da saß.
 

„Sagt Cheeese!“, rief es plötzlich vor ihm und ein Blitz flammte auf. Eine der beiden jungen Frauen hatte ein Handy gezückt und ein Foto von ihnen geschossen. Kichernd starrten die beiden auf den Bildschirm, während ihre Blicke immer wieder zu Yoji und Aya huschten. Aya wollte gerade nach dem Handy greifen, um das Foto wieder zu löschen und das Gerät am besten gleich in die Menge zu feuern, als Yojis Hand sich auf seine Schulter legte und ihn sanft wieder ins das Sitzpolster drückte.

„Lass sie“, raunte er ihm ins Ohr. „Die beiden sitzen hier mit zwei gutaussehenden, jungen Kerlen von denen der eine blond und sexy und der andere dunkel und geheimnisvoll ist. Jetzt wollen sie bei ihren Freundinnen ein bisschen damit angeben. Gönn ihnen doch den Spaß.“
 

Aya zog die Augenbrauen zusammen und schenkte den beiden albernen Gänsen noch einen finsteren Blick. Erst langsam tröpfelte das, was Yoji gesagt hatte, in sein Gehirn vor. Dunkel und geheimnisvoll? So wirkte er auf andere? Das war nicht, was er beabsichtigte. Eigentlich hatte er sich überhaupt noch nie besonders Gedanken darüber gemacht, was andere von ihm dachten. Er brütete vor sich hin und nahm gedankenverloren die zweite Flasche entgegen, die Yoji ihm irgendwann reichte. Dunkel und geheimnisvoll. Tzz.
 


 

Etliche Zeit später war auch Yoji endlich das Gegröle der anderen Gäste leid und sie verließen die Bar wieder. Ein wenig langsamer als am Anfang wurden sie von der partywütigen Meute durch die Straßen getragen. Unzählige Leuchtschriften und Reklameschilder erhellten die Dunkelheit über ihnen und ließen den Nachthimmel seltsam fern wirken. Aya zog seinen Mantel fester um sich, da es inzwischen recht kühl geworden war. Er hatte das Gefühl, er sei in einer kleinen, bunten Schneekugel gefangen, in der es keine Sorgen, keine Probleme, kein Morgen gab. Einzig der Augenblick zählte und er konnte nicht behaupten, dass das keinerlei Wirkung auf ihn gehabt hätte. Es lud dazu ein und lockte ihn, sich einfach mitziehen zu lassen. Es machte sogar auf eine seltsame Weise Spaß, Yoji dabei zu beobachten, wie er sich amüsierte, während die bunten Lichter ihn in Szene setzten wie einen Schauspieler auf einer Bühne.
 

Sie waren bereits eine Weile unterwegs, als Yoji einen Club ansteuerte. Der Türsteher nickte nur, als er Yoji sah und ließ sie beide passieren.
 

„Wir sind noch ein bisschen früh, aber ich brauch was zum Aufwärmen“, erklärte Yoji, der sich auf der Straße nicht die Mühe gemacht hatte, seine Jacke zu schließen.

Er ging an die Bar und kam mit dem Barkeeper ins Gespräch. Aya maß derweil das Etablissement mit einem prüfenden Blick. Das Herz des Clubs bildete eine Tanzfläche, die von einem Rundgang umschlossen wurde. Es folgten zwei Ebenen mit Stehtischen, wie der, an dem Aya sich gerade befand. Die meisten von ihnen waren besetzt, die Leute unterhielten sich und wippten im Takt der Musik. Einige Mädchen tanzten auch neben der Tanzfläche, obwohl diese durchaus noch Platz bot. Den Abschluss bildeten Nischen an den Clubwänden, in denen man sich zu einer Unterhaltung zurückziehen konnte, wenn man es denn über die Lautstärke der Musik hinweg schaffen sollte, auch nur ein Wort zu verstehen.
 

Yoji kehrte mit zwei Gläsern zurück. Das eine enthielt eine klare Flüssigkeit mit ein paar Eiswürfeln, von der Yoji gerade einen Schluck nahm. Das zweite war mit einer schreiend bunten Mischung gefüllt. Er stellte das Glas vor Aya ab.

„Keine Angst, kein Alkohol dieses Mal. Ich fand nur, du sahst aus, als könntest du ein Schirmchen vertragen.“

„Schirmchen?“ Aya musterte das Getränk und sah den kleinen, bunten Papierschirm, der am Rand neben einem Stück Ananas klemmte. Seine linke Augenbraue wanderte nach oben.

„Cheers!“, rief Yoji und stieß mit seinem Glas gegen Ayas.

Aya nahm das Glas und nippte vorsichtig. Es war ziemlich süß, größtenteils wohl Fruchtsaft, aber mit einer prickelnden, minzigen Note, die gar nicht mal so unangenehm war. Er nahm einen zweiten Schluck.

„Ist das ok?“, wollte Yoji wissen. Aya nickte leicht. Er war eigentlich ganz froh, dass er etwas hatte, an dem er sich festhalten konnte, auch wenn es nur ein Glas mit einem Schirmchen darin war.
 

Ein neues Musikstück wurde aufgelegt und Yojis Gesicht begann zu strahlen.

„Ich liebe diesen Song. Kommst du mit zum Tanzen?“

Aya schüttelte den Kopf. „Nein, geh nur. Ich hab ja mein Schirmchen.“

Yoji hob beide Daumen und begab sich auf die Tanzfläche. Er begann, sich rhythmisch im Takt der wummernden Bässe und rollenden Beats zu bewegen, und Aya konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Yoji tanzte mit einem Mädchen neben sich, bewegte sich an und gegen sie. Sein Körper floss förmlich immer passend zum Lied, zum Text, zu seiner Partnerin.

'Wie ein Fisch im Wasser', schoss es Aya durch den Kopf. Er hatte Yoji noch nie tanzen sehen, aber er musste zugeben, dass es wirklich ein anziehender Anblick war. Als hätte Yoji das gehört, sah er plötzlich zu Aya hinüber. Er grinste und verließ die Tanzfläche.
 

„Mitkommen!“, kommandierte er und zog Aya wie schon so oft an diesem Abend einfach mit sich ins Gedränge. Mit einem Mal befand sich auch Aya mitten unter zuckenden, wippenden, sich drehenden Körpern und fühlte eine milde Panik aufsteigen. Yoji lachte und stupste ihn leicht gegen die Brust.

„Du bist doch nicht aus Holz. Los, beweg deine Füße ein bisschen. Die meisten Typen hier machen auch nichts anderes, aber sie tun wenigstens so, als könnten sie tanzen.“

'Aus Holz', dachte Aya bei sich und lachte leicht über den Vergleich. Ja, das konnte schon hinkommen. Wo Yoji sich wie ein Delfin durch die Menge tauchte, kam sich Aya vor wie ein Stück Treibholz. Er schwamm obenauf, gehörte nicht richtig dazu und war allen im Weg.
 

Die Tanzfläche wurde langsam voller und Aya wurde dichter an Yoji gedrängt. Der grinste und nahm den Faden auf. Er bewegte sich gegen Aya, so wie er es noch vor Kurzem mit der jungen Frau gemacht hatte. Aya war das einerseits unangenehm, andererseits konnte er seinen Blick nicht abwenden. Yojs Bewegungen hatten etwas hypnotisches, mitreißendes, dem sich auch Aya nicht entziehen konnte. Er begann, sich ebenfalls im Takt der Musik zu bewegen, was Yoji zum Anlass nahm, noch ein wenig näher zu kommen. Er umrundete Aya, der die Bewegung hinter sich nun nur noch spüren, statt sehen konnte. Aya schloss für einen Moment die Augen.
 

Die Musik wechselte plötzlich zu einem etwas langsameren Stück, dessen durchdringender Bass und scharfen Klavierklänge bis in Ayas Magen hämmerte. Stückes des Textes wehten über ihn hinweg.
 

Hey, hey man, what´s your problem?
 

Maybe you should reconsider, come up with another plan
 

Die Welt um ihn herum schien sich zu drehen, sein Körper bewegte sich wie von selbst. Hände, Arme, Schultern, Hüften schwangen im Rhythmus der Musik, die ihn mit sich riss.
 

You can push me out the window

I'll just get back up

You can run over me with your 18 wheeler truck

And I won't give a fuck

You can hang me like a slave

I'll go underground

You can run over me with your 18 wheeler but

You can't keep me down
 

Yoji hatte sich wieder vor Aya getanzt und war noch ein Stück näher gekommen. Er hielt Ayas Blick fest und lächelte leicht, während sich sein Körper im gleichen Takt bewegte.
 

Hey hey girl, are you ready for today?
 

Cause it´s time to play the games
 

You are beautiful even though you're not for sure
 

Der Abstand zwischen ihnen hatte sich inzwischen soweit verringert, dass sie sich bei jeder Bewegung unwillkürlich berührten. Die dröhnende Musik, die flackernden Lichter, alles verschwamm um Aya herum zu einem Kokon aus Tönen und Farben, in dem er mit Yoji tanzte. Es war überwältigend, aufregend, anders. Als befände er sich nicht mehr in seinem Körper, sondern bestünde selbst nur noch aus Musik und Bewegung. Plötzlich verschwand das Licht von der Tanzfläche, das Stück legte eine ruhigere Pause ein, der Gesang verstummte zu einem Murmeln.
 

Everywhere that I go there's someone waiting to chain me

Everything that I say, there's someone trying to shortchange me
 

Aya spürte Hände an seiner Hüfte, die ihn an sich zogen, einen festen Körper, der sich an ihn drängte, warme Lippen, die sich auf seine legten. Er roch Rauch, Gin, Zitrone, Kaugummi. Nur einen flüchtigen Moment lang, solange die Lichter um sie herum schwiegen. Dann war der Moment vorbei, die Berührung verschwand, die Scheinwerfer flammten wieder auf, der Bass kehrte zurück.
 

And I'm not gonna break
 

Yoji warf die Arme in die Luft und schmetterte den Refrain mit, während Aya völlig bewegungslos und allein auf der Tanzfläche stand. Was war das gewesen? War es...hatte etwa...Yoji? Er blinzelte gegen die flackernde Helligkeit an, erhaschte einen Blick auf Yoji, der ein fettes Grinsen auf dem Gesicht hatte. Aya fühlte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. Das konnte jetzt gerade unmöglich passiert sein. Yoji hatte doch nicht...

Ein neues Musikstück begann und Aya ließ sich willenlos von Yoji von der Tanzfläche schieben. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich kurz darauf an seinem Schirmchen-Glas fest und bereute ganz kurz, dass sich in dem süffig-süßen Getränk kein Alkohol befand. Er hatte das Gefühl, er hätte gerade einen weiteren Schluck vertragen können.
 

Er hielt den Blick fest auf die kleine Wasserpfütze gerichtet, die sich rund um das Glas gebildet hatte. Unmöglich, dass er Yoji jetzt ansah, wo der doch...Aya konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Vermutlich war Yoji betrunken und hatte ihn mit einem Mädchen verwechselt. Oder es war alles nur ein schlechter Scherz gewesen. Er fühlte Ärger in sich aufsteigen. Er mochte es nicht, wenn man sich über ihn lustig machte. Wahrscheinlich war dieser ganze Abend eine dumme Idee gewesen.
 

Yohi schob sich mit einem Mal dicht neben ihn, sein Atem streifte Ayas Ohr.

„Ich hab´s mir überlegt. Du bist auch ziemlich sexy, wenn du tanzt. Möchtest du vielleicht woanders hingehen.“

Ayas Kopf schnappte nach oben. Seine Augen wurden schmal. Was meinte Yoji damit?

„Hey, guck mich doch nicht so an“, lachte der. „Ich habe nur gedacht, dir ist vielleicht nach etwas ruhigerem. Ähm...möchtest du noch was Trinken?“

„Cola“, antwortete Aya, ohne lange nachzudenken. Koffein erschien ihm gerade nicht das Schlechteste.

„Kommt sofort“, flötete Yoji. Er nahm Ayas Glas in die Hand, zupfte das Schirmchen vom Rand und trat auf Aya zu. Ganz sanft schob er das Schirmchen hinter Ayas Ohr. Er kicherte und brachte sich vor Aya in Sicherheit, der nach ihm schlagen wollte. Als Yoji weg war, nahm Aya das Schirmchen wieder herunter und drehte es zwischen den Fingern. Er war sich jetzt sicher, dass Yoji betrunken war. Es war ein Spaß gewesen und hatte nichts bedeutet. Mit einer entschiedenen Geste zerknüllte Aya den kleinen Papierschirm und warf ihn auf den Boden.

'Scheiße!'

 

Mit jedem Schritt, den er sich von Aya entfernte, bröckelte die Euphorie von Yoji ab wie Farbe von einer zu feuchten Wand. Was hatte er getan?!

 

'Scheißescheißescheiße!'

 

Er wurden langsamer, bis er schließlich stehen blieb, als er außer Sichtweite war. Am liebsten hätte er seinen Kopf gegen eine der spiegelbesetzten Säulen geschlagen.

 

'Yoji Kudo, du bist so ein Riesen-Rindvieh!'

 

Yoji versuchte nicht einmal, sich zur Bar vorzuarbeiten, sondern wartete ein Stück weit davon entfernt ab, bis er an der Reihe war. Was hoffentlich noch eine Weile dauern würde. Was hatte er sich nur dabei gedacht, Aya zu küssen? Positiv war natürlich zu vermerken, dass er nicht ausgeknockt auf dem Boden der Tanzfläche lag. Andererseits war es jetzt auch nicht so, dass Aya irgendwie auf den Kuss reagiert hatte.

Aber was hatte er denn gedacht, was passieren würde? Gar nichts, wie üblich. Damit hatte das Problem ja angefangen. Er hatte sich aus einer Laune heraus einfach auf ihn gestürzt, ohne auch nur ein bisschen an die Konsequenzen zu denken. Also an ernsthafte Konsequenzen, nicht nur welche, die bis zu dem Moment reichten, in dem er Aya in eine dunkle Gasse zerrte, ihn gegen eine Wand drückte und anfing, ihm die Kleider vom Leib zu reißen. Oh, wie sehr er das gerade wollte...

Er musste definitiv aufhören, Alkohol zu trinken. Sonst, so fürchtete er, würde das heute Abend tatsächlich noch passieren. Nur würde er dann vermutlich in genau jener Gasse als blutiger Überrest eines menschlichen Lebens sein unrühmliches Ende finden.

 

Wahrscheinlich war es das Beste, wenn er einfach tat, als wäre nichts passiert. Aya hatte das ja schließlich auch getan. Auf Yojis Flirtversuch hinterher war er zumindest nicht eingestiegen. Aber war Aya überhaupt an Männer interessiert? Oder an irgendeiner Art von physischer Kontaktaufnahme? Yoji musste gestehen, dass er sich über Ayas Liebesleben noch nie so wirklich Gedanken gemacht hatte. Allein die zwei Wörter zusammen in einem Satz waren schon mehr, als sein Kopf gerade in der Lage war zu bewältigen. Da half wirklich nur eins: Die Mission so schnell wie möglich abbrechen, bevor jemand verletzt wurde.

 

Yoji warf einen schnellen Blick zurück und wurde schwer in seinem Entschluss erschüttert. Aya stand immer noch an dem Stehtisch, wo Yoji ihn zurückgelassen hatte, und sah aus...nein, Yoji verbot sich, sich darüber Gedanken zu machen, wie Aya aussah. Oder roch. Oder schmeckte. Argh! NEIN! Definitives Nein! Yoji musste sich irgendwie von den Gedanken ablenken, die ihm durch den Kopf schossen. Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass sich die Ablenkung so ungenierlich in sein Blickfeld schieben würde.

 

Yojis hormonbeschwerter Blick blieb an einem Paar wundervoller Beine hängen. Schlanke Fesseln, wohlgeformte Waden, feste Oberschenkel die an ihrem oberen Ende in einem kurzen Rock verschwanden. Zu allem Überfluss waren die Beine auch noch in eine Strumpfhose mit einer schwarzen Ziernaht gekleidet, an deren oberem Ende eine kleine Schleife saß. Eine Mischung aus züchtig und aufregend, die Yoji unvorbereitet traf und ihm einen heißen Schauer über den Rücken laufen ließ. Just in diesem Moment drehte sich die Besitzerin der Beine um und lächelte ihn an.

 

„Ach hallo, wir kennen uns doch“, rief sie und stieß ihre Nachbarin an. „Guck mal, Noriko!“

Die zweite junge Frau drehte sich herum und Yoji konnte sie endlich einordnen. Die pinken Strähnen hatte er bereits in der Karaoke-Baar bemerkt. Noriko strahlte ihn an. „Ja so ein Zufall. Wo hast du deinen Freund gelassen? Ist er schon nach Hause gegangen?“

„Ähm nein, er steht da drüben“, antwortete Yoji automatisch und wies hinter sich in Ayas Richtung. Er war immer noch benebelt von den Beinen von... „Wie war noch dein Name?“

„Tomomi“, lächelte die junge Frau. „Wir wollten uns gerade etwas zu trinken besorgen, aber hier ist ja so ein fürchterlicher Andrang.“

„Vielleicht kann ich ja helfen“, bot Yoji an. „Eine schöne Frau sollte nicht durstig bleiben müssen.“

„Ach das wäre ja wunderbar, wenn du uns helfen könntest, ähm...?“

„Du kannst mich Yoji nennen. Also, was möchtet ihr zwei Schönen trinken.“

 

Die beiden Frauen nannten ihre Wünsche und Yoji gab ihre Bestellung an den Barkeeper weiter, der ihnen kurz darauf vier Gläser aushändigte.

„Wasser?“, fragte Noriko mit großen Augen. „Sag bloß, ihr wollt bald nach Hause.“

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte Yoji. „Das ist nur weil...naja. Man soll es ja nicht übertreiben.“

„Ein weiser Rat“, stimmte Tomomi ihm zu. „Ist auch besser für die Kondition.“

Die beiden Frauen lachten hell auf und Yoji wusste plötzlich, dass die beiden diese Nummer öfter abzogen. Sie waren ebenso wie er an Spaß interessiert. An harmlosem, eine Nacht dauernden Spaß. Keine Probleme, keine Verpflichtungen. Er reichte ihnen ihre Getränke und bot beiden jeweils einen Arm an.

„Wenn ich Sie dann zu Ihrem Tisch begleiten würde, reizende Ladies.“

„Aber mit dem größten Vergnügen“, lächelte Tomomi und zwinkerte ihrer Freundin zu. „Wir wollen doch deinen Freund nicht zu lange warten lassen.“

 

Als Yoji mit den beiden Schönheiten am Arm wiederkam, wurde er beinahe von Ayas Blick aufgespießt. Yoji beschloss, das zu ignorieren. Er brauchte jetzt gerade ein großes, vorzugsweise weibliches Sicherheitspolster zwischen sich und Aya. Eines das sowohl ihn, wie auch Aya ablenkte. Denn dass dieser nicht an Yoji interessiert war, war ja ziemlich offensichtlich gewesen.

„Aya!“, rief er und lud die beiden Damen am Tisch ab. „Sieh nur, wen ich getroffen habe. Du erinnerst dich an Noriko und Tomomi? Wir haben sie vorhin beim Karaoke getroffen.“

Yoji merkte selbst, dass seine Stimme eine Spur zu laut und zu fröhlich war. Aya bedachte ihn mit einem tödlichen Blick und griff nach seiner Cola. Er leerte das Glas in einem Zug und stellte es demonstrativ mitten auf den Tisch.

„Oh, du musst aber durstig gewesen sein“, zwitscherte Noriko und wagte es, ihre Hand auf Ayas Arm zu legen. „Aber so ein großer, starker Mann kann bestimmt einiges vertragen.“

Aya ging nicht auf das Kompliment ein. Er starrte auf Yurikos Hand. Yoji witterte, dass Gefahr im Verzug war. Er öffnete den Mund, um zu vermitteln, aber Aya war schneller.

„Fass mich nicht an“, zischte er Noriko an.

Die machte ein entgeistertes Gesicht ob des scharfen Tons. „A-aber ich dachte....“

„Falsch gedacht. Lass. Mich. Los.“

Noriko zog eine Schnute. „Kein Grund so grob zu werden. Dein Freund hat uns immerhin eingeladen.“

„Ach, hat er das...“

Yoji hielt innerlich die Luft an. Er kannte diesen Ton. Aya stand kurz davor, zu explodieren. Er musste die beiden Frauen so schnell wie möglich von hier wegbringen. Doch statt etwas zu tun, starrte er Aya nur an. Es war wie ein Unfall. Es war grausam, aber er musste einfach weiter hinsehen.

„Das wundert mich nicht“, sprach Aya weiter. In seiner Stimme schwang arktisches Eis mit. „Er vögelt ja auch alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Kein Wunder, dass er so billige Flittchen wie euch sofort als Gleichgesinnte erkannt hat.“

 

Die Worte hatten Ayas Mund kaum verlassen, als Noriko bereits ihr volles Glas genommen und es Aya ins Gesicht geschüttet hatte. Im gleichen Moment hatte er ausgeholt und ihr einen Stoß vor die Brust verpasst, der sie zurücktaumeln ließ. Im Grunde war es nicht mehr als ein kleiner Schubs gewesen, doch die junge Frau, begann wie am Spieß zu kreischen. Binnen Sekunden standen mehrere Securities neben ihnen.

 

„Gibt es hier ein Problem?“, brummte ein tiefer Bass neben Yoji und der schloss schicksalsgeben die Augen. Er hätte ahnen müssen, dass das hier nicht gut gehen würde. Er hörte Ayas Knurren, ein Scharren und Poltern, das trockenes Klatschen eines Schlags und Ayas unterdrückten Schmerzensschrei, als er überwältigt wurde. Als nächste fühlte sich Yoji ebenfalls grob gepackt und Richtung Ausgang geschleift. Kühle Nachtluft ersetzte die rauchige Atmosphäre des Clubs und Yojis einziger Gedanke war, wann genau er eigentlich den ersten Fehler gemacht hatte, der zu dieser Katastrophe geführt hatte. Es hatte doch alles so vielversprechend angefangen.

 

 

 

 

 

Aya stellte den Motor aus und lauschte der entstandenen Stille. Yoji lag gegen das Fenster gelehnt auf dem Beifahrersitz und schlief. Aya war das ganz recht. Er hatte jetzt keine Lust zu reden. Nicht nachdem er der Grund war, wegen dem sie aus dem Club geflogen waren. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, den Security-Kerl mit einem gezielten Tritt von den Füßen zu fegen. Er bewegte probeweise den Kiefer, wo dessen Kollege ihn erwischt hatte. Mit den Händen auf dem Rücken hatten sie ihn nach draußen geführt und auf die Straße geschubst. Nur weil Yoji ihn zurückgehalten hatte, war nicht noch eine ernsthafte Prügelei daraus geworden. Wahrscheinlich sollte er ihm jetzt dankbar dafür sein. Aber Dankbarkeit war so ziemlich das letzte Gefühl, das er Yoji momentan entgegenbrachte.

 

Ayas Hände krallten sich in das Lenkrad. Dieser Abend war eine einzige Katastrophe gewesen. Das war alle Yojis Schuld. Warum konnte er sich nicht einfach aus Ayas Leben raushalten? Bisher hatte das doch auch gut geklappt. Bis zu jenem Abend, als Yoji angetrunken im Koneko aufgetaucht war. Dummerweise war Aya an dem Abend selber nicht so ganz nüchtern gewesen, auch wenn er das wohl gut hatte verbergen können.

 

Es hatte damit angefangen, dass er im Eisfach eine fast leere Flasche gefunden hatte. Ohne Zweifel eines von Yojis Besitztümern. Zuerst hatte Aya sie wegschütten wollen, doch dann hatte er stattdessen die Flasche, ein Glas und den Umschlag genommen und sich im Gemeinschaftsraum versteckt. Dort hatte er in Ruhe trinken und in trüben Gedanken versinken wollen, ohne verräterische Spuren zu hinterlassen wie etwa eine leere Flasche in seinem Zimmer. Alles war gut gelaufen, bis Yoji aufgetaucht war. Aya hatte sich ruhig verhalten und einfach abwarten wollen, bis Yoji eingeschlafen war, um dann in seinem Zimmer zu verschwinden. Aber natürlich war das nicht möglich gewesen. Yoji hatte ja unbedingt...nun... Yoji sein müssen. Immer wieder stand ihm dieser Idiot im Weg. Und Aya war eingeknickt. Er hatte sich auf ihn eingelassen, hatte sich einwickeln lassen, war leichtsinnig geworden und was war dabei herausgekommen? Er hatte ihn geküsst! Und danach hatte er getan, als wäre nichts gewesen. Hatte diese Mädchen angeschleppt. Verdammt, was dachte sich Yoji eigentlich dabei?

 

Aya war kurz davor, das Lenkrad mit den Fäusten zu bearbeiten. Sein Blick wanderte zu den dunklen Fenstern hinauf. Warum ging er nicht einfach nach oben und ließ Yoji hier seinen Rausch ausschlafen? Warum war er überhaupt zu diesem Abend mitgekommen? Warum war er nicht in seinem Elfenbeinturm geblieben, wie Yoji es nannte? Die Wut, die ihn gerade noch übermannt hatte, floss aus ihm heraus wie Wasser und ließ ihn hilflos zurück. Verwundbar, verletzlich. Wut und Hass waren sein Schwert und sein Schild. Er brauchte sie. Um Abyssinian zu sein, um Weiß zu sein. Für Aya, für seine Schwester. Um ihr Leben zu retten; das bisschen davon zu erhalten, was ihr noch geblieben war.

 

Er ließ sich in den Sitz zurücksinken und blinzelte gegen das Stechen in seinen Augen an. Er wusste, warum er Yoji an diesem Abend begleitet hatte. Weil er es wollte. Weil er egoistisch genug gewesen war, an sich selbst zu denken. Er sah das Gesicht seiner Schwester vor sich. Was würde sie jetzt wohl sagen, wenn sie ihn so sehen könnte? Oh er wusste, was sie sagen würde. Was sie damals gesagt hätte.

 

Sei frei. Sei glücklich. Lebe.

 

Nur hatte damals noch nicht ihr Leben von seinem abgehangen. Er hatte eine Aufgabe, verdammt. Er konnte sich nicht mit solchen Ablenkungen aufhalten. Vor allem nicht mit so einer Ablenkung.

 

Aya fühlte den Wunsch in sich aufsteigen, Yoji hier und jetzt im Schlaf zu erdrosseln. Es ein für allemal zu beenden. Er ballte die Hände zu Fäusten, um es nicht zu tun. Stattdessen öffnete er die Wagentür, sprang hinaus und warf sie mit voller Kraft ins Schloss. Nur mit Mühe hielt er sich selbst davon ab, auch noch dagegen zu treten.

 

Er atmete schwer. Die kühle, leicht feuchte Nachtluft ließ ihn frösteln. Er tat nichts, um es aufzuhalten. Er wollte die Kälte in sich aufnehmen und nichts mehr spüren. Die Gefühle wieder einsperren, die sich nach draußen geschlichen hatten wie Diebe in der Nacht. Er hatte einst vertraut, er hatte Gefühle gehabt. Er war darüber hinaus gewachsen. Es war nicht sicher, Gefühle zu haben. Eine Gefahr für sich und andere.

 

Mit entschiedenen Schritten überquerte er die Straße und schloss die Seitentür des Ladens auf. Als er eintrat, hörte er das kleine Radio spielen, das im Laden stand. Omi benutzte es manchmal, wenn nicht viel los war, um sich die Zeit zu vertreiben. Anscheinend hatte es irgendjemand vergessen auszumachen. Er öffnete die Tür und suchte im Dunkeln den Knopf, um es abzustellen. Eine Ballade lief und bevor er es verhindern konnte, hatten seine Ohren die Worte aufgeschnappt, die ihn den Arm wieder winken ließen.

 

Ich habe Angst, daran zu glauben

Denn wenn ich es tue, werde ich es zerstören

So verlebe ich meine Tage und bewahre meine Angst

Aber wenn du jetzt hier wärst,

würde ich dich nie mehr gehen lassen

Gejagt vom Ticken der Uhr

Kann ich nur überleben, wenn ich dich vergesse

 

Er hob die Hand und schaltete das Radio ab. So ein Schwachsinn. Er brauchte Yoji nicht. Er brauchte niemanden. Vor allem nicht, wenn Yoji nur...nur...was wollte Yoji eigentlich von ihm? Was? Er verstand es nicht? Was hatte der Mann davon, ihm nachzustellen? Er konnte ja wohl kaum... Ayas Verstand weigerte sich, den Gedanken weiter auszuführen. Das war lächerlich. Denn wenn Yoji so etwas von ihm gewollt hätte, dann hätte er ja wohl kaum die beiden Frauen angeschleppt. Wahrscheinlich war es von Anfang an alles nur ein Trick gewesen, um die beiden rumzukriegen. Er hatte Aya benutzt, um sie in sein Bett zu zerren. Verdammter Bastard!

 

Aya ließ den Blumenladen hinter sich, schlich die Treppe hinauf, durch den Flur in sein Zimmer. Er wollte gerade die Tür schließen, als sich eine Hand bestimmend auf das Holz legte und ihn aufhielt. Yoji.

„Geh weg“, fauchte Aya. „Ich habe dich nicht eingeladen.“

„Wenn du nicht wolltest, dass ich dir folge, hättest du die Tür vielleicht leiser zumachen sollen“, giftete Yoji zurück. „Ich habe fast einen Herzanfall bekommen.“

„Schade, dass es nur fast war.“

 

Minutenlang starrten sie sich durch den handbreiten Türspalt hindurch an. Das Licht im Flur erlosch. Yoji wurde zu einem dunklen Schatten, dessen Konturen im Dunkeln nur noch schemenhaft erkennbar waren. Der Geruch nach Rauch und Alkohol und noch etwas anderem wehte zu Aya herein und ließ ihn unter der Erinnerung an einen Zeitpunkt früher am Abend schwindeln. Sehnsucht schwappte in ihm hoch, bevor er es verhindern konnte. Es war gut gewesen. Überraschend und irgendwie bizarr, aber auch gut. Er griff fester nach der Türklinke.

„Also was ist nun?“, sagte Yoji leise und sanfter als noch vor einigen Augenblicken. „Lässt du mich rein oder verbringst du die Nacht lieber allein?“

 

Das war es, was Yoji sagt. Was Aya hörte, war jedoch etwas völlig anderes. Wann genau war „allein“ zu „einsam“ geworden. Wann genau war es gut geworden, dass Yoji da war? Seit wann genau war es wichtig, was er von Aya dachte? Wann genau hatte Yojis Anwesenheit angefangen, ein Kribbeln in seinem Magen auszulösen?

 

Die Fragen überwältigten Aya. Er wusste keine Antwort darauf. Unfähig sich weiter zu wehren, ließ er die Klinke los und trat einen Schritt zurück. Yoji schlüpfte in Ayas Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

 

 

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Yoji beugte sich neugierig über Ayas Schulter, der gerade konzentriert an einem Gesteck arbeitete, und flüsterte ganz nah an seinem Ohr. „Was machst du da?“

Aya schrak zusammen und starrte ihn wütend an. „Verdammt, ich arbeite! Solltest du zur Abwechslung auch mal versuchen.“

Yoji gluckste amüsiert. „Aber ich arbeite doch.“

Gut, vielleicht nicht unbedingt in dem Sinne, wie der andere es meinte, aber Yoji arbeitete wirklich hart daran, Aya davon zu überzeugen, dass er es ohne ihn nicht aushalten konnte. Wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab, so wie jetzt gerade, wo sie alleine im Laden waren, weil Ken und Omi etwas im Gewächshaus zu erledigen hatten, pirschte er sich unauffällig an Aya heran und brachte ihre Körper näher zusammen, als dem andere augenscheinlich angenehm war. Natürlich durfte er es nicht übertreiben, aber ein versehentliches Streifen hier, eine flüchtige Berührung dort. Er konnte sehen, dass er Aya zusehends verunsicherte, sein Widerstand schwächer wurde. Wann immer er konnte, fauchte Aya ihn an, schubste ihn beiseite oder schaffte sich sonst irgendwie körperlichen Freiraum. Aber Yoji wart hartnäckig und Aya trotz all der Bissigkeit und dem kühlen Gebaren nicht aus Eis. Und in seltenen, sehr seltenen Momenten wie jetzt gerade, befreite er sich nicht aus der Gefangennahme und ließ einen kurzen Augenblick der Nähe zu, nicht ahnend, dass er dadurch das Feuer nur noch weiter anfachte.

 

Yojis Betrachtungen wurden durch das Läuten der Türglocke unterbrochen. Schnell trat er zurück und verschwand unter dem Tresen. Sollte Aya sich doch um den Kunden kümmern. Er selbst hatte zu viel damit zu tun, sich seinen nächsten Schachzug auszudenken. Er wurde allerdings schnell wieder auf die Bildfläche gezogen, als Aya den Eingetretenen beziehungsweise die Eingetretene begrüßte.

„Manx“, nickte Aya und wischte sich die Hände an der Schürze ab. „Eine neue Mission?“

Die Frau nickte. „Ja. Hol bitte die anderen.“

Yoji trat schnell hinter dem Tresen hervor und setzte ein breites Lächeln auf. Es gefror, als er den Ausdruck auf Manx' Gesicht sah. Sie war blass, hatte Augenringe und augenscheinlich zu wenig geschlafen.

„Alles in Ordnung, Manx?“

Sie setzte ein kleines, falsches Lächeln auf. „Natürlich, Balinese. Alles weitere unten.“

Sie ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei und verschwand in Richtung Missionsraum. Das gefiel ihm nicht. Manx war nicht der Typ für Sentimentalitäten und wenn das, was sie ihnen mitgebracht hatte, sie so mitnahm, musste es etwas Ernstes sein.

 

Als sie alle versammelt waren, legte Manx mit steinerner Miene die Mappe auf den Tisch, die sie mitgebracht hatte.

„Was ist das, Manx?“, fragte Omi.

„Euer neuer Fall. Eine Serie von Morden. Es gibt bisher keinerlei Hinweise auf die Täter.“

„Warum kommt ihr dann damit zu uns?“, ließ sich Aya vernehmen. „Wenn es keine Zielperson gibt, können wir nichts tun.“

Manx verzog spöttisch den Mund. „Ich wusste ja nicht, dass ich es hier mit einer Bande hilfloser kleiner Jungs zu tun habe, die sich nicht einmal selbst die Nase putzen können. Wenn ihr die Mission nicht wollt, werden wir jemanden finden, der es kann.“

„Kein Grund, in Streit zu geraten“, versuchte Omi die Lage zu beruhigen. „Warum zeigt du uns nicht, was du hast? Dann entscheiden wir weiter.“

Manx nickte und öffnete die Mappe. Yoji sah, dass ihre Finger leicht zitterten. Sie holte Fotos heraus und ließ sie auf den Tisch fallen. Omi nahm sie und begann, die Bilder durchzusehen. Seine Miene wurde mit jedem Bild finsterer.

„Das ist grausam“, sagte er. „Jemand hat diese Menschen total verstümmelt. Und doch...“ Er drehte eines der Bilder und schüttelte den Kopf. „Es sieht nicht so aus, als wäre große Gewalteinwirkung im Spiel gewesen. Die Schnitte sind alle präzise und sauber ausgeführt.“

„Die Opfer waren gefesselt“, erklärte Manx. „Wir fanden sie angebunden an Tische, Bänke, Stühle. Einer hing sogar an einer Wand. Sie sind alle durch den Blutverlust gestorben.“

„Trotzdem...irgendetwas ist seltsam daran.“

Ken trat nun ebenfalls hinzu, nahm Omi die Bilder ab und sah sie durch. Sein Gesicht zeigte Abscheu. „Es gibt gar keine Hinweise auf den Täter?“

„Keine. Wir sind nicht einmal sicher, wie er oder sie seine Opfer auswählt. Außer das sie alle aus einer Gegend stammen. Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie das zusammenhängt. Sie alle wohnten in ähnlichen Wohnungen, fuhren mit dem gleichen Bus, kauften in den gleichen Läden ein...“

Manx' Stimme wurde leiser, verstummte erstickt. Yoji trat zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. Normalerweise wehrte sie sich sofort diese gegen diese zutrauliche Geste, doch heute ließ sie den Arm, wo er war.

„Manx, was ist mit dir?“ Omis Gesicht war nun ernsthaft besorgt.

Manx atmete tief ein und straffte die Schultern, wobei sie Yojis Arm nun doch abschüttelte. „Nun ja, auch Kritiker Agenten müssen irgendwo wohnen, nicht wahr? Auch sie haben Nachbarn, Freunde, die nette Dame von der Supermarktkasse, die ihnen hilft, wenn sie einmal den Geldbeutel vergessen haben.“

Yoji verstand plötzlich. „Sie war eines der Opfer?“

Manx nickte.

Ken ballte die Faust und hieb auf den Tisch. „Ich bin dabei.“

„Wir alle sind es“, versicherte Omi. „Wo ist das Zielgebiet?“

Manx breitete eine Karte aus, auf der ein Stadtteil markiert war. „Ihr müsst sehr vorsichtig sein. Wie gesagt, der Täter oder die Täterin geht äußerst geschickt vor. Wie können nicht einmal ausschließen, dass es sich um mehrere Ziele handelt. Außerdem überwacht die Polizei das Gebiet. Sollte sie einen von euch erwischen, ständet ihr automatisch als Verdächtige da. Ihr wisst, dass Kritiker euch in dem Fall nicht mehr helfen kann und wird. Werdet ihr gefasst, war das euer letzter Fehler.“

 

Trotz dieser Ankündigung stand Entschlossenheit auf ihren Gesichtern. Dieses Risiko gingen sie bei allen Missionen ein. Nur dieses Mal war es etwas Persönliches. Jemand bedrohte Manx' Sicherheit und sie war Teil des Teams. Jeder von ihnen würde sein Bestes geben, um das zu verhindern.

„Wir werden sie kriegen, Manx. Das versprechen wir dir.“

Manx Mund verzog sich ob Omis zuversichtlichen Versprechens zu einem kleinen Lächeln. „Ich lege mein vollstes Vertrauen in Weiß. Schnappt euch diese Bestie und bringt sie zur Strecke.“

 

 

 

 

 

Die dunkle Gestalt mit dem langen Mantel verharrte auf dem Dach des mehrstöckigen Wohnhauses und beobachtete, wie erneut ein Polizeiwagen vorbeifuhr. Die Scheinwerfer tauchten die Straße in helles Licht und hinterließen nur umso dunklere Schatten. Schatten in denen das Böse und das Gute lauerten.

Ein Geräusch in seinem Ohr ließ ihn aufhorchen „Bombay hier. Ich bin den Polizisten entkommen. Haltet euch lieber vom Boden fern.“

Es knackte erneut. „Siberian hier. Der Park wird von einer Hundestaffel durchsucht. Ziehe mich zurück.“

Er wartete. Als nichts weiter zu hören war, drückte er selbst den Sendeknopf. „Abyssinian hier. Keine verdächtigen Bewegungen zwischen den Wohnblocks. Wechsele den Standort.“

Am Rand des Dachs sah er noch einmal nach unten. Eine Gasse, Mülltonnen, ein großer Papiercontainer. Viele Möglichkeiten, um sich zu verstecken, keine, um Opfer zu finden. Sie vergeudeten ihre Zeit. Sein Blick wanderte nach oben. Auf dem Dach gegenüber glaubte er, eine Bewegung ausmachen zu können. Er legte erneut die Hand an das Headset. „Balinese, wo bist du?“

Er erhielt keine Antwort. Verdammter Idiot.

 

Die Bewegung auf dem Dach wiederholte sich. Vielleicht nur eine Täuschung, aber vielleicht auch mehr. Er maß den Abstand zwischen den Gebäuden mit einem schnellen Blick. Mit genügend Anlauf müsste er es schaffen und würde wertvolle Zeit sparen. Er kletterte auf die Mauer, die das Dach umgab, ging ein paar Schritte zurück, lief dann an und sprang kurz vor dem Rand des Daches ab. Im letzten Moment rutschte sein Fuß weg, nahm ihm wichtigen Schwung und ließ den Sprung zu einem schlecht kontrollierten Fall werden. Statt des anvisierten Daches raste jetzt die rote Backsteinmauer auf ihn zu. Er reagierte blitzschnell, schwang das Schwert herum, um es als Anker zu benutzen, als sich etwas um sein Handgelenk wickelte. Ein scharfer Schmerz, als ein Ruck nach oben erfolgte, der ihn aus der Flugbahn warf und statt frontal nun seitlich gegen die Mauer prallen ließ. Der harte Stoß prellte ihm die Waffe aus der Hand, die klirrend in der Tiefe verschwand. Er sah nach oben und identifizierte sofort, was ihn vor dem Sturz gerettet hatte. Der Draht schnitt in die empfindliche Haut gerade unterhalb seines Handschuhs.

„Rauf oder runter?“, hörte er Balineses Stimme von oben fragen.

„Runter“, knurrte er. „Du hast mein Katana fallen lassen.“

„Oh Entschuldigung, dass ich dir gerade deinen Arsch gerettet habe“, war die unfreundliche Antwort und der Draht verlor schneller an Spannung, als er gedacht hatte. Er kam unsanft auf der Straße auf, rollte sich ab und landete zwischen zwei Mülltonnen, die mit lautem Geschepper umfielen. Er fluchte, befreite sich von dem Draht, schnappte sein Katana vom Boden und wollte gerade zum Eingang der Gasse laufen, als dort die ersten Ausläufer eines Lichtkegels erschienen. Eine weitere Streife und er stand mitten in der Sichtlinie. Schnell duckte er sich hinter den Container und drückte sich rücklings gegen das kalte Metall. Der Geruch von Abfall und feuchtem Papier stieg ihm in die Nase.

 

Der Wagen hielt, Autotüren klappten, das Licht zweier Taschenlampen irrte über die Wände.

„Hast du auch was gehört?“, fragte einer der Polizisten.

„Ja, da war was. Soll ich die Zentrale verständigen?“

„Nein, nachher ist es doch wieder nur eine streunende Katze. Wir sehen erst mal selber nach.“

Der Schein der Lampen kam näher, irrte über Boden und Wände. Abyssinan suchte die Gasse nach einer Fluchtmöglichkeit ab. Es gab zwei Türen, die jeweils in eines der Wohnhäuser führten. Vermutlich waren beide abgeschlossen und vor allem im Sichtfeld der Polizisten. Er packte das Katana fester und entschuldigte sich im Geiste bei den beiden Unschuldigen, die er im Begriff war, anzugreifen und vielleicht sogar zu töten, wenn es sein musste.

Die Polizisten waren jetzt bis auf einen halben Meter heran, er zählte von drei runter und...

„Hey! Sucht ihr wen?“ Balineses Stimme hallte von den Wänden wieder.

„Bleiben Sie stehen und nehmen Sie die Hände hoch“, rief einer der Polizisten. Sie richteten Taschenlampen und Waffen auf den Eingang der Gasse.

„Sorry, Jungs, aber ich habe noch eine Verabredung. Wenn ihr mitkommen wollt, müsst ihr euch beeilen.“

„Bleiben Sie sofort stehen!“, wiederholte der Polizist und spannte den Hahn seiner Pistole. Abyssinian ging in die Knie, bereit zum Sprung.

„Mist, er haut ab. Los hinterher.“

Die Waffe senkte sich, die Polizisten verfielen in Laufschritt, um Balinese zu folgen. Abyssinian wartete noch, bis ihre Schritte verhallt waren, dann verließ er die Gasse eilig in umgekehrter Richtung. Ein Stück weiter die Straße entlang betätigte er erneut den Sprechknopf.

„Balinese wird verfolgt. Die Hauptstraße runter in südlicher Richtung.“

Es knackte und Bombays Stimme erklang. „Sollen wir ihm helfen? Ich bin in der Nähe.“

„Negativ. Wir haben bereits zu viel Aufmerksamkeit erregt. Wir brechen für heute Nacht ab. Abyssinian over und out.“

 

Er blieb stehen und sah noch einmal die Straße hinunter. Natürlich würde er ihm nicht folgen. Balinese kam alleine klar. Er hatte sich ja auch selbst in diese Situation gebracht und sich nicht an die Anweisungen gehalten. Abyssinian hatte nicht um seine Hilfe gebeten. Sollte der Idiot doch sehen, wie er da wieder rauskam. Er war schließlich nicht seine Mutter. Er...

„Ach fuck!“, fluchte Abyssinian und machte sich auf den Weg, um seinem Teamkollegen zu folgen. Er konnte nur hoffen, dass er ihn fand, bevor es die Polizisten taten.

 

 

 

 

Seine Lungen wehrten sich massiv gegen die Belastung, die er ihnen zumutete. Vielleicht sollte er doch anfangen, weniger zu rauchen. Die Polizisten, die ihn verfolgten, rauchten unter Garantie nicht. Sie hatten die Ausdauer von Marathonläufern und noch dazu Verstärkung von zwei weiteren Uniformierten bekommen. Normalerweise war es für ihn kein Problem, Wachleute auszuschalten, die das Pech hatten, sich zur falschen Zeit am falschen Ort zu befinden. Er verbuchte sie unter der Kategorie Gegner und war durch mit der Sache. Aber das hier waren Gesetzeshüter. Leute, denen er eigentlich helfen sollte. Er hatte Hemmungen, sie einfach umzubringen. Irgendwo musste eine Grenze sein.

Schritte halten hinter ihm durch die Nacht, der Schein der Taschenlampen geisterte durch die Dunkelheit, die ihn nur unzureichend verbarg. Er brauchte dringend ein Versteck. Zu seiner linken tauchte ein verlassenes Kaufhaus auf. Er lief daran vorbei und bog in die Gasse ein, in der er sich einen Hintereingang versprach. Ja, da war er. Eilig fischte er das Etui mit den Dietrichen hervor, wählte einen passenden aus und öffnete die Tür binnen weniger Augenblicke. Trotzdem hörte er bereits die näher kommenden Schritte. Er schlüpfte in die staubige Finsternis hinter der Tür und schloss sie leise wieder. Drinnen lauschte er und atmete erleichtert auf, als die Schritte seinen Standort passierten und sich weiter die Straße hinab bewegten. Mit viel Glück würden sie nicht zurückkommen. Er würde eine Weile hier abwarten und sich dann zurück zu seinem Auto begeben.

 

Yojis Hand wanderte zu seinem Ohr und entfernte das nutzlose Headset. Es war der Grund, warum er sich Abyssinian überhaupt genähert hatte, obwohl abgesprochen war, dass jeder von ihnen die Gegend alleine durchkämmte. Dummerweise war er nicht mehr dazu gekommen, seinem Teamkollegen das mitzuteilen. Die Ereignisse hatten sich irgendwie überschlagen. Aber das tat jetzt nichts zur Sache. Er würde hier schon rauskommen.

 

Um ihn herum war nichts, als undurchdringliche Dunkelheit. Vermutlich ein Lagerraum. Er konnte zwar hier bleiben, aber falls die Polizisten doch zurückkamen, war es sicherer, seinen Aufenthaltsort zu verlagern. Er tastete sich an der Wand entlang, bis er auf eine Tür stieß. Sie war zu seinem Glück offen, so schlüpfte er hindurch und fand sich dem veränderten Hall nach zu urteilen in einem Flur wieder. Auch hier gab es kein Licht, sodass er sich weiter vortastete, bis er eine weitere Tür fand. Dahinter befand sich ein Verkaufsraum. Durch die blind gewordenen Fenster kam genug Licht, um sich zu orientieren.

 

Vor ihm lag eine große, offene Verkaufsfläche, die nur ab und an von runden, die Decke abstützenden Säulen unterbrochen wurde. Unrat und Staub bedeckten den Boden, ein umgeworfener Kleiderständer und einige unvollständige Schaufensterpuppen waren zu einem grotesken Gebilde zusammen gelehnt worden. Wahrscheinlich waren Jugendliche hier eingebrochen und hatten eine Party gefeiert. Der Anblick der kopf- und gliedmaßenlosen Puppen jagte ihm trotzdem einen Schauer über den Rücken und er beschloss, dass er hier nicht bleiben wollte. In der Mitte des Raums gab es eine Rolltreppe, die in den ersten Stock führte. Er betrat die metallenen Stufen und folgte ihnen nach oben. Das helle Echo seiner Schritte hallte durch die Räume und ließ sie nur umso leerer wirken.

 

 

Obwohl es nicht sein konnte, hatte er das Gefühl, dass sich die Staubkonzentration in der Luft hier oben noch verdichtete. Er schmeckte es förmlich auf seiner Zunge. Die Luft kratzte beim Einatmen. Aber vielleicht brauchte er auch einfach nur eine Zigarette. Er versicherte sich, dass er sich weit genug von den wenigen Fenstern entfernt befand, und zündete sich eine an. Der Rauch vertrieb die Staubgespenster und die imaginäre Wärme der kleinen, brennenden Spitze die klamme Kälte. Wahrscheinlich war irgendwo ein Fenster kaputt und ließ die Nachtluft herein. Tagsüber war die Frühlingssonne schon angenehm warm, aber nachts überzog manchmal noch Eis die Scheiben.

Er wickelte sich fester in seinen Mantel und ließ sich an einer Wand neben einem Stapel aufgeplatzter Kartons zu Boden sinken. Den Kopf gegen den kalten Beton gelehnt nahm er erneut einen Zug. Wie lange würde er wohl hierbleiben müssen? Er versuchte im Dunkeln die Uhrzeit zu erkennen, aber es war hoffnungslos. Wenn sie nicht seine Waffe gewesen wäre, hätte er die Uhr vermutlich schon längst gegen ein neueres Modell mit Beleuchtung ausgetauscht. Er inhalierte noch einen Zug und schloss für einen Moment die Augen. Es war beinahe friedlich hier drinnen, wenn man einmal von der Kälte und dem stetigen Tropfen von Wasser absah, das er jetzt von irgendwo vernahm. War das Geräusch gerade eben schon da gewesen?

 

Er öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit. Misstrauisch irrte sein Blick durch den Raum, konnte jedoch nichts Auffälliges erkennen. Das düstere Grau verwandelte alles in formlose Schatten. Zumal diese Etage, so weit er es hatte erkennen können, mehr oder weniger leer gewesen war. Trotzdem hatte er plötzlich das untrügliche Gefühl, nicht allein zu sein. Da waren huschende Geräusche, leises Tappen, unterdrücktes Atmen. Er spürte, wie sich die Haare an seinen Unterarmen aufrichteten. Mit einer bedächtigen Bewegung drückte er die Zigarette aus und stand auf. Von wo kam sein Gegner?

Die Akustik des großen Raums richtete sich mit einem Male gegen ihn, spielte ihm Streiche, ließ ihn Dinge hören, wo keine waren. Die dicken Säulen gaben dem Feind Deckung, der sich unaufhaltsam heranpirschte. Etwas klirrte. Metall stieß gegen Stein. Sein Kopf ruckte in die Richtung herum und sah nur nahtloses Grau. Es legte sich auf seine Sinne, seine Augen und Ohren, wickelte sich wie ein Leichentuch um Nase und Mund und machte das Atmen schwer. Blind trat er ein, zwei Schritte vor. Die Hände ausgestreckt, um den Feind abzufangen, wenn er sich zeigte. Fast wünschte er den Augenblick herbei, da der andere endlich den ersten Angriff wagte.

 

Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herum fahren. Etwas quiekte. Im grauen Licht huschte ein dunkler Schatten mit einem langen Schwanz an der Wand entlang und verschwand hinter den Kartons, neben denen er gesessen hatte. Er atmete auf. Nur eine Ratte. Eine verdammte Ratte. Er lachte trocken, doch das Lachen blieb ihm plötzlich im Halse stecken, als er merkte, dass jemand hinter ihm stand. Völlig geräuschlos hatte sich der Jäger angepirscht und ihn in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit erwischt. Seine rechte Hand glitt zu seiner Uhr, fasste das Ende des Drahtes, zog es langsam heraus.

„Ich habe dich erwartet“, sagte er und wirbelte herum. Seine Hände fassten nur leere Luft, als der andere sich duckte und ihn mit seinem Körper gegen die Wand rammte. Sein Kopf wurde durch die Wucht des Aufpralls gegen den Beton geschleudert, er fühlte einen dumpfen Schmerz. Die Welt schien sich mit einem Mal in Zeitlupe zu bewegen. Er griff nach dem Körper vor ihm, wollte ihn, von sich wegdrücken, spürte rauen Stoff und nackte Haut. Eine Hand legte sich über sein Gesicht, zog es vor und schlug seinen Kopf noch einmal mit voller Wucht nach hinten. Ihm wurde übel.

Eine Faust schloss sich wie eine eiserne Klammer um sein rechtes Handgelenk, drückte es gegen die Wand. Er stöhnte, wollte sich wehren, aber seine Sicht war verschwommen, sein Blick unscharf, die helle Gestalt vor ihm ein verwischter Schatten. Er spürte etwas Feuchtes an seiner Wange, fühlte heißen Atem über sein Gesicht waschen. Jemand lachte.

„Eins“, sagte eine heisere Stimme und ein alles betäubender Schmerz raste durch seine Hand. Eine scharfe Klinge bohrte sich durch die Handfläche bis in die Wand und nagelte ihn dort fest. Er schrie, hörte sich selbst schreien und wieder das Lachen seines Gegners. Ein helles, irres Lachen wie von einem Wahnsinnigen.

 

Plötzlich hörte er einen Schrei, eine dunkle Stimme, die etwas rief, dessen Sinn ihm sich durch den Nebel des Schmerzes nicht erschließen wollte. Sein Gegner ließ von ihm ab, zischte und fauchte. Schritte, das Scharren von Metall auf Stein, Funken sprühten, als eine Klinge den Betonboden traf statt des anvisierten Körpers. Schweres Atmen und das Klirren einer Fensterscheibe, die zerbrach. Eine zweite Stimme, die etwas rief. Ein einzelnes Wort, das keinen Sinn ergab. Durch die Tränen in seinen Augen sah er, wie sein Gegner sich umdrehte und der Stimme folgte. Zuerst langsam und widerwillig, dann folgsam wie ein zurückgerufener Hund. Die Schritte entfernten sich, verdoppelten sich und verhallten in der grauen Dunkelheit. Er war allein mit seinem Retter, den er nun endlich erkannte.

„A...Abyssinian.“ Seine Stimme war brüchig, sein Kopf immer noch benebelt von dem harten Schlag gegen den Kopf.

„Verdammt, Balinese. Was sollte das? Ich suche dich schon die ganze Zeit. Warum hast du nicht geantwortet?“

„Headset kaputt“, murmelte er. Seine Beine drohten unter ihm wegzusacken, nur der scharfe Schmerz in seiner Handfläche ließ ihn sich zusammenreißen. Er war immer noch an die Wand genagelt wie ein verdammter Käfer. Mit Mühe unterdrückte er ein erneutes Stöhnen.

„Hilf mir mal“, bat er und deutete auf die Klinge.

Abyssinian fasste das Messer. „Das wird wehtun.“

„Tut es schon“, lachte er heiser und bereute den Witz nur Sekunden später, als ein neuer Schmerzimplus durch seinen gesamten Arm raste und ihm schwarz vor Augen wurde. Er fiel auf die Knie und keuchte. Eine Übelkeitswelle schwappte in ihm hoch. Er schluckte die aufsteigende Magensäure wieder hinunter. Das fehlte noch, dass er sich jetzt hier übergab.

„Komm, wir müssen hier weg.“ Abyssinian griff ihm unter den unverletzten Arm und zog ihn hoch. Gemeinsam schafften sie es aus dem Kaufhaus bis zur Straße. Die kalte Nachtluft klärte seinen Kopf etwas und ließ ihn freier atmen.

„Was...wer war das?“

Der anderen schüttelte nur den Kopf. „Besprechen wir später. Die Polizei ist immer noch in Aufregung und wer immer es da drinnen auf dich abgesehen hatte, kann noch nicht weit sein. Los, komm mit. Wir fahren zusammen.“

„Ist das nicht gegen die Regeln?“, grinste er und erntete einen finsteren Blick. „Alles klar, blöder Witz. Mit der Hand kann ich eh nicht lenken. Also los, wo steht dein Auto.“

 

 

 

Während sie zurück zum Porsche gingen, folgten ihnen interessierte Blicke.

„Sieh an“, sagte die eine Person auf dem Dach des Kaufhauses. „Wen haben wir denn da? Wusstest du, dass sie es sind?“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf.

„Dann würde ich sagen, das Spiel ist eröffnet. Mal sehen, welche Zug sie als Nächstes machen.“

 

 

Während die Lichter der Stadt vorbeihuschten, löste Yoji den behelfsmäßigen Verband von seiner Hand. Es sah eigentlich gar nicht so schlimm aus und...

„Scheiße!“

Ayas Kopf ruckte herum. „Was?“

„Der Mist hat wieder angefangen zu bluten. Ich fürchte, ich schulde dir eine Innenreinigung.“

Das Blut lief zwischen Yojis Fingern hindurch und tropfte in einem stetigen Strom nach unten.

„Der Schock hat nachgelassen“, diagnostizierte Aya. „Wir müssen in ein Krankenhaus.“

Yoji sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Bist du verrückt? Ich kann doch nicht in ein Krankenhaus. Kritiker wird uns jemanden schicken.“

„Das muss geröntgt werden und das geht bei uns zu Hause nicht. Im Handschuhfach liegt mein Handy. Ruf Omi an, er soll Birman verständigen. Wir fahren ins nächstgelegene Krankenhaus. Dort gibt es jemanden, der uns helfen kann. Sie weiß Bescheid.“

Yoji fischte das Handy hervor und wählte. „Woher willst du das eigentlich wissen? Also dass uns da jemand helfen wird. Oh...“

 

Natürlich. Aya wusste es, weil er das Krankenhaus kannte. Yoji klemmte sich das Handy zwischen Kopf und Schulter, nestelte eine weitere Mullbinde aus dem Verbandskasten und versuchte, die Blutung irgendwie zu stoppen.

„Aya?“ Omis Stimme am andere Ende klang besorgt.

„Nein, Yoji hier. Ich hatte einen kleinen Unfall und wir müssen ins Krankenhaus.“

Was? Was ist passiert?“

„Nichts Lebensbedrohliches. Erkläre ich dir später. Aya hat gesagt, du sollst Birman verständigen, damit sie alles in die Wege leitet. Es ist das Krankenhaus, in dem Ayas Schwester liegt.“

„Gut, mache ich. Meldet euch, sobald ihr was wisst.“

„Klar doch. Bis dann.“

 

Der Wagen wurde langsam, er Aya bog in eine Seitenstraße ein und stellte den Motor ab.

„Wir müssen uns umziehen.“

Yoji zuckte entschuldigend mit den Achseln. „Meine Sache sind in meinem Wagen. Hast du noch was für mich dabei?“

Aya antwortete nicht, stieg aus dem Wagen und öffnete den Kofferraum. Kurz darauf hielt er Yoji eine Jacke und ein T-Shirt hin.

Yoji, der seine blutende Hand über den Rinnstein hielt, wagte ein schiefes Lächeln. „Ich fürchte, das Shirt würde ich nur völlig ruinieren. Belassen wir es bei der Jacke und hoffen mal, dass um diese Zeit niemand so genau hinguckt.“

 

Das Krankenhaus empfing sie mit grellem Licht und viel zu übersichtlichen Fluren. Sie wollten gerade auf den Empfangstresen der Notaufnahme zusteuern, als sich die Tür des Fahrstuhls öffnete und ein junger Arzt heraustrat. Als er sie sah, winkte er.

„Ich habe sie erwartet. Bitte folgen Sie mir.“

Er schob Aya und Yoji in den Aufzug und drückte einen Knopf für das Untergeschoss. Aya hob fragend eine Augenbraue. Der Mann lächelte ein wenig nervös.

„Man sagte mir, ich solle Sie vertraulich behandeln. Worum geht es denn?“

„Stichverletzung in der Hand.“ Yoji hob das Corpus Delicti, von dem in diesem Moment ein Blutstropfen auf den Boden sickerte. Die Bandage war bereits wieder vollgesogen. „Mein Kopf hat außerdem was abgekriegt.“

„Mhm, eine starke Blutung. Sie sind blass, schwitzen.“ Der Arzt leuchtete kurz mit einer Lampe in Yojis Augen. „Reaktion normal. Ich werde trotzdem eine Schwester nach einer Konserve schicken. Blutgruppe?“

„AB. Ich nehme, was da ist“, antwortete Yoji mit einem Augenzwinkern.

„Na, Sie können ja schon wieder Witze machen. Wollen wir hoffen, dass keine Nerven verletzt wurden. Ich sehe mir das gleich mal an.“

 

Sie liefen einen Gang entlang, in dem mehrere Gitterwagen standen, die bis obenhin mit weißen Tüchern gefüllt waren. Im Hintergrund waren wälzende Motorengeräusche zu hören und in der Luft lag ein Geruch nach Desinfektionsmitteln und heißem Stoff. Anscheinend waren sie in der Wäscherei des Krankenhauses gelandet. Der Arzt schloss eine Tür auf und sie betraten einen spartanisch eingerichteten Untersuchungsraum.

 

Während der Arzt die blutigen Bandagen abwickelte, lehnte sich Aya abwartend an die Wand und beobachtete alles ganz genau. Yoji zuckte, als die Finger des Arztes über die Wunde tasteten.

„Das sieht wohl durch das viele Blut schlimmer aus, als es ist. Wie wurde die Wunde verursacht?“

Er sah zwischen den beiden schweigenden Männern hin und her und nickte dann. „Gut. Darf ich annehmen, dass es eine spitze Waffe war? Ich bräuchte den ungefähren Durchmesser, um das Ausmaß möglicher Verletzungen abzuschätzen.“

„Die Klinge war schmal“, antwortete Aya. „Etwas dicker als ein Skalpell.“

„Das könnte heißen, dass wir Glück hatten. Bewegen sie die Finger doch mal.“

Yoji versuchte es. Es tat weh und das Blut begann wieder zu tropfen, aber es ging.

„Kein Taubheitsgefühl? Sehr schön“, sagte der Arzt. „Es wurden keine Nerven oder Sehnen durchtrennt. Um sicherzustellen, dass keine Knochensplitter vorhanden sind, sollten wir die Hand aber röntgen. Das Ganze wird eine Weile dauern. Wenn Sie vielleicht derweil in der Halle warten wollen?“, sagte er an Aya gerichtet. „Wir lassen Sie dann holen, wenn wir Ihren Freund wieder zusammen geflickt haben.“

Yoji sah, dass Aya zögerte. Er grinste und hob den Daumen der unverletzten Hand. „Ich bin schon ein großer Junge. Los, besorg dir nen Kaffee und was zu essen. Oder...mach einen Besuch, wenn du schon mal hier bist.“

Er wusste, dass er sich weit aus dem Fenster lehnte. Tatsächlich wurde Ayas Blick zunächst schmal, aber dann nickte er und verließ den Raum. Yoji hörte, wie der Arzt leise aufatmete. Er lachte leise in sich hinein. Anscheinend entwickelte man mit der Zeit eine Art Immunität gegen Ayas eisige Aura, denn wenn er hätte tippen sollen, war der andere gerade in eher neutraler Stimmung.

 

 

 

 

Aya hatte gewusst, dass Kaffee nicht sein Ding war. Aber diese Brühe, die in dem kleinen Pappbecher hin und her schwappte, ließ sich eher mit Spülwasser vergleichen als mit einem Getränk. Ähnliches galt für das abgepackte, form- und konsistenzlose Etwas, das er dem Automaten entnommen hatte. Es war salzig und klebte an seinem Gaumen fest, sodass er es notgedrungen mit etwas von dem Spülwasser herunterwürgen musste. Im Grunde hatte er keinen Hunger, aber es war die einzige Beschäftigung, die er hatte finden können. Die wenige Lektüre, die in der sterilen Wartehalle auslag, bestand aus Sportmagazinen, Frauenzeitschriften und der Abendausgabe von letzter Woche, die wohl jemand hatte liegen lassen.

Er knüllte Einwickelpapier und Pappbecher zusammen und versuchte, sie mit einem gezielten Wurf in den Mülleimer zu befördern. Leider ließ sein Wurfgeschoss an Stromlinienförmigkeit zu wünschen übrig und landete unter einem missbilligenden Blick der Nachtschwester ein Stück neben dem anvisierten Ziel. Um kein Aufsehen zu erregen, erhob er sich und warf den Abfall vorschriftsmäßig in den Eimer. Ein wenig unschlüssig blieb er stehen. Die Nachtschwester hatte gerade ihren Posten verlassen und räumte an einer Ecke der Wartehalle herum. Er fühlte förmlich, wie sie ihn beobachtete. Ein junger Mann mit knallroten Haaren in schwarzer Lederhose mit schweren Stiefeln war auch mit dem unauffälligsten Pullover der Welt nicht unbedingt...nun unauffällig.

Sein Blick huschte zum Aufzug. Er zögerte. Sollte er wirklich? Als draußen ein Krankenwagen mit Blaulicht hielt, beschloss er, den Rückzug anzutreten. Er drückte den Aufzugknopf, betrat die Kabine und wählte das Stockwerk, in dem sich das Zimmer seiner Schwester befand.

 

Als er das Zimmer betrat, war es dunkel. Nur einer der Monitore und ein winziges Nachtlicht erzeugten eine Illusion von Helligkeit. Er blieb an der Tür stehen, plötzlich widerwillig, sich dem Bett zu nähern. Er hatte das Gefühl, das Zimmer zu beschmutzen, indem er hier in seiner Missionskleidung auftauchte. Es war nicht richtig, aber andererseits...er war hier, jetzt wieder zu gehen, hätte nur bedeutet, sich wieder dem inquisitiven Blick der Nachtschwester zu stellen. Oder schlimmer, in irgendeinem Bereich des Krankenhauses aufgegriffen zu werden, in dem er um diese Uhrzeit nichts zu suchen hatte. Hier war er sicher. Mit gesenktem Kopf trat er vor.

„Hallo Aya.“ Seine Stimme erschien ihm zu laut, zu viel für den kleinen Raum. „Eine komische Uhrzeit für einen Besuch, oder?“

Sein Blick fiel auf die Blumen im Fenster, die bereits begannen, zu verblühen. Wann war er das letzte Mal hier gewesen?

„Ich habe heute leider keine neuen Blumen für dich. Ich wollte eigentlich gar nicht herkommen. Du fragst dich sicher, warum ich jetzt trotzdem hier bin. Es ist wegen meinem...“

Er unterbrach sich. Die Worte des Arztes kamen ihm in den Sinn. Wir lassen Sie dann holen, wenn wir Ihren Freund wieder zusammen geflickt haben. Wirkten sie so? Wie Freunde? Oder war es nur etwas, was man sagte, weil einem ein besseres Wort fehlte. Wie nannte man so etwas? Kamerad? Nein, das klang, als würden sie zusammen beim Militär dienen. Und ganz bestimmt war Kumpel nicht das Wort, das er suchte. Vielleicht musste er sich also mit dem behelfen, was der Rest der Welt benutzte.

„Ein Freund von mir wurde verletzt und wird gerade behandelt. Ich dachte, ich nutze die Gelegenheit und sehe, wie es dir geht. Ja ich weiß, es ist mitten in der Nacht, aber...merkst du das da drinnen überhaupt?“

Seine Stimme verklang, fortgetragen vom Piepsen der Monitore und der drückenden Stille dazwischen. Er griff nach Ayas Hand und drückte sie. Er wollte nicht allein sein, während er wartete. Er hatte verlernt, allein zu sein. Er blieb, bis es Zeit war, zurückzugehen in die wahre Welt, in der er erwartet wurde.

 

 

 

 

Yoji stand vor dem Krankenhaus und rauchte. Es kam ihm wie Stunden vor, seit er die letzte Zigarette gehabt hatte. Seine Hand zierte ein hübscher Verband, in seiner Tasche befanden sich Medikamente und ein Rezept für Nachschub. Er hatte Glück gehabt. Verdammtes Glück. Es würden laut dem Arzt keine bleibenden Schäden bleiben, nur ein wenig Schonung und Wundpflege und dann würde er bald schon wieder der Alte sein. Er grinste, als sich die automatische Tür des Krankenhauses öffnete.

„Ah, mein Schutzengel. Ich dachte schon, du willst hier übernachten.“

„Du rauchst schon wieder?“ Trotz der ernsten Frage war Ayas Ton eher neutral als vorwurfsvoll.

„Ja ja, ein fürchterliches Laster. Ich weiß.“ Yoji hob entwaffnend die Hände.

„Dieses Mal hat es dich gerettet.“

„Huh?“

Aya ging an ihm vorbei und Yoji beeilte sich, ihm zu folgen.

„Klärst du mich noch auf oder muss ich darum betteln?“

„Als ich an dem verlassenen Kaufhaus vorbeikam, habe ich den Rauch gerochen. Was hat der Arzt gesagt?“

„Alles nur halb so wild. Also es tut höllisch weh, wenn ich die Hand bewege, aber es wird heilen.“

Aya nickte leicht. „Gut. Wir können nicht auf dich verzichten. Diese Mission ist noch nicht vorbei.“

„Oh bitte, wir sind noch nicht mal zu Hause“, jammerte Yoji. „Ich brauche ein Bett und mehr als eine Mütze voll Schlaf. Außerdem müssen wir den nächsten Einsatz gründlicher planen. Wir können nicht blind durch die Gegend stolpern und auf einen Zufallstreffer hoffen. Wer immer uns da angegriffen hat, war ein ernstzunehmender Gegner.“

„Mhm“, war die einzige Antwort, die er bekam. Den Rest der Heimfahrt blieb Aya schweigsam und Yoji scheute sich, seine Gedanken zu durchbrechen. Zudem war er einfach nur müde und froh darüber, bald in seinem Bett zu liegen.

 

Als er erwachte, sah er die Umrisse des Koneko durch die Scheibe. Er blickte verschlafen zu Aya hinüber.

„Warum sind wir hier?“

„Wir müssen Bericht erstatten.“ Aya stieg aus und wartete offensichtlich, dass er ihm folgte.

„Vielleicht hätte ich doch bei dem Mann mit dem Messer bleiben sollen. Der war gefühlvoller als du“, knurrte Yoji vor sich hin, trat aber ebenfalls auf die Straße. In diesem Moment flog die Tür auf und Omi stürzte heraus.

„Aya! Yoji! Ihr seid zurück. Ken, sie sind da!“

„Du weckst die Nachbarn“, stellte Aya kühl fest und ging ins Haus. Omi sah ihm fassungslos nach.

Yoji klopfte dem Kleinen aufmunternd auf die Schulter. „Nimm´s ihm nicht übel. Er hatte ne harte Nacht. Hat mir das Leben gerettet. Das muss er erst mal verdauen.“

Omi schüttelte nur den Kopf. „Ich glaube, ich werde ihn nie verstehen.“

Yoji lachte laut auf. „Alles Taktik, Chibi. Alles Taktik. Komm, lass uns reingehen. Ich brauche ein Bier und etwas, um meine Füße hochzulegen.“

 

 

 

 

Als sie berichtet hatten, was sich in dem Kaufhaus zugetragen hatte, herrschte erst einmal Schweigen. Omi war der erste, der wieder etwas sagte.

„Hat einer von euch den Angreifer erkennen können?“

Yoji verneinte, aber Aya schwieg. Nach einer Weile meinte er: „Ich weiß nicht genau. Irgendetwas an ihm kam mir bekannt vor. Aber ich kann es nicht genau sagen. Es war zu dunkel und er war zu schnell weg.“

„Also sind wir wieder ganz am Anfang“, seufzte Omi und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

„Vielleicht auch nicht“, meldete sich Ken zu Wort. „Yoji, was genau hat er zu dir gesagt.“

„Gesagt?“ Yoji war erstaunt über die Frage. „Er sagte nur ein Wort. Eins. Das war alles.“

„Aber was heißt das denn?“ Ken sprang auf und begann, hin und her zu laufen. „Das heißt doch, dass er anscheinend vorhatte, dir noch mehr Verletzungen zuzufügen.“

„Ach, was du nicht sagst. Ersthaft jetzt? Ich meine, er hatte ein Messer und...Moment, nein. Er hatte noch mehr. Ich habe sie klirren gehört, als er fortlief.“ Er hatte das Geräusch nicht bewusst wahrgenommen, aber jetzt in der Erinnerung kam es plötzlich zurück.

„Und er hat dich auch nicht nur angegriffen. Er hat dich an die Wand genagelt, Yoji.“ Ken schien wie in einem Fieberwahn. „Ich wusste die ganze Zeit, dass mich etwas an den Fotos gestört hat. Es waren zwei Dinge. Zum einen gab es nicht genug Blut. Aya wird wissen, was ich meine. Ein Kampf mit einer Klinge heißt Blut. Und viele Schnitte bedeuten viel Blut. Manx hat erzählt, die Opfer sind an Blutverlust gestorben. Aber wo war all das Blut? Und zum anderen war da noch etwas, das Manx erwähnt hat. Wartet, ich hole die Bilder.“

 

Ken nahm dem Umschlag vom Schreibtisch und breitete die grausigen Abbildungen aus. Er suchte die fünf Bilder heraus, die jeweils ein komplettes Bild der Opfer zeigten. „Seht ihr das? Manx hat gesagt, die Opfer wären gefesselt gewesen, als man sie fand. Aber sie haben am ganzen Körper Schnitte. Wie ist das möglich? Niemand kann jemanden so verletzen, der gefesselt ist. Man würde die Fesseln zerschneiden. Außerdem gibt es keine Fesselmale.“

„Vielleicht waren die Opfer bewusstlos“, überlegte Omi.

„Man hat aber laut toxikologischem Bericht keinerlei Substanzen feststellen können. Ich habe den ganzen Tag überlegt, wie das sein kann. Meine Schlussfolgerung ist, sie waren nicht gefesselt. Das hat erst hinterher jemand getan, der keine Ahnung vom Kampf mit einer Klinge hat.“

„Aber wie sollte man jemanden so verletzen, wenn er nicht gefesselt war?“, unterbrach Ayas tiefe Stimme Kens Vortrag. „Das ist unmöglich. Niemand hält diese Schmerzen aus.“

„Deine Antwort sitzt da“, antwortete Ken und deutete auf Yoji. „Ich hätte mich selbst in den Hintern treten können, dass ich es nicht früher erkannt habe, denn es gab genau fünf gemeinsame Wunden, die jedes der Opfer hatte. Jeder von ihnen wurde an den fünf Stellen durchbohrt, die ich seit meiner frühesten Kindheit vor Augen hatte. Aber ich habe sie nicht erkannt. Bis jetzt.“

Er schloss kurz die Augen, als müsse er die Vorstellung einen Augenblick lang sinken lassen. Als er sie wieder öffnete, war alle Wärme aus seinem Blick verschwunden und reiner Hass loderte darin.

„Die Opfer wurden nicht gefesselt. Sie wurden gekreuzigt.“

 

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

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Er saß am Boden und wartete. Das tat er oft, wenn er hier war. Hier gab es keine Zeit, keinen Raum, nur die Stille und seine Gedanken. Zur Bewegungslosigkeit verdammt, war er gezwungen innezuhalten, zu rasten, zu ruhen. Manchmal blieb er stehen, den festen Stoff um seinen Körper gewickelt wie einen Schutzpanzer. Er nahm ihm die Entscheidung ab, ob er etwas tun sollte oder nicht. Er konnte nichts tun. Er blieb stehen, bis irgendwann seine Beine unter ihm nachgaben und er fiel. Dann blieb er liegen. Er spürte den Schmerz nicht, der andere vor der Erschöpfung gewarnt hätte. Deswegen hatte Schuldig gesagt, dass er sich setzen sollte. Heute Nacht würden sie jagen gehen. Er mochte es, wenn sie das taten. Sie hatten bereits zusammen gejagt. Schuldig war ein guter Jäger.

 

Sie hatten die Lämmer gejagt, die sich hinter ihrem Gott zu verstecken suchten.

„Glaubst du an Gott?“, hatte er sie alle gefragt und sie hatten genickt. Aber als er ihnen sagte, dass er sehen wolle, ob Gott ihnen antworte, wenn sie ihn um Hilfe baten, hatten sie geschrien. Er hatte sie zur Schlachtbank geführt, so wie Gott es mit seinem eigenen Sohn getan hatte. Sie hatten ihre Schreie zum Himmel geschickt, doch ihr Hirte war nicht erschienen, um sie zu retten. So hatte der Wolf die Lämmer gerissen und war mit vollem Bauch in seine Höhle zurückgekehrt. Es gab keinen Gott, der sie hätte retten können.

 

Er hörte, wie sich die Schlüssel im Schloss drehten. Die Tür öffnete sich. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, wer dort kam. Die Schritte hatten es ihm bereits verraten. Leicht, weit ausgreifend, federnd. Er ging immer wie ein König, ein Löwe. Ein Löwe, der mit dem Schweif seine Spuren verwischte. Der seine Mähne schüttelte und brüllte, wenn man ihm nicht genug Respekt zollte. Der seine Krallen in weiches Fleisch versenkte und diejenigen zerriss, die sich ihm in den Weg stellten. Der jagte, um seine Macht zu beweisen. Der tötete um des Vergnügens willen und nicht um zu fressen. Der Gott verletzte, indem er mehr nahm, als er benötigte. Der Gottes Gaben verschwendete und sie in den Schmutz zog. Ein guter Gefährte.

 

„Hey, Farfarello. Es wird Zeit.“

 

Schuldig begann die Schnallen, der Zwangsjacke zu öffnen. Mit jedem Handgriff kam ein Stück Freiheit zurück. Die Freiheit sich zu bewegen. Die Freiheit, zu laufen. Die Freiheit zu jagen. Er lächelte.

„Aufgeregt?“ Schuldig zwinkerte ihm zu. „Du wirst nicht mehr lange warten müssen. Nagi hat gesagt, er hat sie gerade gesichtet.“

 

Nagi. Der Junge. Der Zögling. Die Schlange, die sich noch nicht gehäutet hatte. Sie log, sie manipulierte, sie war schlau. Aber sie hatte ihr volles Potential noch nicht erreicht. Sie wartete noch auf den rechten Augenblick, um sich zu zeigen und sich der Jagd anzuschließen. Er war sich nicht sicher, ob sie jagen würde. Sie war genügsam, zufrieden, wenn man sie in Ruhe ließ. Sie würde wachsen und irgendwann die Welt umschlingen in ihrem Würgegriff. Vielleicht würde er ihr zeigen müssen, wie man jagt.

 

Er hob seinen Kopf, um Schuldig an den Reißverschluss zu lassen, der die Jacke vor seiner Brust verschloss. Sein einzelnes Auge fixierte den Mann vor sich.

 

„Was hat Crawford gesagt?“

 

Crawford, der Adler, der König der Lüfte. Der Adler kämpfte nur selten. Jagte nur, wenn es notwendig war. Er beschützte diejenigen, die ihm würdig erschienen, doch seine Auswahl war sehr begrenzt. Denn seine Augen sahen alles. Alles. Er hatte Farfarello aus den Tiefen empor gehoben, in die Gott ihn geworfen hatte. Der Adler hatte ihn befreit und daher jagte er für ihn. Für ihn und für die Rache. Die Rache an Gott, der ihm alles genommen hatte.

 

Schuldig schnaubte. Die beiden Könige kämpften manchmal um die Vorherrschaft. Der Löwe mochte es nicht, wenn man ihm zu viel vorschrieb. Aber er wusste, dass der Adler aus der Luft den besseren Überblick hatte. Deshalb beugte er das Haupt und ließ zu, dass der Adler ihm sagte, was er zu tun hatte. Der Adler kontrollierte auch die Schlange, die sich in seinen Klauen wand. Und er hatte den Wolf in Ketten gelegt, damit dieser nicht nach Gutdünken unter den Schafen wilderte. Aber in dieser Nacht war er frei. In dieser Nacht würde er jagen. Aber nicht nach Schafen. Diese Nacht bot eine andere Beute.

 

„Er hat gesagt, es geht in Ordnung. Und das übliche Blahblah. Du kennst ihn ja.“

 

Schuldig löste die Riemen an seinen Beinen und machte ein paar Schritte auf die Tür zu. Als Farfarello ihm nicht folgte, drehte er sich noch einmal um.

 

„Na los, komm schon. Ich werde dich garantiert nicht tragen.“

 

Farfarello legte den Kopf schief.

 

„Ah-ah. Auf keinen Fall. Dein Gott hat dir zwei gesunde Beine gegeben, als benutze sie auch.“

 

„Würde es Gott verletzten, wenn ich es nicht tue?“
 

„Es würde vor allem mich verletzten. Wenn du also deinen gedanklichen Ausflug in Brehms Tierleben beendet hast: Lass uns ein paar Kätzchen fangen gehen.“

 

Farfarello folgte Schuldig langsam. Der war ausgesprochen guter Laune. Außerdem schien er Gefallen an diesem fremdartig klingenden Wort gefunden zu haben. Vermutlich aus seiner Muttersprache. Kätzchen. Farfarello lächelte. Ja, bestimmt würde es Spaß machen, den Kätzchen die Krallen zu ziehen.

 

 

 

 

 

 

Feiner Regen hing wie ein Vorhang über den Straßen. Er ließ die Luft kälter wirken, als sie eigentlich war, und trieb die Menschen in ihre Häuser. Irgendwo in der Ferne grollte leiser Donner. Die Steine unter seinen Stiefeln glänzten, waren rutschig von der allgegenwärtigen Feuchtigkeit, die durch das alte Gemäuer kroch. Ein verfallener Zaun hatte sie nicht am Eindringen in das verwilderte Grundstück gehindert, das wohl einst einen kleinen Garten beinhaltet hatte. Jetzt wuchsen hier nur noch dürres, gelbes Gras und ein paar aus der Form geratene Thujas, die sich schlichtweg geweigert hatten einzugehen.

Abyssinian gab Siberian ein Zeichen, sich nach einem Seiteneingang umzusehen. Er selbst ging auf die schwere, hölzerne Vordertür zu. Dunkle, metallene Beschläge hielten das Holz an seinem Platz, während die Mauern um sie herum zusehends verfielen. Gelber Backstein, der Wind und Wetter zu lange getrotzt und schließlich verloren hatte. Er legte seine Hand auf die Tür und drückte. Die Tür klemmte und er legte mehr Kraft in die Bewegung. Mit einem gequälten Geräusch gab sie schließlich seinem Wunsch nach und öffnete sich. Von drinnen schlug ihm ein modriger Geruch entgegen. Steine, faulendes Holz, mit Stockflecken bedeckter Stoff und eine Nuance, die er nicht einordnen konnte. Vielleicht etwas, das mit dem ursprünglichen Verwendungszweck des Ortes zusammenhing. In all diese Eindrücke mischte sich jedoch noch etwas anderes, dass er nur allzu oft gerochen hatte. Ein Gestank von Verwesung, geronnenem Blut und Tod. Er wusste sofort, dass sie den Ort gefunden hatten, wo die Opfer getötet worden waren.

 

Die Bankreihen in der steinernen Halle waren nicht mehr vollständig. Einige lagen zertrümmert an Ort und Stelle, einige fehlten, andere wiederum sahen aus, als könnten jederzeit Gläubige auf ihnen Platz nehmen. Ein näherer Blick hingegen zeigte, dass der Schein trog. Das Holz war alt und feucht, ebenso marode wie das Bauwerk um sie herum. Der einstmals rote Teppich, der sich zwischen den Bänken spannte, war dunkel vor Feuchtigkeit und voller Löcher.

 

Er trat zwischen die Sitzreihen und ließ den Blick schweifen. Neben dem zentralen Sitzbereich gab es zwei Säulengänge die rechts und links zum Altarraum führten. Über dem Eingang der Kirche lag eine größere Empore, die über eine steile Treppe betreten werden konnte. Große, mit Querstreben verbundene Metallröhren ragten dort in die Höhe und er vermutete, dass sich dort oben eine Orgel befand, wie man sie in solchen Gebäuden zur musikalischen Begleitung benutzte. Er erinnerte sich, vor lange Zeit einmal das Spiel eines solchen Instruments vernommen zu haben. Es war ihm laut und düster vorgekommen und die Kirche, in der sie sich befunden hatte, viel zu kalt.

 

Ein Scharren von Füßen auf dem steinernen Boden ließ ihn herum fahren. Er entdeckte Siberian, der vorne im Altarraum stand. Er hatte den Blick auf etwas gerichtet, das ihn augenscheinlich entsetze. Mit wenigen, schnellen Schritten war Abyssinian bei ihm.

„Was ist?“, wollte er wissen, obwohl er im Grunde nicht fragen musste. Der Geruch nach Blut und Tod war hier vorne nur umso stärker.

 

Hinter dem steinernen Altar war das hölzerne Kreuz, das vormals an der Wand gehangen hatte, aufgebahrt worden. Die Figur, die daran befestigt war, hing mit dem Gesicht nach unten, während drei aufgeklappte Ständer das Kreuz zu einer Art perversem Tisch werden ließen. Das Holz war am Fußende und den beiden Querstreben voller Löcher. Dort mussten die Opfer befestigt worden sein, ebenso wie es die Figur auf der Rückseite zeigte. Kratzer überzogen das restliche Holz. Kratzer und dunkle Spuren eingetrockneten Blutes, das auf dem Boden nur nachlässig entfernt worden war und Übelkeit erregende, verwischte Spuren hinterlassen hatte.

 

„Er muss sie hier getötet haben“, verbalisierte Siberian unnötigerweise das Offensichtliche. „So ein Monster.“

„Gibt es irgendwelche weiteren Hinweise?“ Seine Stimme klang hohl in der steinernen Halle, sein Atem wurde in der Kälte der Nacht sichtbar.

„Einbruchsspuren ja, aber ich weiß nicht, wie alt sie sind. Möglicherweise hat jemand schon vorher die Sakristei ausgeräumt, wenn denn dort überhaupt noch etwas zu holen war. Es sieht aus, als hätte jemand danach noch darin randaliert. Einige Bruchkanten der Schränke sind frischer als andere. Aber keine Hinweise auf den Verbleib des Täters.“

„Wir werden warten. Ich beziehe Stellung oben auf der Empore.“

„Gut, ich werde mich im Beichtstuhl verstecken.“ Siberian lachte, als er das sagte. Abyssinian sah ihn fragend an.

„Es ist...ein Ort, um seine Sünden Gott anzuvertrauen. Um Vergebung zu erlangen. Ich glaube, ein unpassenderes Versteck kann es für mich nicht geben.“

Er grinste und ging zu einem hölzernen Kabinett an der Seite der Kirche. Schwere, stockfleckige Vorhänge schirmten den Innenraum vor neugierigen Blicken ab. Abyssinian bedachte die Konstruktion mit einem nachdenklichen Blick und machte sich dann daran, die abgetretenen Stufen zur Empore emporzusteigen.

 

Das morsche Holz knarrte und ächzte unter seinen Schritten und er trat unwillkürlich vorsichtiger auf. Auch die schweren Holzdielen, aus denen die Empore gefertigt worden war, protestierten gegen den Eindringling. Er wagte es nicht, sich weit auf die Fläche hinaus zu begeben, aus Angst, sie könnte unter ihm einbrechen. So bezog er in der Nähe der Treppe Position hinter der Balustrade. Er ließ sich gegen einen der dicken Treppenpfosten sinken und richtete den Blick starr auf die kleine Tür, durch die der Täter vermutlich kommen würde, wenn er denn überhaupt kam.

Er hatte kurz vor Aufbruch noch einmal mit Balinese diskutieren müssen, ob es nicht sinnvoller wäre, Kameras zu installieren. Aber sie konnten nicht riskieren, dass sie zu spät kamen, um das nächste Opfer zu retten. Oder den Täter zu schnappen, obwohl sich dieser anscheinend immer viel Zeit damit ließ, seine Opfer zu quälen. Obwohl die Idee nicht schlecht gewesen war, hatte er sie rüde abgeschmettert. Die Ausrüstung zu besorgen hätte noch einmal Zeit gekostet. Er hatte genug Zeit verschwendet. Mit einem Seufzer ließ er sich zurücksinken und wartete.

 

„Bombay hier. Status?“

Die Stimme in seinem Ohr ließ ihn auffahren. Verdammt, es wäre seine Aufgabe gewesen, diese Abfrage zu machen. Er hatte sich zu sehr ablenken lassen.

„Siberian hier. Wir haben den Tatort gefunden und sind in Stellung.“

Bombays Stimme war leise. „Die Veranstaltung hier ist gleich zu Ende. Ich habe niemand entdecken können, der auf eure Beschreibung passt. Mach dich bereit, Balinese, falls er sich draußen ein Opfer sucht.“

„Balinese verstanden. Over.“

Abyssinian überlegte, ob er noch etwas sagen sollte, ersparte sich aber die unnötigen Worte. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Jeder war an seinem Platz. Eine Mission wie jede andere. Geordnet. Planbar. Nicht so wie das, was momentan in seinem restlichen Leben loswar. Ohne sein Zutun wanderten seine Gedanken zum gestrigen Tag.

 

 

Er war es gewohnt, auch an Sonntagen früh aufzustehen. Meist trainierte er nach einer leichten Mahlzeit lange; länger, wenn er nicht mit der Wäsche dran war oder im Laden arbeiten musste. Er duschte, zog sich um, erledigte die anfallenden Arbeiten, ging Aya besuchen, kam nach Hause, las, ging schlafen. Alles geregelt und ohne Überraschungen. Doch diesen Sonntag...

 

Allein in Yojis Bett aufzuwachen, den blonden Mann neben sich in der Bettdecke eingerollt, sodass nichts Wichtiges verdeckt war, war etwas gewesen, dass seine kleine Sonntags-Welt in den Grundfesten erschüttert hatte. Die Tatsache, dass er den Impuls gehabt hatte, sich gleich wieder auf ihn zu stürzen, war auch nicht eben hilfreich gewesen.

Sie hatten es immerhin bis nach dem Frühstück geschafft, das aus eher zufälligen Fundstücken in Yojis Schränken bestanden hatte, die Finger voneinander zu lassen. Dann war das Frühstücksgeschirr mit ziemlicher Heftigkeit vom Tisch gefegt und durch einen nach Luft schnappenden Wohnungsinhaber ersetzt worden. Anschließend hatte er geduscht, aber Yoji hatte die Tatsache, dass er vergessen hatte, abzuschließen, als Einladung verstanden. Die Rechnung für die anschließende Wasserschlacht wollte er lieber nicht sehen. Sicher, dass seine niederen Triebe nun endlich befriedigt waren, hatte er es gewagt, nur mit einem Handtuch bekleidet das Schlafzimmer zu betreten. Yoji hatte anzüglich gegrinst, ihn aber in Ruhe gelassen. Er hatte sich vor das Problem gestellt gesehen, keine frischen Sachen mitgenommen zu haben. Die Übernachtung war nicht geplant gewesen.

„Bedien dich ruhig“, hatte Yoji gesagt und auf seinen Schrank gezeigt. „Aber glaub nicht, dass ich dir ein Fach freiräume oder eine zweite Zahnbürste kaufe.“

Er hatte genickt und sich aus der Flut von untragbarer Kleidung eine dunkle Jeans, ein weißes T-Shirt und eine fast neue, graue Sweatshirtjacke herausgesucht. Die Tatsache, dass die Sachen ganz unten im Schrank in eine Ecke gequetscht gewesen waren, war ein Hinweis gewesen, dass Yoji sie quasi nie trug. Die Jeans war ein wenig zu lang gewesen, sodass er sie hatte umkrempeln müssen. Yoji hatte auf dem Bett gelegen und ihm zugesehen.

„Du bist sogar in Lila sexy“, hatte er gesagt. Ein Blick auf die Jeans hatte ihm bestätigt, was er bereits befürchtet hatte. Im Sonnenlicht hatte der Stoff tatsächlich einen leichten Violettstich gehabt. Das hatte erklärt, warum sie unbeachtet herum gelegen hatte. Ihm war jedoch nicht genug Zeit geblieben, sich über die unglückliche Wahl Gedanken zu machen, da das Kleidungsstück kurz darauf wieder in die Ecke geflogen war. Als sie endlich wieder aus dem Bett gekommen waren, war es bereits Zeit für ein sehr spätes Mittagessen gewesen. An diesem Punkt hatte er sich endlich zusammengerissen und war gegangen. Er hatte nur schnell im Koneko vorbeigeschaut, da es auf dem Weg lag und er noch ein paar Blumen hatte holen wollen. Ken und Omi hatten den Laden am Vormittag alleine geöffnet und bereits wieder geschlossen. Als er den Laden betreten hatte, hatte Omi noch die Einnahmen gezählt. Es war eine eigenartige Situation gewesen.

 

 

 

Omi sah auf. Seine Augenbrauen hoben sich. „Oh, hallo Aya-kun. Wir...ich...wir dachten du seist.“

Aya würdigte das Gestammel keiner Antwort und machte sich an einem der Kühlschränke zu schaffen. Er wählte ein paar passende Blumen aus – Hyazinthen in verschiedenen Farbtönen – und band diese zu einem einfachen Strauß zusammen. Es war unübersehbar, dass Omi ihn beobachtete.

Was?“, schnappte er, warf die klebrigen Stengelabschnitte in den Abfall und wickelte den Strauß in Papier.

Nichts“, hatte Omi geantwortet, aber sein Blick war ganz kurz zu der Jacke gewandert, die er trug. „Wir haben...Ken hat deine Wäsche mitgenommen. War das in Ordnung?“

Er hatte sich ein wenig entspannt. Anscheinend lag es nur an seiner ungewöhnlichen Kleiderauswahl, dass Omi ihn so anstarrte. Zum Umziehen hatte er allerdings keine Zeit mehr. Er wollte den Nachmittag bei Aya verbringen und war ohnehin schon zu spät dran.

Ja, danke“, antwortete er knapp und verschwand aus dem Laden. Den nachdenklichen Blick, den Omi ihm dabei nachwarf, sah er schon nicht mehr.

 

 

Ein Geräusch ließ ihn wieder in die Realität zurückkehren. Wie lange hatte er hier mit Träumen verbracht? Er ärgerte sich über sich selbst. Unaufmerksamkeit auf einer Mission konnte ihn oder andere das Leben kosten. Er musste damit aufhören, diesen privaten Kram in seine Arbeitswelt zu lassen. Im Blumenladen mochte das nicht allzu schlimm sein, aber hier war das unverzeihlich. Er fasste den Griff des Katana fester und schob sich näher an den Rand der Galerie heran.

Ein schmaler Lichtstreifen oder vielmehr ein etwas hellerer Schatten war unter der Galerie erschienen. Der andauernde Regen und die Wolken, die den Mond verdeckten, schluckten alles Licht und ließen nur diffuses Grau zurück. Trotzdem war er sicher, dass sich dort unten etwas bewegte. Jemand hatte sich Zutritt zur Kirche verschafft.

 

Eine Gestalt betrat den zerschlissenen, roten Teppich. Sie ging langsam, fast schleppend. Abyssinian spannte sich und schätzte die Entfernung ein. Wenn er auf die Balustrade kletterte und sprang, konnte er den Gegner noch im Flug erwischen und mit der Wucht des Aufpralls entweder zu Boden werfen oder in zwei Hälften spalten. Aber zuerst musste er sicher sein, dass es die Zielperson war. Bisher konnte er nicht viel mehr als einen sich langsam vorwärts bewegenden Schatten erkennen. Vorne im Altarbereich, war das Licht durch die hohen, bunt verglasten Fenster besser. Nur wäre der Gegner dann zu weit entfernt, um ihn noch zu erwischen. Er musste sich darauf verlassen, dass Siberian ihm den Rückzug durch die hintere Tür verwehren würde. Zu zweit würden sie ihn stellen und auch ohne Überraschungsmoment töten können. Er überlegte, den andere zu kontaktieren, beließ es jedoch bei einem stummen Gedanken, den er in Richtung von Siberians Versteck schickte. Seine Stimme hätte ihn verraten und das Ziel vertreiben können.

 

Die Person, von der er sich inzwischen immerhin sicher war, dass es sich um einen Mann handelte, hatte die Stufen, die zum Altar führten, fast erreicht. Er hatte etwa seine Größe, kurze, helle Haare und trug eine Art Weste, die die Arme freiließ. Angesichtes der draußen beherrschenden Temperaturen eine ungewöhnliche Wahl. Der Mann blieb vor den Stufen stehen und blickte nach oben zu den Bildern in den Fenstern. Abyssinian hatte sie vorher nicht beachtet, doch jetzt folgten seine Augen den Blick des Fremden.

Die Scheiben, die vorwiegend in Blau gehalten waren, zeigten verschiedene Szenen, die vermutlich der christlichen Bibel entnommen waren. Meist zwei oder drei Menschen, die einander zugewandt waren. Szenen mit einem Kind, ein Engel war zu erkennen, die Gestalt mit dem Kreuz. Der Mann war vor den Stufen auf ein Knie gesunken, als würde er beten.

Abyssinian sah, wie sich an der Seite der Kirche etwas bewegte. Siberian war aus seinem Versteck genommen und näherte sich von der linken Seite her. Er erhob sich und wollte ihm beistehen, als sich der Mann am Altar plötzlich zu Siberian herum drehte. Abyssinian erstarrte. Er kannte den Mann. Die kurzen, extrem hellen Haare, die Statur, das Messer und vor allem aber die Augenklappe, die er über dem linken Auge trug. Das war derjenige der an der Seite von Takatoris Leibwächter gegen ihn gekämpft hatte. Er wusste seinen Namen nicht, aber es bestand kein Zweifel, dass er es war. Ein skrupelloser, schneller, gefährlicher Gegner. Er musste seinem Teamkollegen beistehen.

 

Gerade, als er über die Brüstung nach unten springen wollte, hörte er hinter sich eine Stimme, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Sein Name ist Farfarello. Ich heiße Schuldig. Wir sind beide Mitglieder von Schwarz.“

Abyssinian wirbelte herum, die Waffe abwehrend vor sich gerichtet. Aber hinter ihm war niemand. Sein Blick irrte nach oben und er sah über sich auf dem Treppenpfeiler einen zweiten Mann stehen. Auch ihn erkannte er. Der rothaarige Bastard, der Bombay damals entführt und seine Schwester Ouka erschossen hatte.

Der Mann, der sich Schuldig nannte, lächelte. „Hallo Kätzchen!“

 

 

Ohne lange zu überlegen, ließ er das Katana vorschnellen und verwandelte den Treppenpfeiler in eine Kaskade aus Holzsplittern. Schuldig lachte, sprang, gerade als die Klinge das Holz erreicht hatte, und landete auf der Brüstung der Empore. Er balancierte ein paar Schritte und drehte sich dann zu Abyssinian herum.

„Gleich so feindselig? Ich hab dir doch gar nichts getan.“

Er antwortete nicht, setzte dem Mann nach und hieb erneut mit dem Katana nach ihm. Von unten konnte er das Aufeinandertreffen von metallenen Klingen hören. Ein schneller Blick bestätigte ihm, dass Siberian und Farfarello ebenfalls kämpften. Er sah zu Schuldig und wirbelte herum. Noch bevor er die Treppe erreicht hatte, stand der mit einem Mal vor ihm.

„Nicht so schnell, Kätzchen.“

Ein Tritt warf ihn zurück auf die ächzende Empore. Mit einer Bewegung war Abyssinian wieder auf den Beinen. Ein zweiter Tritt traf ihn aus dem Nichts und warf ihn erneut zurück. Dieser Schuldig war wirklich schnell. Er blinzelte und war überrascht, den Mann schon wieder auf der Brüstung sitzend vorzufinden, ein breites Grinsen auf dem Gesicht.

„Tztztz, du bist aber ein unartiges Kätzchen. Ich habe doch, glaube ich, klar gemacht, dass du hier bleiben sollst. Lass die beiden das da unten mal alleine regeln.“

Aus dem Altarraum war ein Schmerzensschrei zu hören. Siberian hatte anscheinend einen Treffer kassiert. Es folgte ein Stakkato aus hellen Lauten, als die Waffen der beiden Kämpfenden immer wieder aufeinander trafen. Schuldig lauschte und lächelte.

„Ah, hörst du, sie spielen zusammen. Ist das nicht schön?“

 

„Das hier ist kein Spiel“, knurrte Abyssinian und kam auf die Füße. Er hielt das Katana vor sich und suchte nach Schwachstellen. Aber der Mann ihm gegenüber machte sich nicht mal die Mühe, aufzustehen, geschweige denn eine Waffe zu ziehen. Arroganter Bastard. „Ihr habt diese Menschen getötet. Wir werden das nicht länger erlauben. Stirb!“

Das letzte Wort hatte er geschrien und sich mit einem weit ausgeführten Schlag auf Schuldig geworfen. Er riss die Augen auf, als sich die Klinge seines Schwerts in die leere Brüstung bohrte und feststeckte. Ein harter Schlag traf sein Handgelenk und prellte ihm den Griff aus der Hand. Ein Tritt in die Körpermitte schleuderte ihn rückwärts. Er überschlug sich und kam fauchend auf die Füße. Schuldig hatte die Augenbrauen zusammengezogen.

„Wenn du endlich mal aufhören könntest, mich anzugreifen? Du hast doch sowieso keine Chance. Warum also wehrst du dich so?“

Abyssinian starrte den anderen nur finster an. Was zum Teufel sollte das hier werden? Schuldig wollte nicht mit ihm kämpfen, aber was dann? Was wollten die beiden?

Das Gesicht seines Gegenübers hellte sich auf. „Ah, jetzt kommen wir zum Kern der Sache. Weißt du, unser lieber Farfarello ist ein bisschen...speziell. Die anderen Kinder wollen nicht mit ihm spielen. Behaupten, er wäre unheimlich und ein wenig...irre. Deswegen habe ich beschlossen, dass er eine Beschäftigung braucht. Ein Hobby, wenn du so willst. Ich hatte an ein Haustier gedacht, was meinst du?“

Er antwortete nicht. Schuldig war, während er gesprochen hatte, auf der Brüstung entlang gewandelt und hatte sich so von dem Katana entfernt. Abyssinian spannte sich, sprang, riss das Schwert aus dem Holz und sprintete in Richtung Treppe. Er erreicht die oberste Stufe, als ihn ein erneuter Tritt in den Rücken traf und er die restlichen Stufen in einem unkontrollierten Fall hinunterstürzte. Er landete hart mit dem Gesicht zuerst auf dem Steinboden. Seine Beine verfingen sich ineinander und seine Kniescheibe machte unangenehme Bekanntschaft mit der Metallkante, die die untere Stufe begrenzte. Es knirschte. Er verbiss sich den Schmerz, drehte sich auf den Rücken und sah, wie Schuldig langsam nach ihm die Treppe hinab stieg. Er schüttelte den Kopf.

„Nun wird es aber wirklich langsam lästig. Ich wollte ja eigentlich nett bleiben, aber so langsam verliere ich die Geduld, Kätzchen.

„Hör auf mich...wie auch immer zu nennen.“

Schuldig lachte. „Wie? Kätzchen? Aber wenn ich recht informiert bin, habt ihr doch alle Katzen als Codenamen. Weißt du, ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Du bist, mhm... Abyssinian? Das da hinten ist Siberian. Und dann hätten wir noch Bombay und Balinese, eh? Ein niedliches Körbchen voller Rassekatzen. Fällt gar nicht so leicht, sich zu entscheiden.“

Abyssinian rappelte sich auf. Er hielt das Katana vor sich und suchte festen Stand. Schuldig schnaubte und ging einfach an ihm vorbei zu einem der Seitengänge. Als er zuschlagen wollte, war der andere schon in Richtung Altarraum unterwegs. Schuldig drehte sich um und zwinkerte ihm über die Schulter hinweg zu.

„Na los, Kätzchen. Fang mich, wenn du kannst.“

 

 

 

Siberian keuchte auf, als er den Mann vor dem Altar erkannte. Sie waren sich im Park begegnet, an dem Tag, als Ouka starb. Er suchte den anderen nach einer Waffe ab. Ein Dolch, rechte Hand. Mit einem grimmigen Lächeln ließ er die Klingen seiner Bugnuks aufschnappen. Das einzelne Auge seines Gegenübers glühte auf. Er lächelte.

„Glaubst du an Gott?“, fragte er, die Stimme leise, ein heiseres Flüstern.

„Nein“, knurrte Siberian. „Aber ich glaube an die Hölle und genau dort werde ich dich jetzt hinschicken.“

Er holte mit der rechten Hand aus und zielte auf den Kopf. Dieses Narbengesicht würde keine Unschuldigen mehr meucheln. Sein Gegner wich zurück, die scharfen Klingen verfehlten ihn haarscharf und durchschnitten nur leere Luft. Er setzte nach, doch der Schlag ging wieder ins Leere. Der dritte wurde vom Dolch abgefangen. Der vierte verfehlte erneut. Der fünfte ebenfalls.

„Bleib stehen, verdammt!“

Farfarello lachte nur und duckte sich unter dem nächsten Schlag hinweg, ließ sich fallen, rutschte unter ihn und trat mit beiden Beinen nach oben. Siberian wurde in die Luft geschleudert, drehte sich und landete hart mit dem Rücken auf den Stufen zum Altar. Er keuchte, als die Luft aus seinen Lungen gepresst wurde. Die Steinkanten bohrten sich schmerzhaft in seinen Rücken. Er konnte nicht atmen, riss panisch die Augen auf. Sofort war sein Gegner über ihm, den Dolch zum Stoß erhoben. Er riss die Krallen hoch und Metall traf auf Metall. Wieder und wieder stieß der andere zu, während Siberian auf dem Rücken lag, unfähig selbst anzugreifen.

 

Plötzlich ließ Farfarello von ihm ab. Er trat einige Schritte zurück und ließ ihn aufstehen. Den Kopf leicht schräg gelegt, stand er da, hob die Hand mit den kurzen Handschuhen und winkte Siberian, ihn anzugreifen.

Siberian schnaubte. 'Zu viele Actionfilme gesehen oder was? Was glaubt der eigentlich, wer er ist? Neo aus Matrix? Ha!'

Mit einem Schrei warf er sich nach vorne, die Krallen verschwammen zu einem Wirbel aus glänzendem Stahl. Aber Farfarello parierte jeden Ausfall, jeden Streich, jede Finte mit seinem Dolch. Kreischend fraß sich das Metall ineinander, die beiden Kämpfer einander Auge in Auge gegenüber.

„Du bist schnell“, lobte Farfarello. „Aber nicht schnell genug.“

Er duckte sich und rammte Siberian die Faust in die Magengrube. Sein Ellenbogen bohrte sich hart zwischen seine Schulterblätter und ließ ihn zu Boden stürzen. Er trat zu, um die empfindliche Seite zu treffen, aber dieses Mal ging sein Tritt fehl. Siberian packte Farfarellos Arm, setzte den Fuß an seinen Bauch, zog ihn nach vorne. Er nutze den Schwung der Bewegung, um seinen Gegner in die Reihen der Kirchenbänke zu schleudern. Mit einem gewaltigen Krachen landete der Körper auf dem maroden Holz und zermalmte zwei der Bänke unter sich.

 

Siberian sprang auf die Füße und sah sich um. Im hinteren Teil der Kirche war Abyssinian dabei, sich mit diesem rothaarigen Lügenmaul zu prügeln. Anscheinend kamen er und das Narbengesicht immer im Doppelpack. Er wollte seinem Teamkollegen gerade zu Hilfe eilen, als sich Farfarello wieder erhob. In seinem linken Oberarm steckte ein handlanges Stück Holz. Er schien die Verletzung nicht zu bemerken und stürzte sich mit einem Schrei wieder auf Siberian. Die Angriffe kamen so schnell, dass dem nichts anderes übrig blieb, als diese zu parieren. Schritt für Schritt wurde er dabei rückwärts gedrängt, die Stufen hinauf, bis er den steinernen Altar in seinem Rücken fühlte. Er spannte die Muskeln, um einen Ausfall zu wagen, da fegte ihn ein Tritt plötzlich von den Füßen. Er schlug mit dem Kopf auf die Steine und bevor er sich aufrappeln konnte, legte sich kalter Stahl an seine Kehle. Das bernsteinfarbige Auge, das über ihm schwebte, schien amüsiert zu funkeln.

„Game over, Kätzchen.

 

 

 

Abyssinian hieb mit dem Schwert auf Schuldig ein, der sprang rückwärts und das Katana pulverisierte eine weitere Kirchenbank. Schuldig schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge.

„Also wirklich, du bist ja ein unartiges Kätzchen. Hat dir denn keiner beigebracht, dass du nicht an die Möbel gehen darfst?“

„Halt! Die! KLAPPE!“ Der nächste Schlag war weder präzise, noch exakt ausgeführt. Es war die reine Wut, die ihn vorwärtstrieb. Schuldig nutzte die Gelegenheit, trat an ihm vorbei und gab ihm einen Stoß, der ihn vollkommen aus dem Gleichgewicht brachte und lang hinstürzen ließ. Das Katana sprang aus seiner Hand und schlitterte über den Boden, bis es vor Schuldigs Füße zu liegen kam. Der hob es auf und betrachtete es nachdenklich.

„Ich glaube, ich behalte das hier. Als Andenken.“

Bevor Abyssinian reagieren konnte, hatte er das Schwert geschultert und ging pfeifend nach vorne zum Altar, wo sich Farfarello gerade über den am Boden liegenden Siberian beugte. Die Klinge seines Dolches war auf dessen Kehle gerichtet.

 

„Hey, Farfarello. Lass uns zusammenpacken. Wir haben, was wir brauchen.“

Der Angesprochene nickte, holte mit der Faust aus und schlug Siberian mitten ins Gesicht. Der sackte benommen zusammen und bewegte sich nicht mehr. Mit einem wütenden Aufschrei stemmte sich Abyssinian in die Höhe und stürmte auf die beiden Gegner zu. Er stoppte abrupt, als Schuldig blitzschnell nach Siberian griff, ihn vor sich hielt, das Katana an dessen Hals.

„Das würde ich bleiben lassen, Kätzchen.“ Schuldigs Stimme, die eben noch meist in heiterem Ton mit ihm geplaudert hatte, war plötzlich leise und bedrohlich. Abyssinian wich einen Schritt zurück, die Augen starr auf die Klinge gerichtet.

„So ist es brav. Wir wollen doch nicht, dass dem kleinen Siberian jetzt schon etwas zu stößt. Wir haben doch noch so große Pläne mit ihm.“

 

Farfarello produzierte von irgendwo her eine Rolle schwarzes Klebeband. Er fesselte dem Bewusstlosen zunächst die Hände so auf den Rücken, dass er die Bugnuks nicht mehr benutzen konnte, ohne sich selbst zu zerfleischen. Schließlich klebte er ihm mit einem Grinsen den Mund zu. Er übernahm den Gefangenen und richtete jetzt seinen Dolch auf dessen Hals. Die Klinge so tief ins Fleisch gedrückt, dass sie schon fast die Haut ritzte, lächelte er Abyssinian zufrieden an.

 

„Siehst du, er mag sein neues Haustier. Ich habe dir ja gleich gesagt, dass das eine gute Idee ist.“

Schuldig war wieder zu seinem Plauderton zurückgekehrt. Er spielte ein wenig mit dem Katana herum und richtete es schließlich auf Abyssinian.

„Wie ich schon sagte, die Wahl ist uns wirklich schwer gefallen. Den kleinen Bombay...oh naja. Mit dem habe ich schon gespielt. Ich glaube auch, er hätte nicht die Kondition, mit Farfarello mitzuhalten. Da muss man schon etwas kräftiger sein. Du warst uns definitiv zu kratzbürtig. Es macht keinen Spaß mit jemandem zu spielen, dessen einziger Gedanke ist, wie er einen umbringen kann. Crawford wäre vielleicht begeistert, aber der ist mehr so der Hundetyp. Gehorsam und so, du verstehst schon. Tja, blieben nur noch unsere robuste, sibirische Waldkatze und der schöne Balinese mit dem weichen Fell und den langen Beinen. Ich hätte ja letzteren gewählt, aber...“

 

Schuldig brach mitten im Satz ab und sah ihn an. Abyssinian hatte plötzlich das Gefühl, dass sich etwas wie eine spitze Nadel in seinen Kopf bohrte. Er schnappte nach Luft und versuchte die Gedanken zu unterdrücken, die plötzlich durch seinen Kopf schossen. Gedanken an sein Zusammensein mit Yoji, seine Stimme, sein Lachen, sein von Lust gezeichnetes Gesicht, wie er sich unter ihm wand. Es war wie ein Zwang, an all das zu denken. Er begann zu zittern.

 

Das Gefühl war ebenso schnell wieder vorbei, wie es gekommen war. Schuldig ihm gegenüber hatte einen sehr eigenartigen Gesichtsausdruck. Die hellblauen Augen fixierten ihn, es war keinerlei Regung in seinem Gesicht zu erkennen, bis Schuldigs Mund schließlich zu zucken begann. Er gluckste, er prustete und schließlich begann er lauthals zu lachen. Der Mann wollte sich schier ausschütten vor Heiterkeit und hörte überhaupt nicht wieder damit auf. Selbst Farfarello sah seinen Teamkameraden ein wenig verwirrt an, nahm jedoch nicht eine Sekunde die Klinge vom Hals seines Opfers. Siberian begann sich langsam wieder zu regen.

 

„Oh, das ist gut, das ist toll“, japste Schuldig inzwischen. Er wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich wusste ja, dass die Sache mit Weiß amüsant werden würde, aber so sehr?“

Er lehnte sich gegen Farfarellos Schulter und beugte sich mit einem verschwörerischen Gesicht zu ihm herüber. Dabei ließ er Abyssinian keinen Moment aus den Augen.

„Hey, Farfarello. Soll ich dir mal ein Geheimnis verraten? Ja? Dann pass auf.“ Er hielt sie die Hand vor den Mund, als würde er etwas verbergen wollen, sprach jedoch genauso laut weiter wie zu vor. „Unser lieber Abyssinan hier steigt nämlich mit Balinese ins Bett. Hättest du das gedacht? Die beiden Kater turnen umeinander, als gäbe es kein Morgen. Also wirklich, so was Unerzogenes aber auch.“

Abyssinan presste die Kiefer zusammen. Sein Blick irrte zu Siberian und er sah, dass der inzwischen wieder wach geworden war und ihn aus großen Augen anstarrte. Das durfte doch nicht wahr sein. Woher wusste Schuldig davon?

 

„Ah, die Frage aller Fragen!“, rief Schuldig laut und breitete die Arme aus wie ein Zirkusdirektor in der Manege. „Ich dachte ja, ihr wärt inzwischen dahinter gekommen, aber sei´s drum. Dann will ich euch mal unsere Codenamen verraten.“

Er trat zu Farfarello und klopfte ihm auf den Rücken. „Das ist Berseker. Warum er so heißt, muss ich dir sicherlich nicht erklären. Ebensowenig wie Crawfords Codenamen, der Oracle ist. Er hat dir ja bereits eröffnet, dass er die Zukunft voraussehen kann. Was uns schlussendlich zu mir bringt. Mein Codename ist Mastermind. Kannst du dir vorstellen, warum?“

Abyssinian reagierte nicht. Momentan fiel ihm Denken im Allgemeinen und das Ausdenken einer geeigneten Gegenstrategie im Besonderen recht schwer.

„Nun“, fuhr Schuldig fort, „man nennt mich so, weil ich hören kann, was Leute denken. Gedankenlesen, verstehst du? Das ist manchmal etwas lästig, aber in deinem Fall höchst amüsant. Oder woher meinst du, dass ich dein kleines, dreckiges Geheimnis weiß? Von deinem Lover etwa? Unterstellst du ihm, er hätte damit rumgeprahlt, dass er sich von dir durchnehmen lässt? Glaubst du das?“

 

Er wusste nicht, was er glauben sollte. Möglich wäre es, dass der andere sich verplappert hätte, aber bei Schwarz? Unwahrscheinlich. Wie sollte das auch passiert sein? Vielleicht stimmte es tatsächlich, was dieser widerwärtig grinsende Gaijin da von sich gab. Vielleicht konnte er tatsächlich Gedanken lesen.

„Ich kann und ich tue“, bestätigte Schuldig und legte den Finger an die Nasenspitze. „Also pass auf, ein neues Spiel. Eins, bei dem du mitmachen darfst. Interessiert?“

Abyssinian knurrte: „Ich mache bei deinen Spielchen nicht mit.“

„Gut, dann stirbt er jetzt gleich“, fauchte Schuldig und hieb mit dem Katana nach Siberians Kehle. Erst im letzten Moment fing er den Streich ab und die Klinge kam zitternd nur wenige Millimeter vor der tödlichen Berührung zum Stillstand. Abyssinian holte tief Luft, während Siberian nur die Augen aufriss und nicht wagte, gegen die Fesseln zu kämpfen.

„Ich habe also deine Aufmerksamkeit?“, fragte Schuldig lauernd. „Schön, dann hör zu. Hier ist der Deal. Nicht wir werden auswählen, wen wir mitnehmen, sondern du. Entweder den lieben Siberian oder Balinese. Wen überlässt du uns zum Spielen?“

Abyssinian fühlte ein kalte Taubheit in sich aufsteigen. Er konnte sich vorstellen, was er mit spielen meinte. Sie würden denjenigen töten, sobald sie die Gelegenheit dazu hatten.

 

Schuldig schüttelte missbilligend den Kopf. „Töten? Wer redet denn von töten? Ich sagte spielen. Wenn wir euch töten wollten, hätten wir das schon längst getan. Aber weißt du, Farfarello hier hat eine gewisse Neigung, Leute zu verletzen. Mit einem eigenen Haustier könnte er in Ruhe zu Hause seinem Hobby nachgehen und wir würden nicht immer so viel Wind in der Öffentlichkeit machen. Außerdem haltet ihr von Weiß sicherlich mehr aus als diese dumme Kassiererin, die mich doch glatt aufgefordert hat, zu bezahlen.“

 

Er lehnte sich zu Siberian und strich ihm sanft, fast zärtlich durch die Haare. „Ich denke, der kleine Siberian wäre dafür gut geeignet. Farfarello meint, er kämpft wie ein Besessener. Er wird bestimmt eine ganze Weile mit den Schmerzen und der Folter leben können, bevor er zerbricht. Wer weiß, vielleicht haben wir bei Schwarz dann ja sogar noch Verwendung für ihn. Eine komplett durchgedrehte Tötungsmaschine, die Freund und Feind nicht auseinanderhalten kann, ist bestimmt irre praktisch.“

Schuldig richtete sich auf und zielte wieder mit dem Katana auf Abyssinian. „Oder du überlässt uns deinen Bettkater. Ein nobler, persönlicher Verzicht, würde ich annehmen. Es sah aus, als hättet ihr Spaß miteinander.“ Er grinste anzüglich. „Natürlich müssten wir ihn noch einfangen, aber das sollte eigentlich kein Problem darstellen. Unser jüngstes Mitglied, Nagi Naoe, auch Prodigy genannt, ist ein Ass, wenn es um Computer geht. Er hat euch in Nullkommanichts aufgespürt. Außerdem weiß ich, dass Balinese ein paar Straßen weiter im Auto sitzt und raucht. Eine fürchterliche Angewohnheit findest du nicht? Ich könnte ihm das ja ausreden, wenn du magst. Ich kann Gedanken nämlich nicht nur lesen, ich kann sie auch beeinflussen. Allerdings weiß ich nicht, ob noch viel von ihm übrig sein wird, wenn ich mit ihm fertig bin. Ich habe da so eine kleine, feine Idee, was ich mit ihm anfange, wenn Farfarello seinen Spaß gehabt hat.“

 

Schuldigs Augen wurden schmal, seine Stimme leiser, gefährlicher. „Was hältst du davon, wenn ich ihm ein paar Frauen besorge. Momentan mag er sich ja mit dir vergnügen, aber soweit ich weiß, ist er dem weiblichen Geschlecht sehr zugetan. Er würde alles tun, um eine schöne Frau zu beschützen. Was wohl passiert, wenn er derjenige ist, der Hand an sie legt? Ich stelle mir das sehr spaßig vor. Unten kopuliert er und oben schneidet er ihr die Kehle durch. Oder nein, halt, ich hab´s. Er erdrosselt sie gleich mit bloßen Händen. Das ist so schön dramatisch und passt besser zu seiner Art zu kämpfen. Wenn ich das ein paar Mal mit ihm durchziehe, habe ich ein perfektes, nervliches Wrack vor mir, meinst du nicht auch? Also, was sagst du? Wen sollen wir mitnehmen?“

 

In Abyssinians Augen loderte der Hass auf. „Das wagt ihr nicht. Das kannst du gar nicht.“

Schuldig starrte ebenso zurück. „Willst du es darauf ankommen lassen? Du hast ja keine Ahnung, wozu ich alles fähig bin. Ich tue Dinge, weil ich es kann. Einfach so.“ Er schnippte mit den Fingern. „Wer will mich aufhalten? Du etwa?“

Er lachte und lehnte sich auf das Katana. „Also, was ist jetzt? Ich warte auf deine Entscheidung. Siberian oder Balinese? Wen gibst du zum Abschuss frei?“

 

Er schloss die Augen. Das konnte nicht wahr sein. Warum? Wie? Wie hatte er in die Lage kommen können? Auf die gestellte Frage konnte es nur eine Antwort geben.

„Wenn ihr jemanden mitnehmen müsst, dann nehmt mich“, sagte er tonlos.

Schuldig runzelte die Stirn. „Ich glaube, du hast nicht richtig zugehört. Diese Option steht nicht zur Auswahl. Siberian oder Balinese? Entscheide dich. Jetzt! Oder ich töte sie beide.“

 

Die Welt schien sich um ihn zu drehen. Wie konnte er so etwas entscheiden? Er...sie würden...sie würden denjenigen bestimmt retten können. Irgendwie. Aber bis dahin war er in der Gewalt dieser...Kreaturen. Er wagte es nicht länger, sie Menschen zu nennen. Bilder begannen sich vor seinem inneren Auge zu formen. Siberian in völliger Loslösung von menschlichem Denken, nur noch darauf aus, seine Gegner mit seinen Krallen zu zerfetzen. Balinese zusammen gekauerte neben einer erwürgten Leiche. Er...er hatte keine andere Möglichkeit. Er wusste, wen er wählen würde.

 

„Ich bin kein sehr geduldiger Mensch.“ Schuldigs warnende Stimme drang in seine Gedanken vor, lähmte ihn, statt ihn anzutreiben. Er erhob den Kopf wieder und sah seine Gegner an. Sein Blick richtete sich auf Siberian, der ihn aus großen, glänzenden Augen ansah. Er atmete heftig gegen das Klebeband an, das seinen Mund verschloss. Als er Abyssinians Blick sah, wurden seine Augen noch größer. Er schüttelte den Kopf, schrie lautlos, erstarrte, als Farfarello die Klinge gegen seinen Hals drückte.

 

Abyssinian richtete sich auf, sein Blick kalt, das Gesicht ausdruckslos, die Stimme flach ohne Emotionen. „Nehmt Siberian mit.“

 

 

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

„Aya?“

Die leise Stimme stahl sich in seine Träume und holte ihn aus dem bereits seichten Schlaf. Etwas daran war nicht in Ordnung, er konnte nur nicht den Finger darauf legen, was es war.

„Aya...ich... Kannst du vielleicht in der Schule Bescheid sagen? Ich kann da heute nicht hingehen.“

Aya öffnete die Augen und sah Omi vor sich, der ihm ein wenig betreten das Telefon hinhielt.

„Ich würde ja anrufen, aber es klingt nicht besonders überzeugend, wenn ich mich selbst krank melde. Ich wollte euch ja noch schlafen lassen, aber es ist schon halb neun und...“

Omi schwieg und die Röte, die bereits von seinen Ohren Besitz ergriffen hatte, zog sich langsam über sein Gesicht bis zur Nasenspitze.

'Moment mal...EUCH?'

 

Aya fuhr hoch und sah mit einem Blick, dass Yoji neben ihm im Bett lag. Sie waren beide unbekleidet und auf höchst eindeutige Weise miteinander verschlungen. Ayas Blick schoss zu Omi. Der jüngste Weiß war inzwischen vollkommen rot angelaufen, rührte sich aber nicht von der Stelle, sondern starrte auf das Telefon in seinen Händen. Aya streckte seine Hand aus.

„Gib her, ich rufe an“, knurrte er. Omi drückte ihm unverzüglich den Apparat in die Hand und flüchtete aus dem Schlafzimmer. Aya seufzte und wählte die Nummer der Schule. Nachdem er Omi für den Rest der Woche entschuldigt hatte, glitt er aus dem Bett, zog sich etwas über und ging in die Küche. Omi saß am Küchentisch und wusste offensichtlich nicht so recht, wohin mit sich. Aya ignorierte ihn und begann Tee zu kochen.

„So...also...“, begann Omi und schwieg wieder, als Aya ihm einen finsteren Blick zuwarf. Erst als der Tee fertig war, setzte er sich dem Jungen gegenüber und sah ihn geradeheraus an.

„Was hattest du in meinem Schlafzimmer verloren?“

„Naja, ich habe geklopft, ihr habt nicht geantwortet und da bin ich halt reingekommen. Es tut mir leid. Ich wollte nicht...“

Aya nickte knapp und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Er fand die ganze Situation höchst...irgendwas. Er war sich nicht sicher. Omi erschien ihm neugierig, aber nicht so sehr, wie er erwartet hatte. Fast so, als hätte er gewusst, was er vorfinden würde. Konnte das sein? Er bedachte den anderen mit einem inquisitiven Blick.

Omi atmete tief durch. „Könnten wir das jetzt bitte hinter uns bringen? Ich weiß, dass du und Yoji ein Paar seid und...“

„Wir sind kein Paar“, stellte Aya mit einem Knurren klar.

Omi schluckte. „Gut, dann seid ihr...wasauchimmer. Ich weiß es und es ist mir egal. Na nicht egal. Ich freu mich für euch. Irgendwie.“

Seine Stimme erstarb. Aya nahm noch einen Schluck Tee.

„Woher wusstest du es?“

Omi blies die Backen auf. „Oh, ich bin ja schließlich nicht blind. Mag ja sein, dass ich nicht so viel Erfahrung mit solchen Sachen habe, aber die Blicke, die ihr euch im Laden zugeworfen habt, das leere Bett, dass ich vorgefunden habe, als Yoji hier geschlafen hat, die Tatsache, dass er seit Wochen keine seiner Eroberungen mehr herumgezeigt hat, das war alles kleine Hinweise in eine bestimmte Richtung. Und wenn du die ganze Nacht weg bist und am nächsten Tag mit Yojis Klamotten am Leib wiederkommst. Also das ist schon...“ Er schwieg kurz und setzt dann mit leicht geröteten Ohren hinzu: „Außerdem konnte ich letzte Nacht nicht schlafen und habe euch gehört.“

„Du wusstest, dass die Sachen von Yoji sind?“ Aya war ehrlich überrascht.

Omi nickte und grinste. „Zumindest die Jacke. Er hat sie mit mir zusammen gekauft, als er Ken bei einem Auftrag undercover als Trainer in einem Jugendcamp vertreten musste, weil der sich den Knöchel verstaucht hatte. Als er nicht aufgehört hat, sich darüber zu beschweren, wie fürchterlich unsexy die Sachen sind, habe ich gesagt, er soll sie nach dem Auftrag mir geben. Ich habe die Jacke nie wieder gesehen bis letzten Sonntag.“

„Du bist aufmerksamer, als gut für dich ist“, murmelte Aya und leerte seine Tasse.

„Hey, ich bin ein Auftragskiller“, protestierte Omi. „Genau wie du und Yoji und Ken.“ Er zog ein Gesicht, als er den Vermissten erneut erwähnte. „Meinst du, wir können ihn befreien?“

„Dazu müssten wir erst mal wissen, wo er ist“, gab Aya zurück, froh darüber, das Thema wechseln zu können.

„Vielleicht finden wir es heraus, wenn du uns endlich die Wahrheit sagst“, bot Omi an. „Ich weiß, dass du nicht alles erzählt hast. Aber jedes Detail kann wichtig sein, wenn wir Ken wiederfinden wollen. Also, Aya, wirst du uns helfen?“

Er starrte in die leere Tasse und nickte. Omi atmete hörbar aus. Aya sah ihn an.

„Stand das infrage? Ob ich helfen würde?“

Omi hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. „Manchmal...manchmal weiß ich nicht so recht, ob wir dir nicht alle irgendwie egal sind.“

Aya konnte den kleinen Stich, den ihm dieser Satz versetzte, nicht ignorieren. Vor ein paar Wochen wäre ihm das vielleicht noch gleichgültig gewesen. Er hätte ja nicht einmal hier mit Omi zusammen gesessen. Es war nicht so, dass sie nicht miteinander gesprochen hätten, aber das waren nie persönliche Dinge. Er wusste, dass das an ihm lag. Er hatte sie auf Abstand gehalten und auch nie etwas vermisst. Aber jetzt, wo er eine Ahnung davon erhalten hatte, wie es war, jemanden um sich zu haben, dem man nicht egal war, wollte er das Gefühl erhalten.

Er hatte stets für Aya gekämpft. Um das zu rächen, was ihr angetan worden war. Um sicherzustellen, dass sie weiterlebte. Aber er hatte selbst gemerkt, wie die Kraft langsam aus ihm gewichen war. Er war bereit alles zu geben, hatte es stets getan, hatte gedacht, dass das ausreichte. Doch es reichte nicht. Er brauchte mehr als das. Er brauchte Weiß und das nicht nur, weil sie ihm halfen, seine Ziele zu verwirklichen. Er brauchte sie, weil sie wichtig für ihn waren. Vielleicht wurde es Zeit, dass er das ein wenig zeigte.

 

Das Schweigen war lang gewesen. Omi stand auf, um zu gehen. Aya streckte seine Hand aus und hielt ihn zurück.

„Omi“, sagte er und versuchte freundlich zu klingen. „Es ist mir nicht egal. Nicht was aus dir wird oder aus Yoji oder aus Ken. Ich...ich war nicht fair zu euch und...es tut mir leid.“

In Omis großen Augen begannen Tränen aufzusteigen. Aya schluckte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Was würde Yoji in so einem Moment tun? Was wollte er tun? Was hatte er früher in so einem Moment getan? Es war so lange her. Er räusperte sich.

„Omi?“

„Ja Aya-kun?“

„Hör auf zu weinen und setz dich wieder hin.“

Omi sah ihn an und fing unter den Tränen an zu kichern. Er wischte sich über die Augen und setzte sich wieder. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Ich bin froh, dass du da bist.“

Aya nickte und wünschte, dass noch Tee in seiner Tasse gewesen wäre. Er sah zu Omi hinüber, der da saß und lachte und weinte zur gleichen Zeit und doch genauso sehr ein Killer war, wie er selbst. Es war ihm ein Rätsel, wie das funktionierte. Aber vielleicht musste er es auch nicht verstehen. Vielleicht genügte es, einfach da zu sein. Er hatte einmal den Fehler gemacht, sich Schwarz allein zu stellen. Er würde diesen Fehler nicht wiederholen. Dieses Mal würden sie gemeinsam gehen.

 

 

 

 

„Guten Mo... Omi?“ Yojis Stimme erstarb, als er auf der Küchenschwelle stehen blieb. Damit hatte er nicht gerechnet. Wie sollte er erklären, dass er schon am frühen Morgen nur mit einer Unterhose bekleidet in der weißschen Küche stand? Er täuschte ein Husten vor, um Zeit zu gewinnen. „Ich ähm...warum bist du nicht in der Schule?“

„Aya hat mich entschuldigt“, antwortet Omi fröhlich und zeigte Yoji einen erhobenen Daumen.

Der hob erstaunt die Augenbrauen. „So so, du darfst also schwänzen und ich nicht? Ich fühle mich misshandelt und ausgenutzt.“

„Wir werden den Laden auch schließen“, verkündete Aya und erhob sich. „Ich werde ein Schild anbringen.“ Er ging auf Yoji zu und blieb dann auf einer Höhe mit ihm stehen. „Er weiß es übrigens.“ Damit trat er an ihm vorbei und ging die Treppe hinunter zum Laden.

Yoji runzelte die Stirn. „Omi, was genau weißt du?“

Omis Nase bekam einen leichten Rotschimmer. „Das mit dir und Aya.“

Yoji war für einen Augenblick verblüfft, dann grinste er. „Cool. Heißt das, ich kann jetzt mit Aya im Laden rummachen, während du dabei bist?“

„Yoji!“ Omis Gesicht sah aus wie eine überreife Tomate.

„Nur ein Spaß. Aya würde mich vierteilen und meinen Kopf im Schaufenster ausstellen, wenn ich das täte.“

Omi kicherte. „Ja, das würde er, oder?“

Yoji machte ein todernstes Gesicht. „Auf jeden Fall. Aber im Moment haben wir wohl wichtigere Probleme. Missionsraum in einer halben Stunde?“

Omi nickte. „Ich gehe schon mal alles vorbereiten.“

Yoji ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken und griff nach seinen Zigaretten. Der Aschenbecher war sauber. Er lächelte leicht. Wie sehr sich doch die Lage seit gestern geändert hatte, als er hier gesessen hatte. Er konnte nicht sagen, dass ihm das nicht gefiel.

 

Aya erschien in der Küchentür. Er öffnete den Kühlschrank und untersuchte den Inhalt und schloss ihn wieder. Sein Blick fand Yojis.

„Alles ok?“, wollte der wissen.

„Ja. Alles ok“, bestätigte Aya. „Es ist...ein wenig eigenartig aber ok.“

„Gut. Missionsraum in einer halben Stunde. Du oder ich zuerst ins Bad.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Oder zusammen?“

Ayas Lippen kräuselten sich zu einer Art Lächeln „Du schaffst es nie, vor mir da zu sein.“

Yoji hob eine Augenbraue. „Willst du mich herausfordern?“

„Nein, aber alleine duschen“

Mit diesen Worten war Aya aus der Küche verschwunden und Yoji starrte verblüfft auf den Platz, an dem er eben noch gestanden hatte. Er schüttelte den Kopf und grinste, während er noch einen Zug aus der Zigarette nahm. Irgendetwas hatte diese Nacht auch mit Aya gemacht. Es war schwer in Worte zu fassen, aber irgendwie schien zumindest eine der Eisschichten, die er um sich herum aufgebaut hatte, endgültig geschmolzen zu sein. Das gefrorene Herz darunter hatte wieder angefangen zu schlagen und Yoji betete, dass die Schläge Aya nicht allzu sehr erschüttern würden. Sie brauchten ihn jetzt voll einsatzfähig. Sie alle mussten es sein, wenn sie Ken aus den Fängen von Schwarz befreien wollten.

'Ich hoffe, du weißt, dass wir an dich denken', schickte er einen Gedanken in den Äther und hoffte, dass er seinen Freund irgendwie erreichte.

 

 

 

 

 

 

Es war kalt um ihn herum. Der steinerne Fußboden, die Luft, ja sogar die Blutlache, in der er lag, war kalt. Klebrig süß lag ihr Geruch in der Luft und machte ihm das Atmen schwer. Vielleicht war es aber auch seine Rippe, die unsanft Bekanntschaft mit einer Eisenstange gemacht hatte, die für das Stechen in seiner Brust verantwortlich war. Er versuchte seine Beine an den Körper zu ziehen, um wenigstens eine Illusion von Wärme zu bekommen, aber er konnte die steifen Muskeln kaum bewegen. Er spürte, wie Tränen in seine Augen schossen und verbiss sich das Schluchzen in seiner Kehle, das sie begleitete. Er würde nicht weinen. Nicht vor ihnen.

Er öffnete mühsam die Augen. Der kahle Raum um ihn herum war immer noch der gleiche, in den sie ihn die Nacht zuvor gezerrt hatten. Er schluckte, doch seine Kehle erfuhr keine Erleichterung. Seine Zunge klebte an seinem Gaumen und sein Kopf dröhnte. Nur mit Mühe fixierte er seinen Peiniger, der sich in eine Ecke des Raums zurückgezogen hatte und ihm den Rücken zuwandte. Er hörte ein schleifendes Geräusch. Vermutlich schärfte er seine Waffen, nachdem er sie wieder und wieder durch Kens Fleisch gezogen hatte und jede aufbrechende Wunde, jeden Tropfen Blut mit einem glücklichen Lächeln begrüßt hatte.

Die Schläge hatte er von Schuldig bekommen. Weil er widersprochen hatte. Weil er ihm vor die Füße gespien hatte, wie sehr er ihn verachtete. Ja sogar, weil er gewagt hatte, zu denken. Jetzt war sein Mund wieder mit Klebeband verschlossen, aber seine Lippen prickelten immer noch von dem ersten Mal, als sie es entfernt hatten, damit Farfarello sich an seinen Schmerzenslauten ergötzen konnte. Er hatte versucht, sie zurückzuhalten, aber er hatte es nicht gekonnt.

 

Er hörte Schlüsselklirren und das Öffnen einer Tür. Schritte näherten sich ihm und ein unwillkommenes Gesicht umrandet von einer Mähne aus orangerotem Haar schob sich in sein Sichtfeld.

„Ah, unser kleines Kätzchen. Ich hoffe, du hast gut geschlafen? Angenehme Träume, ja?“ Schuldigs Miene war ein einziges, sarkastisches Grinsen. Er wandte sich ab und begrüßte den zweiten Zelleninsassen.

„Hey, Farfarello. Hattest du gestern noch Spaß mit ihm? Wie ich sehe, warst du noch fleißig. Die Schnitte an seinen Beinen sind neu.“

„Sie haben stark geblutet.“

„Das sehe ich. Meine Güte, was für eine Schweinerei. Gefällt es dir so?“

„Mhm.“

Schuldig drehte sich zu Ken herum und zwinkerte ihm zu. „Der Anblick von Blut beruhigt ihn. Ich weiß nicht warum, aber du bist die beste Investition, die ich in den letzten zwei...na sagen wir drei Tagen gemacht habe. Crawford wird begeistert sein.“

 

„Das kannst du ja gleich mit ihm besprechen. Er will dich sehen.“

Eine weitere Stimme, die Ken noch nicht kannte. Sie klang jung, leise. Er versuchte den Besitzer der Stimme zu erkennen, aber er konnte den Kopf nicht weit genug herum drehen. Seine Arme waren immer noch auf den Rücken gefesselt, auch wenn sie ihm seine Waffen inzwischen abgenommen hatten.

„Ist er das?“, fragte die Stimme und Schuldig nickte.

„Sieh ihn dir nur an. Ein Prachtkerl, oder? Eine echte Rassekatze.“ Ein Grinsen in Kens Richtung.

Schritte kamen näher und ein Paar dunkle Schuhe und Beine in dunkelblauen Hosen kamen in sein Sichtfeld. Er versuchte den Kopf zu heben, als ein plötzlicher Schmerz ihn die Bewegung abbrechen ließ. Mit einem Stöhnen ließ er den Kopf wieder sinken.

„Ihr müsst seine Wunden versorgen“, sagte der Junge.

Schuldig stellte sich neben ihn. „Mhm, meinst du? Farfarello gefällt es so.“

Der Junge drehte sich zu seinem Teamkollegen herum. „Schuldig! Die Schnitte sind tief. Wenn sich das entzündet, ist er in ein paar Tagen tot.“

Schuldig schien nicht überzeugt. Ken konnte den Ärger in seiner Stimme hören. „Wenn die hier stirbt, bekommt er eben eine neue. Was soll´s?“

Der Junge ließ nicht locker. „Wir behalten diese hier. Kümmere dich darum, sobald du von Crawford zurückkommst. Er muss auch etwas zu trinken bekommen und sollte etwas essen.“

„Warum machst du das nicht?“

„Weil ich Wichtigeres zu tun habe, als mich um euer Haustier zu kümmern.“

Schuldig murmelte noch etwas Unverständliches, bevor er verschwand. Der Blick, den er Ken dabei zuwarf, gefiel ihm gar nicht.

 

Ken versuchte erneut, sich zu dem Neuankömmling herumzudrehen und rollte sich kurzerhand auf den Rücken. Sein Blick suchte das Gesicht des Jungen und er versuchte ein wenig Dankbarkeit hineinzulegen. Als er ihn ansah, überkam ihn ein seltsames Gefühl.

Die Züge des blassen Jungen waren vollkommen ausdruckslos, der Mund zu einem Strich zusammengepresst. Als er Kens Gesichtsausdruck bemerkte, verzogen sich die Lippen zu einem dünnen, bösen Lächeln.

„Danke mir nicht. Ich habe das nicht gesagt, weil ich Mitleid mit dir habe. Aber wenn du tot bist, ist dein Leiden beendet. Und ich will, dass du weiter leidest, so wie ich gelitten habe, nachdem du mir das einzig Gute in meinem Leben genommen hast...Ken.“

Er starrte den Jungen an. Woher wusste der seinen Namen? Er versuchte sich krampfhaft zu erinnern. Und plötzlich sah er es wieder vor sich: das Waisenhaus, Schwester Amamiya, Nagi. Der Junge hieß Nagi. Er war von der gleichen Nonne aufgenommen worden, die sich auch um Ken gekümmert hatte, als dieser nach dem Tod seiner Mutter ins Waisenhaus kam. Als Weiß den Auftrag erhielt, die Nonne zu eliminieren, weil sie ihre Schützlinge zu grausamen Morden anstiftete, hatte Ken zunächst gezögert, den Auftrag aber dennoch ausgeführt. Nagi, mit dem er sich kurz zuvor ein wenig angefreundet hatte, war Zeuge der Exekution geworden.

„Du hast es damals versprochen“, flüsterte Nagi und seine Stimme bebte vor Hass. „Du hast versprochen, dass ihr nichts geschieht. Du hast gelogen und jetzt wirst du dafür leiden. Ich werde dafür sorgen, dass sie dich gut pflegen, damit du sehr, sehr lange darüber nachdenken kannst, was du mir angetan hast.“

Mit diesen Worten drehte er sich herum und ging mit steifen Schritten aus dem Raum. Ken schloss die Augen. Er hatte gedacht, es könnte nicht viel schlimmer werden, aber offensichtlich war Schwarz immer noch für eine Überraschung gut.

 

 

 

Ken musste weggedämmert sein, denn als er erwachte, war Farfarello nicht mehr da. Er fühlte sich wie zerschlagen und verschiedene, körperliche Bedürfnisse meldeten sich, wovon Hunger und Durst noch die mildesten waren. In diesem Moment ging die Tür ein und Schuldig kam herein. Er trat direkt vor ihn und schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge.

„Tztztz, du bist wirklich ein dreckiges, kleines Kätzchen. Na schön, dann wollen wir dich mal baden. Magst du?“

Ken hätte beinahe gelacht. Als wenn er irgendeine Wahl gehabt hätte.

'Nein, die hast du nicht.'

Die Stimme in seinem Kopf war neu. Bisher hatte sich Schuldig nicht die Mühe gemacht, seine Fähigkeiten auf diese Weise unter Beweis zu stellen. Er hatte sich auf seine Fäuste und andere Gegenstände verlassen, um Ken zu quälen. Anscheinend sollte das Ganze jetzt auf ein höheres Level wandern.

„Ah, wo denkst du denn hin?“, grinste Schuldig. „Los, steht auf.“

 

Mit einiger Mühe schaffte Ken es, sich auf die Füße zu hieven. Als er stand, schwankte er leicht. In seinem Kopf drehte sich alles. Schuldig fasste ihn am Arm und schleppte ihn durch die Tür einen Flur entlang zu einer Tür. Dahinter lag ein gekachelter Raum mit Waschbecken, Toilette und einer Badewanne.

„Zeit, das hier mal abzumachen“, sagte Schuldig und zog mit einem Ruck das Klebeband von Kens Mund. „So ist es besser oder? Du siehst, ich kann nett sein, wenn ich bekomme, was ich will.“

Ken leckte sich die Lippen. Sie waren rau und aufgerissen.

„Durst?“, fragte Schuldig lauernd. Ken verkniff sich eine Antwort. Er würde diesem Monster nicht die Genugtuung geben, ihn um etwas zu bitten.

„Ah, Ken, du bist ein Sturkopf. Du heißt doch Ken, oder? Nagi hat so was erwähnt.“ Schuldigs Miene war freundlich, aber seine Augen sprachen eine andere Sprache. Er kam so nahe, das Ken seinen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. „Und wenn du ein bisschen nett zu mir bist, bekommst du vielleicht auch etwas dafür. Nun sage mir, was du brauchst und ich werde sehen, was ich tun kann.“

Ken überlegte nicht lange. Er nahm den Kopf zurück und versuchte, Schuldig damit an der Stirn zu treffen. Der wich ihm aus und lachte, als Ken einen Schritt vorwärts taumelte und strauchelnd in die Knie ging.

„Oh, Kätzchen. Du bist mir noch zu wild. Aber das wird sich schon noch ändern.“ Er grinste. „Toilette und Baden? Ich würde sagen, wir ziehen dich am besten erst mal aus.“

 

Ken riss die Augen auf. „Denk nicht mal dran, mich anzufassen“, zischte er. Sie hatten ihm seine Kleidung und die Waffen bis auf ein letztes Stück bereits abgenommen, aber er hatte nicht vor, sich auch noch davon zu trennen.

„Ach, so schamhaft?“, schmunzelte Schuldig. „Tja weißt du, es gibt da ein Problem. Wenn du darauf bestehst, die Hose beim Baden anzulassen, wird sie nass. Du könntest dich erkälten. Ich müsste sie dir somit hinterher ausziehen, bevor ich dich wieder zu Farfarello bringe. Ich weiß nicht, ob ihn das nicht vielleicht auf Ideen bringt. Kastrierte Kater streunen ja bekanntlich nicht mehr so sehr herum. Also jetzt ausziehen oder hinterher? Ich würde außerdem meinen, dass es auch einfacher ist, dich ohne die Hose zu erleichtern, aber wenn du darauf stehst...“

Ken sah ein, dass er verloren hatte. „Dann tu, was du tun musst.“

 

Er stemmte sich in den Stand und schloss ergeben die Augen. Trotzdem zuckte er zusammen, als Schuldigs Finger über seinen Rücken glitten. Sie wanderten langsam tiefer und er sog unwillkürlich die Luft ein, als sie den Bund seiner Boxershorts nach unten schoben. Der andere Mann ließ sich Zeit, bis der Stoff endlich den Boden erreicht hatte. Ken trat einen Schritt zur Seite, nur noch von den Fesseln an seinem Rücken bedeckt.

„Nett“, kommentierte Schuldig und Ken konnte nicht verhindern, dass ihm die Hitze ins Gesicht schoss.

„Wenn du dich umdrehen könntest“, knirschte er. „Ich würde gerne...“

„Tu dir keinen Zwang an“, antwortete Schuldig und lehnte sich mit untergeschlagenen Armen gegen die Wand. Ken atmete tief ein. Es war peinlich, aber noch viel peinlicher würde es werden, wenn er noch länger wartete. Der Druck auf seiner Blase war inzwischen zu einem konstanten Stechen geworden. Er senkte den Kopf und versuchte, an nichts zu denken, während er sich erleichterte. Schuldigs Blick schien Löcher in seine Haut zu brennen.

„Anscheinend bist du derjenige, mit dem perversen Vorlieben“, wagte Ken seinem Ärger Luft zu machen. Viel schlimmer konnte es ja nun wirklich nicht mehr werden.

„Ach Kätzchen“, schnurrte Schuldig und trat auf die Badewanne zu. „Es geht immer noch schlimmer.“ Er machte eine einladende Handbewegung. „Na los, hopp, rein mit dir. Wir wollen dich ein wenig waschen. Wobei... eigentlich werde ich dich waschen, denn deine Fesseln bleiben an Ort und Stelle.“

Ken sah Schuldig entsetzt an. Der hatte die Lippen geschürzt und ließ seine Augen unwillkommen lange über Kens Körper wandern. Er hob eine Augenbraue.

„Gar nicht übel. Abyssinian hätte sich überlegen sollen, wen er sich als Bettpartner auswählt. Mir scheint, mit dir könnte man auch ziemlich viel Spaß haben.“

„D-d-d-das...“, stotterte Ken, aber Schuldig schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab, griff ihn am Arm und schob ihn in Richtung Wanne.

„Baden hab ich gesagt. Los jetzt. Ich habe noch anderes zu tun, obwohl das wesentlich weniger spaßig sein wird als das hier. Du gehst also entweder freiwillig oder ich finde einen Weg, dich zu zwingen. Und glaube mir, den gibt es.“

 

Er lachte laut und stellte das Wasser an. Ken ergab sich seinem Schicksal und kletterte in die Wanne. Er setzte sich und versuchte, so wenigstens noch ein wenig Privatsphäre zu erhalten. Schuldig war jedoch unerbittlich. Abgesehen von den körperlichen Schmerzen, die das lediglich lauwarme Wasser auslöste, als es über die Wunden spülte und sie teilweise wieder aufplatzen ließ, schienen seine Hände überall zu sein. Auch an Stellen, an denen Ken sie definitiv nicht haben wollte. Er verkniff sich jeden Kommentar, aber es war unerträglich. Die Berührungen dauerten immer gerade einen Augenblick zu lange, strichen ein paar Mal zu oft über Stellen, an denen sich eigentlich gar keine Verletzung befand, gaben ihm das Gefühl, vollkommen ausgeliefert zu sein. Mehr als einmal war er drauf und dran aufzuspringen, doch dann verschwand der Impuls wieder, wurde unterdrückt, und er blieb sitzen.

Schuldig, der mit hochgekrempelten Ärmeln vor der Wanne kniete, grinste ihn an. „Du brauchst dich nicht so anzustrengen Kätzchen. Ich kann hören, wie du schreist, auch wenn deine Lippen sich nicht bewegen.“

Er nahm jetzt ein Tuch aus einem Schrank, ließ am Waschbecken Wasser darüber laufen und säuberte damit Kens Gesicht. Als er die Lippen berührte, leckte Ken darüber. Die Feuchtigkeit war angenehm, auch wenn es lange nicht genug war. Schuldig grinste und fuhr noch einmal mit dem Tuch über seine Lippen.

„Ist da etwas, um das du mich bitten möchtest?“

Ken schüttelte den Kopf. Er würde ihn nicht um etwas zu trinken bitten. Er würde schon etwas bekommen.

„Wenn ich es erlaube, ja“, schmunzelte Schuldig. „Daher nochmal: Willst du ich um etwas bitten?“

„Ich...ich habe Durst.“

„Verständlich. Aber ich habe keine Bitte gehört.“

Ken schloss die Augen. Dieser verdammte Bastard!

„Das habe ich gehört.“

„Kann...kann ich etwas zu trinken haben?“

Schuldig hob eine Augenbraue und sah ihn erwartungsvoll an.

„Bitte?“, schob Ken zwischen den Zähnen hindurch hinterher.

Schuldigs Gesicht hellte sich sofort auf. „Aber natürlich. Warte hier, Ken-Kätzchen.“

Er nahm aus dem Schrank einen Plastikbecher, füllte ihn unter dem Wasserhahn und hielt ihn Ken an die Lippen. Der wollte sich zunächst weigern, wusste aber nicht, wie er sonst hätte trinken sollen. So ließ er sich das Wasser reichen wie ein Zweijähriger.

„Oh, die meisten Zweijährigen können schon alleine trinken“, informierte ihn Schuldig. „Aber wenn es dir lieber ist, kann ich dir auch eine Schüssel auf den Boden stellen, Kätzchen. Erwarte aber keine Milch. Die bekommt dir bestimmt nicht.“

Ken grunzte nur und sandte ein Gebet zum Himmel, dass er sich nicht auch noch würde füttern lassen müssen. Als er in Schuldigs Gesicht sah, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Ein breites Grinsen zierte dessen Züge.

„Eine hervorragende Idee, Kätzchen. Was magst du essen?

 

 

 

 

Crawford sah auf, als Schuldig ins Zimmer kam. Dessen Kleidung hatte nasse Flecken, die Ärmel waren hochgekrempelt, die Haare hingen lose herunter. Er sah ungewohnt locker aus. Das Lächeln auf seinen Zügen kannte Crawford allerdings nur zu gut. Er hatte jemanden gefunden, den er quälen konnte. Es war ein Ausdruck fast kindlicher Freude, vergleichbar einem Jungen, der gerade dabei war, einer Spinne die Beine auszureißen, nur um zu sehen, was passierte.

Er sah zu, wie der anderen Mann in die offene Küche ging und anfing, die Schränke zu durchsuchen. Dabei summte er vor sich hin.

„Darf ich fragen, was das werden soll?“, ließ sich Crawford vernehmen.

„Oh, ich füttere das Kätzchen. Nagi hat gemeint, es bräuchte was zu essen.“ Er hatte eine Schüssel Reis im Kühlschrank entdeckt und diese anscheinend für geeignet erachtet. Crawford schenkte ihm einen ernsten Blick.

„Ich hatte mich vorhin doch klar ausgedrückt, oder? Ich wünsche nicht, dass dein neues Hobby deine Arbeit beeinträchtigt.“

Schuldig zog die Augenbrauen zusammen. „Und ich habe dir geantwortet, dass es das nicht tun wird. Du bist doch ohnehin mit diesem Kawaji verabredet und wirst ihm auch ohne mich Honig um den Bart schmieren können.“

„Aber du hast ebenfalls Aufgaben zu erledigen. Außerdem dachte ich, dass du den Weiß für Farfarello angeschleppt hast.“

Schuldigs Mund verzog sich zu einem grausamen Lächeln. „Ja, aber das war, bevor ich wusste, wie viel Spaß man mit so einem Kätzchen haben kann. Ich werde Farfarello weiterhin seinen Körper überlassen, aber sein Geist gehört mir.“

Crawfords Augen wurden schmal. „Was hast du vor?“

„Oh, ich habe da ein paar süße, kleine Geheimnisse in seinem Kopf entdeckt. Zum Beispiel, dass er bereits zweimal von seinem besten Freund verraten wurde. Am Schluss musste er ihn auch noch selber umbringen. Und jetzt hat ihn sein Team an uns verschachert. Er leidet wirklich sehr darunter, der Arme.“

Sarkasmus tropfte aus jeder Pore von Schuldigs Körper. „Außerdem gibt es da noch etwas. Er ist unglaublich...“, er grinste breit, „prüde. Allein die Andeutung von intimer, körperlicher Nähe lässt ihn zu einem ängstlichen, kleinen Jungen zusammenschrumpfen. Es ist köstlich zu sehen, wie er sich dabei in Gedanken windet.“

Crawford machte einen undeutbaren Laut. „Ich wusste gar nicht, dass du auf so was stehst, Schuldig.“

Der Angesprochene warf den Kopf zurück und lachte. „Tue ich auch nicht. Aber es reicht, ihn glauben zu lassen, dass ich es täte. Wo doch seine Freunde auf einmal aneinander Interesse haben, warum dann nicht auch der Feind an ihm? Mal sehen, vielleicht lasse ich ihm sogar in dem Glauben, ich würde ihm helfen. Bis er mir vollkommen vertraut, damit ich ihm dann das Messer in den Rücken rammen kann. Ein weiterer Verrat auf seiner Liste, wenn er herausbekommt, dass es nicht so ist.“

Crawford konnte nicht anders, als zu lächeln. Schuldigs Enthusiasmus war ansteckend, auch wenn er meist nicht lange anhielt.

„Ich sehe schon, das wird dich gar nicht von seiner Arbeit ablenken“, sagte er mit ironischem Unterton. „Aber sei gewarnt. Wenn mir dein Spielzeug lästig wird, werde ich es entsorgen.“

Schuldig tat entrüstet. „Keine Bange, ich bin ein Profi.“

Crawford seufzte. „Du bist gut, aber nicht unersetzbar, Schuldig. Merk dir das.“

„Ah, aber du würdest mich vermissen, wenn ich nicht mehr da wäre“, antwortete Schuldig und zwinkerte ihm zu.

Crawford ging nicht darauf ein, sondern sah ihn nur über den Rand seiner Brille hinweg an. Der andere Mann grinste, nahm die Reisschüssel vom Tisch und verschwand mit einem „Fütterungszeit!“ wieder aus dem Raum. Crawford machte sich nicht die Mühe, seine Gabe auf Schuldigs Eskapaden zu verschwenden. Wenn die Zukunft etwas Wichtiges für ihn bereithielt, würde sie es ihm rechtzeitig mitteilen.

 
 

 

Omi und Aya saßen bereits im Missionsraum, als Yoji den Keller betrat. Das heißt, Omi saß vor dem Computer und Aya lehnte neben ihm an der Wand. Unwillkürlich musste Yoji lächeln. Das war so eine Angewohnheit von ihrem „großen Anführer“. Immer wachsam, immer auf dem Sprung. Ein Raubtier, das in der Dunkelheit lauerte. Omi war da ganz anders. Wenn er nicht auf einer Mission war, war er...einfach er selbst. Nun, nicht ganz. Yoji wusste um die Schatten, die unter der Oberfläche lauerten. Er war gespannt, ob er irgendwann erleben würde, dass diese zwei Seiten zu einem zusammenwuchsen oder ob irgendwann eine von ihnen ausgelöscht werden würde. Er hoffte auf das erste und fürchtete das letzte, denn dass es nicht die unschuldige, freundliche Seite sein würde, die überlebte, dessen war er sich sicher. Und er selbst? Nun ja. Er war eben einfach ein sentimentaler Idiot, der sich schlechtweg weigerte aufzugeben. Aber immerhin ein Idiot mit einer Aufgabe und einem echt heißen Date.

Er stellte sich neben Aya und ihre Hände streiften sich kurz. Vor noch gar nicht mal so lange Zeit hätte ihm das vermutlich einen kalten Killerblick, eine rüde Bemerkung oder etwas in der Art eingebracht. Jetzt blickte Aya nur kurz in seine Richtung, nickte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu, auf dem Omi bereits einige Tabs geöffnet hatte.

 

„Ich habe erst einmal Profile von Schwarz erstellt“, erklärte er. „Ich denke, wir sollten zunächst zusammentragen, was wir über die drei wissen.“

„Vier“, warf Aya ein. „Es sind vier.“

Omis Augenbrauen wanderten nach oben. „Ach ja? Woher weißt du das?“

„Schuldig hat noch ein viertes Mitglied erwähnt. Nagi Naoe. Er kennt sich mit Computern aus.“

Omi nickte und erstellte eine weitere Liste. „Weißt du noch mehr?“

„Nur dass er anscheinend jünger ist. Es klang, als wäre da ein merklicher Altersunterschied zwischen ihm und dem Rest.“

„Schwarz hat also auch einen minderjährigen Hacker?“, fragte Yoji verblüfft. „Vielleicht solltet ihr euch mal treffen. Wer weiß, vielleicht werdet ihr ja Freunde. Ihr habt immerhin einiges gemeinsam.“

Omi bedachte ihn mit einem finsteren Blick. „Das ist nicht lustig, Yoji. Aber jetzt weiß ich wenigstens, warum ich nicht in die Verkehrsüberwachung reingekommen bin. Der Kerl hat vermutlich einen Sicherheitsring um ihren Aufenthaltsort aufgebaut. Mal sehen, ob ich ihn lokalisieren kann. Nur weil ich nicht reinkomme, heißt das ja nicht, dass ich nicht rausfinden kann, wo die Quelle ist.

„Es wurmt dich, oder?“, fragte Yoji mit einem Grinsen. „Dass er besser ist als du.“

„Er ist nicht besser“, knurrte Omi. „Er ist nur besser als die meisten, die ich bisher geknackt habe. Aber lasst uns erst mal sehen, was wir über den Rest wissen.“

 

Er rief ein Profil auf, das ein Foto von einem dunkelhaarigen Mann in einem Anzug zeigte. Yoji lehnte sich vor, um zu lesen, was Omi bereits eingetragen hatte.

„Crawford, eh? Oracle? Das ist der, der die Zukunft voraussehen kann. Ich kann ich nicht erinnern, ihm selbst schon einmal begegnet zu sein.“

Aya bewegte sich. „Ich habe mit ihm gekämpft, als...wir uns getrennt hatten. Er hatte meinen Angriff vorausgesehen. Er ist etwa so groß wie Yoji, älter als wir, Ausländer, ziemlich kräftig aber agil und er hört sich selber gerne reden. Schuldig sagte, er hat gerne alles unter Kontrolle. Ich weiß nicht, inwieweit seine Gabe sein kämpferisches Können beeinflusst, aber rückwirkend gesehen hatte ich fast das Gefühl, er hätte jeden meiner Angriffe vorausgesehen. Ich konnte kaum einen Treffer landen. Allerdings hat Farfarello einen Großteil des Kampfes für ihn übernommen.“

Omi wechselte das Profil. Es enthielt kein Foto, aber eine recht detaillierte Beschreibung.

„Er hat definitiv ein Faible für Messer“, ließ sich Yoji vernehmen. „Er kann sich lautlos bewegen und hat irgendwie eine unangenehme Ausstrahlung. Ich meine, er hat mich abgeleckt. Wer macht so was?“

„Schuldig sagte, er sei irre“, fügte Aya hinzu. „Außerdem scheint er kaum Schmerzen zu verspüren. Das sie ihn Berserker genannt habe, spricht ebenfalls für sich. Ist er einmal in einen Kampfrausch verfallen, kann ihn vermutlich nur noch sein eigener Tod aufhalten.“

„Das lässt sich bestimmt einrichten“, versicherte Yoji.

„Bleibt nur noch Mastermind. Schuldig“, sagte Omi. Er rief das letzte Profil auf.

„Was ist das überhaupt für ein Name?“, schnaubte Yoji. „Ich meine, so heißt doch kein Mensch. Das ist ja wie Cher oder Madonna.“

„Ich habe nachgesehen. Es ist ein deutsches Wort und bedeutet so viel wie an etwas Schuld haben“, entgegnete Omi. „Er ist...er ist ein grausamer, manipulativer Bastard. Er redet dir Sachen ein so lange, bis du sie selber glaubst. Er weiß, was in deinem Kopf vorgeht, und verwendet es gegen dich. Man muss extrem vorsichtig sein, wenn man gegen ihn kämpft.“

„Außerdem ist er schnell“, ergänzte Aya. „Unglaublich schnell. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, das er einen beeinflusst oder ob er sich wirklich so schnell bewegen kann, aber es war mir auch bei ihm unmöglich, ihn zu erwischen.“

„Ich weiß, was du meinst“, brummte Yoji. „Erinnerst du dich? Als wir beim ersten Mal zu dritt gegen ihn angetreten sind, hat er uns einfach ausmanövriert. Obwohl ich nicht glaube, dass er wirklich gegen drei Gegner gleichzeitig antreten kann. Er kann uns ja schließlich nicht alle manipulieren.“

„Lass uns keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen“, gab Aya zurück. „Das Beste ist, dass wir davon ausgehen, dass diese vier uns haushoch überlegen sind.“

Yoji verzog das Gesicht. „Und wie sollen wir sie dann besiegen? Ich meine, wir sind nur zu dritt.“

„Wir müssen sie bei ihrer Arroganz packen. Wer sich so überlegen fühlt, ist anfällig für Fehler. Wir müssen nur ihre Schwachstellen finden und sie dann einen nach dem anderen aushebeln. Wenn wir das schaffen, haben wir eine Chance. Wenn nicht...“

 

Aya beendete den Satz nicht, aber sie wussten alle, was er meinte. Wenn sie es nicht schafften, würde Weiß ausgelöscht werden.

„Zunächst einmal müssen wir sie aber finden“, beendete Omi die unangenehme Stille. „Aya, du musst dich erinnern. Hat er irgendetwas über ihren Aufenthaltsort gesagt?“

„Er hat gesagt, dass...er von seinem Zimmer aus einen Park sehen kann.“

„Das ist interessant. Wenn ich die Daten der geblockten Überwachung mit dieser Info verknüpfe, lässt es sich vielleicht eingrenzen. Noch etwas?“

Aya schloss die Augen und schien nachzudenken. „Diese Kassiererin aus dem Supermarkt. Schuldig hat gesagt, er hat sie vorher schon einmal getroffen.“

Omi machte sich eine Notiz. „Ich werde den Supermarkt raus suchen und sehen, ob die dort eine Überwachungskamera haben. Vielleicht hat dieser Nagi ja vergessen, sie auszuschalten. Eventuell ist ja was auf dem Band, das uns weiterhilft.“

„Sie werden außerdem ein frei stehendes Gebäude bevorzugen“, warf Yoji ein. „Ich meine, wenn sie Ken dort unterbringen und... naja. Das macht man nicht, wenn nebenan die Nachbarin im Keller nebenan ihre Waschmaschine laufen lässt.“

Omi nickte. „Gut, ich werde sehen, was ich herausfinden kann. Wir werden dieses schwarze Nest finden und es ausräuchern.“

Yoji bedachte ihn mit einem schrägen Blick. Der Junge schien fest entschlossen. Er fühlte ein warmes Gefühl in seiner Brust aufsteigen. Wenn Omi sich da so reinhängen konnte, dann würde er das auch schaffen. Er sah zu Aya hinüber.

„Wir zwei sollten uns um die Bewaffnung kümmern. Ich denke, es ist von Vorteil, wenn wir dieses Mal ein bisschen schwerere Geschütze auffahren.“

Aya hob eine Augenbraue. „An was hast du gedacht?“

Yoji zuckte mit den Schultern. „Hubschrauber und Panzergranaten scheinen mir geeignet. Vielleicht können wir uns auch irgendwo eine Wasserstoffbombe ausleihen. Ich meine, nur um ganz sicher zu sein.“

Aya schnaubte nur und ging an ihm vorbei. In Richtung Ausgang. Yoji entging nicht, dass er ihn dabei wie zufällig streifte. Er griff nach seinen Zigaretten, zündete sich eine an und folgte ihm zu dem Raum, in dem sie ihre Ausrüstung aufbewahrten.

 

 

 

 

 

Komm schon, Ken, mach den Mund auf. Es ist ganz einfach. Ich weiß, dass du es willst und du weißt es auch. Also hör auf, dich zu wehren und sei ein braves Kätzchen.“

Er presste die Lippen zusammen und drehte den Kopf weg. Dieses Mal würde er nicht nachgeben. Mochte ja sein, dass dieser Schwarz ihn beim letzten Mal auf dem falschen Fuß erwischt hatte, aber er war kein Spielzeug!

Schuldig sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Na gut, wenn du es unbedingt auf die harte Tour willst, kann ich das einrichten.“

Plötzlich war da dieses Gefühl in seinem Kopf. Ein Druck, ein Spannen. Nicht schmerzhaft, aber seltsam und beunruhigend. Es war, als würde er die Kontrolle über seine Gedanken und seinen Körper verlieren. Er kämpfte dagegen an und das Gefühl wurde schlimmer, begann schmerzhaft zu werden. Sein Kopf begann sich ohne sein Zutun zu Schuldig herumzudrehen, seine Lippen drifteten auseinander. Er bekam Panik, begann heftiger zu atmen, während sich sein Mund immer weiter öffnete.

Siehst du, es ist ganz einfach“, säuselte Schuldig und kam ein Stück näher. „Du wirst jetzt ein braves Kätzchen sein und tun, was ich möchte. Andernfalls werde ich noch ganz andere Sachen mit dir anstellen und das willst du doch nicht, oder?“

Schuldigs Arme hatten Kratzer, wo Ken versucht hatte, sich zu wehren. Er sah die roten Striemen, als der Mann jetzt die Hand hob und langsam seine Finger in Kens Mund schob. Er war so schlau, die Kontrolle nicht zu verringern, denn andernfalls hätte Ken ihn mit ziemlicher Sicherheit wieder gebissen. Stattdessen nahm er die Finger wieder zurück, schob sie unter Kens Kinn und schloss seinen Mund mit sanften Druck wieder.

Und jetzt nur noch kauen und schlucken“, merkte er an und entließ Ken wieder aus seinem mentalen Griff. Ken fühlte die Ohnmacht weichen und handelte unverzüglich. Er spuckte Schuldig den Reis, den der ihm gerade in den Mund geschoben hatte, wieder ins Gesicht. Die weißen Körner klatschten gegen dessen Wange und hinterließen eine schleimige Spur auf dem Weg nach unten.

 

Er sah den Schlag nicht kommen, der seinen Kopf zur Seite und gegen die Wand hinter sich schleuderte. Sekunden nach dem Aufprall breiteten sich rasende Schmerzen von der Stelle aus, an der Schuldig ihn getroffen hatte. Sein halbes Gesicht fühlte sich taub an. Sein Kiefer knackte, als er ihn bewegte. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Hellblaue Augen funkelten ihn böse an.

Das wirst du bereuen, Kätzchen“, fauchte Schuldig und stand auf. „Dann bleibst du halt hungrig. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du einknickst. Und dann werde ich da sein.“

Die Drohung wirkte immer noch nach, als der Schmerz in seinem Gesicht längst zu einem dumpfen Pochen verklungen war und er auf dem kahlen Boden in einen Dämmerzustand übergegangen war, den Schlaf zu nennen die Übertreibung des Jahres gewesen wäre. Er war so müde, aber er würde nicht schlafen. Nicht schlafen...

 

 

 

Ken schreckte hoch. Vor ihm schwebte ein einzelnes, bernsteinfarbenes Auge musterte ihn. Er rappelte sich auf, so schnell er es vermochte, zog die Beine an und presste sich in die Ecke des Raumes, in die er sich zurückgezogen hatte, nachdem Schuldig verschwunden war. Sein Gesicht schmerzte immer noch und für einen Augenblick drohte die Schwärze, die in seinem Hinterkopf lauerte, ihn zu überwältigen. Er schluckte die aufsteigende Übelkeit herunter und ließ Farfarello nicht aus den Augen. Der Mann sah ihn weiterhin an. In seinem Blick konnte Ken nicht den wilden Blutdurst erkennen, den er beim letzten Mal gesehen hatte. Stattdessen war es eher etwas wie Neugier. Aber Ken blieb weiter wachsam. Auch Schuldig war freundlich gewesen und jetzt dröhnte sein Kopf und seine Hände waren wieder gefesselt.

Farfarello streckte eine Hand aus und Ken versuchte instinktiv, sich weiter von ihm zu entfernen. Aber hinter ihm war bereits die Wand und er war nicht schnell genug, bevor die Finger des anderen Mannes über sein Gesicht strichen. Als er sie wieder zurückzog, hing an seinem Zeigefinger ein einzelner, durchsichtiger Tropfen. Farfarello betrachtete ihn mit leicht schief gelegtem Kopf.

„Du hast geweint“, sagte er, die heisere Stimme leise, fast nur ein Flüstern. „Warum?“

Ken schüttelte den Kopf. „Ich...ich weiß nicht. Ich habe geschlafen. Geträumt.“

 

Farfarellos Blick richtete sich wieder auf sein Gesicht. Im Gegenzug betrachtete Ken den anderen Mann. Drei Narben zeichneten das Gesicht auf Nasenrücken, Wange und Kinn und Ken fragte sich unwillkürlich, woher sie wohl stammten. Hatte er sie bei einem Kampf davon getragen? Welche Art von Waffe hatte sie verursacht? Wie hatte er das Auge verloren? Was für Kämpfe hatte er schon ausgefochten? Sein Blick wanderte tiefer und entdeckte das Halsband an seinem Hals.

'Wie bei einem Tier', schoss es ihm durch den Kopf.

 

Der andere Mann griff hinter sich und holte eine von Ken Bugnuks hervor. Er ließ die Krallen aufschnappen und betrachtete die Klingen. Er öffnete den Mund und ließ seine Zunge über das Metall gleiten. Das helle Fleisch glitt über die geschärften Kanten und Blut benetzte die Schneide. Ken war ebenso abgestoßen wie fasziniert. Er wollte die Augen schließen, den Blick abwenden, aber er konnte es nicht. Der Anblick, der rot benetzten Kralle, ließ ihn schlucken.

„Du bist ein Raubtier“, sagte Farfarello mit einem Mal.

„Was?“ Ken riss die Augen auf.

„Du jagst gerne und du genießt das Töten.“

„Wie bitte?“ Er schüttelte sich und riss sich von dem Anblick los. „Das ist nicht wahr. Ich...nein! Das ist nicht wahr. Ich würde lieber... Ich kann nicht... Ich...“

Er verstummte, da alles, was er sagte, an Farfarello abzuperlen schien, wie Wasser von einer gewachsten Scheibe. Es hinterließ keine Spuren, hatte keinen Einfluss. Alles, was er sagte, war nichtig.

 

Farfarello ließ die Krallen wieder in ihre Schutzhülle zurückgleiten und stand auf. Er wandte Ken den Rücken zu, den Handschuh immer noch in der Hand.

„Ich bin nicht wie du“, sagte Ken zu seinem Rücken, nicht sicher, ob der andere ihm überhaupt zuhörte. „Ich bin nicht wie du. Ich töte, um diejenigen zu betrafen, die Unrecht getan haben. Nicht, weil es mir gefällt.“

„Dann bist du Richter und Henker in einer Gestalt?“

Die Frage überraschte ihn ein wenig und er dachte kurz nach. „Nein. Nur der Henker. Das Urteil fällen andere.“

„Ich verstehe.“

Die zwei Worte standen im Raum und machten Ken nervös. Der Irre verstand? Was sollte das denn jetzt heißen? Warum unterhielt er sich überhaupt mit ihm? Das war ein Schwarz, ein Feind!

 

Er zog die Beine enger an den Körper. Er zitterte, es war kalt hier unten und er trug immer noch nicht mehr am Leib als seine Unterwäsche. Seine Wunden waren inzwischen verbunden worden. Schuldig hatte sich darum gekümmert und sich einen Spaß daraus gemacht, die Prozedur zu einem Marathon aus Anspielungen und ungewollten Berührungen zu machen.

Ken sah auf und sein Blick fiel auf Farfarellos Oberarm, wo ebenfalls ein dickes Pflaster prangte an der Stelle, wo sich das Holz der Kirchenbank in den Arm gebohrt hatte. Ihm fiel etwas ein.

„Wie machst du das?“, fragte er und Farfarello drehte sich wieder zu ihm herum. Er antwortete nicht und sah ihn nur an.

„Das da.“ Ken wies mit dem Kinn auf die verletzte Schulter. „Das muss doch höllisch wehgetan haben, aber du hast nicht mal gezuckt. Wie machst du das?“

Farfarello gab einen belustigten Laut von sich. Er legte den Handschuh auf den Boden und zog stattdessen einen schmalen Dolch heraus. Er entfernte das Pflaster mit einem beiläufigen Ruck und stach, bevor Ken reagieren konnte, mitten in die breite Wunde. Er drehte die Klinge, den Blick weiter auf Ken gerichtet, die Miene unbeteiligt. Die Wunde begann wieder zu bluten und die rote Flüssigkeit lief in breiten Streifen seinen Arm hinab, bis sie auf den Boden tropft. Ken keuchte auf.

 

„Ich wünschte, ich könnte den Schmerz fühlen“, sagte Farfarello. „Aber ich fühle gar nichts. Das, was dir wie ein Segen erscheint, ist mein Fluch. Mir wurde alles genommen und nicht einmal der Schmerz blieb zurück. Das ist es, was Gott mir angetan hat.“

„Gott?“ Ken konnte den Blick immer noch nicht von dem Messer in Farfarellos Arm nehmen. „Was hat Gott damit zu tun?“

„Er hat mir meine Familie genommen. Vater, Mutter, Schwester. Sie wurden getötet und Gott hat nichts getan. Mir wurde beigebracht, wie gütig Gott ist. Dass er die Welt erschaffen hat. Dass er sich um uns kümmert. Aber es war alles nur eine große Lüge. Es gibt gar keinen Gott.“

 

Er blickte dem roten Rinnsal nach, das inzwischen eine kleine Pfütze auf dem Boden gebildet hatten. Seine linke Hand war blutbedeckt. Er ging auf Ken zu, kniete sich vor ihn und legte ihm die Hand auf die Brust. Der Blutgeruch wurde überwältigend. Ken spürte die glitschige Flüssigkeit auf der Haut und fühlte Ekel in sich aufsteigen.

„Wir könnten zusammen jagen“, flüsterte Farfarello. „Du wärst ein guter Jagdgefährte.“

Ken versetzte ihm einen Tritt, der ihn rückwärts fallen ließ und stemmte sich selbst auf die Füße.

„Du bist ja wahnsinnig“, schrie er. „Ich würde niemals Unschuldige umbringen. Diese Menschen in der Kirche! Warum mussten sie sterben? Welche Sünden haben sie in deinen Augen begangen, dass sie den Tod verdient haben?“

Farfarello kam auf die Füße

„Ich habe sie getötet, um Gott zu zeigen, wie machtlos er ist“, antwortete er. „Sie haben ihn gerufen, haben ihn aufgefordert, sie zu retten. Aber niemand ist gekommen. Er hat sie einfach sterben lassen.“

Ken schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber du hast doch selbst gesagt, dass es keinen Gott gibt. Wie kann er dich da aufhalten? Was du sagst, ergibt überhaupt keinen Sinn!“
 

Farfarello legte den Kopf schief. „Ist das so?“

„Ja“, schrie Ken. „Du benutzt deinen Hass gegen Gott, um deine Verbrechen zu rechtfertigen. Du bist einfach nur wahnsinnig, ein Mörder.“

„Es war kein Verbrechen, sie zu töten“, sagte Farfarello. Seine Stimme zitterte. „Ich bin ein Opfer. Ich bin es, dem Unrecht angetan wurde. Wie kann das, was ich tue, da ein Verbrechen sein?“

„Es ist ein Verbrechen zu töten. Du und ich werden beide in der Hölle schmoren dafür, was wir tun. Aber immerhin habe ich einen guten Grund dafür. Du hingegen jagst nur Hirngespinsten nach. Du sagst, du willst dich an Gott rächen? Es ist eine Lüge, hinter der du dich versteckst. Eine Lüge, die du selbst dir oft genug erzählt hast, damit du sie glaubst. Du genießt es, zu töten. Du dürstest nach Blut. Es gibt keinen anderen Grund für deine Taten als dich selbst. Du bist es, der an all dem Schuld ist!“

Farfarellos Gesicht veränderte sich, wurde zu einer Maske des Zorns. Er fletschte die Zähne und fasste den Dolch fester. „Gott hat meine Familie getötet. Er muss leiden, so wie ich gelitten habe. Ich töte seine Kinder und verstümmele den Körper, in den er mich eingesperrt hat. Aber zunächst einmal töte ich dich.“

 

Mit einem unmenschlichen Schrei sprang er vorwärts und Ken fühlte, wie sich die Klinge in seine Seite bohrte. Er schrie, fiel, der Körper des anderen über sich. Sein Kopf schlug auf den Boden, weil er den Sturz nicht anfangen konnte. Alle Luft wurde durch Farfarellos Gewicht aus seinen Lungen gepresst. Er fühlte, wie eine Faust sein Gesicht traf. Ein weiterer, scharfer Schmerz schoss durch seine Nerven, seine Augenbraue platzte auf und Blut tropfte in sein Auge, verschleierte seine Sicht. Er blinzelte und versuchte sich zu befreien. Wie ein Dämon der untersten Hölle saß der Mann mit dem einen Auge über ihm und hatte den Dolch zum finalen Stoß erhoben. Ken versuchte vergeblich der tödlichen Falle zu entkommen. Sein getrübter Blick fiel auf die Klinge. Er sah sein Spiegelbild darin. Eine winzige Figur inmitten von kaltem Stahl. Ein letztes Aufblitzen vor dem Ende.

 

Die Tür flog auf und lenkte Farfarello ab.

„Nagi!“, rief Schuldig von irgendwo her. „Hilf mir!“

Das Gewicht von Kens Brust war plötzlich verschwunden und Farfarello flog rückwärts durch den Raum, krachte gegen eine Wand und schrie vor Wut auf. Nagi, der in der Tür stand, hatte die Hände in seine Richtung ausgestreckt, auf seinem Gesicht war Anstrengung abzulesen.

„Was hast du getan, verdammt?“, fauchte Schuldig in Kens Richtung. Er wandte sich dem tobenden Farfarello zu und begann auf ihn einzureden. Es klang beruhigend, fast wie ein Wiegenlied. Aber es nutzte nichts, der Irre kämpfte weiter gegen die unsichtbaren Fesseln, die ihn an seinem Platz hielten. Ken bekam das alles nur noch am Rande mit. Die Wunde an seiner Seite blutete, sein Kopf dröhnte. Sein Bewusstsein driftete langsam ab und rutschte immer weiter über den Rand in Richtung Schwärze. Das Letzte, was er sah, war Schuldig, der sich zu ihm umdrehte und irgendetwas rief. Dann war da nur noch Dunkelheit.

 

 

 

Das Erste, was er wahrnahm, war Wärme. Es war warm um ihn herum. Keine Schmerzen, nur angenehme Wärme. Das nächste war die Tatsache, dass er Kleidung trug. Eine Hose und ein T-Shirt. Seine Sachen offenbar. Gewaschen. Er versuchte die Augen zu öffnen und schloss sie schnell wieder. Die weiße Helligkeit vor seinen Lidern war schmerzhaft und verursachte ihm Kopfschmerzen. Er versuchte stattdessen, sich zu bewegen. Er lag auf etwas Weichem, aber es war kein Bett. Ein Sofa vielleicht?

Stimmen näherten sich und er erkannte, dass eine davon Schuldigs war. Er schien aufgebracht.

„Ich weiß“, sagte er gerade. „Das war ja so auch nicht geplant. Und Nagi hat sich schon keinen Zacken aus der Krone gebrochen. Du verhätschelst den Jungen zu sehr.“

„Das ist nicht deine Entscheidung“, antwortete eine andere, männliche Stimme, die Ken nicht kannte. Vermutlich gehörte sie dem vierten Schwarz, Crawford.

Die beiden blieben in einiger Entfernung stehen und Ken beschloss, einfach weiter zu tun, als wäre er ohnmächtig. Vielleicht bekam er so etwas zu hören, das ihm hier raus helfen konnte.

„Was soll das, Schuldig?“ Crawford war eindeutig verärgert. „Ich wünsche nicht, dass dein Haustier hier auf der Couch herumliegt.“

„Aber du bist doch derjenige, der drauf bestanden hat, dass ich ihm etwas anziehe, wenn er hier oben ist“, nörgelte Schuldig. Er trat neben das Sofa, Ken fühlte, wie er gepackt und unsanft auf den Boden befördert wurde. Er unterdrückte mit Mühe einen überraschten Laut.

„Besser so?“, äzte Schuldig. „Oder soll ich ihn noch an eine Leine legen?“

„Du sollst ihn wieder in den Keller bringen, wenn er wach ist. Am besten jetzt gleich, das macht am wenigsten Scherereien.“

„Jaja, ich mach's gleich. Geh nur zu deinem Termin, ich kümmere mich um alles.“ Er murmelte noch etwas, das vermutlich niemand verstehen sollte, und ihm einen warnenden Laut von seinem Vorgesetzten einbrachte.

„Ich verlasse mich darauf, Schuldig“, sagte Crawford und Ken hörte, wie sich Schritte entfernten und eine Tür klappte. Schuldig ließ sich auf das Sofa fallen und stupste Ken mit dem Fuß an.

„Du kannst aufhören, dich totzustellen, Kätzchen. Er ist weg.“

 

Ken öffnete die Augen und sah halb unter dem Couchtisch liegend zu Schuldig nach oben. Der grinste ihn an. „Und? Wie fühlst du dich?“

„Besser“, gab Ken einsilbig zurück.

„Das will ich doch stark hoffen. Hab dich schließlich eigenhändig hier hoch geschleift. Man, du hast Farfarello ja ordentlich aus dem Häuschen gebracht. Was hast du gemacht? Mit ihm über Gott geredet?“

Ken nickte nur. Schuldig schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. „Sollte man nicht tun. Am besten lässt du das Thema einfach gut sein. Ich weiß nicht, ob ich nächstes Mal auch wieder schnell genug bin, um dir deinen süßen Hintern zu retten.“

Ken wusste nicht, wie er mit dem plötzlichen Wechsel umgehen sollte. Beim letzten Mal war Schuldig noch derjenige gewesen, der ihm fast den Kopf von den Schultern geschlagen hatte, und jetzt machte er einen auf netter Typ? Ken traute dem Frieden nicht.

„Ich war eben ein bisschen überarbeitet. Kann doch mal passieren“, sagte Schuldig mit einem entschuldigenden Lächeln. „Komm, ich helfe dir hoch.“

 

Er griff nach Ken und beförderte ihn wieder auf die Couch. In seinen Augen funkelte es, als er sich neben Ken setzte und diesen halb auf seinen Schoß zog. Ken wollte sich wehren, aber Schuldig hielt ihn fest.

„Ah-ah-ah, Kätzchen, du willst doch nicht schon wieder Ärger machen? Wo ich dir doch gerade so viele schöne Annehmlichkeiten verschafft habe. Ein warmes Plätzchen, Kleidung, Schmerzmittel. War ein ziemlich böser Stich, den du da hattest. Ich dachte mir, da könnten so ein paar bunte Bonbons nicht schaden. Wenn die Wirkung allerdings nachlässt, wird das ganz schön ziepen, weißt du. Es wäre bestimmt von Vorteil, wenn du deine Nachschublinie nicht einfach so kappen würdest.“

Er kräuselte die Lippen und fuhr Ken mit der Hand durch das Haar. Ken wollte aufbegehren, aufspringen, Schuldig sagen, dass er sich zum Teufel scheren wollte, aber er konnte einfach nicht die Kraft aufbringen. Der Inhalt seines Kopfes fühlte sich an wie Zuckerwatte. Vermutlich lag das an den Medikamenten. Oder Schuldig setzte wieder seine Gabe ein, um ihn gefügig zu machen.

Der andere Mann grinste. „Ach, nur ein wenig. Damit du dir deine Wunden nicht gleich wieder aufreißt. Wäre doch schade um die gute Couch.“

 

Er ließ seine Hände langsam über Kens Oberkörper wandern und spielte mit dem Saum des T-Shirts. Ken spannte sich, als die Finger unter den Stoff und über seinen Bauch glitten.

„Schhh!“, machte Schuldig. „Keine Bange. Ich tu dir schon nichts.“

Er strich weiter mit den Fingern über den Bauch, zeichnete die Linien auf der leicht gebräunten Haut nach. „Mhm, ganz schön muskulös. Du machst viel Sport, oder?“

Ken antwortete nicht. Die Finger wanderten höher, streichelten über den Rand seiner Brustmuskeln und glitten dann an der Seite mit dem Verband wieder hinab. Er atmete scharf ein. Schuldig schmunzelte.

„Du bist viel zu verkrampft. Man könnte meinen, du seist noch Jungfrau.“

Ken spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. „Was? Nein! Was hat das denn jetzt damit zu tun?“

„Kein Grund, sich so aufzuregen“, feixte Schuldig und Ken wäre am liebsten wieder auf den Fußboden gerollt. Stattdessen blieb er liegen und blickte zu Schuldig hoch. Der sah ihm nicht ins Gesicht, sondern folgte stattdessen seiner Hand, die sich jetzt wieder unter dem Stoff hervorschob und wieder höher wanderte, mit den Augen

„Du bist wirklich ein hübsches Kätzchen, Ken. Ich kann mir vorstellen, dass du dich vor Verehrerinnen kaum retten kannst. Ich würde dich auch nicht von der Bettkante schubsen.“

Ken traute seinen Ohren nicht. Hatte Schuldig gerade angedeutet, dass er...

„Dass ich was, Kätzchen? Dich attraktiv finde? Nun, dazu gehört ja nicht viel, oder? Es tut mir leid, wenn wir einen schlechten Start hatten. Mein Temperament muss da ein bisschen mit mir durchgegangen sein.“

 

Seine Hand hatte jetzt den oberen Rand von Kens T-Shirt erreicht und er fuhr mit einem Finger sanft darunter entlang, bevor er über den Hals und das Kinn und schließlich über die linke Wange strich. Ken erwartete halb, dass es schmerzen würde, da sowohl Schuldig wie auch Farfarello ihn dort getroffen hatten. Was für Medikamente ihm Schuldig auch gegeben hatte, sie wirkten zuverlässig und er spürte nicht mehr als ein leichtes Spannen. Es war angenehm, keine Schmerzen zu haben.

 

Schuldig streichelte mit dem Daumen über Ken Lippen. Es kribbelte ein bisschen und Ken fühlte einen Knoten in seinem Bauch rumoren. Das war so surreal, das er vor lauter Verblüffung gar nicht daran dachte, sich von Schuldigs Schoß wegzubewegen. Das Zuckerwattegefühl wurde stärker.

„Ein sinnlicher Mund“, ließ sich Schuldig vernehmen. „Du kannst bestimmt toll küssen. Ich frage mich, was du sonst noch alles damit anstellen könntest.“

Er strich weiterhin über Ken Lippen und ohne es zu wollen, öffnete Ken den Mund leicht. Schuldig lächelte und ließ den Daumen zwischen die Lippen wandern. Er drang nicht tief vor, eben so, dass die Spitze seines Fingers manchmal die Zähne berührte und fuhr weiter auf den Lippen entlang.

„Köstlich“, schnurrte er. „Mir fiele da eine ganze Menge ein, was man damit anstellen konnte. Was meinst du, Ken? Was könntest du wohl mit deinen Lippen tun, was mir gefallen würde?“

 

Er schob seinen Finger jetzt tiefer in die Mundhöhle und die Assoziationen, die Ken dazu hatte, waren ihm ganz und gar nicht recht. Er stand nicht auf Männer und schon gar nicht auf Schuldig, aber dieses anzügliche Gerede und die Berührungen machte ihn ganz wuschig. Es führte außerdem dazu, dass ihm ziemlich warm wurde und das auch an einer Stelle, an der er eine solche Reaktion überhaupt nicht wollte. Zumal wenn er auf dem Rücken völlig ohne Deckung auf Schuldigs Schoß lag. Verdammt, er würde jetzt nicht...er konnte nicht... Scheiße!

Schuldigs Blick wanderte kurz tiefer, bevor er belustigt zu Ken Gesicht zurückkehrte. „Wie ich sehe, haben wir da ähnliche Ideen. Hast du diesbezüglich Erfahrung?“

Ken schüttelte leicht den Kopf, Schuldigs Daumen immer noch zwischen den Lippen.

„Dann sollte ich dir vielleicht erst mal zeigen, wie das geht, meinst du nicht? Würde dir das gefallen?“

Die flüsternde Stimmen, die durch Kens Kopf geisterte, war die reinste Folter. Sein Geist wehrte sich dagegen, schrie immer wieder, dass Schuldig aufhören sollte, während sein Körper ihn betrog und auf das reagierte, was die Stimme ihm zuraunte. Heiße Hitzewellen fluteten durch sein Inneres und das Ergebnis seiner Erregung war inzwischen nur allzu deutlich sichtbar. Er fluchte lautlos und wollte hier nur noch weg.

 

„Schuldig!“ Nagi schneidende Stimme peitschte durch den Raum und holte Ken ein wenig aus seiner durch Schuldig induzierten Glücksseligkeit. Er wollte sich erheben, aber Schuldig hielt ihn eisern fest. Seine Augen waren schmal geworden.

„Was willst du, Nagi?“

„Du weißt, was Crawford gesagt hat. Schaff ihn wieder in den Keller.“ Die Arme des Jungen hingen an seiner Seite herab, aber Ken konnte deutlich sehen, das er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Sein Ärger umgab den schmalen Jungen wie eine wabernde Aura.

„Ich kann tun und lassen, was ich will“, zischte Schuldig zurück.

„Wenn Crawfod davon erfährt, wird er nicht begeistert sein“, sagte Nagi leise. Sein hasserfüllter Blick richtete sich auf Ken. „Vielleicht sollte ich ihn selber nach unten bringen.“

„Untersteh dich“, knurrte Schuldig und die Drohung in seiner Stimme war unmissverständlich. „Du wirst ihn nicht anrühren, es sei denn, ich befehle es dir.“

„Du hast mir gar nichts zu befehlen, Schuldig.“ Nagi schoss noch einen finsteren Blick auf Ken ab und ging dann in die Küche. Er holte etwas aus dem Kühlschrank, öffnete und schloss eine Schublade und ging dann, ohne sich noch einmal umzusehen, aus dem Raum. Hinter ihm knallte die Tür ins Schloss.

 

Schuldig murmelte etwas, das Ken nicht verstand. Die hellblauen Augen richteten sich wieder auf Ken und das Lächeln kehrte zurück. „Kleine Meinungsverschiedenheiten unter Kollegen. Kommt vor. Aber die Stimmung ist wohl ruiniert. Möchtest du noch etwas essen?“

Ken zuckte bei der Frage zusammen. Schuldig strich ihm durch die Haare und lächelte.

„Keine Angst, dieses Mal darfst du selber essen. Es sei denn, du möchtest, dass ich dich füttere.“

Ken schüttelte energisch den Kopf. Die Assoziation, die ihm allerdings bei diesen Worten kam, ließ noch einmal einen Schauer durch seinen Körper wandern. Eine Erdbeere, die sich zwischen seine Lippen schob, der rote Saft, der an den Seiten herunterlief, Schuldigs Mund, der sich auf seinen presste und eine Zunge, die hungrig sein Innerstes plünderte. Oh verdammt, er war so was von am Arsch.

Schuldig grinste ihn an. „Du magst Erdbeeren?“

Ken presste die Augen fest zu und wünschte sich woanders hin. „Hörst du eigentlich alles, was in meinem Kopf vorgeht?“

„Wenn du so laut denkst.“

„Das war ich nicht. Das warst du!“

Schuldig lehnte sich über ihn, sodass Ken seinen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. „Und wenn? Würdest du es ausprobieren wollen? Ich meine, ich habe keine Erdbeeren, aber...“

'Nein! Nein! Nein!', schrie es in seinem Kopf. Er wollte das nicht, er wollte hier weg, er wollte...wollte...wollte. Was wollte er noch gleich?

„Du solltest eines wissen.“ Schuldigs Gesicht schwebte immer noch über seinem, „Ich kann dich zwingen, es zu tun, aber ich kann dich nicht zwingen, es zu wollen oder zu mögen. Das ist allein deine Entscheidung.“

Damit lehnte er sich wieder zurück und tat, als wenn nicht gewesen wäre. Seine Hand fuhr wie geistesabwesend durch Ken Haar und der war sehr froh darüber, dass er gerade nichts sagen musste. Einfach hier liegen war in Ordnung. Er merkte, wie ihn das alles angestrengt hatte und wie sein Geist langsam wieder in einen Dämmerzustand abdriftete. Wahrscheinlich war das alles hier sowieso nur ein völlig verrückter Traum und Omi oder Aya würden ihn gleich wecken kommen. Ja genau, so war es bestimmt. Es war alles in Ordnung, solange er nur hier liegen blieb und sich streicheln ließ. Es ist alles in Ordnung.

 

 

 

 

 

Schuldig beendete die Bewegung in dem Moment, als er merkte, dass der andere eingeschlafen war. Fast hätte er gelacht. Es war so einfach. Viel zu einfach eigentlich. Wenn man erst einmal herausgefunden hatte, wie ein andere Mensch in seinem Inneren tickte, konnte er das mit Leichtigkeit aushebeln und ihn dazu bringen, das zu tun, was er wollte. Besonders wenn er, wie in diesem Fall, so viel Zeit dazu hatte. Es hatte ihn ein bisschen davon gekostet, herauszufinden, wie er Siberian genau behandeln musste, damit es in die richtige Richtung ging, aber jetzt hatte er einen Plan.

 

Schuldig lehnte sich zurück und genoss den Triumph. Er hatte sich lange Gedanken gemacht, wie man die vier Kätzchen am besten leiden lassen konnte. Mit Bombay war es recht einfach gewesen. Ein Test. Die Naivität, seine verkorkste Familiengeschichte und die Suche nach seiner Vergangenheit hatte den Jungen anfällig gemacht. Seine Streben nach Wahrheit war ihm zum Verhängnis geworden. Man durfte von Schuldig keine Wahrheit erwarten. Selbst wenn man sie bekam, steckte immer eine Absicht dahinter, die sich dem unbeteiligten Beobachter oft nicht sofort erschloss. Er war allerdings zum Ende des Spiels ein wenig nachlässig geworden. Als er Farfarello die Waffe überließ, hatte dieser das Mädchen erschossen. Das war nicht sein Plan gewesen. Schuldig hatte nie so recht herausgefunden, ob er auf sie oder auf Bombay gezielt hatte oder ob gar Crawford ihm gar den Auftrag gegeben hatte, Takatoris Tochter zu töten. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, Schuldigs Fragen diesbezüglich zu beantworten. Es machte auch keinen Unterschied mehr. Er würde den kleinen Weiß mit Leichtigkeit zerquetschen können, wenn es soweit war.

 

Balinese war ebenfalls ein vielversprechendes Opfer. Er amüsierte Schuldig und es hätte ihn wirklich interessiert, den Kopf des Mannes einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Irgendwo unter diesem smarten Auftreten, der Lässigkeit, den Frauen und dem Alkohol lag eine gequälte Seele, die sich in Schuld und Schmerz erging und sich im Sumpf ihrer eigenen Sündhaftigkeit suhlte. Schuldig hätte nur zu gerne mal an seiner Oberfläche gekratzt, um das Dunkle im Inneren freizulegen. Allein das Fehlen eines ersten Ansatzpunktes hatte Schuldig bisher davon abgehalten, sich den Kater bereits früher zu schnappen. Man brauchte eine feste Oberfläche, wenn man ein Ei aufschlagen wollte. Er war sich jedoch sicher, dass es nicht schwer sein sollte, einen solchen zu finden, wenn er ihn erst einmal hatte.

 

Blieb Abyssinian. Den, so war sich Schuldig sicher, musste man erst einmal komplett brechen, bevor man mit ihm spielen konnte. Obwohl da tief im Inneren etwas war, das ausbaufähig sein konnte, wenn man es geknackt bekam. Was es war, war sich Schuldig nicht ganz sicher. Eitelkeit, Ehre, Moral oder etwas ganz anderes? Ein Held in schimmernder Rüstung oder ein Wolf im Schafspelz? Die alles entscheidende Frage war, was schneller ging und was mehr Spaß machte. Er war mit Sicherheit der am schwersten zu brechende Weiß, aber wenn er an dessen Unterlegenheit bei ihrem letzten Zusammentreffen dachte, war er positiv gestimmt, dass er auch ihn würde überwinden können.

 

Um die tiefen Gedanken eines Menschen an die Oberfläche zu zerren, gab es mehrere Möglichkeiten. Man konnte ihn körperlich so weit schwächen, dass sein Geist es einfach aufgab, sich zu wehren. Krankheit und Hunger vermochten diese Wirkung zu haben. Auch Angst sorgte dafür, dass sich das Denken auf die Instinkte zurückzog und den Weg freigab auf die tieferen Schichten, in denen Schuldig sich umzusehen wünschte. Wut sorgte ebenfalls dafür, machte allerdings das Ziel oft auch körperlich aggressiv. Auch wenn er die Fähigkeit besaß, gleichzeitig Gedanken zu lesen und auf ihn einprasselnden Schlägen auszuweichen, so zog er es doch vor, beides nicht zur selben Zeit tun zu müssen, wenn es sich vermeiden ließ.

 

Die andere Möglichkeit, tief in den Geist eines Menschen einzudringen, war, ihm positive Gefühle zu verschaffen. Alkohol und Drogen waren dafür ein brauchbares Mittel, wenngleich letztere auch zu Angstzuständen führen konnte, wobei das im Grunde egal war, da das Ergebnis dasselbe war. Außerdem gab es sexuelle Erregung. Ein Mittel, das Schuldig bisher vornehmlich bei Frauen eingesetzt hatte. Es war so viel einfacher, ihnen die Geheimnisse aus dem Kopf zu ziehen, wenn sie sich mit ihm in den Laken rekelten, als wenn sie ihm an einem Verhandlungstisch gegenüber saßen. Wobei man sich auch auf einem Verhandlungstisch gut rekeln konnte, wie er hatte feststellen können. Er grinste bei der Erinnerung und sah auf den schlafenden, jungen Mann in seinem Schoß herab.

 

Ursprünglich hatte er gedacht, dass Siberian am ehesten durch Schmerz und Folter beizukommen sei. Die Wut und Wildheit, mit der er ihn im Kampf erlebt hatte, sprachen dafür. Es gab leichte Ähnlichkeiten zu Farfarello, wenngleich er sich aus dem Kopf seines irischen Teammitglieds lieber heraushielt. Meist machte das, was man zu hören bekam, zu wenig Sinn, als dass er sich damit beschäftigen wollte. Farfarellos Geist hatte eine ganz eigene Logik. Er war nicht dumm, sondern im Gegenteil manchmal sogar ein ziemlich scharfsinniger Beobachter. Von einem auf den anderen Moment konnte die Stimmung jedoch kippen oder in ein sinn- und zusammenhangloses Gedankenchaos umschlagen und Schuldig machte diese Sprunghaftigkeit Kopfschmerzen.

Bei Siberian war es noch nicht so weit, dass er komplett fiel. Etwas lauerte in der Tiefe, strich unter dem glatten Spiegel seines Selbst entlang und schlug an der Oberfläche kleine, sich kräuselnde Wellen. Aber wo Farfarello sich mit Freude dem Wahnsinn entgegenwarf, kämpfte Siberian dagegen an. Sein Festhalten an seiner „guten Seite“, wie Schuldig sie mit einem abfälligen Unterton nannte, war noch zu stark. Allerdings war sein Halt nicht gefestigt. Er suchte nach etwas, das ihm helfen konnte. Nach etwas oder jemandem, der ihn in dieser Welt verankerte. Das war der Punkt, an dem Schuldig anzusetzen gedachte.

 

Er musste zugeben, dass ihm das etwas schwerer fiel, als er zunächst angenommen hatte. Er musste, wie sich herausgestellt hatte, tatsächlich richtig nett zu dem Kätzchen sein. Zuckerbrot und Peitsche funktionierte nur bedingt, da Siberian an einer altmodischen und romantischen Sicht der Welt festhielt, die sie in Gut und Böse einteilte. Es gab kein Grau in seiner Vorstellung. Normalerweise war es recht einfach, diese Grenzen bei den Menschen zu verwischen. Sobald man ihnen etwas wegnahm, was ihnen lieb und teuer war, oder ihnen etwas in Aussicht stellte, das zu erreichen sie begehrten, wurden sie zu Bestien. Die einen mehr, die anderen weniger. Einige sprachen eher auf das eine an, die andere auf das andere. Und dann gab es solche wie Siberian.

Er besaß nichts und traute sich, trotz seines Verlangens nicht, sich zu nehmen, was er wollte. Zu tief waren Moral und Werte in ihn eingegraben worden. Schuldig musste sie vorsichtig ablösen, um keinen Verdacht zu erregen, und erst dann würde er zuschlagen können. Er musste also tatsächlich durchgehend den „guten Cop“ spielen, wenn er ihn an sich binden wollte. Eine Rolle, die ihm nicht besonders stand und ihn kurz darüber nachdenken ließ, ob er Siberian nicht doch einfach Farfarello überlassen sollte, auch wenn das vielleicht bedeutete, dass dieser ihn umbrachte. Gestört hätte es Schuldig nicht wirklich. Andererseits wuchs man bekanntlich mit seinen Aufgaben und vielleicht ließ sich ja tatsächlich noch ein bisschen mit dem Kätzchen spielen, bevor es ihm zu langweilig wurde.

 

Schuldig Blick fiel auf die Tür, die Nagi hinter sich zugeknallt hatte. Der Junge konnte möglicherweise ein Problem werden. Schuldig wusste, dass er einen persönlichen Groll gegen Siberian hatte. Er wollte ihn leiden sehen. Durchgehend. Nagi würde Siberian eher alle Knochen brechen, als freundlich zu ihm zu sein. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre Weiß längst Geschichte gewesen. Aber Nagi gehorchte Crawford und der wusste von Schuldigs Plänen. Er würde ihn machen lassen und Nagi im Zaum halten, solange es Schuldig nicht übertrieb. Außerdem brauchte Schuldig noch einen „bösen Cop“, um sein Spiel vollständig zu machen. Farfarello war für diese Aufgabe zwar geeignet, aber, wie der Zwischenfall gezeigt hatte, zu unberechenbar. Er würde ihm weiterhin eine Rolle zukommen lassen, aber stärker unter Aufsicht halten müssen.

Schuldig überlegte kurz, ob er Nagi einweihen sollte, ließ den Gedanken aber wieder fallen. Der Junge hätte keinen Sinn für die Raffinesse von Schuldigs großem Masterplan gehabt, dessen war er sich sicher. Sie kamen zwar eigentlich gut miteinander aus, aber für dieses Spiel war Nagi einfach noch zu jung. Später würde er ihn vielleicht mal mitspielen lassen, aber diese Runde würde Schuldig alleine bestreiten. Eventuell würde er Siberian noch über Nagis Fähigkeiten in Kenntnis setzen. Einfach um den Effekt zu unterstreichen. Der Junge war weniger harmlos, als er aussah.

 

Er sah noch einmal auf seinen Schoß, wo Siberian friedlich schlief. Sein Blick wanderte zu dessen Mund und einer seiner Mundwinkel wanderte nach oben. Vielleicht war das, was er vorhin impliziert hatte, sogar einen Versuch wert. Die Reaktion, die der Junge gezeigt hatte, waren recht eindeutig gewesen. Wahrscheinlich war es nur angestaute Begierde. Dass er sich diesbezüglich nichts erlaubte, war unübersehbar in seinen Geist geschrieben gewesen. Aber Schuldig würde wissen, wie er diese unerfüllte Leidenschaft zu seinem Vorteil nutzen konnte. Er musste sie nur auf sich kanalisieren und dann zusehen, wie sich schon mal ein Teil der moralischen Wertvorstellungen verabschiedete. Zumal ihm Abyssinian und Balinese die perfekte Vorlage dafür geliefert hatten. Oder wie Crawford es ihm gegenüber so schön ausgedrückt hatte: A lay is a lay. Der Amerikaner war diesbezüglich recht pragmatisch.

 

Er erlaubte sich ein anzügliches Grinsen und lehnte sich dann über den Schlafenden, um sich in dessen Träume zu schleichen. Ein bisschen Vorarbeit konnte nicht schaden, bevor sie sich das nächste Mal in der wachen Welt begegneten. Siberian begann sich unruhig zu bewegen und Schuldig betrachtete mit Wohlgefallen, was seine kleinen Stupser an den richtigen Stellen mit dem schlafenden Geist anstellten. Er würde ihm verfallen wie einer Droge. Unaufhaltsam und unwiderruflich. Am Ende würde er ihn fallen lassen und niemand würde ihn mehr retten können. Nicht einmal seinen kleinen, lächerlichen Freunde, die sich jetzt vermutlich gerade selbst zerfleischten. Oh ja, diese Kätzchen waren wirklich ein interessantes Spielzeug und ihr Leiden war köstlich, süß und berauschend. Er würde sie ganz verschlingen und ihre Überreste in die Asche dieser Welt spucken, die Crawford zu hinterlassen gedachte. Es war alles nur eine Frage der Zeit.

 

 

 

 

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

„...und deswegen werden wir Samstagnachmittag zu dritt eine Observation vor Ort durchführen, um Kens Standort zu bestimmen“, schloss Omi seine Erklärung Aya gegenüber, was den Stand der Ermittlungen anging.

Aya nickte langsam, den Blick zunächst noch auf den Bildschirm gerichtet. Er und Omi saßen zusammen im Missionsraum. Der Abend war bereits fortgeschritten und Omi merkte, wie langsam die Müdigkeit einsetzte, die ihn daran erinnerte, dass er die letzten Tage nicht genug geschlafen hatte. Trotzdem musste er die fraglichen Details jetzt endlich mit Aya klären.

„Warum erst Samstag?“, wollte der plötzlich wissen. „Morgen ist Freitag. Wir sollten uns nicht so viel Zeit lassen.“

„Weil...nun ja...“, druckste Omi ein wenig herum. „Wir können nicht einfach in einen vermutlich von Schwarz überwachten Bereich eindringen. Nicht ohne Tarnung.“

Aya bewegte bedächtig den Kopf. „An was hattest du gedacht?“

Omi merkte, dass ihn diese Frage freute. Es war für Ayas Verhältnisse fast so etwas wie Anerkennung. „Ich habe mir überlegt...“ Omi zögerte. Würde Aya wirklich so darauf reagieren, wie es Yoji prophezeit hatte? Vielleicht war es gut, wenn er den Plan schrittweise eröffnete. „Ich hatte gedacht, wir treten als Familie auf. Das sollte an einem Samstagnachmittag im Park nicht allzu viel Aufmerksamkeit erregen.“

„Familie?“ Ayas Augenbrauen hoben sich ein wenig. „Du meinst...“

„Vater, Mutter, Kind“, platzte Omi heraus. „Es wäre perfekt. Nach so einer Gruppe sucht Schwarz bestimmt nicht. Ich könnte die Drohne als harmloses Spielzeug tarnen und euch die Bilder live vorspielen. Wenn wir etwas finden, können wir so sofort entscheiden, wie wir weiter vorgehen.“

 

Ein seltsamer Ausdruck machte sich auf Ayas Gesicht breit. Es war immer noch gewöhnungsbedürftig, so nahe mit ihm zusammenzuarbeiten und Omi fühlte die Vorsicht seinen Rücken hinaufkriechen und sich ihm auf die Schulter setzen.

„Ich nehme also an, dass du das Kind sein wirst“, sagte Aya und sah ihn durchdringend an. „Und weiter?“

„Ähm...also wegen der Größe müsste Yoji sicherlich die Rolle des Vaters übernehmen“, antwortete Omi ein wenig kleinlaut. Er und Ken hatten aus dem gleichen Grund bei Undercover-Einsätzen schon mehrmals eine Frauenrolle übernommen. Omi erinnerte sich daran, wie sie beide sich in eine Stewardessen-Uniform gezwängt hatten. Zumindest Ken hatte sich zwängen müssen, da die weiblichen Uniformen nicht unbedingt für gut trainierte Männerkörper gedacht waren. Omi hingegen war zwar gut in seine Uniform hineingekommen, hatte seit dem Einsatz allerdings eine ziemliche Hochachtung vor den Damen, die auf mehrere Zentimeter hohen Absätzen den ganzen Tag durch die Gegend gondelten. Diese Tortur wollte er Aya lieber ersparen.

 

Er merkte, dass er gedanklich abgeglitten war und Aya ihn mit einem finsteren Gesichtsausdruck ansah. „Das heißt, ich soll die Frau sein?“, knurrte er.

„J-ja“, stotterte Omi und rief eilig das Bild auf, dass er Yoji gezeigt hatte. „Aber keine Angst, ich will dich nicht in ein Cocktailkleid oder so stecken. Mir schwebte eher so etwas hier vor, denn so könntest du neben der Verkleidung auch noch ein wenig Ausrüstung mitnehmen. Dazu noch einen Sonnenschirm, um dein Gesicht zu verbergen. Je weniger man von uns sieht, desto besser.“

Ayas finsterer Blick schwenkte langsam von Omis Gesicht zum Bildschirm. Das Bild zeigte eine japanische Familie; während der Mann in einen westlichen Anzug gekleidet war, trug die Frau einen rosafarbenden Kimono mit floralem Muster. An ihrer Hand stand ein kleines Mädchen, das ebenfalls einen Kimono trug, der mit seinem wilden Schmetterlingsmuster in leuchtenden Farben ungleich bunter war als der ihrer Mutter. Die drei strahlten in die Kamera und schienen mit der Welt um sich herum im Reinen. Auf Omi wirkte es so, als könnte ihre Freude sogar die Grenzen des Bildschirms überschreiten und er musste ebenfalls lächeln, als er in die glücklichen Gesichter sah.

 

Er sah zu Aya hinüber und erstarrte. Wo ihn das Bild aufgeheitert hatte, schien es Aya regelrecht erschüttert zu haben. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen und seine Lippen bewegten sich, ohne etwas zu sagen. Omi überlegte fieberhaft und hätte sich selbst ohrfeigen können, als er darauf kam, was er getan hatte. So schnell er konnte, schloss das Bild. Das schien Aya endlich aus seiner Starre zu reißen. Er blinzelte ein paar Mal und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Eine Geste, die Omi noch nie bei ihm gesehen hatte. Er überlegte was er sagen oder tun konnte. Natürlich wusste er von Ayas Schwester, aber sie war etwas, das Omi, wie Aya deutlich gemacht hatte, nichts anging. Das Foto musste die Erinnerung an sie und seine Eltern wachgerufen haben.

 

Vorsichtig streckte Omi seine Hand aus. Er zögerte. Sollte er es wirklich wagen, Aya zu berühren? Er entschloss sich dagegen.

„Aya-kun?“, fragte er stattdessen vorsichtig. „Ist alles in Ordnung?“

„Was?“

Für einen kurzen Augenblick hatte Aya seine Miene noch nicht unter Kontrolle, als ihre Blicke sich trafen, und Omi hatte den Eindruck, ganz kurz hinter die Fassade schauen zu können. Nicht viel, nur ein flüchtiger Einblick, doch was er sah, berührte ihn auf seltsame Weise. Wenn es um Aya ging, hatte Omi trotz seiner langen Ausbildung oft das Gefühl, nicht genug zu sein. Nicht unbedingt, weil Aya das, was er tat, als Fehlschlag ansah, sondern weil er ihm stets das Gefühl gab, dass er mehr erwartete. Diese Erwartungen nicht erfüllen zu können, war hart.

Omi hatte bereits einige Male gedacht, dass er es vielleicht einfach nicht in sich hatte, egal was Perser in ihm gesehen hatte. Dass er vielleicht einfach zu weich war, ungeachtet der Taten, die er bereits begangen hatte. Er hatte diese Gedanken stets beiseite geschoben und weiter gemacht, aber tief in seinem Inneren waren sie geblieben; eine immerwährende Sorge darüber, ob er seine Aufgabe bei Weiß jemals würde wirklich erfüllen können. Jetzt zu sehen, dass auch in Aya ein verletzlicher Mensch steckte, der Ängste und Sorgen kannte, und zwar nicht nur in einem rationalen, sondern durchaus auch in emotionalem Ausmaß, beruhigte Omi irgendwie. Es gab ihm Hoffnung, selbst einmal an den Punkt kommen zu können, seine Ängste und Zweifel, wenn schon nicht zu überwinden, so doch zumindest so weit im Zaum halten zu können, dass sie seine Arbeit nicht behinderten. Er erlaubte sich ein kleines Lächeln.

„Ich habe gefragt, ob alles in Ordnung ist.“

„Ja, ja“, erwiderte Aya abwesend. Er atmete tief durch. „Es ist nichts. Nur eine...Erinnerung. Ich...ich habe einmal ein ganz ähnliches Foto von meiner Familie gemacht bei einem Empfang, zu dem mein Vater uns mitgenommen hat. Ich weiß es noch, weil die Kamera neu war und ich so lange gebraucht habe, bis ich das Bild scharf gestellt hatte, dass meine kleine Schwester unruhig wurde und die Geschäftspartner meines Vaters warten mussten. Trotzdem hat er mich das Foto machen lassen. Es war lange mein kostbarster Besitz neben der Kamera.“

Omi wusste, dass er in diesem Moment lieber schweigen sollte. Trotzdem entkam die Frage aus seinem Mund. „Was ist damit passiert?“

Ayas Mund wurde zu einem dünnen Strich und er sagte trocken: „Meine Schwester bekam Filzstifte zum Geburtstag.“

Omi zog die Schultern bis zu den Ohren hoch und presste sich die Hände auf den Mund. Trotzdem konnte er das Prusten, dass sich den Weg durch seine Kehle nach oben bahnte, nicht völlig verhindern. Die Vorstellung eines kleinen Ayas, der seine noch kleinere Schwester wütend anfunkelte, weil sie sein Eigentum mit Filzstiften verziert hatte, war einfach zu komisch. Er gluckste noch ein paar Mal, dann stand er auf und verbeugte sich vor Aya.

„Vielen Dank, Aya-kun, dass du diese Geschichte mit mir geteilt hast.“

 

Aya ließ sich nicht anmerken, ob ihm Omis Dank etwas bedeutete oder ob er ihn überhaupt gehört hatte. Ohne die Miene zu verziehen, kehrte er mit nüchternem Ton zum eigentlichen Thema des Treffens zurück.

„Wir haben eine Mission zu planen, denke ich. Du wirst eine Menge besorgen müssen. Neben Kimono und Obi brauchen wir noch Unterkleidung, Tabi-Socken, passende Getas, ein Koshihimo...“ Er schwieg kurz, als Omi ihn mit runden Augen anstarrte. „Was?“

„Du machst es?“ Omi versuchte redlich, sein Erstaunen zu verbergen.

„Natürlich. Es ist eine gute Idee. Plane, was immer du für notwendig hältst.“

„Ist gut, Aya-kun“, nickte Omi. „Noch irgendwelche Wünsche bezüglich des Kimonos?“

Der andere überlegte kurz. „Kein Rosa“, sagte er bestimmt, bevor er aufstand und den Raum verließ. Omi sah ihm einen Augenblick lang nach und auf seinem Gesicht lag ein kleines Lächeln. Aya vertraute ihm. Das fühlte sich gut an. Sehr sogar. Er würde sich Mühe geben, ihn nicht zu enttäuschen. Außerdem würde er noch einen Anruf machen. Bei der wenigen Vorbereitungszeit, die sie hatten, wollte er lieber auf Nummer sicher gehen. Er hoffte, dass ihm Aya auch diese Entscheidung verzeihen würde.

 

 

 

 

 

 

Yoji starrte von dem Ding in seiner Hand zu Omi und wieder zurück. Hinter dem jüngsten Weiß stand Aya und sah auf den ersten Blick gelangweilt aus. Yoji kannte ihn allerdings inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er sich gerade köstlich amüsierte. Und das auf Yojis Kosten. Das war doch wohl wirklich die Höhe!

„Kannst du vergessen“, schnappte Yoji und versuchte, Omi die Packung zurückzugeben, die der ihm gerade in die Hand gedrückt hatte. „Das mache ich nicht.“

Omi machte große, bittende Augen. „Aber Yoji-kun! Du hast selbst gesagt, die Tarnung müsste wasserdicht sein. Es ist absolut notwendig.“

„Nein, nein, und dreimal nein. Ich ruiniere doch nicht mein Äußeres für eine Mission.“

„Ach, aber mich steckst du, ohne mit der Wimper zu zucken, in einen Kimono“, ließ sich Aya vernehmen und kreuzte die Arme vor der Brust.

„Ja aber das ist...ähm...irgendwie sexy, findest du nicht? Das hier ist das Gegenteil von sexy. Das ist Blasphemie an meinem göttlichen Äußeren.“

„Yoji-kun...“ Omi sanfter Ton ähnelte dem, den man benutzte, wenn man mit einem zornigen Kleinkind sprach. „Es ist nur Haarfarbe. Sie ist sogar auswaschbar. Schau, ich habe sie bereits selbst ausprobiert.“

Er zeigte auf seinen Schopf, der statt jetzt hellbraun irgendwo zwischen braun und schwarz changierte.

„Genau das meine ich!“, begehrte Yoji auf. „Es sieht scheußlich aus. Nichts für ungut, Omi.“

Aya, der offensichtlich genug von Yojis Protesten hatten, trat vor, packte ihn am Kragen und zog ihn nah zu sich heran. „Hör auf rumzuheulen. Entweder du erledigst das jetzt oder ich erledige das für dich.“

Yoji mustere ihn über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg. „Was bekomme ich dafür?“

 

Das Schauspiel, in Ayas Gesicht, war beeindruckend. Erst sah er wütend aus und hob an, Yoji eine Predigt zu halten, einige Augenblicke später setzte anscheinend seine Erinnerung daran ein, wo er den Satz schon mal gehört oder besser selbst gesagt hatte. Seine Augen wurden schmal, ihr Ausdruck wechselte jedoch schnell von wütend zu räuberisch. Die kleinen Funken darin entfachten heiße Feuer unter Yojis Haut.

„Was hattest du dir denn vorgestellt?“, antwortete er verspätet und der Griff an Yojis Kragen wurde etwas lockerer. Er trat einen Schritt näher und Yoji leckte sich über die Lippen.

„Du im Kimono. Heute Nacht. Auf meinem Bett. Ich verspreche dir, es wird dir gefallen.“

Das Pulsieren zwischen seinen Beinen versprach Yoji, dass es ihm auf jeden Fall gefallen würde. Er trat ein Stück näher an Aya und schloss die Lücke zwischen ihren Körpern, als plötzlich sein Blick an dem Objekt seiner Begierde vorbei wanderte und auf Omi traf, der mit roten Ohren und offenem Mund zu ihnen herüber starrte. Yoji hob auffordernd die Augenbrauen.

„Ich glaube, ich muss nochmal schnell was erledigen“, würgte Omi hervor, drehte sich auf dem Absatz herum und flüchtete den Flur hinab.

 

Aya wollte sich von Yoji losmachen, aber noch bevor der eilige Rückzug den jüngsten Weiß außer Reichweite gebracht hatte, hatte Yoji Aya bereits gegen die Wand gedrückt und seinen Protest mit einem tiefen Kuss im Keim erstickt. Als Omis Zimmertür ins Schloss fiel, entspannte der andere Mann sich endlich unter seinen Händen und fing an, den Kuss zu erwidern. Ihre Lippen und Zungen umspielten einander, bis Aya ihn schließlich schwer atmend von sich schob.

„Ich...hör auf. Ich muss gleich mit Omi zur Anprobe. Glaubst du, ich will da die ganze Zeit mit einem Ständer herumlaufen?“

„Ich liebe es, wenn du so vulgäre Sachen sagst“, grinste Yoji und begann, Ayas Hals zu küssen. Er arbeitete sich langsam bis zum Ohr vor und ließ seine Zunge über den Rand der Ohrmuschel gleiten. Aya erschauerte unter ihm.

„Was wäre, wenn ich etwas gegen dein Problem tun würde, bevor ihr anfangt?“, fragte Yoji und ließ seinen Atem über die feuchte Haut gleiten.

„Ich denke, wir haben gerade wichtigere Dinge zu bedenken als deine überschäumende Libido“, erwiderte Aya kühl, auch wenn sein beschleunigter Puls und sein fliegender Atem ihn Lügen straften.

„Ich dachte, du wüsstest, dass ich beides wunderbar in Einklang bringen kann.“

Er ließ seine Hände an Ayas Seiten entlang zu dessen Rückseite wandern und zog ihn an sich. Die unmissverständliche Härte zwischen Ayas Beinen sprach eine ganz andere Sprache als die, die sein Mund wählte. Yoji grinste und begann, sich an ihm zu reiben. Er war immer wieder fasziniert davon, wie wenig der andere zuzugeben bereit war, wenngleich ihn sein Körper bereits eindeutig verriet. Obwohl er eingestehen musste, dass es ihn jedes Mal wieder reizte, Ayas Beherrschtheit zu zerbrechen und, in kleine Fetzen gerissen, über Bord zu werfen. Es machte einen Teil ihres Spiels aus, das noch für lange Zeit interessant zu bleiben versprach.

„Wir haben morgen eine Mission“, murmelte Aya und vergrub seinen Kopf an Yojis Halsbeuge, um seinen suchenden Lippen zu entgehen. „Wir müssen ausgeruht sein. Es hängt zu viel davon ab.“

Yoji gab auf und legte seinen Kopf auf Ayas Scheitel. „Aber ich mache das immer vor einer Mission. Immerhin könnte jede davon meine letzte sein. Daher koste ich das Leben noch einmal in vollen Zügen aus, bevor ich mich dem Tod entgegen stürze. Und danach feiere ich, wenn ich es überstanden habe. Ich finde, du solltest dich mir anschließen.“

Aya antwortete nicht; er schien in Gedanken zu sein. Yoji fasste ihn an den Schultern und drehte ihn so, dass er ihm ins Gesicht sehen konnte.

„Wenn du Bedenken hast, dass du wir zu wenig Schlaf bekommen, lass uns eben gleich heute Nachmittag damit anfangen. Ich bin nicht an Uhrzeiten gebunden, wenn es darum geht, dich zu vernaschen.“ Er zwinkerte Aya zu, der daraufhin den Kopf schüttelte.

„Ich kann nicht“, erwiderte er. „Ich...besuche normalerweise meine Schwester an solchen Tagen.“

Yoji legte den Kopf schief und dachte kurz nach.

„Dann nimm mich mit“, sagte er schließlich. „Ich möchte sie kennenlernen.“

In Ayas Blick mischten sich Erstaunen und Erschrecken. Er schüttelte erneut den Kopf.

„Das...das geht nicht.“

Er versuche sich von Yoji loszumachen, der ihn weiter festhielt.

„Warum nicht? Du bist mein Freund, Aya. Ich würde gerne die wichtigen Dinge deines Lebens mit dir teilen. Ebenso wie ich dich an meinem Leben teilhaben lasse. Du musst natürlich nicht und wenn du entscheidest, dass du es nicht möchtest, werde ich es akzeptieren. Trotzdem würde ich dich sehr gerne begleiten.“

 

Yoji ließ Aya los und trat einen Schritt zurück, um dem anderen mehr Raum zu geben.

„Denk über mein Angebot nach. Falls ja, fahren wir heute zusammen zum Krankenhaus und danach zu mir. Falls nicht, treffen wir uns einfach in meiner Wohnung. Du kannst das völlig frei entscheiden.“

Er blickte auf die Packung in seinen Händen, die er gerade wieder vom Boden aufgeklaubt hatte. „Aber wenn ich du wäre, würde ich abwarten, wie ich nachher aussehe. Nicht, dass du beim Sex auf einer Papiertüte über meinem Kopf bestehst. Das wäre nämlich definitiv ein Abtörner.“

Er lächelte noch einmal aufmunternd und ließ Aya dann im Flur stehen, um sich dieser Katastrophe namens „Arabia schwarzbraun“ zu ergeben, die seine beiden Kollegen unbedingt auf seiner Haarpracht zu sehen wünschten. Er nahm sich vor, sie jeden Tag büßen zu lassen, in denen die Farbe noch nicht ausgewaschen war. Jeden einzelnen!

 

 

 

 

 

Omi hatte im Missionsraum bereits alles vorbereitet. Weißer und farbiger Stoff bedeckte die verschiedenen Möbel. Dazwischen Bänder, Kordeln, Spangen, Kissen und andere Utensilien, die sie brauchen würden, um den Kimono korrekt anzulegen. Pinsel und Farben warteten auf dem Schreibtisch auf ihren Einsatz. Der düstere Keller schien sich in das Atelier eines Künstlers verwandelt zu haben, auch wenn dieser in kurzen Hosen vor dem Computerbildschirm saß und mit großen Augen das Video auf dem Bildschirm verfolgte, auf dem eine Frau gerade vorführte, wie man einen Kimono korrekt um den Körper drapierte.

 

Ayas ließ den hellen, fliederfarbenden Kimonostoff prüfend durch seine Hände gleiten. Er hatte ein regelmäßiges Muster aus kleinen, grauen Rauten. Der zugehörige Obi in dunkler Pflaume trug Verzierungen aus silbernen Pfingstrosen und hatte eine passende hellgraue Obijime. Aya war zufrieden. Dieses Ensemble war passend für eine verheiratete Frau und die Muster spiegelten die Jahreszeit. Er warf einen Blick auf Omi, der sich offensichtlich viel Mühe gemacht hatte, die Sachen auszusuchen. Der Junge schien ihn nicht zu bemerken und ahmte mit den Händen die Bewegungen nach, die er auf dem Bildschirm sah.

Aya räusperte sich.„Können wir anfangen?“

Omi schreckte hoch. Er hatte Ayas Kommen anscheinend nicht bemerkt. „Ja natürlich. Ich habe alles bereit gelegt.“

„Gut“, nickte Aya und begann sich auszuziehen. Während er das tat, wanderten seine Gedanken zu längst vergangenen Tagen, an denen er seiner Mutter dabei zugesehen hatte, wie sie ihren Kimono anlegte oder seiner Schwester dabei half. Meist hatte sie normale Röcke und Kleider getragen, aber bei öffentlichen Auftritten oder Festen, zu denen sie geladen waren, hatte seine Mutter stets ein traditionelles Ensemble bevorzugt. Er schüttelte den Kopf und drängte die Erinnerung an die Verstorbene zurück an den Platz, an den sie gehörte. Er hatte keine Zeit, sich mit so etwas zu befassen. Es gab Zielpersonen, die er aufzuspüren und zu eliminieren gedachte. Sie hatten nicht darüber gesprochen, aber für Aya stand es außer Frage, dass es zum Kampf zwischen Weiß und Schwarz kommen würde. Er wollte vorbereitet sein, wenn es so weit war. Außerdem war da auch noch Yojis Bitte...

 

Er legte zunächst das unterste, einfache Gewand und die Tabisocken selbst an. Omi half ihm, das zweite, weiße Untergewand überzustreifen. Sie platzierten sorgfältig den versteiften Kragen des weißen Baumwollkleides, der später unter dem eigentlichen Kimono zu sehen sein würde. Sie ordneten den Stoff faltenfrei an und banden die erste, weiche Schärpe um Ayas Taille. Als alles an seinem Platz war, zogen sie den eigentliche Kimono an und ordneten zunächst die Ärmel von Untergewand und Kimono so ineinander, dass diese zusammen weich fielen. Die Größenanpassung musste Aya selbst vornehmen und es brauchte einige Versuche, bevor er den Stoff symmetrisch und in der richtigen Höhe um seinen Körper geschlungen hatte.

„Du musst das jetzt mit dem Koshihimo festbinden“, wies er Omi an. „Wenn ich irgendetwas loslasse, muss ich von vorne anfangen.“

Omi hatte einige Mühe, das geflochtene Taillenband an der entsprechenden Stelle um ihn herum zu winden. Vor allem, weil er dabei bemüht schien, Aya dabei möglichst wenig zu berühren. Als schließlich alles an Ort und Stelle saß, folgte eine ganze Weile, in der Omi den Stoff glatt zog und strich, bis wirklich keine Falte mehr zu sehen war. Als das geschafft war, folgte eine weitere, weiche Schärpe, um den Kimono zu fixieren. Dann endlich kamen sie zum Obi. Aya verließ sich hier ganz auf Omi, der sicherlich fünfmal um ihn herum lief, bevor das lange Stoffband endlich an Ort und Stelle war. Allein der Aufwand, den Obi richtig zu binden, dauerte so lange, wie er als Mann brauchte, ein ganzes Gewand anzulegen. Als letztes befestigte Omi noch die Obijime, um dem Ganzen den endgültigen Halt zu geben. Endlich schien Omi zufrieden und trat zurück. Er begutachtete sein Werk und hob einen Daumen.

„Sieht klasse aus. Jetzt fehlt nur noch Make-up und Perücke.“

Aya setzte sich auf den Schreibtischstuhl und schloss die Augen, während Omi sich an seinem Gesicht zu schaffen machte. Irgendwo im Hintergrund hörte er Schritte auf der Treppe und dann einen überraschten Laut von Yoji.

„Mich trifft er Schlag. Das ist ja ein Kunstwerk. Wirklich nicht wiederzuerkennen.“

Aya öffnete ein Auge, nur um von Omi angeherrscht zu werden, dass er stillhalten sollte. Seine Zurückhaltung war offensichtlich professionellem Ehrgeiz gewichen. Der Junge wischte und pinselte noch eine ganze Zeit an ihm herum, dann befestigte er die dunkle Perücke und endlich durfte Aya wieder aufstehen. Er würdigte Yoji keines Blickes, schlüpfte in die Getas und überprüfte seinen Halt. Kämpfen würde er so nicht können, aber laufen schien durchaus machbar. Er ging ein paar Schritte und vermied immer noch, Yoji anzusehen, dessen Augen er deutlich auf sich ruhen fühlte. Erst als es sich nicht mehr vermeiden ließ, hob er den Kopf und atmete tief durch.

Während er in Omis Blick nur Begeisterung sah, konnte er bei Yoji mehr erkennen. Er war ein wenig unsicher, was es war. Begierde lag darin aber noch etwas anderes. Aya war fast versucht, es Stolz zu nennen, obwohl er sich nicht erklären konnte, warum das so war. Er wies auf Yoji Haare, die dieser zu einem strengen Pferdeschwanz nach hinten gebunden hatte.

„Sieht gut aus. Solltest du öfter so tragen.“

Yoji rollte mit den Augen. „So muss ich von dem Elend wenigstens nicht so viel sehen. Wehe, das geht nicht wieder raus. Ich werde...“

Das Ende des Satzes ging in einem ihnen allen bekannten Geräusch unter. Jemand hatte das eiserne Gitter vor dem Laden nach oben geschoben. Sofort waren Aya und Yoji in Alarmbereitschaft. Omi sprang auf und hob beruhigend die Hände.

„Keine Sorge, das wird Manx sein. Ich habe sie angerufen, damit sie uns hilft.“

„Manx?“

Auf Yojis Gesicht stand ein großes Fragezeichen. Er war so überrascht, dass er sogar vergaß, mit der hübschen Frau zu flirten, als sie endlich den Keller betreten hatte und an ihm vorbeiging. Eine Tatsache, die Aya mit einer gewissen Befriedigung erfüllte, die er sich selbst nicht so recht erklären konnte. Sie begrüßte Omi und Yoji, aber als ihr Blick auf ihn fiel, erstarrte sie.

„Bombay, Erklärung? Wer ist das?“

Ein breites Grinsen erschien auf Omis Gesicht, während Yoji vergeblich versuchte, sein Lachen mit einem Hustenanfall zu tarnen. Manx sah die beiden an, als wären sie verrückt geworden. Bevor sie noch auf die Idee kam, ihre Waffe zu zücken, erbarmte sich Aya.

„Hallo Manx“, sagte er ruhig.

Die Frau brauchte offensichtlich einen Augenblick, um seine Stimme mit seiner äußeren Erscheinung in Verbindung zu bringen. Als sie es endlich konnte, wurden ihre Augen noch größer.

„A-Aya? Aber das ist ja...“ Sie dreht sich zu Omi herum. „Hast du mich deswegen kontaktiert?“

Omi bejahte. „Ich dachte mir, es könnte nicht schaden, wenn Aya noch ein wenig...ähm...Unterricht von einer richtigen Frau bekommen könnte.“

Manx musterte ihn von oben bis unten. „Das Make-up ist etwas zu stark akzentuiert und der Obi ist falsch gebunden. Außerdem sitzt der Saum des Kimonos ein wenig zu hoch. Geh mal ein paar Schritte.“

Aya tat ihre den Gefallen und stolzierte in voller Tracht auf und ab. Sie schüttelte den Kopf.

„Gut, dass du mich angerufen hast, Bombay. Wir werden daran noch einiges korrigieren müssen. Du bist eine Frau, Aya! Ich will nicht sagen, dass du wie ein Arbeiter auf einem Reisfeld daher gestolpert kommst, denn Grundlagen für einen eleganten Gang sind durchaus vorhanden. Aber es fehlt an der wirklich korrekten Ausführung. Rücken gerade, Kopf leicht senken, kleinere Schritte, aber nicht tippeln.“

Aya versuchte es noch einmal und kam sich mit jedem Mal lächerlicher vor. Warum hatte er dem nur zugestimmt? Warum hatte Omi ihn nicht vorgewarnt?

„Gut, die Ansätze sind nicht schlecht. Wir werden jedoch noch ein wenig daran feilen müssen“, sagte Manx mit einem Nicken. „Ich frage lieber gar nicht, warum ihr diese Scharade betreibt. Dieses Treffen ist vollkommen inoffiziell und genauso werde ich es auch handhaben. Allerdings hoffe ich sehr, dass ihr dafür einen guten Grund habt.“

Omi stand auf und nickte Manx zu. „Wir sind dir sehr dankbar dafür, dass du uns hilfst, Manx. Sei versichert, wird haben den besten aller Gründe für das, war wir hier tun. Sollte es zu Problemen mit Kritiker kommen, werde ich persönlich die Verantwortung dafür übernehmen.“

Die beiden sahen sich eine Weile an, dann seufzte Manx. „Gut, in Ordnung. Aber jetzt raus mit euch beiden. Aya und ich arbeiten allein.“

 

Während sie Yoji und Omi die Treppe hinaufschob, versprach Manx, dass sie in zwei Stunden eine ordentliche Frau aus Aya gemacht haben würde. Als er das hörte, war Aya sich nicht sicher, ob er nicht doch lieber gleich unbewaffnet zu einem Kampf mit Schwarz aufbrechen sollte. Diese Vorstellung erschien ihm gerade irgendwie verlockender, als zwei Stunden lang unter Manx Regie die Feinheiten der weiblichen Bewegung einzustudieren. Andererseits hatte er nicht wirklich eine Wahl und so fügte er sich mehr oder weniger freiwillig seinem Schicksal. Das Einzige, was ihn mit grimmiger Befriedigung erfüllte, war die Tatsache, dass Omi ihm mit roten Ohren und stotternder Stimme bei Strafe verboten hatte, den Kimono mit außer Haus zu nehmen. Wenigstens in diesem Punkt würde Yoji wohl auf seine weiblich-männlichen Fantasien in Bezug auf Aya verzichten müssen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Das heiße Wasser auf seinem Körper war eine Wohltat. Es entspannte seine verhärteten Muskeln und spülte so vieles hinfort, das er in diesem Moment vergessen wollte. Blut, Schweiß und Tränen, Erinnerungen und das Gefühl, eingesperrt zu sein. Für einen flüchtigen Augenblick fühlte es sich gut an, er selbst zu sein. Er ließ einen Fuß nach vorne rutschen und schloss mit den Zehen den Abfluss. Das heiße Wasser begann sich auf der weißen, glatten Fläche zu sammeln und stieg langsam höher. Er saß ganz still und beobachtet, wie die Wasserlinie sich unaufhaltsam nach oben schob. Die Brause der Dusche an seine Brust gepresst, saß er da und sah zu, wie sich die Wanne füllte.

Langsam schloss er die Augen und ließ den Kopf nach vorne sinken. Wasser tropfte aus seinen Haaren nach unten. Kalte Tropfen auf der erhitzten Haut, die ihn frösteln ließen. Er stellte den Knopf am Wasserhahn um, sodass das Wasser jetzt wieder aus dem Hahn floss, legte den Schlauch beiseite und ließ sich tiefer in die Wanne sinken. Einen Moment lang überlegte er, ob es eine gute Idee war, hier völlig schutzlos herumzuliegen, aber dann kam ihm der Gedanke lächerlich vor. Er war bereits ein Gefangener. Alles, was die Mitglieder von Schwarz mit ihm zu tun gedachten, konnten sie tun. Egal ob er nun aufpasste oder nicht. Er konnte ebenso gut genießen, was ihm von Schuldig zugebilligt worden war.

 

Als der Mann heute Morgen zu ihm gekommen war, war Ken bereits wach gewesen. Schuldig hatte ihm persönlich sein Frühstück gebracht und ihm eröffnet, dass er sich in Zukunft frei im Keller bewegen konnte, wenn er sich weiterhin gut führte. Dass er vielleicht sogar weitere Annehmlichkeiten erwerben konnte, wenn er...nun ja...nett zu Schuldig war. Zunächst hatte ihn das Angebot abgeschreckt und er hatte sich eilig davon distanziert. Aber als Schuldig sich dann zu ihm gebeugt hatte, sein Atem über Kens Ohr gestrichen war und er ihm versprochen hatte, dass es nicht zu seinem Schaden sein sollte, hatte sein Widerstand zu wanken begonnen.

Jetzt lag er hier in einer heißen Badewanne und versuchte, nicht daran zu denken, auch wenn die kleine Stimme am Rande seines Bewusstseins ihm immer wieder zuflüsterte, dass er doch nichts zu verlieren hatte. Dass Schuldig vielleicht nicht das Monster war, für das er ihn zunächst gehalten hatte. Dass er auch eine andere, menschliche Seite hatte, die er mit ihm zu teilen gedachte. Und dann war da noch eine ganz leise Stimme, die ihm zuraunte, dass er es doch genossen hatte. Dass er es vielleicht, wenn die Dinge anders liegen würden, wirklich mögen könnte, mit einem Mann zusammen zu sein. Mit Schuldig zusammen zu sein. Dass der Mann auf eine exotische Weise attraktiv war und Ken sich mit einem Mal wünschte, er könnte ihn berühren, bei ihm sein, seine Nähe genießen. Vielleicht sogar...mehr. Er errötete bei dem Gedanken und der körperlichen Reaktion, die diese Vorstellung bei ihm auslöste. Er holte tief Luft und tauchte unter, bis seine Lungen zu brennen begannen und das Gefühl der Atemnot seinen Kopf wieder geklärt hatte. Er tauchte wieder aus, schüttelte sich wie ein nasser Hund und wischte sich das Wasser aus den Augen. Anscheinend wurde er wirklich langsam verrückt. Gewundert hätte es ihn nicht.

 

Obwohl das Wasser noch warm war, hielt ihn plötzlich nichts mehr darin. Er öffnete den Abfluss, stieg aus der Wanne und trocknete sich mit dem bereitgelegten Handtuch ab. Es fühlte sich gut an, mal wieder so richtig sauber zu sein. Die Sachen, die neben dem Waschbecken lagen, waren nicht neu, aber sie versprachen warm und sauber zu sein. Er schlüpfte in die verwaschene Jeans und zog den dunkelblauen Kapuzenpullover über den Kopf. Die angeraute Innenseite legte sich weich und angenehm auf seine geschundene Haut. Die Wunden, die Farfarello ihm zugefügt hatte, waren inzwischen fast alle geschlossen und nur die dünnen, roten Linien erinnerten noch an die Verletzungen. Einige von ihnen hatten bereits begonnen zu verblassen. Er wunderte sich, wie gut die Schnitte heilten und wie wenige von ihnen Narben hinterlassen würden. Anscheinend hatte der Irre trotz allem vorsichtig gearbeitet, auch wenn es sich nicht im Geringsten so angefühlt hatte. Oder er musste im Nachhinein doch dankbar sein für die gute Versorgung, die ihm Schuldig hatte angedeihen lassen.

 

Als er fertig war, öffnete er die Tür, die zum Flur hinaus führte. Nach der feuchtwarmen Atmosphäre des Badezimmers fühlte sich der restliche Keller unangenehm kühl an und die Luft prickelte auf seinem Gesicht. Es war, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Er zögerte, den Raum zu verlassen, der ihm mit einem Mal wie eine Zufluchtsstätte erschien. Ein eigenartiges Gefühl kroch seinen Rücken hinauf, während er in den hellen Korridor hinausblickte.

Ein weiß gefliester Boden, weiße Wände, weiße Türen. Sechs Stück waren es. Eine führte aus dem Keller hinaus nach oben, eine zum Badezimmer, eine zu dem Raum, in dem er gefoltert worden war und eine in die kleine Zelle, in der sein Bett stand. Was sich hinter den restlichen zwei Türen verbarg, wusste er nicht. Vermutlich waren sie ohnehin verschlossen. Da er, wie er sich vor seinem Gang ins Badezimmer versichert hatte, allein im Keller war, gab es eigentlich nichts zu fürchten, und doch zögerte er. War er wirklich allein hier unten? Hatte er vorhin, als er hierher gekommen war, nicht die Tür seines Raums geschlossen? Jetzt stand diese einen kleinen Spalt breit auf. Ein dunkler Strich in dem sonst so makellosen Weiß, über dem helle Neonröhren hingen und selbst den letzten Schatten vertrieben. Fast erwartete er, dass eine von ihnen gleich zu flackern begann und ausging. Wäre dies ein Horrorfilm gewesen, wäre das bestimmt der Fall gewesen. Aber das hier war kein Film! Und es war lächerlich, sich vor einer offenen Tür zu fürchten. Er wusste, was sich dahinter befand.

 

Er ignorierte das beklemmende Gefühl in seinem Nacken, trat in den Flur hinaus und schloss die Badezimmertür hinter sich. Es klickte, als sie ins Schloss einrastete. Beinahe hätte er die Tür noch einmal geöffnet, nur um sicherzugehen, dass sie sie nicht verschlossen war. Eine unbestimmte Angst hatte von ihm Besitzt ergriffen und ließ seine Kehle eng werden, als er jetzt auf Zehenspitzen über den Flur schlich und auf die Tür zuging, hinter der die Finsternis lauerte. Für einen Augenblick war er versucht, einfach wieder ins Badezimmer zurückzukehren und dort zu warten, bis Schuldig wieder auftauchte. Vielleicht konnte er ihn sogar rufen, wenn er fest genug an ihn dachte? Als ihm bewusste wurde, was er gerade gedachte hatte, schüttelte er den Kopf. Seit wann war er so ein Feigling? Er lockerte seine Schultern, atmete tief durch und griff entschlossen, nach der Klinke. Mit einem Ruck drückte er sie hinunter und öffnete die Tür.

 

 

Fast wäre er rückwärts wieder hinaus gestolpert. Der Raum war nicht leer, wie er eigentlich erwartet hatte. Eine Gestalt stand mitten in der kleinen Kammer und hatte ihm den Rücken zugewandt. Sie stand gerade so, dass der Lichtschein der Tür sie nicht erreichte. Aber Ken brauchte kein Licht, um zu wissen, dass es Farfarello war. Die schmale, sehnige Silhouette mit den kurzen, hellen Haaren und den herabhängenden Schultern, hatte er inzwischen oft genug zu gesehen bekommen, um sie überall wiederzuerkennen.

Farfarello stand vollkommen reglos und einen Augenblick lang fragte Ken sich, ob er ihn überhaupt bemerkt hatte. Ob er die Tür wieder schließen und ins Bad zurückkehren sollte? Hatte die Tür dort einen Schlüssel? Konnte er sich dort vor ihm verstecken? Oder würde der Irre dies nur zum Anlass nehmen, das dünne Holz zu zertrümmern und ihn durch das mit spitzen Splittern versehene Loch nach draußen zu ziehen? In seinem Kopf wurde Farfarello zu einem blutrünstigen Monster, das nur darauf wartete, sich auf ihn zu stürzen und ihm die Kehle zu zerfetzen.

Instinktiv versuchte er flach zu atmen, um sich nicht durch das Geräusch zu verraten, obwohl er wusste, dass das ein sinnloses Unterfangen war. Farfarello wusste, dass er hier war. Natürlich wusste er es. Ken spürte förmlich, dass er es wusste. Ein Schauer rieselte seinen Rücken hinab und ließ ihn unbewusste zittern.

 

Farfarello bewegte sich. Er legte den Kopf in den Nacken und Ken hörte, wie er tief die Luft einsog. „Du riechst anders“, sagte er mit einem Mal.

Ken blinzelte ein paar Mal, bevor die Worte sein Gehirn richtig erreichten. Er lachte auf. Ein nervöses, abgehacktes Lachen, das seine Nervosität nicht im Geringsten verbarg. „Ich war baden. Schuldig hat mir Handtuch, Seife und neue Sachen gebracht.“

Farfarello drehte sich zu ihm herum und ließ seinen Blick einmal über Kens Körper gleiten. Er kehrte zu seinem Gesicht zurück und fixierte ihn mit dem einzelnen, bernsteinfarbenen Auge. Irgendwie war dieser Blick Ken unangenehm. Er wirkte so...wissend. Auf unangenehme Wiese wissend. So als wüsste er etwas über Ken, das ihm selbst verborgen blieb.

„Wie bist du hier hereingekommen?“, fragte Ken, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Die Tür war offen.“

Beinahe hätte Ken wieder gelacht. Ihm wurde bewusste, dass sich seine Hand immer noch an die Türklinke klammerte. Mit einiger Mühe ließ er sie los. „Das habe ich nicht gemeint. Wo kommst du her?“

„Von oben.“

Diese Antwort überraschte Ken. Irgendwie hatte er angenommen, dass Farfarello immer hier unten war. Im nächsten Moment schalt er sich selbst einen Dummkopf. Er hatte doch vorhin gesehen, dass der Keller leer war. Wo sonst hätte der andere Mann wohl sein sollen, wenn nicht oben im Haus? Der Einzige, der hier unten eingesperrt war, war er.

 

Farfarello bewegte sich und trat in den Lichtschein der Tür. Erst jetzt sah Ken das Messer in seiner Hand aufblitzen. Er spannte sich unwillkürlich an. Wenn es zu einem Kampf kommen würde, wäre er dem Irren hoffnungslos unterlegen. Er bezweifelte, dass ihn dieses Mal wieder jemand rechtzeitig retten würde. Besser er versuchte, ihn nicht zu provozieren.

Als Farfarello noch einen Schritt näher trat, musste Ken sich mit aller Mühe beherrschen, nicht sein Heil in der Flucht zu suchen. Wohin hätte er auch fliehen sollen? Sein Herz klopfte so laut in seiner Brust, dass er Angst hatte, der andere könnte es hören. Er wich dem intensiven Starren aus und schlug die Augen nieder.

Noch einmal sog Farfarello tief die Luft ein. Er trat ganz nah an Ken heran und eine harte Spitze glitt über seine Wange. Das Messer! Die Klinge wanderte weiter nach unten über sein Kinn, seine Brust, seinen Bauch und stoppte schließlich ein Stück weiter unten. Ken wagte kaum zu atmen. Entgegen besseres Wissen hob er den Kopf und sah Farfarello an. Der hatte den Kopf schief gelegt und musterte ihn mit einem unergründlichen Ausdruck.

„Du hast Angst“, stellte er fest. „Warum?“

Die Frage kam so überraschend, dass Ken nicht wusste, was er darauf sagen sollte. Er schluckte. „Ich...ist das nicht offensichtlich? Du hast ein Messer.“

Farfarello sah ihn weiterhin unverwandt an. „Du könntest es mir wegnehmen.“

 

Ken blinzelte ein paar Mal und stellte fest, dass ihm der Gedanke überhaupt nicht gekommen war. Er hatte tatsächlich mit keiner Silbe daran gedacht, wie er einen möglichen Kampf für sich entscheiden konnte. Wie er sich wehren, den anderen entwaffnen oder sogar überwältigen konnte. Er hatte bereits aufgeben, bevor es überhaupt dazu gekommen war. Es war, als wäre alles, was er über das Kämpfen gelernt hatte, plötzlich nicht mehr greifbar. Verborgen unter dicken Schichten von Staub und Spinnweben. Teil eines anderen Lebens. Eines Lebens, von dem er nicht wusste, ob er dorthin zurückkehren wollte. Hatte er denn jetzt nicht alles, was er brauchte?

Farfarello Arm schoss plötzlich vor. Seine Hand schloss sich wie ein Schraubstock um Kens Handgelenk. Er keuchte auf, als der Irre den Stoff des Sweatshirts zurückschob und die scharfe Klinge aufblitzte. Ein heißer Schmerz zuckte durch seinen Arm und die Schneide färbte sich rot. Der Prozess wiederholte sich, bis fünf parallel angeordnete Wunden auf seinem Unterarm prangten. Erst dann ließ Farfarello ihn los.

Ken stolperte rückwärts. Blut tropfte von seinem Arm und die Schnitte brannten wie Feuer. Mit weit aufgerissenen Augen sah Ken sein Gegenüber an, dass sich jetzt an ihm vorbei in den Flur schob. Seine Zunge glitt langsam über die Klinge des Messers und Kens Blut färbte das rosafarbene Stück Fleisch dunkel. Es war ein widerlicher Anblick, der seinen Magen zum Rebellieren brachte. Farfarello zog die Zunge wieder in den Mund und bewegte ihn, als würde er den Geschmack des Blutes testen. Er verzog ein wenig das Gesicht.

„Das dachte ich mir“, sagte er nur, trat an Ken vorbei und ging auf die Tür am Ende des Flurs zu. Dort angekommen drehte er sich noch einmal um und das eine Auge richtete sich auf Ken, der den blutenden Arm weit von sich gestreckt hatte, um die Sachen nicht beschmutzen, die er gerade erst bekommen hatte.

„Sieh hin und erinnere dich“, sagte er, bevor er durch die Tür ging, die leise hinter ihm ins Schloss fiel.

Ken stand wie vor den Kopf geschlagen weiterhin im Flur. Irgendwann fiel die seltsame Starre von ihm ab und er fluchte, als er sich der Schmerzen in seinem Arm bewusst wurde. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er zurück ins Badezimmer, wusch das Blut ab und wickelte das Handtuch darum, während er in den Schränken nach Verbandszeug suchte. Er fand einige Bandagen und verarztete den Arm so gut es mit einer Hand ging. Die Schnitte pulsierten unter der weißen Gaze und ließen Ken schwindeln. Er war mit einem Mal sehr müde und schleppte sich mit letzter Kraft zu seiner Liege, wo er einschlief, noch bevor sein Kopf das Kissen berührte.

 

 

 

Als Farfarello das Wohnzimmer betrat, lag Schuldig auf der Couch. Der Fernseher lief, aber er hatte den Ton abgeschaltet. Mit geschlossenen Augen lehnte sein Kopf an der Lehne. Als der andere Mann neben das Sofa trat, öffnete er sie.

„Du warst bei unserem Kätzchen“, stellte er fest. „Hattest du Spaß?“

Farfarello gab einen unbestimmten Laut von sich. „Du meinst dein Haustier?“

„Meins?“ Schuldig gab sich erstaunt. „Es ist immer noch unseres, mein Freund. Du kannst mit ihm spielen, wann immer du Lust hast, solange du es am Leben lässt.“

Der andere schüttelte den Kopf. „Kein Interesse. Du hast es kaputt gemacht.“

Schuldig hob eine Augenbraue. „Tatsächlich? So kaputt kam es mir noch gar nicht vor. Was hast du mit ihm gemacht?“

„Du weißt, was ich meine.“

Farfarello dreht sich um und ließ Schuldig auf dem Sofa zurück.

„Wo gehst du hin?“, rief der ihm nach.

„Raus“, war die lapidare Antwort, bevor die Tür klappte. Schuldig überlegte kurz, ob er Farfarello folgen sollte, aber dann beließ er es dabei. Stattdessen lehnte er sich wieder zurück und widmete sich den Träumen seines Kätzchens. Es wäre doch gelacht, wenn er heute nicht noch ein bisschen Spaß mit ihm haben könnte. Ein grausames Lächeln umspielte seine Lippen, während er die Gedanken des Jungen im Keller in die richtige Richtung schob.

Er hatte da etwas Interessantes entdeckt und beschloss, das zu seinem Vorteil zu nutzen. Er musste dem kleinen, dummen Ding nur noch die richtigen Ideen geben. Irgendwann würde es nicht mehr wissen, was von ihm selber stammte, und was er ihm eingeflüstert hatte. Nur noch Schuldig war in der Lage, die lautlosen Schreie der ursprünglichen Persönlichkeit zu hören, die sich hinter seinem Netz aus Lügen verbarg. Bis er irgendwann den Vorhang lüften und die ganze Wahrheit enthüllen würde, um sie endgültig zu zerbrechen. Bis dahin gedachte er jedoch, das willige Entgegenkommen seines Gefangenen noch ein wenig länger zu genießen.

„Eine Wohltat für Geist und Körper“, sagte er leise zu sich selbst und grinste anzüglich bei der Vorstellung. „Du tust gut daran, mich noch ein wenig zu amüsieren, Kätzchen. Denn wenn du es nicht mehr tust, wird das sehr, sehr hässlich für dich werden.“

 

 

 

 

 

 

Die Sonne schien hell und warm auf den Vorplatz des Krankenhauses. Er konnte die Wärme bis hierher spüren, wo er im Schatten im Auto saß und nach draußen starrte. Die Luft hier drinnen war stickig, er sehnte sich danach auszusteigen. Trotzdem zögerte er. Denn wenn er ausstieg, würde es Wirklichkeit werden und er wusste nicht, ob er das wollte. Sein Blick wanderte zu Yoji, der neben ihm auf dem Beifahrersitz des Porsche saß und eine Zigarette in den Händen hielt. Er drehte sie hin und her und einige Tabakkrümel waren bereits auf seinen Schoß gefallen. Die Sonnenbrille saß direkt vor seinen Augen, so dass Aya sie nicht sehen konnte, als er sich zu ihm herumdrehte.

„Weckt Erinnerungen“, sagte er und wies mit dem Kopf auf das Krankenhaus. „Das letzte Mal hatten wir es irgendwie eiliger hineinzukommen.“

Aya wusste, was er meinte. Die Nacht, als er Yoji hierher gebracht hatte, nachdem Farfarello ihn angegriffen hatte. Irgendwie schien das schon eine Ewigkeit her zu sein. Er sah, wie Yoji über die Stelle strich, an der ihn die Klinge verletzt hatte. Inzwischen war davon nicht mehr als eine kleine, Narbe übrig geblieben. Etwas, das mit der Zeit vergessen werden würde wie so viele Verletzungen.

 

Wieder breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus, bis Yoji sich räusperte.

„Ich...ich kann auch hierbleiben, wenn du es dir anders überlegt hast.“

„Warum sollte ich?“

Yoji blies sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich auf dem dunklen Pferdeschwanz gestohlen hatte. „Ich weiß nicht. Vielleicht weil...keine Ahnung. War nur so ein Gedanke.“

Er begann wieder, mit der Zigarette in seinen Händen zu spielen. Konnte es sein, dass Yoji nervös war? Aya runzelte die Stirn. Er selbst spürte eine gewisse Vorsicht und Zurückhaltung, aber er hätte nicht gedacht, dass Yoji diesem Besuch so viel Bedeutung beimaß. Worauf hatte er sich da nur eingelassen?

„Komm“, sagte er, um das unangenehme Schweigen endlich zu beenden. „Wir wollen sie nicht warten lassen.“

Yoji grinste schief und griff in den Fußraum. Erholte einen Blumenstrauß hervor. Narzissen. Aya hob fragend eine Augenbraue.

„Ich...ist das ok? Ich habe gedacht, ich müsste ihr vielleicht ein paar Blumen mitbringen. Ein Florist, der keine Blumen mitbringt, ist ja irgendwie peinlich, oder? Ich habe nicht lange überlegt und einfach ein paar Frühlingsblumen gegriffen. Und ähm...ja. Stört es dich?“

Aya sah auf die Blumen und dann auf Yoji. Er schnaubte belustigt.

„Du bist ein wahnsinnig schlechter Lügner, weißt du das?“, sagte er, öffnete die Autotür und stieg aus. Yoji folgte ihm auf dem Fuße und schloss nach wenigen Schritten zu ihm auf. Gemeinsam gingen sie auf den Eingang des Krankenhauses zu.

 

'Wir sind schon ein eigenartiges Paar', dachte Aya, während, er auch die Schale mit Stiefmütterchen in seinen Händen blickte. 'Ich wünschte, du könntest uns jetzt sehen, Schwesterchen. Vermutlich würdest du dich vor Grinsen nicht mehr einkriegen, dich schwatzend an Yojis Arm hängen und ihm alle möglichen Dinge aus der Nase ziehen, die dich gar nichts angehen. Er würde lachen und mir erzählen, was für eine wunderhübsche, kleine Schwester ich habe und dass das ja gar nicht in der Familie liegen würde, wie man an mir sieht. Und dann würdet ihr beide lachen und euch über meinen bösen Blick amüsieren, den keiner von euch ernst nehmen würde.'

Er beendete den Gedankengang. Zu einer solchen Szene würde es niemals kommen und es lag kein Sinn darin, sich in Tagträumen zu ergehen. Vor allem nicht in solchen, die sein Herz schmerzen ließen. Er musste im Hier und Jetzt bleiben. In der Realität, in der seine Schwester bewusstlos in einem Krankenhausbett lag und sein...Freund neben ihm den langen Kranhausgang mit dem quietschenden Linoleumboden, dem Geruch nach Desinfektionsmitteln und den freundlichen nickenden Krankenschwestern hinab schritt. Er selbst war schon so oft hier entlang gegangen, dass ihm diese Dinge eigentlich schon gar nicht mehr auffielen. Heute allerdings, mit Yoji an seiner Seite, war alles anders. Vertraut und gleichzeitig vollkommen fremd.

Er war sich nicht sicher, wie er das fand. Einerseits fühlte es sich richtig an, aber andererseits fiel es ihm schwer, das Vertraute loszulassen. Sein Sanktum, sein letzter Zufluchtsort, der Schrein der Erinnerungen an ein früheres Leben. Mit Yoji würde ein Stück seines jetzigen Lebens darin Einzug halten. Ein rauer Wind, der die alten Bilder von den Wänden riss und sie in die Vergangenheit wehte. Denn das war es, was er fürchtete. Dass Yoji es kaputt machen würde. Für immer. Aber andererseits: Hatte er nicht selbst beschlossen, dass er sich den Veränderungen öffnen wollte. Dass er keine Angst mehr haben wollte? Es hatte viel leichter geklungen, als es in Wirklichkeit war.

Er zögerte, als sie endlich an der Tür des Krankenzimmers angekommen waren. Yoj bemerkte das und sah ihn fragend an.

„Soll...soll ich erst einmal warten. Ich weiß, es klingt albern, aber vielleicht möchtest du erst einmal alleine mit ihr reden? Sie irgendwie vorbereiten?“ Er schwieg kurz und fügte dann hinzu: „Dich vorbereiten?“

Aya war ein wenig verblüfft über diese umsichtigen Worte des Mannes, der sonst gerne einmal die Nonchalance in Person war. Kannte der ihn inzwischen wirklich so gut? Hatte er tatsächlich zugelassen, dass der andere ihm so unter die Haut ging? Er schüttelte innerlich den Kopf über sich selbst. Aber das hier war jetzt nicht der Augenblick, um ihre Beziehung zu analysieren. Dafür würde in ein paar Tagen oder Wochen immer noch Zeit sein. Jetzt waren sie hier, um seine Schwester zu besuchen.

„Komm schon“, sagte er ein wenig ungeduldiger, als gerecht war. Vielleicht, weil er sich selber einen Ruck geben wollte. Es war doch nur ein Krankenbesuch.

 

Er öffnete die Tür und ging hinein. Wie immer lag seine Schwester bewegungslos inmitten des großen, weißen Krankenbettes. An ihrer Seite der Tropf und die Monitore, die ihre Lebenszeichen überwachten. Ein regelmäßiges Piepsen war alles, was zu hören war. Er trat neben das Bett und nickte ihr zu.

„Hallo Aya. Ich habe dir etwas mitgebracht. Stiefmütterchen. Ich hoffe, sie gefallen dir. Du mochtest immer gern, wie sie riechen.“

Yoji war einige Schritte hinter ihm stehen geblieben. Aya warf einen Blick über die Schulter zu ihm. „Ich habe heute einen Freund mitgebracht. Er wollte dich einmal kennenlernen.“

 

Er trat beiseite, um die Blumen auf dem Nachttisch auszutauschen. Yoji stand ein wenig verloren neben dem Bett und blickte auf das blasse Gesicht mit den langen, dunklen Zöpfen hinab. Er räusperte sich.

„Ähm..hallo. Mein Name ist Yoji. Ich...ich bin nicht sehr gut in so was, weißt du. Aya...ich meine, dein Bruder...er...“ Yoji brach ab und sah ihn ein wenig hilflos an. „Irgendwie ist es eigenartig, dass ihr beide den gleichen Namen habt, weißt du das? Ich kann ja schlecht über dich reden und ihren Namen benutzen, oder?“

„Dann rede über etwas anderes“, brummte er. „Oder, wenn du es nicht vermeiden kannst...sie kennt mich unter dem Namen Ran.“

„Ran?“, wiederholte Yoji.

Seinen alten Namen aus Yojis Mund zu hören war eigenartig. Wobei er damit anscheinend nicht alleine war. Der andere schien einen Moment in Gedanken versunken, dann setzte er ein Lächeln auf und hielt seine Blumen hoch.

„Hey, ich habe dir auch Blumen mitgebracht. Ich weiß, sie sind vielleicht etwas unpassend, aber man lernt ja nicht jeden Tag die Familie seines Lovers kennen.“

„Yoji!“ Aya warf ihm einen wütenden Blick zu,

Der andere grinste und beugte sich zu seiner Schwester hinunter. „War er früher eigentlich auch schon so zugeknöpft? Du könntest mir bestimmt ein paar peinliche Geschichten über ihn erzählen.“

„Hör auf, so mit ihr zu reden“, grollte Aya. „Sie wird nicht aufwachen und selbst wenn, werdet ihr euch niemals begegnen. Sie darf nichts von dir oder Weiß oder dem, was ich jetzt tue, erfahren.“

Yojis Augenbrauen wanderten nach oben. „Oh, ich verstehe. Worüber redest du denn sonst so mit ihr?“

„Über früher.“

Yoji atmete hörbar aus. „Nun ja, das dürfte mir etwas schwerfallen. Ich kenne deine Schwester ja nicht.“

„Hör auf über sie zu reden, als wäre sie nicht anwesend!“

Aya merkte, wie seine Stimme lauter wurde. Lauter, als es in einem Krankenhaus angemessen war. Er schloss abrupt den Mund und drehte sich wieder zu den Stiefmütterchen um. Er prüfte die Feuchtigkeit der Erde. Ging zum Waschbecken, füllte ein Glas mit Wasser und begann, die Schale vorsichtig zu gießen. Er erstarrte, als er Yoji hinter sich fühlte. Der andere lehnte sich an ihn und legte die Arme um seine Taille.

„Es tut mir leid“, flüsterte er. „Ich wusste nicht, dass es so schwierig werden würde. Aber ich bemühe mich, ok? Vielleicht könntest du mir ein bisschen helfen?“

Aya schwieg einen Augenblick, bevor er schließlich nickte. Er nahm Yoji die Narzissen ab, die dieser immer noch in den Händen hielt.

„Wir werden eine Vase hierfür brauchen. Könntest du eine besorgen?“

Yojis Blick irrte kurz zu der Vase, die gut sichtbar neben Ayas Blumenschale stand, dann lächelte er. „Natürlich. Ich werde sehen, ob ich eine hübsche Krankenschwester becircen kann.“

Er zwinkerte Aya zu und verließ den Raum. Aya schnaubte und ließ sich dann auf den Stuhl neben dem Bett sinken. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht.

„Das war also Yoji. Was hältst du von ihm? Ziemlich schräg, nicht wahr? Ich...wir beide...naja wir arbeiten zusammen. Ich habe dir ja schon von ihm erzählt. Aber irgendwie ist es mehr. Was, weiß ich nicht, aber es ist gut. Meistens. Auch wenn er furchtbar egoistisch, faul und stur sein kann. Und er flirtet hemmungslos mit allem, was nur ansatzweise in sein Beuteschema passt. Und...“

Aya stoppte seinen Satz. Zum einen, weil ihm auffiel, dass er irgendwie nur über Yoji redete. Zum anderen, weil ihm die Erkenntnis kam, dass Yoji die Flirterei ziemlich eingestellt hatte. Sicherlich, er war immer noch nett zu den Kundinnen und verteilte sein Lächeln wie Bonbons, aber alles andere? Er seufzte. Das war einfach gerade zu viel. Er beschloss, das Thema zu wechseln.

 

„Erinnerst du dich noch an diesen kleinen, weißen Hund, den du mal gefunden hast?“, fragte er leise. „Er war furchtbar niedlich und lief einfach auf der Straße herum. Vater war dagegen, dass du ihn behältst, aber Mutter und du haben so lange gebettelt, bis er erlaubt hat, dass der Hund bei uns bleibt, statt ins Tierheim zu kommen.“ Er lachte kurz bei der Erinnerung. „Es war ein furchtbarer Hund. Yuki hattest du ihn genannt. Er war vollkommen unerzogen, hat alles durcheinander gebracht, deine Schuhe zerkaut, nachts gejault, in die Ecken gepinkelt. Du hast dir Dutzende Bücher über Hundeerziehung aus der Bücherei geholt, aber nichts hat geholfen. Du hast ihn trotzdem geliebt und ihr wart unzertrennlich. So wie das eine Mal, als ihr nachts zusammen den ganzen Pudding aufgegessen habt. Yuki ist davon total schlecht geworden und dann ist er zu mir ins Zimmer gekommen und hat sich auf mein Bett übergeben. Ich war so wütend und froh, als ein paar Wochen später endlich der Besitzer aufgetaucht und das dämliche Vieh wieder mitgenommen hat. Aber ich habe gehört, wie du nachts geweint hast, weil er weg war. Danach hast du beschlossen, später mit Hunden arbeiten zu wollen. Yuki war weg, aber er hat dein Leben für immer verändert.“

Aya seufzte und sah aus dem Fenster. „Ich glaube, ich habe jetzt auch so einen Yuki.“

 

Nach einer Weile kehrten seine Gedanken wieder zurück ins Krankenzimmer. Er nahm die Hand seiner Schwester und fand darin den Ohrring, dessen Gegenstück er selber trug, ließ ihn vor seinem Gesicht baumeln und seufzte noch einmal.

„Ach Aya. Ich wünschte, du würdest endlich zurückkommen, auch wenn das heißt, dass ich dich nie wieder sehe. Ich wünschte, es gäbe einen Weg, zu dir zu kommen, dich zu erreichen und dir den Rückweg zu zeigen. Ich wünschte, du würdest wieder leben, herumlaufen, deine Träume verwirklichen. Du hattest doch noch so viel vor. Ich wünschte, es gäbe einen Weg. Irgendeinen Weg.“

Er legte den Ohrring wieder in Ayas Hand und schloss ihre Finger darum. Vorsichtig legte er die Hand wieder zurück auf das Bett und hielt sie fest, bis Yoji die Tür wieder öffnete und mit einer Vase zurückkam. Er gab die Narzissen hinein und stellte sie neben die Schale auf den Nachttisch. Er

sah Aya fragend an.

„Besser?“, fragte er leise.

Aya nickte. „Alles in Ordnung. Wir versuchen es ein anderes Mal nochmal. Komm lass und gehen. Ich möchte...ich möchte eine Zeit lang alles vergessen. Meinst du, du schaffst das?“

Yoji grinste und zog ihn kurz an sich. „Das ist eine meiner leichtesten Übungen. Na komm, Aya. Lass uns zusammen vergessen.“

 

 

 

 

 

Als sich die Tür langsam öffnete, spannte Ken sich unwillkürlich an. Den Blick starr auf den immer breiter werdenden Türspalt gerichtet, entspannter er sich erst, als sich Schuldigs Gestalt hindurch schob. In der Hand hatte er ein Tablett mit einem Teller, einem Glas Wasser und einer Schüssel, die mit einem Tuch verdeckt war. Er lächelte.

„Entspann dich, Kätzchen. Ich bin es nur.“

„Besser als der Irre mit dem Messer“, scherzte Ken und hielt seinen Arm hoch. „Farfarello hat mich vorhin besucht.“

Schuldig schnalzte mit der Zunge. „Tut mir leid. Ich werde mal mit ihm reden. Ich möchte nicht, dass er dir das weiterhin antut. Aber jetzt ist es erst mal Zeit für dein Abendessen.“

Er stellte das Tablett auf das Bett und setzte sich auf die andere Seite. Erwartungsvoll sah er Ken an. Der hob fragend die Augenbrauen, als er das Funkeln in den blauen Augen sah. Was hatte Schuldig vor?

Ich?“, antwortete der in unschuldigem Tonfall. „Als wenn ich jemals Hintergedanken hätte. Ich habe dir nur eine Überraschung mitgebracht. Tadaa!“

Er zog das Tuch von der Schüssel und darunter kamen einige Erdbeeren zum Vorschein. Schuldig grinste breit.

„Ich habe es nicht vergessen. Also, lass sie dir schmecken.“

 

Ken wusste nicht, wo er zuerst hingucken sollte. Er wusste, worauf Schuldig anspielte und wurde bei dem Gedanken daran, ohne es zu wollen, ein wenig rot. Er versuchte krampfhaft, an nichts zu denken, aber es gelang ihm nicht.

„Ich...äh...danke“, stammelte er schließlich und steckte sich kurzerhand eine Erdbeere in den Mund. Die frische Süße war köstlich und erinnerte ihn daran, dass irgendwo da draußen Frühling sein musste. Er nahm ein zweite und biss nachdenklich hinein. Ob er wohl irgendwann mal wieder das Tageslicht sehen würde? Sein Blick glitt zu Schuldig, der ihn mit schief gelegtem Kopf betrachtete.

„Du willst raus, nicht wahr?“

Ken nickte und nahm eine dritte Erdbeere. Statt sie in den Mund zu stecken, betrachtete er sie nur nachdenklich.

„Das wird nicht passieren, oder? Ich meine, es wäre bestimmt ein zu großes Risiko für euch.“

Schuldig sah ihn an, nahm das Tablett und stellte es auf den Boden. Er rutschte nahe an Ken heran, nahm die Erdbeere aus seiner Hand und lächelte. „Wahrscheinlich schon. Aber wenn du mir versprichst, ganz artig zu sein, könnten wir vielleicht morgen mal einen kleinen Ausflug in den Garten machen.“

„Wirklich?“ Ken stand vor Überraschung der Mund offen. Schuldig nutzte die Gelegenheit und platzierte die Erdbeere zwischen seinen Lippen.

„Natürlich, Kätzchen. Weißt du, es fällt mir schwer, dir einen Wunsch abzuschlagen. Du bist so besonders, so einzigartig. Ich...“

Er ließ den Satz unbeendet und beugte sich stattdessen vor. Sein Mund schloss sich um die Erdbeere und zerbiss diese, während er Ken in einen tiefen Kuss zog. Schuldigs Lippen und der süße Geschmack der Erdbeere in seinem Mund ließen Ken beinahe schwindeln. Dazu noch das Versprechen, dass er nach draußen durfte. Das alles verwob sich in Kens Kopf zu einem dichten Schleier, der die kleine Stimme erstickte, die ihm versuchte etwas zuzurufen. Gefangen ließ er sich in den Kuss fallen und erwiderte diesen, ohne weiter darüber nachzudenken. Als Schuldig sich schließlich von ihm zurückzog, atmete er heftig. Seine Lippen brannten von der Heftigkeit des Kusses.

„Es fällt mir wirklich schwer, dir zu widerstehen“, sagte Schuldig leise. „Aber ich sollte das hier vielleicht nicht tun. Das wird nur zu Problemen führen, Ich...ich sollte gehen.“

Trotz dieser Aussage blieb er sitzen und senkte lediglich den Kopf, sodass seine langen Haare das Gesicht verdeckten. Seine Finger strichen über Kens Hand, mit der er sich auf dem Bett abstützte. Die Berührung, so unschuldig sie war, sandte kleine Schauer durch Kens Körper und sorgte dafür, dass er eine Gänsehaut bekam.

„Was solltest du nicht tun?“, fragte er schließlich und seine Stimme klang seltsam rau.

„Mich auf dich einlassen“, antwortete Schuldig, ohne den Kopf zu heben. „Ich bin dir schon viel zu nahe gekommen. Das ist unprofessionell. In Zukunft sollten sich besser die anderen um dich kümmern. Dir ist es ja sicherlich egal.“

„Nein!“, rief Ken, bevor er genau darüber nachgedacht hatte. „Nein, es ist mir nicht egal. Ich...ich bin gerne mit dir zusammen.“

Nachdem er es gesagt hatte, stellte er fest, dass es tatsächlich irgendwie stimmte. Er hatte Angst vor Farfarello und auf unbestimmte Art auch vor Nagi. Was Crawford anging, erlaubte er sich lieber kein Urteil, aber er war sich ziemlich sicher, dass er sich eher eine Kugel einfangen würde als ein gutes Wort. Schuldig hingegen war anders als die anderen. Er war nett, wenngleich auch auf eine sehr verwirrende Art und Weise. Es fühlte sich gleichzeitig falsch und richtig an, sich auf ihn einzulassen. Je mehr er jedoch darüber nachdachte, desto weniger sinnvoll kamen ihm seine Gegenargumente vor.

'Was hast du zu verlieren', schien es in seinem Kopf zu flüstern. 'Er verspricht dir so viel und du? Was hast du ihm anzubieten? Du solltest dich erkenntlich zeigen. Und ist es nicht auch angenehm? Ist es nicht etwas, dass dein Körper ohnehin verlangt? Was, wenn er tatsächlich geht? Willst du wieder Schmerzen haben? Er hat dir versprochen, dass du nach draußen darfst. Wenn du ihn gehen lässt, wird er das Versprechen nicht einlösen. Wenn er geht, ist alles zu spät.'

 

„Bitte bleib“, flüsterte Ken und schob sich näher an Schuldig. „Ich...ich will nicht, dass du gehst. Ich will...“

„Ja?“ Schuldigs blaue Augen schienen im Dunkeln zu leuchten. Seine Hand glitt unter Ken Sweatshirt und die schlanken Finger hinterließen eine Spur aus brennendem Eis. Er beugte sich zu ihm hinüber und sein Atem glitt übers Ken Ohr. „Sag mir, was du möchtest. Vielleicht können wir beide da ja irgendwie...zusammen kommen.“

Die doppeldeutigen Worte sandten einen Schauer über Kens Rücken. Er versuchte das Begehren, das in ihm aufwallte, zu unterdrücken, aber er wusste, dass es hoffnungslos war. Schuldig wollte das hier, er wollte ihn, und Ken wusste nicht, wie er es ihm verwehren sollte. Er wusste außerdem, dass es dieses Mal nicht bei einfachen Berührungen bleiben würde. Schuldig wollte Sex. Richtigen Sex. Und sein Körper sehnte sich auf perfide Weise danach, diesem Wunsch entgegenzukommen. Er spürte, wie seinen Wangen anfingen zu brennen, als die flüsternde Stimme in seinem Kopf ihn sich all die Dinge vorstellen ließ, die sie miteinander tun würden.

„Oh Gott“, stöhnte er und drückte unwillkürlich die Hand in seinen pulsierenden Schritt. „Ich glaube nicht, dass ich das kann.“

„Das kannst du getrost mir überlassen“, lächelte Schuldig und drückte ihn auf das Bett. „Lass mich nur machen und entspann dich. Dann sollte es auch nicht allzu wehtun.“

Die kurze Panik, die sich bei diesem Satz in ihm ausbreitete, erstickte Schuldig allumfassend mit einem brachialen Kuss. Einem Kuss, der nach Erdbeeren schmeckte und die Stimme in seinem Kopf endgültig zum Schweigen brachte.

 

 

Yoji hob den Deckel des Picknickkorbs, der auf dem Küchentisch stand, inspizierte den Inhalt und ließ den Deckel enttäuscht wieder sinken.

„Das ist das bescheidenste Picknick, das ich je gesehen habe“, stellte er fest. „Ich meine, ich habe ja kein Bier wartet, aber wenigstens etwas zu Essen. Da ist nur Ausrüstung drin.“

Aya hob eine Augenbraue. In geschminktem Zustand sah das irgendwie noch beeindruckender aus als sonst. Der violette Seidenstoff raschelte leise, als er sich bewegte.

„Wenn du etwas essen willst, hättest du einkaufen sollen“, bemerkte er und überprüfte noch einmal den Sitz des Messers an seinem Oberschenkel. Um daran zu kommen, würde er zwar den Kimono auf höchst undamenhafte Weise lüften müssen, aber wenn es dazu kam, war die Verkleidung vermutlich ohnehin wertlos geworden.

„Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber ich war beschäftigt“, gab Yoji zurück, ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und fischte seine Zigaretten aus der Hemdtasche. Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sich eine davon anzündete. „Sehr beschäftigt sogar. Bis tief in die Nacht.“

Aya rollte nur mit den Augen, nahm ihm die Zigarette aus dem Mund und drückte sie in der Küchenspüle aus. „Hier wird nicht geraucht.“

„Hey!“ protestierte Yoji. „Seit wann das denn nicht?“

„Seit ich hier in einem Kimono herumlaufe und keine Brandlöcher gebrauchen kann. Außerdem ist es deine Sache, wenn du an Lungenkrebs sterben willst. Ich habe das nicht vor.“

„Als wenn ich dafür lang genug leben würde“, murmelte Yoji und ließ sich auf seine gekreuzten Arme auf dem Tisch sinken. „Wo bleibt eigentlich Omi? Ich schwitze in diesem Polyester-Alptraum von einem Anzug und der falsche Bart juckt.“

„Pass auf, dass du ihn nicht abreißt“, erinnerte Aya ihn und verließ die Küche. Nein, eigentlich schwebte er eher. Yoji musste zugeben, dass Manx wirklich gute Arbeit geleistet hatte. Er juckte noch einmal an dem falschen Gesichtshaar herum, das Omi ihm heute Morgen verpasst hatte. Ein regelrechter Vollbart hatte es sein müssen. Alle Einwände, dass ihn das völlig verunstalten würde, hatte der Junge mit einem Lächeln und der Antwort „Aber das soll er doch auch“ abgetan. Also war Yoji jetzt Bart- und Brillenträger. Er fand es ja etwas dick aufgetragen, aber im Gegensatz zu Aya durfte er sich wohl nicht beschweren. Trotzdem war er der Meinung, dass der in dem Kimono absolut heiß aussah. Mit Chance würde er ihn ja nachher entkleiden dürfen. Er lächelte bei der Vorstellung.

 

„Hör auf, an etwas Unanständiges zu denken, wenn dein Kind anwesend ist, Yoji-kun.“

„Huh?“ Yoji blinzelte und sah mit einem Mal Omi vor sich in der Küche. Oder vielleicht eine jüngere Version davon. Er hatte Omi ja öfter schon damit aufgezogen, dass er zu klein war für sein Alter und aussah, als wäre er noch in der Mittelschule, aber heute hatte der Junge es wirklich darauf angelegt. Er trug dunkelblaue Shorts und auf seinem Kopf saß eine rote Baseballkappe, deren Schirm er nach hinten gedreht hatte. Als er die Tüten, die er in den Händen trug, auf dem Tisch abstellte, wurde Yoji nun auch des Zwischenstücks gewahr. Ein weißes T-Shirt mit einem...

„Häschen?“ Yoji lachte überrascht auf. „Ernsthaft jetzt, Omi?“ Er betrachtete das skurrile Ding, das aussah, als hätte es ein Fünfjähriger gemalt. Darüber stand mit großen, bunten Buchstaben „Chappy forever“. Es verfehlte seine Wirkung allerdings nicht, denn der kindische Aufdruck ließ Omi noch um ein bis zwei Jahre jünger wirken.

Omi verdrehte die Augen. „Du hast ja keine Ahnung, Yoji-kun. Hier, pack lieber die Bento-Boxen ein, die ich besorgt habe. Wir müssen immerhin den Eindruck erwecken, wir wären zum Picknick dort. Ich hätte ja selbst was gemacht, aber ich hatte einfach keine Zeit.“

„Omi, ich könnte dich küssen“, rief Yoji begeistert, ignorierte den Blick, den er dafür erntete, und klappte die Deckel der fertigen Boxen und atmete den Duft ein. „Ich sterbe vor Hunger. Wann brechen wir auf?“

„Wenn ihr soweit seid, können wir los. Wo ist Mama?“

Yoji verschluckte sich beinahe an dem Stück Fisch, das er aus einer der Boxen herausgeangelt hatte. Omi klopfte ihm hilfreich auf den Rücken. „Alles in Ordnung, Papa?“

„Ack!“, krächzte Yoji und musste noch mehr husten. Mit tränenverschleiertem Blick richtete er einen drohenden Zeigefinger auf Omi „Wage es nicht, mich noch einmal so zu nennen.“

Omi verdrehte erneut die Augen und seufzte: „Aber Yoji-kun, das gehört doch zu unserer Tarnung. Du solltest auch anfangen, mich Makoto zu nennen. Du erinnerst dich daran, dass wir das alles besprochen haben?“

Dunkel stiegen Erinnerungen daran in Yojis Kopf auf. Allerdings war er während Omis Ausführungen damit beschäftigt gewesen, Ayas Verwandlung von einem anbetungswürdigen, jungen Mann, in eine wirklich ansehliche, junge Frau zu beobachten. Anscheinend hatte er dabei einige Details verpasst.

„Aber Omi, versteht doch. Wenn du mich die ganze Zeit Papa nennst, werde ich nächtelang nachts nicht schlafen können. Das ist mein schlimmster Alptraum.“

Omis Augenbrauen zogen sich zu einem dunklen Strich zusammen. Hatte er die etwa auch gefärbt? „Du bekommst Alpträume? Was soll ich denn sagen? Immerhin bist du mein Vater und Aya meine Mutter! Wenn das kein Stoff für Alpträume ist, dann weiß ich auch nicht.“

Omi fing an, die Bentoboxen in den Picknickkorb zu stopfen und murmelte noch etwas, das Yoji nicht verstand, und klappte mit einem wütenden Schnauben den Deckel zu. Yoji setzte ein entschuldigendes Lächeln auf.

„Hey, Chibi, war doch nicht so gemeint. Du bist der beste Sohn, den man sich wünschen kann.“ Er räusperte sich. „Also wenn ich einen hätte, was ich nicht habe. Du weißt schon, Verhütung und so. Immer schön daran denken, wenn du mit einem Mädchen intim wirst, nicht wahr?“

„YOJI!“ Omi machte ein gequältes Gesicht und hielt sich die Ohren zu.

Yoji grinste ihn an „Was? Ich versuche doch nur, ein verantwortungsvoller Vater zu sein. Und sag Papa zu mir, Makoto. Was sollen sonst die Leute denken.“

Er versuchte Omi in eine väterliche Umarmung zu ziehen, woraufhin dieser sich mit einem spitzen Schrei in eine Küchenecke flüchtete. Yoji nahm das zum Anlass, sich wie ein Bär mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu stürzen und ihn in einen Schwitzkasten zu nehmen, während Omi sein Bein mit trommelnden Fäusten bearbeitete. Yoji ließ ihn lachend los, schnappte sich seine Hände und drehte sie auf den Rücken. Omi trat ihm mit einem triumphierenden Laut auf den Fuß und Yoji heulte auf, hielt ihn aber weiter fest.

 

„Wenn ihr dann fertig seid mit Herumalbern?“ Ayas Stimme glich einem Eimer mit Eiswasser, der sich über die beiden Herumbalgenden ergoss. Sofort ließ Yoji Omi los, richtete sich mit einem schuldbewussten Gesichtsausdruck auf und richtete seine Krawatte. Omi fischte seine Mütze vom Boden, setzte sie wieder auf und stellte sich ebenso kerzengerade wie Yoji in der Küche auf. Er unterdrückte mit Mühe ein Kichern.

Aya maß sie beide mit einem abschätzigen Blick. „Wir sollten aufbrechen. Je früher wir ankommen, desto eher können wir uns eine strategisch günstige Position sichern.“

„Natürlich, Mutter“, erwiderte Omi mit todernstem Gesicht. Aya schnaubte nur, drehte sich auf dem Absatz herum und entschwebte in Richtung Erdgeschoss.

Yoji und Omi sahen sich an.

„Wir stehen ganz schön unterm Pantoffel, oder?“, grinste Yoji und Omi nickte zustimmend.

„Aber so was von.“

 

 

Sie hatten beschlossen, mit dem Bus zum Park zu fahren, da sie vermeiden wollten, dass Schwarz eines ihrer Fahrzeuge wiedererkannte. Immerhin waren sowohl der Porsche, wie auch der Seven nicht eben unauffällig. An der Bushaltestelle standen bereits einige Fahrgäste, als sie mit Yoji an der Spitze dort eintrafen. Aya stellte sich mit gesenkte Kopf neben ihn und verbarg sein Gesicht hinter einem Fächer. Im Grunde war das aufgrund der wirklich guten Verkleidung nicht notwendig, zumal sich niemand besonders um sie kümmerte. Zwei junge Mädchen bewunderten zwar offensichtlich das Outfit, aber ansonsten wirkten sie anscheinend überzeugend. Omi nahm das zum Anlass, sich an das Schild der Bushaltestelle zu hängen. Anscheinend entsprach das seinem Bild vom Verhalten eines Zwölfjährigen.

„Makoto, komm da runter“, wies Yoji ihn auch gleich zurecht und erntete einen anerkennenden Blick von Omi, der sich gehorsam neben Aya stellte und sich benahm, als könne er kein Wässerchen trüben. Yoji warf einen Blick auf seine kleine „Familie“ und stellte fest, dass er den Fluchtinstinkt inzwischen schon gut unter Kontrolle hatte. Vor allem, als Aya ihm über den Rand des Fächers hinweg einen Blick zuwarf, der ihn dankbar dafür sein ließ, dass er tatsächlich mit diesem wunderschönen Geschöpf ins Bett gehen durfte. Schnell blickte er in die andere Richtung, bevor Omi sich schon wieder über ihn beschweren konnte.

 

„Sie machen wohl einen Ausflug“, hörte er eine brüchige Stimme von irgendwo in Hüfthöhe. Als er nach unten sah, stand dort eine sehr alte und sehr verschrumpelte Frau, die ihn mit einem Gesicht wie ein Bratapfel anlächelte.

Er erwiderte das Lächeln. „Ja, meine Frau war zur Zeit des Hanami krank, daher holen wir das heute nach. Wir hatten in Betracht gezogen, nach Sendai zu reisen, aber ich habe keinen Urlaub bekommen.“

Die Frau lächelte wieder. „Ja ja, mein Mann und ich haben auch jedes Jahr die Kirschblüte angesehen. Er hat sich immer einen ganzen Tag lang Zeit genommen und er hat mich immer genauso verliebt angesehen, wie Sie Ihre Frau. Sie müssen ein sehr glücklicher Mann sein.“

 

Sie brabbelte noch weiter, aber in Yojis Kopf hallten immer noch die Worte nach, die sie gerade gesagt hatte. Er warf einen vorsichtigen Blick in Ayas Richtung und atmete erleichtert auf, als er sah, dass dieser die alte Frau anscheinend nicht gehört hatte. Das hätte zu höchst peinlichen Verwicklungen führen können. So etwas konnten sie gerade nicht brauchen. Sie waren auf einer Mission, wenngleich auch auf einer sehr ungewöhnlichen. Um Fassung bemüht, lächelte und nickte er weiter, ohne der alten Dame weiter zuzuhören, und war erleichtert, als endlich ein Bus kam, in den die Alte einstieg. Da sie erst den nächsten nahmen, hatte er genug Zeit, sich wieder in Missionsmodus zu bringen. Das böse, große L-Wort schob er dabei ganz tief in eine Schublade und warf den Schlüssel weg. Er wusste, wie Aya zu dem Thema stand, und würde garantiert nicht den Fehler machen, dieses Schlachtfeld zu eröffnen. Es war eines, auf dem er nur verlieren konnte.

 

 

 

 

 

 

Mit Mühe stemmte Ken sich aus dem Bett hoch und stöhnte. Sein Körper fühlte sich ausgelaugt an, wund, fast wie ein Kater, nur dass er Schmerzen an den falschen Stellen hatte. Erinnerungsfetzen gaukelten wie umherfliegende Asche durch seinen Geist und setzten sich nur langsam zu einem Bild zusammen. Haut an Haut, ein Gewicht, das ihn unten hielt, das Gefühl, als seine Kleider abgestreift wurden. Er atmete, schluckte trocken. Er hatte Durst, seine Kehle fühlte sich heiser und rau an. Geräusche, Atmen, Stöhnen, ein Schrei, sein Schrei, eine Hand, die sich auf seinen Mund legte, geflüsterte Worte in der Dunkelheit, feuchter Atem auf seiner Haut. Er schwang die Beine aus dem Bett und erschrak, als er etwas unter seinem nackten Fuß spürte. Er sah nach unten und erblickte neben seinen Kleidern ein kleines, aufgerissenes Päckchen. Ein Rascheln und Knistern und eine kurze Pause, bevor der Schmerz kam. Hitze, Kälte, Lust, der Geruch von Schweiß und Blut und Sex. Ein Aufstöhnen, Finger, die sich in seine Hüfte krallten. Er sah an sich herab und bemerkte die dunklen Stellen, an denen eben diese Finger gelegen hatten. Spuren, die sich nicht abwaschen lassen würden. Er verzog bei dem Gedanken das Gesicht. Waschen klang gut. Er brauchte dringend eine Dusche.

Als er sich erhob, hätte er beinahe laut aufgekeucht. Ein scharfes Ziehen riss durch seinen Unterkörper und ihm kam unwillkürlich der Gedanken, dass Schuldig beim nächsten Mal hoffentlich sanfter sein würde. Der Schmerz ebbte zu einem dumpfen Pochen an und er begann sich langsam in Richtung Badezimmer zu bewegen. Hatte er gerade gedacht beim nächsten Mal? Er beschloss, diesen Gedanken nicht weiter auszuführen. Gehen und ähnliche Körperfunktionen beanspruchten gerade zu viel Gehirnkapazität. Selbst in die Wanne zu steigen bereitete so viel Mühe, dass ihn nur die Aussicht auf das warme Wasser auf seinen ächzenden Muskeln überhaupt damit fortfahren ließ.

 

Als er es endlich geschaffte hatte, sich zu setzen und den Wasserstrahl in Gang zu setzen, fühlte er langsam wieder Wärme in sich aufsteigen. Eine Hand, die über seinen Rücken strich, Lippen auf seinem Mund, starke Arme, die ihn hielten. Er seufzte und griff nach der Seife. Wenn er so weitermachte, würde der Tag um sein, bevor er überhaupt angezogen war.

'Guten Morgen, Kätzchen. Gut geschlafen?“

Die Stimme in seinem Kopf ließ ihn auffahren.

'Schuldig!'

'Ja wer denn sonst? Der Weihnachtsmann etwa? Kann ich dich zum Frühstück abholen? Oder sagen wir mal zum Brunch. Es ist schon ziemlich spät.'

'Ich habe so lange geschlafen?'

'Wie ein Stein. Wundert mich nach gestern Nacht überhaupt nicht. Komm einfach hoch, wenn du fertig bist.'

Er empfing noch so etwas wie ein Lachen, dann war Schuldig wieder verschwunden. Ken merkte, dass er lächelte. Er atmete tief durch, versuchte den Protest seines Körpers zu ignorieren und beeilte sich, mit dem Waschen fertig zu werden. Er wickelte den blutigen Verband von seinem Arm und erstarrte, als er die Wunden an seinem Arm sah.

Erinnere dich!, hallte es kurz durch seinen Kopf und ein scharfes Geräusch wie zerreißender Stoff begleitete den Satz. Ein plötzliches Brennen hinter seiner Schläfe ließ ihn aufstöhnen. Er fluchte lautlos, reinigte die Wunden ohne hinzusehen, und stieg aus dem Wasser. Nach dem Abtrocknen brachte er schnell einen neuen Verband an. Wenn er jetzt etwas nicht brauchen konnte, dann mehr Schmerzen. Außerdem beflügelte ihn der Gedanke, endlich aus diesem Loch herauszukommen.

 

Als er wenig später die weiß geflieste Kellertreppe hinaufging, war ihm ein wenig eigenartig zumute. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon hier unten war. Eine Woche vielleicht oder länger? Er wusste es nicht genau. Ohne Uhr oder einen regelmäßigen Tagesablauf fiel es ihm schwer abzuschätzen, wie lange er wohl schon gefangen gehalten wurde. In jedem Fall lange genug, um die Tür am oberen Ende der Treppe zu einem echten Hindernis zu machen. Es fühlte sich ein wenig so an, als würde er eine andere Welt betreten. Eine ganz andere Welt, wie sich herausstellte, als er es endlich gewagt hatte, die Tür zu öffnen und hindurchzugehen.

Er stand in einem weitläufigen Flur und blinzelte gegen die Helligkeit an. Das durch die großen Fenster neben der Haustür einfallende Tageslicht war so ganz anders als die Neonröhren, an die seine Augen mittlerweile gewöhnt waren. Helles Holz und cremefarbene Wände ließen den hohen Raum noch größer wirken. Auf dem hellen Steinboden (Marmor?) lag ein dicker Teppich mit einem grafischen Muster. Ken trat aus der Kellertür und schloss diese. Sie fügte sich nahtlos in die Wand ein und war, wenn man nicht wusste, wonach man suchte, nahezu unsichtbar. Langsam trat er in den Flur hinaus. Er scheute sich fast, den Teppich zu betreten, doch dann schalt er sich albern und wagte einen ersten Schritt. Der Stoff war weich und irgendwie luxuriös unter seinen Füßen, die nur in nicht ganz sauberen Socken steckten. Er hatte mangels Alternative noch einmal die Sachen vom Vortag anziehen müssen. Jetzt kam er sich seltsam deplatziert vor.

 

Über der Wand mit der Kellertür eröffnete sich eine ebenfalls aus hellem Holz gefertigte Treppe nach oben, wo sich vermutlich die Schlafräume befanden. Es gab außer der Haustür noch zwei weitere Türen, von denen eine geschlossen hinter ihm lag, und eine halb geöffnet die Sicht auf das Wohnzimmer freigab. Er wollte schon hindurchgehen, als sein Blick auf die Wand neben der Tür fiel. Dort hing ein großer Spiegel. Ohne lang darüber nachzudenken, trat er davor und betrachtete sich.

Er war blass, dunkle Ringe langen unter seinen Augen und seine Wangenknochen traten deutlicher als normal hervor. Die Haare hingen ein wenig wirr um den Kopf und er beeilte sich, sie mit den Fingern glattzustreichen. Die Wirkung war nur wenig überzeugend. Er sah immer noch aus, als hätte er die Nacht unter einer Brücke verbracht.

„Muss eine saubere Brücke gewesen sein“, hörte er eine amüsierte Stimme neben sich. Ken drehte den Kopf und sah Schuldig, der in der Tür lehnte und ihn betrachtete. Der Mann trug eine helle Hose und ein grünes Hemd, das verboten weit aufgeknöpft war. Er wirkte frisch, ausgeruht und seltsam lebendig. Irgendwie knackig und...sexy.

Schuldigs Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. „Wenn du weiter so etwas denkst, kommen wir nie zum Essen.“

Er zwinkerte Ken zu und verschwand wieder im Wohnzimmer. Langsam folgte Ken ihm und betrat den Raum, den er schon einmal flüchtig gesehen hatte. Auch hier herrschten helle Farben und teuer aussehendes Mobiliar vor. Was immer Schwarz auch tat, schien Geld mit sich zu bringen.

„Es lässt sich davon leben“, antwortete Schuldig ungefragt und deutete auf einen Stuhl am Tresen, der den Küchenbereich abtrennte. „Setz dich und iss.“

Der hohe Barhocker stellte eine neue Herausforderung dar und das Sitzen an sich war nicht das Bequemste. Ken verzog das Gesicht und war kurz davor, sich wieder hinzustellen. Allein die Aussicht, wieder einmal ein Essen an einem richtigen Tisch einzunehmen, ließ ihn durchhalten. Das kleine, wissende Lächeln, das den Mund seines Gegenübers umspielte, tat sein Übriges. Er fühlte, wie seine Wangen zu brennen begannen, beugte sich tiefer über seinen Teller und begann zu essen.

In der Küche wurde eine Schublade geöffnet, etwas knisterte und kurz darauf plingten zwei Tabletten auf das Porzellan vor ihm. Er hielt den Blick gesenkt, während er sich die Schmerzmittel in den Mund steckte und mit dem Saft hinunterspülte, der neben seinem Teller stand. Die Situation war so eigenartig, dass er sich von Minute zu Minute unwohler fühlte und sich fast danach sehnte, wieder in seiner Zelle im Keller zu sitzen. Die plötzliche Weite und Freiheit machte ihm Angst. Er gehörte irgendwie nicht hierher.

„Mach dir nicht so viele Gedanken, Kätzchen“, raunte Schuldig ihm ins Ohr. Wie es kam, dass er plötzlich hinter ihm stand, entzog sich Kens Verständnis. Er hätte schwören können, dass der Mann gerade noch in der Küche gestanden hatte. Er spürte Hände, die über seine Seiten glitten, und versteifte sich. „Keine Angst. Nur ein bisschen Nähe, in Ordnung?“

Ken nickte automatisch und kaute unbeholfen weiter. Er nahm noch einen Schluck aus seinem Glas und beschloss, dass er satt war. Mit ein wenig Mühe drehte er sich auf dem Barhocker herum und saß Schuldig jetzt genau gegenüber. Der Hocker war so hoch, dass er ihm mühelos in die Augen sehen konnte.

„Du hast da was“, sagte Schuldig, öffnete den Mund und leckte mit seiner Zunge einmal quer über Kens Lippen. Er prickelte und hinterließ einen feuchten, kühlen Film. Ken schauderte. In Schuldigs Augen erschien ein spöttisches Funkeln.

„Immer noch so schüchtern, Kätzchen?“, lachte er leise. „Das gefällt mir so an dir. Unter der rauen Schale steckt ein butterweicher Kern. Ich möchte dich in den Mund stecken und so lange an dir herum lutschen, bis ich in dein köstliches Innerstes vorstoße.“

Schuldigs Worte verfehlten ihre Wirkung nicht und Ken merkte, wie ihm in dem dicken Sweatshirt heiß wurde. Er begann zu schwitzen und spürte trotzdem noch die Wärme, die von dem Körper vor ihm ausging. Er schluckte langsam. Ohne es wirklich zu wollen, griff er nach vorne, fasste den Aufschlag von Schuldigs Hemd und zog den Mann an sich. Ihre Lippen fanden sich zu einem Kuss, der heißkalte Schauer durch seinen Körper sandte.

„Ein eifriges Kätzchen“, schnurrte Schuldig. „Man könnte denken, du hättest erst einmal genug, aber wie es scheint, kannst du den Hals einfach nicht voll genug kriegen. Oder vielleicht andere Körperteile? Hast du es schon mal im Freien gemacht?“

Ken senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Ich...ich hab nicht...so viel Erfahrung.“

Schuldig lachte leise. „Erzähl mir davon. Was hast du bisher ausprobiert?“

Ken spürte, dass er schon wieder rot wurde. Er konnte nicht einmal wütend darüber sein. Viel lieber hätte er sich irgendwo in einem Loch verkrochen und gewartet, dass es vorbei war.

'Es wird aber nicht vorbei sein. Also los, erzähl mir etwas. Amüsiere mich, Kätzchen.'

„Ich...es war...“, begann er stockend. „Es war nur ein Mädchen. Sie war die ältere Schwester eines Mannschafts-Kameraden beim Fußball. Hat ihn immer vom Training abgeholt. Eines Tages, als er länger brauchte, habe ich ihr Gesellschaft geleistet. Wir kamen ins Gespräch und...“

„Und dann hat sie dich verführt?“, beendete Schuldig seinen Satz. „Wie rührend. Durftest du sie ansehen oder habt ihr das Licht ausgemacht?“

Ken schwieg. Seine Ohren glühten und er wusste nicht mehr, wo er hingucken sollte.

„Ok, verstehe. Das Licht war aus. Meine Güte, wie lahm. War es wenigstens gut?“

Ken wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Es war...okay gewesen. Aufregend und irgendwie peinlich und auch ein bisschen komisch. Außerdem war es inzwischen so lange her und dann war da die Sache mit Kase dazwischen gekommen. Seit dem hatte sich so viel geändert.

 

„Ah, jetzt habe ich die Stimmung ruiniert. Tut mir leid, Kätzchen.“ Schuldig hatte ein Lächeln aufgesetzt. Er ließ Ken los, trat an die Glastür, die zum Garten führte, und öffnete sie. Warmer Frühlingswind blies herein und fuhr in Ken Haare.

„Komm, ich zeige dir den Garten. Vom Zaun aus kann man den Park sehen. Ich wette, da ist heute einiges los. Wenn du möchtest, darfst du mal einen Blick werfen.“

Schuldig schickte noch ein paar anzügliche Ideen hinterher, was genau er am Zaun mit Ken zu tun gedachte, während draußen die Familien und andere Parkbesucher vollkommen ahnungslos nur ein paar Meter von ihnen entfernt vorbeigingen. Ken befand, dass er mit seinem Sweatshirt definitiv zu warm angezogen war. Wenn Schuldig so weiter machte, würde er gleich noch einmal duschen müssen.

Er glitt vorsichtig vom Barhocker und ging auf die Tür zu, auf deren anderer Seite Schuldig bereits im hellen Sonnenschein stand und auf ihn wartete. Er streckte die Hand nach dem Türrahmen aus, um über die Schwelle zu treten, als er sich plötzlich nicht mehr bewegen konnte.

 

 

 

 

„Uff.“ Omi ließ sich neben Yoji auf die Picknickdecke plumpsen, griff nach einer der Bentoboxen und verspeiste innerhalb kürzester Zeit den halben Inhalt. Kauend wies er auf die Drohne, die neben ihm im Gras lag.

„Das erste Haus war ein Reinfall. Es steht momentan leer.“

„Sieht es möglicherweise nur so aus?“, fragte Aya nach. Von weitem hätte man sie sicherlich für eine ganz normale Familie halten können, die im Schatten des ausladenden Sonnenschirms ein gemütliches Essen veranstaltete. Nur wenn man wirklich genau hinsah, konnte man die wachsamen Blicke bemerken, mit den sie alle die Umgebung nach Verdächtigen absuchten.

Omi schüttelte den Kopf. „Es arbeiten Handwerker darin. Ich habe wirklich von allen Seiten nachgesehen. Da kann sich niemand verstecken.“

„Gut“, nickte Aya und wies in Richtung des zweiten, infrage kommende Anwesens. „Das da als nächstes. Brauchst du Unterstützung?“

Omi verneinte erneut. „Wenn zwei Leute auf den Monitor gucken, wäre das nur umso auffälliger. Sobald ich was sehe, hole ich euch.“

„Gut O...äh Makoto. Dann werden ich und deine Mutter einfach noch ein wenig unterhalten.“

Omi schenkte Yoji noch einen argwöhnischen Blick, bevor er die Mütze wieder tief ins Gesicht zog und sich auf den Weg zum zweiten Haus machte. Yoji lehnte sich zurück auf seinen Ellenbogen und betrachtete Aya von schräg unten.

„Weißt du, an so eine Art Observierung könnte ich mich gewöhnen. Omi rennt die ganze Zeit herum und ich kann hier liegen und dich ansehen.“

„Nur dass ich mir gerade nicht besonders ähnlich sehe“, stellte Aya klar und senkte für einen Augenblick den Fächer, um ebenfalls nach etwas zu Essen zu greifen. Yoji fing seine Hand ab, küsste seine Fingerspitzen und legte sie dann zurück in Ayas Schoß.

„Lass mich das machen.“ Er griff nach einem Bissen und hielt ihn vor Ayas Lippen. Der hob fragend eine Augenbraue.

„Darf ein Mann seine Frau nicht füttern?“

„Nicht in der Öffentlichkeit“, war die sachliche Antwort. Aya öffnete trotzdem den Mund und ließ sich den Bissen hineinschieben. Er hob den Fächer wieder, während er kaute.

„Ah, wenn ich mit dir verheiratet wäre, wäre mir das vollkommen egal“, antwortete Yoji mit einem breiten Lächeln.

„Man wundert sich, dass du bei deinen ganzen Dates nie verhaftet worden bist, wenn du dich so benimmst“, warf Aya ihm vor die Füße und scannte über den Ran des Fächers hinweg weiter die Umgebung. „Die Damen müssen sich ja in Grund und Boden geschämt haben.“

„Hey, ich bin ein Gentleman. Ich bin niemals einer Dame in der Öffentlichkeit zu nahe getreten.“

Yoji richtete sich auf und faltete die Arme vor der Brust. „Es hat sich zumindest nie jemand beschwert.“

„Dann liegt es also an mir, dass du deine Finger nicht bei dir behalten kannst?“

Die Frage kam so unverhofft und in einem derart gleichgültigen Ton, dass Yoji zunächst dachte, er hätte sich verhört. Dann jedoch breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. Da lag also der Hase im Pfeffer. Aya war in Spiellaune? Noch dazu auf einer Mission? Nun, das konnte er haben.

„Ich weiß nicht. Gibt es denn etwas unter diesen Unmengen von Stoff, auf das ich meine Finger legen könnte? Deine Brust? Deinen Bauch? Deine Schenkel? Oder vielleicht noch etwas dazwischen? Ich sehe meinen Verdacht erhärtet, dass ich dort etwas finden könne, das meine Aufmerksamkeit erregt.“

Er konnte Ayas Gesicht hinter dem weißen Stoff mit den Kirschblüten darauf zwar nicht sehen, aber die amethystfarbenen Augen, die ihn drüber hinweg anfunkelten, ließen fast vermuten, dass Aya lächelte. Vielleicht sogar lachte. Yoji wünschte in diesem Augenblick den Fächer, den Kimono, ja die ganze Observation zum Teufel, wenn er nur dieses Lächeln sehen könnte. Er wollte eben die Hand heben, um den Fächer herunterzudrücken, als er hinter sich Schritte hörte. In fliegendem Tempo kam Omi angeprescht und sank neben Yoji auf die Knie. Sein Atem ging stoßweise und er nahm dankbar die Getränkedose entgegen, die Yoji ihm reichte. Als er endlich wieder zu Atem gekommen war, zischte er aufgeregt:

„Ich habe sie gefunden. Ich habe sie wirklich gefunden. Und es kommt noch besser. Ich habe Ken gesehen.“

„Was?“

Sofort waren alle Gedanken an Flirten und andere Dinge vergessen.

„Ihr müsst sofort mitkommen. Wenn wir Glück haben, können wir gleich zugreifen.“

Aya legte eine Hand auf Omis bebende Schulter. „Du weißt, dass das nicht geht. Wir können uns nicht Hals über Kopf in so eine Aktion stürzen. Wir werden dir jetzt möglichst unauffällig folgen und dann so viel in Erfahrung bringen, wie wir können. Du weißt, dass das notwendig ist, Omi.“

Omis Unterlippe zitterte. „Aber Aya...“

„Es geht nicht. Du weißt das“, wiederholte Aya noch einmal. „Also lass uns keine Zeit verlieren und das tun, weswegen wir hergekommen sind. Los jetzt.“

Mit einem entschlossenen Nicken erhob sich Omi und fing wieder an, in Richtung des verdächtigen Hauses zu laufen. Yoji erkannte sofort, wie sehr er sich anstrengte, nicht loszurennen. Er sah Aya an und schob seine Brille höher.

„Wir gehen schon mal vor“, beschloss er. „Du kommst nach und versuchst, nicht allzu einsam und sexy auszusehen, verstanden?“

Er wartete nicht ab, bis Aya geantwortet hatte und schloss schnell zu Omi auf, damit sie das Grundstück früher erreichten. Er betete nur, dass sie niemand dabei beobachtete.

 

 

 

 

 

Ken blinzelte überrascht und versuchte, sich gegen den Druck um ihn herum zu wehren. Zuerst dachte er, Schuldig hätte sich einen Spaß mit ihm erlaubt, aber dieses Gefühl war so ganz anders als die telepathische Kontrolle, der er bereits ausgesetzt gewesen war. Während er sich dort einfach nur nicht hatte rühren können, hatte er jetzt das Gefühl, dass sich die Luft um ihn herum verfestigt hatte. Ein stetiger, kontrollierter Druck, der ihn gefangen hielt und das Atmen schwer machte. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben.

 

„N-Nagi?“ Die Kraft des Jungen hinderte ihn offensichtlich nicht am Sprechen.

„Was glaubst du, was du da tust?“ Die Stimme hinter ihm war leise und voller Hass. Ken spürte, wie sich der Druck auf seinen Körper verstärkte. Seine Gedanken rasten. Konnte Schuldig ihn hören? Ihm helfen? In seiner Not wusste er sich nicht anders zu helfen, als laut in Gedanken nach ihm zu rufen. Augenblicke später erschien Schuldig in der Tür vor ihm. Seine Augen waren dunkel vor Zorn

„Nagi, was tust du da?“

„Ich bügele deine Fehler aus“, antwortete der Junge. „Crawford hat deutlich gesagt, dass er im Keller bleiben soll.“

Schuldig schnaubte abfällig. „Crawford ist aber nicht da. Ich habe alles unter Kontrolle. Lass ihn los!“

„Ich werde mich an die Anweisungen halten. Wenn du das nicht tun willst, klär das mit Crawford.“

Mit einem Ruck wurde Ken von den Füßen gerissen und krachte gegen die gegenüber liegende Wand. Seine Knochen knackten unter der groben Behandlung und vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte, als sein Kopf gegen die Wand schlug. Jetzt endlich konnte er Nagi auch sehen, der einige Schritte vor ihm direkt vor der Zimmertür stand. Er musste den Raum gerade betreten und sofort gehandelt haben.

 

Schuldig legte ein Lächeln auf sein Gesicht und breitete beschwichtigend die Arme aus.

„Komm schon, Nagi. Wir sind doch Kollegen. Wir sollten uns nicht streiten.“

„Vergiss es, Schuldig. Deine Tricks wirken bei mir nicht. Du hast mir beigebracht, wie ich dich ausschließe, schon vergessen?“

„Dann glaubst du also, du wärst vor mir sicher?“, fragte Schuldig leise und Ken lief bei der Frage ein Schauer über den Rücken. Der Ausdruck in Schuldigs Gesicht war mit einem Mal kalt und gefühllos, ein schmales, berechnendes Grinsen hatte das eben noch so freundliche Lächeln abgelöst. „Du meinst also, du könntest mich aus deinem Kopf draußen halten, nur weil du einen kümmerlichen Schild zustande bringst. Du bist nichts. Ein nützlicher Schoßhund, den Crawford sich hält, weil er denkt, dass du zu Höherem fähig bist. Weißt du, was ich denke? Dass er sich irrt. Du hast es nicht in dir. Ein verängstigtes, kleines, dummes Kind bist du, nichts weiter. Na los, lauf zu deiner Mami, Nagi, und verkrieche dich unter ihrem Rock. Ach nein, das hatte ich ganz vergessen. Du hast ja keine Mutter mehr. Du hast sie umgebracht!“

Das letzte Wort hatte Schuldig wie einen Stein auf den schmalen Jungen geschleudert, der unter dem Gesagten bebte, als wäre er geschlagen worden. Schuldig sprach noch weiter, aber Ken hörte ihn nicht mehr. Wie hypnotisiert starrte er auf Nagi, der dastand und schwankte wie ein Grashalm im Wind. Die Kraft um Ken herum schwand mit einem Mal und er konnte sich wieder bewegen. Schnell rappelte er sich auf und kroch vorsichtig ein Stück weit die Wand entlang. Die Luft zwischen Nagi und Schuldig knisterte.

„Hör auf!“, schrie Nagi und seine Stimme bebte.

„Womit? Damit die Wahrheit zu sagen?“, fauchte Schuldig und seine Haare wehten in einem unsichtbaren Wind, der nur ihn zu erfassen schien. „Dass du schwach bist? Dass du in der neuen Welt nichts zu suchen hast? Dass du der erste sein wirst, denn sie erwischen? Den sie wieder zu einer Laborratte machen werden? Du warst bei Rosenkreuz, ja, aber wie lange? Zwei Jahre? Lächerlich. Du bist noch längst nicht bereit für einen Feldeinsatz. Crawford hat dich nur aus lauter Mitleid zu uns geholt, weil er wusste, dass sie dich im Lager sonst zerbrechen würden. Du bist schwach, Nagi, und wirst es immer bleiben.“

„HÖR AUF!“

Nagis Gesicht war von Tränen überströmt, seine Augen weit aufgerissen. Mit einem schier unmenschlichen Schrei richtete er seine Hände auf Schuldig. Ken ging instinktiv in Deckung und hielt sich die Arme über den Kopf. Es gab einen Knall, ein Gurgeln und dann fiel ein Körper mit einem dumpfen Laut zu Boden. Ken wagte nicht aufzusehen. Er fürchtete, dass auch ihn gleich wieder etwas durch die Luft schleudern und ihm schlichtweg das Genick brechen würde.

 

Ken erschrak, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte. Als er den Kopf hob, blickte er in Schuldigs Gesicht.

„Was? Warum so erstaunt? Du hast doch nicht gedacht, dass ich mich von diesem kleinen Idioten übertölpeln lasse? Da muss er schon früher aufstehen. Wut ist ein toller Katalysator für die Überwindung von psychischen Barrieren. Wer seine Schilde so weit runterfährt, muss sich nicht wundern, wenn ich ihn einfach so ausknocke.“

„Du hast was?“ Ken war sofort auf den Füßen und starrte ungläubig auf den am Boden liegenden Jungen. Er wollte zu ihm gehen, aber Schuldig hielt ihn zurück.

„Es geht ihm gut, okay? Er wird nur mit einem ziemlichen Brummschädel aufwachen. Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst, Kätzchen.

Ken nickte geistesabwesend. „W-wollen wir ihn nicht wenigstens auf das Sofa legen?“

Schuldig verzog das Gesicht. „Du musst auch immer den guten Samariter raushängen lassen, oder? Na meinetwegen legen wir ihn aufs Sofa. Ich hoffe, du bist noch an deinem Ausflug interessiert? Das Wetter ist herrlich.“

Ken sah unschlüssig zu Nagi. Eigentlich war ihm die Lust an so ziemlich allem gerade vergangen. Andererseits hatte er kein Interesse daran, alleine im Keller zu hocken, wenn Nagi wieder zu Bewusstsein kam. Wenn er Schuldig nichts anhaben konnte, kam er vielleicht auf die Idee, seine Wut an Ken auszulassen, und auf diese Erfahrung wollte er definitiv gerne verzichten. Er grinste schief.

„Na gut, wenn du so fragst, gehen wir raus.“

 

Er sah zu, wie Schuldig Nagi auf das Sofa warf und ihn mit einer Verbeugung nach draußen beorderte. Mit einem tiefen Atemzug trat Ken nach aus dem Haus, gefolgt von Schuldig, der ihm galant seinen Arm anbot. Ken schüttelt erst den Kopf, aber als Schuldig darauf bestand, ließ er sich von ihm ein wenig durch den Garten führen. Nichtsdestotrotz blieb Beklemmung in seinem Inneren bestehen, bis Schuldig sich plötzlich zu ihm beugte und ihn küsste. Sobald ihre Lippen sich berührten, vergaß Ken den Streit und alles, was damit zusammenhing. Für ihn gab es nur noch Schuldig und das gute Gefühl, durch den Sonnenschein zu spazieren. Er legte den Kopf in den Nacken und ließ sich einfach fallen in das wohlige, tröstende Gefühl der Wärme und die Arme, die sich um seinen Körper geschlungen hatten.

 

 

 

 

 

Omis Augen klebten an dem kleinen Display, das ihm das Bild der Drohne übertrug. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen, seine Lippen zwei blasse Striche in einer bleichen Leinwand. Yoji fühlte es ebenfalls. Ein Gefühl der Beklemmung und das große „Warum?“, das über dem schwebte, was sie gerade gesehen hatten. Die zwei Personen auf dem kleinen Bildschirm waren eindeutig zu identifizieren gewesen. Einen kurzen Augenblick lang fragte Yoji sich, wo Omi diese Technik herhatte. Das musste mindestens Militärstandard sein, wenn nicht besser.

„Omi, lass uns gehen“, flüsterte Yoji leise und versuchte, Omis Arm zu fassen. Der entwand sich ihm und starrte weiter auf das unglaubliche Bild, das sich ihm bot. Yojis Blick irrte kurz zu dem Grundstück, über dem die Drohne irgendwo in der Luft hängen musste. Darunter ein Haus mit großen Fenster und einem gepflegten Garten. Es gab Stauden und Blumen, sogar einen kleinen Springbrunnen, eine ausladende Terrasse mit einer Landschaft aus Gartenmöbeln im Lounge-Stil, die gerade dazu einlud, sich darauf niederzulassen und...nun ja...das zu tun, was Ken und Schuldig dort gerade taten. Mit zunehmender Irritation beobachtete Yoji, wie Ken sich jetzt sein Oberteil auszog. Wenn er nicht gewusst hätte, dass das unmöglich war, hätte er vermutet, dass sein Teammitglied dort gerade etwas mit ihrem Feind tat, dass wie ein intensives Vorspiel zu einer Runde Matratzen-Tango aussah.

 

Keiner von ihnen bemerkte, dass Aya zu ihnen getreten war.

„Ihr seid zu auffällig“, sagte er, ohne den Blick direkt auf den Bildschirm zu richten. Stattdessen sah es von Weitem so aus, als würde er den Blick auf den Park genießen. „Kommt, wir gehen dort drüben zum Wasser. Unter der Weide mit den herunterhängenden Ästen sind wir ungestörter.“

Langsam, um nicht zu viel unnötige Aufmerksamkeit der anderen Parkbewohner auf sich zu ziehen, näherten sie sich dem natürlichen Unterschlupf. Aya hatte die Hand auf Yojis Arm gelegt und Omi war bereits vorausgeeilt.

„Was ist los?“, fragte Aya den Kopf immer noch in Richtung Park gedreht und so leise, dass Yoji es kaum verstand.

„Wir haben Ken entdeckt“, gab Yoji, ebenso leise und ohne den Kopf zu drehen, zurück. „Das Ding ist nur...er war...also...“

Aya sah ihn nun doch an und hob eine elegante Augenbraue.

„Wir haben ihn in recht kompromittierender Stellung entdeckt“, schloss Yoji unbehaglich. „Mit...äh...Schuldig.“

Ayas Gesicht zeigte keine Reaktion, aber seine Schritte wurden unmerklich etwas schneller, sodass sie kurz darauf ebenfalls im Schutz der Weidenäste untertauchen konnten. Sie warteten eine Gruppe junger Mütter ab, die schwatzend mit ihren Kinderwagen und Buggys vorbeischoben, und scharrten sich dann zu dritt um das Display.

Das Bild hatte sich bereits wieder verändert. Ken war mittlerweile zwischen Schuldigs Beinen auf den Boden gerutscht und die Art und Weise, in der er seinen Kopf in dessen Schoß auf und ab bewegte, ließ keine Zweifel darüber zu, was dort gerade passierte. Yoji lief bei dem Anblick ein heißer Schauer über den Rücken, der direkt zwischen seine Beine schoss. Verdammt, das durfte doch nicht wahr sein! Das war Ken! Mit Schuldig! Er zwang sein Gehirn zu erkennen, dass das kein guter Zeitpunkt war, die Kontrolle über sein Denken an seine Libido abzugeben. Entschieden legte er die Hand über den kleine Bildschirm.

„Ich glaube, wir müssen uns das nicht weiter ansehen. Omi? Alles in Ordnung?“

Der Junge war immer noch blass, wenn man von der leichten Röte um seine Nase herum absah. Yoji konnte es ihm nicht verdenken. Er hätte an Omis Stelle vermutlich genauso reagiert und enthielt sich daher jedes Kommentars. Das Ganze war auch schlimm genug, ohne dass er noch einen seiner üblichen Sprüche brachte.

Omi schob plötzlich Yojis Hand weg. „Lass das. Ich muss die Drohne weiter steuern, sonst stürzt sie ab.“ Er atmete tief durch. „Wir sollten weitermachen. Die Sicherheitsmaßnahmen checken. Ich bewege uns mal um das Gebäude herum.“

 

Die Kamera bewegte sich nun endlich von dem Treiben auf der Terrasse weg weiter in Richtung Haus. Omi zeigte ihnen die beiden Kameras am Eingang, eine weitere am Tor, dass das Grundstück zur Straße abschloss.

„Keine Kameras auf der Rückseite?“, fragte Aya.

Omi schüttelte den Kopf. „Die Seite, die zum Park hin liegt, ist relativ ungeschützt. Ich werde mal weiter ranzoomen, um zu sehen, ob die Fenster gesichert sind.“

Die Drohne näherte sich einem der Fenster im Obergeschoss. Dahinter schien ein Schlafzimmer zu liegen. Die Fenster zeigten keinerlei offensichtliche Sicherheitsmaßnahmen.

„Keine Drähte oder Kabel. Wenn die Rahmen nicht von innen gesichert sind, sehe ich kein Problem, dort einzusteigen.“

„Mal abgesehen davon, dass sich dahinter einer der vier Freaks befinden könnte, bereit uns den Garaus zu machen“, bemerkte Yoji. „Schau mal im Erdgeschoss nach.“

Omi tat, was er vorgeschlagen hatte und ließ die Drohne tiefer fliegen. Es war ein Risiko, weil sie so in Sichtweite der Bewohner kam, aber die waren hoffentlich noch eine Weile beschäftigt.

„Das Fenster dort ist gesichert. Seht ihr das Kontrolllicht?“, flüsterte Omi. Sie bewegten sich ein wenig um den Baum herum, da eine Gruppe von Kindern angelaufen gekommen war, um die Fische im Teich zu füttern, der neben der Weide in der Sonne glitzerte. In dem lauten Geschrei und Gelächter, war es nicht einfach, sich weiter leise zu verständigen. Aya beugte sich zu Omi herüber.

„Was ist hinter diesem Fenster?“

„Mhm“ machte Omi. „Ich weiß es nicht. Es scheint, dass das Fenster verspiegelt ist oder etwas in der Art. Ich bekomme kein klares Bild.“

„Wahrscheinlich die geheime Kommandozentrale“, unkte Yoji. „Dunkle Pläne schmiedet man vermutlich am besten in völliger Finsternis.“

„Vielleicht ist es aber auch nur ein Sonnenschutz“, überlegte Omi. „Wir haben so etwas im Computerlabor in der Schule. Es verhindert, dass zu viel Licht auf die Bildschirme fällt und diese von allen Seiten einsehbar sind.“

„Wie auch immer“, beendete Aya die Diskussion. „Dort kommen wir auf jeden Fall nicht hinein. Was ist mit der Tür?“

Omi ließ die Kamera ein Stück weiterfliegen und brachte die offene Glastür ins Bild. Es war klar erkennbar, dass dort ebenfalls keine besondere Sicherung angebracht war.

„Schwarz scheint sich sehr sicher zu sein, dass ihnen keinerlei Gefahr droht“, murmelte Yoji und sah sich nach der Kinderschar um, die jetzt Anstalten machte, ihnen den Schattenplatz unter dem Baum streitig zu machen. „Kommt, wir verlagern unseren Standpunkt.“

 

Während sie ein Stück am Ufer des Sees entlang gingen, sagte Aya: „Du solltest noch das Waldstück checken, dass sich bis zum Park erstreckt. Wenn dort ebenfalls keinerlei Sicherungen vorhanden sind, werden wir von dort einsteigen.“

„Ist gut“, nickte Omi und wollte schon damit beginnen, als Aya noch etwas hinzufügte.

„Vorher möchte ich aber nochmal ein Bild von der Terrasse haben. Ich will mir etwas ansehen.“

Yoji runzelte die Stirn.

„Bist du dir sicher, dass das sein muss?“, fragte er mit einem Kopfnicken in Omis Richtung. „Ich denke, wir haben genug gesehen. Besonders der Kleine.“

Aya schenkte ihm einen kalten Blick. „Ich bin mir sicher, Omi ist in der Lage, die Bilder mit der nötigen, professionellen Distanz zu betrachten.“ Sein Tonfall machte mehr als deutlich, dass er Yoji das Gleiche nicht zutraute. Yoji verzog das Gesicht bei dem Gedanken, dass Aya damit leider gar nicht so Unrecht hatte. Er schnaubte und kramte eine Zigarette hervor. Wenn er sich schon noch einmal diesem skurrilen Anblick aussetzen musste, brauchte er etwas, um seine Nerven zu beruhigen.

 

Omi steuerte die Drohne gehorsam höher und gab ihnen noch einmal eine Aufnahme der Sitzgruppe im Totalen. Aya starrte auf den Bildschirm, auf dem Schuldig sich gerade entspannt zurücklehnte, und Ken den Kopf hob, um sich mit der Hand über den Mund zu wischen. Yoji schluckte unwillkürlich.

„Bleib mit dem Bild auf Ken“, sagte Aya, die dunkle Stimme vollkommen ruhig, als würde ihn das alles nichts angehen. „Ich brauche ein Komplettbild von ihm.“

Omi stellte an einigen Hebeln herum und brachte ihr Teammitglied in den Mittelpunkt des Bildes. Er erhob sich jetzt und ließ Schuldig aufstehen. Der Mann schloss seine Hose und winkte Ken, ihm zu folgen. Sie ließen den Garten hinter sich und traten ins Haus. Die gläserne Tür schloss sich hinter ihnen und Aya nickte langsam.

„Das dachte ich mir“, sagte er finster.

„Was meinst du?“, wollte Omi wissen und sprach damit aus, was Yoji bereits auf der Zunge brannte.

„Ken bewegt sich anders“, gab Aya kryptisch zur Antwort. Als Yoji und Omi nicht gleich verstanden, fuhr er fort: „Ich kenne Kens Bewegungsablauf. Wir haben oft genug zusammen trainiert. Die Art und Weise, in der er jetzt die Schultern hochzieht und den Kopf nach unten senkt, entspricht nicht dem, wie er sich sonst bewegt. Was immer auch der Grund für das ist, was wir gesehen haben...es ist nicht das, wonach es aussieht.“

„Wonach sieht es denn aus?“, fragte Yoji, obwohl er die Antwort bereits kannte.

„Dass Ken uns verraten hat.“

Die Worte hingen schwer wie eine Gewitterwolke über dem sonnenbeschienenen Teich, in dem träge, orangefarbene Fische ihre Kreise zogen.

„Das würde Ken niemals tun“, sagte Omi nach einer Weile.

„Er hat es bereits getan“, sagte Aya und sie alle wussten, was er meinte. Die Tatsache, dass Ken aufgrund seiner Freundschaft mit Kase ihren Auftrag sabotiert hatte und die Zielperson beinahe entkommen war, war noch nicht lange genug her, um ganz aus den Köpfen verschwunden zu sein.

Aya blickte auf den See hinaus. „Wir alle haben Weiß bereits auf die eine oder andere Weise hintergangen. Es ist...menschlich. Wir alle haben Fehler gemacht. Aber wir haben daraus gelernt. Wir können und müssen aufeinander aufpassen und genau das werden wir auch tun. Wir werden Ken da rausholen und dafür werden wir Hand in Hand arbeiten müssen. Alle zusammen. Wenn wir uns aufteilen, wird Schwarz uns auseinandernehmen. Das hier wird nur gemeinsam funktionieren.“

 

Yoji fluchte, als ihm die Zigarette, die er während Ayas Ansprache nur noch in der Hand gehalten hatte, die Finger versengte. Eilig löschte er den kümmerlichen Stummel und warf ihn in einen Abfalleimer. Die Worte schwangen immer noch in ihm nach. Es stimmte, was Aya gesagt hatte. Weiß war zwar ein Team und doch hatte jeder von ihnen zu einem Zeitpunkt seine eigenen Interessen über die der Gruppe gestellt. Er dachte an Omi, der sich zunächst auf die Seite seiner lange vermissten Familie geschlagen hatte, bevor er sich dazu entschloss, um der Gerechtigkeit willen seine eigenen Brüder zu töten. Er dachte an Aya, der mehr als einmal kurz davor gewesen war, das Team zu verlassen, weil er seine Rache an Takatori an erste Stelle gesetzt hatte. Er dachte daran, wie oft er selbst nachlässig gewesen war und sogar schon Missionen ausgeschlagen hatte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob dies eine Gefahr für die anderen Teammitglieder darstellte. Dass er auf der Suche nach einem Schatten aus der Vergangenheit, alles andere außer Acht gelassen und nur seine eigenen Ziele verfolgt hatte, während die anderen um ihr Leben kämpften. Mit einem ironischen Lächeln dachte er bei sich, dass er vermutlich sogar der Schlimmste von ihnen allen war. Wie konnte er sich in irgendeiner Weise anmaßen, ein Urteil über Ken zu fällen? Ausgerechnet Ken, einer der ehrlichsten und gradlinigsten Menschen, die ihm je begegnet waren. Zumal wenn dieser sich in den Klauen eines durchgeknallten Telepathen befand. Wer wusste schon, was der alles mit ihm angestellt hatte.

 

„Komm“, sagte Aya plötzlich zu ihm und zog ihn am Arm. „Wir müssen zusammenpacken.“ Er sah Yoji kurz ins Gesicht. „Alles in Ordnung?“

Yoji zwang sich zu einem Lächeln. „Ja klar, alles ok. Ich...deine Rede war sehr ergreifend.“

Aya machte ein abfälliges Geräusch und ließ ihn los, um zur Picknickdecke zurückzugehen. Yoji holte ihn ein und schlang die Arme um ihn. Er sah Aya direkt in die Augen und sagte:

„Du verdienst etwas viel Besseres als mich, weißt du das?“

Aya runzelte die Stirn. „Du meinst jemand mit Verantwortungsgefühl und gesundem Menschenverstand, der morgens pünktlich aufsteht, sein Zimmer aufräumt, nicht raucht oder trinkt, nicht mit allem flirtet, was ihm vor die Nase kommt, und nicht bei allem und jedem gleich an Sex denkt? Und der vor allem in der Lage ist, sich auf eine Mission zu konzentrieren, wenn es notwendig ist? So jemand?“

Yoji schrumpfte in sich zusammen, ließ den anderen los und steckte die Hände in die Hosentaschen. Aya musterte ihn mit einem abwartenden Gesichtsausdruck. Yoji zog es vor, nicht auf die hoffentlich eher rhetorisch gemeinte Frage zu antworten.

„Ich glaube nicht, dass das funktioniert hätte“, stellte Aya schließlich sachlich fest.

Yoji blinzelte überrascht. „Was meinst du damit?“

„Jeden anderen vernünftigen Menschen hätte ich schon mit Leichtigkeit vertrieben.“

 

Mit diesen Worten drehte sich Aya herum und entschwebte auf klackernden Getas in Richtung Picknickdecke. Yoji sah ihm nach und konnte nicht verhindern, dass ein breites Grinsen seines Gesichts bemächtigte. Das, was Aya gesagt hatte, mochte für ihn nicht viel mehr als die Wahrheit sein. Eine nüchterne Betrachtung von Tatsachen. Trotzdem erfüllte es Yoji mit einer seltsam Befriedigung. Er - und nur er - hatte es also geschafft. Hatte bekommen, was anderen verwehrt geblieben war. Und, wenn er ehrlich war, hatte er nicht vor, das in nächster Zeit wieder herzugeben. Er wollte mehr. Mehr von Aya. Mehr von dem, was sie miteinander hatten. Diese Erkenntnis fühlte sich gut an und ließ ihn einen gedanklichen Haken an die unausgesprochene Frage machen, die ihn seit einiger Zeit unbewusst beschäftigte. Die andere Seite? Nun, das konnte warten. Musste warten. Wenn es soweit war, würde er eine Antwort auf die nächste, brennende Frage bekommen, die sich aus der ersten ergab. Die Frage, ob das Interesse auf Gegenseitigkeit beruhte. Bis dahin jedoch gab es eine Mission, die sie zu erfüllen hatten, und er würde verdammt nochmal alles daran setzen, sie zu einem Erfolg zu machen.

 

 

 

 

„Komm Omi, beeil dich“, zischte Yoji aus der geöffneten Seitentür des Lieferwagens heraus. „Wir sollten hier nicht allzu lange herumstehen.“

„Dann bring die Sprenglandung doch selber an“, murmelte Omi und fluchte, als er sich an einem Stück Metall verletzte, das scharf von der Seite des Transformatorhäuschens abstand. Er hatte die Tür mit Leichtigkeit geknackt und stand jetzt vor einem Gewirr aus Schalttafeln, Kabeln und Anschlüssen. Mit dem Finger folgte er der Leitung, die er lahmlegen wollte, und fand endlich einen geeigneten Punkt, um die kleine Bombe zu platzieren, die einen Teil der Leitungen zerfetzen würde. Er stellte den Timer ein und schloss die Tür wieder.

„So fertig“, rief er, als er neben Yoji in den hinteren Teil des Wagens sprang. „Wir können fahren.“

Yoji klopfte zweimal gegen die Rückwand des Wagens und schon sprang der Motor an. Omi steckte den verletzten Finger in den Mund und schmeckte den metallischen Blutgeschmack auf der Zunge. Es erschien ihm eigenartig passend für das, was sie vorhatten. Er ließ sich auf den Boden des Lieferwagens sinken und atmete den schweren Geruch von Schmieröl und ungewaschenen Körpern ein, der in den Wänden des Lieferwagens zu sitzen schien wie ein klebriger Film. Sie hatten nicht wählerisch sein können, als es darum ging, ein passendes Fahrzeug auszusuchen.

 

„Alles okay?“, fragte Yoji. Er trug ebenso wie Omi einen grauen Overall über seiner Missionskleidung und hatte einen gelben Helm neben sich auf den Boden gelegt. Es war nicht die beste Tarnung, hatte aber genügt, um ihre Gesichter bei dem kurzen Aufenthalt auf der Straße vor den Überwachungskameras zu verbergen. Mit leichter Abscheu bemerkte Omi, dass auch der Anzug, den er trug, irgendwie unangenehm roch. Vermutlich hatte er einfach das Odeur des Fahrzeugs angenommen. Oder das seinen eigentlichen Besitzers.

„Ja, nur ein Kratzer“, antwortete er Yoji endlich. „Wir haben 20 Minuten, um zum Haus zu kommen, dann geht die Ladung hoch.“

Der älteste Weiß nickte nur und spielte abwesend mit dem Feuerzeug in seinen Händen. Omi wusste, dass er nur zu gerne eine geraucht hätte, aber mit der Menge an Sprengstoff, die sie bei sich hatten, verbot sich das von selber. Er betrachtete den Rucksack, in der die mit Fernzündern versehenen Sprengsätze lagerten. Jeder von ihnen hatte einen Funksender dabei und konnte im Fall der Fälle die Explosion auslösen.

 

Nachdem er in dem kleinen Waldstück doch noch etliche Kameras entdeckt hatte, hatten sie ihren Plan ein wenig abändern müssen. Die Kameras an sich waren zwar unabhängig von jeder Stromversorgung, aber die Überwachungsmonitore befanden sich mit ziemlicher Sicherheit im Haus. Ein Stromausfall sollte diese zielsicher lahmlegen. Selbst wenn dem nicht so war, würde ein Neustart des Systems nach Anspringen eines eventuell vorhandenen Notaggregats ihnen genug Zeit verschaffen, sich dem Haus zu nähern. Zumindest hoffte Omi, dass es so war.

 

Der Wagen hielt und Omi setzte seinen Helm wieder auf. Yoji öffnete die Tür und sprang auf die Straße. Omi reichte ihm den Rucksack mit dem Sprengstoff und kletterte hinterher. Während Aya noch aus dem Wagen stieg, war Omi bereits an dem kleinen Seitentor angelangt, durch die sie in den Park kommen würden. Binnen weniger Augenblicke hatte er das Schloss geknackt und das eiserne Gitter schwang lautlos nach innen auf. Mit einem letzten Blick auf den zurückgelassenen Lieferwagen schlüpfte Omi hindurch und ließ sich von der Dunkelheit hinter der Mauer verschlucken.

 

 

 

 

Schuldig lehnte sich zurück und ließ die Musik und die reißerische Stimme aus dem Fernseher über sich hinweggleiten wie Wasser über einen Meeresstrand. Ihn interessierte nicht der Fernseher oder die Show, die dort gerade lief. Viel interessanter war es den Gedanken seines Kätzchens zu lauschen, das einsam und allein im Keller lag und sich nach ihm verzehrte. Fast bereute er an dieser Stelle, dass er sich die Arbeit mit ihm vielleicht doch ein kleines bisschen zu einfach gemacht hatte. Wenn er sich richtig Mühe gegeben hätte, hätte er ihn wahrscheinlich sogar ohne viel Einsatz seiner Fähigkeiten herumbekommen. Aber Schuldig war mehr an Resultaten interessiert und warum nicht nutzen, was ihm die Natur so großzügig mitgegeben hatte. Zumal sich so eine faszinierende Hintergrundmusik in den Gedanken seines willigen Opfers ergab. Einerseits absolute Hingabe und den Wunsch, Schuldig zu gefallen, andererseits tiefe Verzweiflung und Hilflosigkeit gegenüber dem eigenen Tun. Eine köstliche Mischung, die ihn gleichermaßen befriedigte und erregte.

 

Geistesabwesend strich er sich durch die Haare und überlegte, was er heute wohl noch alles mit ihm anstellen sollte. Immerhin hatte er das Haus fast für sich. Nagi war oben in seinem Zimmer und grollte nach ihrem Streit vor sich hin und Farfarello hockte still hinter der Couch, die seltenen Gedanken, die Schuldig von ihm auffing, abwesend und träge. Was Crawford anging, so hatte dieser Schuldig heute überrascht, als er ohne eine große Erklärung verschwunden war. Das hieß, er hatte eine Erklärung geliefert, aber keine, die ihm Schuldig abnahm. Er grinste freudlos. Sollte ihm doch egal sein, wo der Amerikaner sich herumtrieb, solange er seinen Spaß hatte. Trotzdem war die Szene, die sich vor einer knappen Stunde abgespielt hatte, mehr als eigenartig gewesen.

 

 

 

Als Schuldig den Flur betrat, stand Crawford vor dem Spiegel. Er richtete seine Krawatte und griff nach seinem Mantel.

Wo willst du hin?“, fragte Schuldig und lehnte sich gegen die Tür, während er den anderen Mann beobachtete.

Aus“, war die knappe Antwort.

Aus?“ Schuldigs Augenbrauen wanderten nach oben. „Aus? So wie in Ausgehen und Spaß haben?“

Ja.“ Crawford wandte sich ihm mit einem fragenden Gesichtsausdruck zu. „Ist das ein Problem?“

Du gehst nie aus“, stellte Schuldig fest und seine Augen wurden schmal. „Mit wem?“

Allein.“

Kein Geschäftsessen, kein Rendezvous und der große Oracle geht einfach so aus?“ Schuldig schnaubte abfällig. „Ich glaube dir kein Wort.“

Dann lass es bleiben. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.“ Crawfords Miene war unbewegt. Abwartend. Vollkommen indifferent. Es machte Schuldig wahnsinnig.

Fein!“, schnappte er und warf die Arme in die Luft. „Geh aus und amüsier dich. Ich bleibe hier und...“ Er unterbrach sich, als ihm einfiel, dass er hier zu Hause auch eine Menge Spaß haben konnte. Sein Lächeln wurde breiter und irgendwie beängstigend.

...passe auf das Haus auf“, beendete er den Satz.

Tu das“, gab Crawford zurück und nahm seinen Autoschlüssel. „Ich wünsche dir eine angenehme Nacht.“

Die werde ich haben“, grinste Schuldig und sah sich nicht einmal mehr um, als die Tür hinter seinem Kollegen ins Schloss fiel. Leise summend lief er die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Diese Nacht versprach interessant zu werden.

 

 

Jetzt saß er hier und sah fern.

„Tss“, machte er und lachte ein wenig über sich selbst. Hieß es nicht, dass das auch eine Gabe war? Er lehnte sich in den weichen Kissen nach hinten und streckte sich, als ihm plötzlich ein Geruch in die Nase stieg. Süßlich schwer und gleichzeitig scharf und metallisch. Er kannte diesen Geruch gut. Den Geruch von Blut.

Mit einem Satz war er vom Sofa aufgesprungen und über die Lehne gehechtet. Vor ihm saß Farfarello inmitten einer roten Lache, der linke Arm das reinste Schlachtfeld.

„Was tust du denn da?“, rief Schuldig aus. „Bist du wahnsinnig? Noch dazu im Wohnzimmer! Jesusmariaundjosefherrimhimmel!“

Farfarellos Lippen formten sich zu einem dünnen Lächeln. „Du verunglimpfst den Namen des Herrn.“

„Als wenn du auf einmal Deutsch könntest“, knurrte Schuldig.

„Ein bisschen“, antwortete Farfarello.

Schuldig verzog gequält das Gesicht und rieb sich die Schläfen. „Bleib da sitzen, ich hole ein Handtuch. Weißt du, was ich wieder für Ärger kriege, weil du hier so was abziehst? Warum überhaupt? Wenn dir langweilig ist, geh in den Keller.“

„Was sollte ich dort?“

„Keine Ahnung. Spiel mit dem Kätzchen.

 

Schuldig ging in die Küche und kam mit einem Handtuch zurück. Er wickelte es um Farfarellos Arm, der ihn stumm musterte. Die Gedanken, die er empfing, drehten sich um Schuld und Sünde.

Farfarello murmelte ein Wort. „Saligia.“

Schuldig beachtete ihn nicht und begann, am Teppich herumzuwischen. Als er einsah, dass er den Schaden nur noch verschlimmerte, warf er das zweite Handtuch einfach auf den Boden. Farfarello betrachtete ihn teilnahmslos.

„Saliglia“, wiederholte er, als sei es etwas, das Schuldig etwas sagen müsste.

„Wenn du hier mit deinen Fremdsprachenkünsten glänzen willst, kannst du dir die Mühe sparen. Schaff deinen faulen Hintern lieber in den Keller, wir müssen das verbinden. Ich...“

Was er noch hatte sagen wollen, blieb ungehört, als plötzlich das Licht verlöschte. Der Fernseher verstummte mit einem leisen Plopp und auf dem Bildschirm blieb der Umriss des Showmasters noch einen Augenblick lang sichtbar, bis auch er verblasste und nur noch ein mattes Nachglühen übrig blieb.

„Ach fuck!“, bediente Schuldig sich jetzt der nächsten Sprache, um zu fluchen. „Dieses dämliche Land geht mir auf die Eier. Nicht mal in einer Großstadt ist man vor diesen unsäglichen Stromausfällen sicher.“

Er schlug sich leicht mit der Faust vor die Stirn und dachte nach. „Also gut. Du bleibst hier sitzen, bis ich das Verbandszeug geholt habe. Bis dahin ist das Licht hoffentlich wieder an. Und wage es ja nicht, dich hier wegzubewegen. Es reicht, wenn ein Teil des Teppichs ruiniert ist. Crawford wird mir wegen der Kosten wieder mal die Hölle heiß machen. Er machte ihm Dunkeln Farfarellos weiße Zähne aus, als dieser lächelte.

„Saliglia“, wiederholte er zum dritten Mal und Schuldig zeigte ihm nur den Mittelfinger, während er aus dem Wohnzimmer in Richtung Keller strebte. Sollte der Ire ruhig noch ein bisschen vor sich hin bluten. Das beruhigte ihn wenigstens.

Schuldig grinste plötzlich, als ihm etwas einfiel. „Ist der Teppich erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.“

Leise vor sich hin pfeifend öffnete er die Kellertür und stieg langsam die Stufen hinab. Mal sehen, ob das Kätzchen Angst im Dunkeln hatte.

 

 

 

Farfarello blieb alleine im Wohnzimmer zurück. Er legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Seine Lippen bewegten sich fast unmerklich, während er die lateinischen Worte vor sich hin murmelte. „Superbia, Avaritia, Luxuria, Ira, Gula, Invidia, Acedia.“

Er hatte gesündigt. Sie alle hatten gesündigt. Waren den schlimmsten aller Untugenden verfallen, ein jeder auf seine Weise. Nur eine hatte bisher gefehlt. Invidia. Der Neid.

„Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut, sein Haus, seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind, seinen Esel, noch sonst irgendetwas, das deinem Nächsten gehört“, rezitierte er und lachte leise.

Bisher hatte keiner von ihnen etwas begehrt, das jemand anderem gehörte. Es gab von allem genug und im Überfluss. Bis jetzt. Bis Schuldig ihm einen würdigen Gegner versprochen und diesen dann für sich selbst beansprucht hatte. Er hatte ihn nicht gebrochen, aber ihm die Krallen geschnitten, ihn gezähmt und an die Leine gelegt. Durch dieses Wirken hatte der Neid vom Farfarello Besitz ergriffen. Es gefiel ihm nicht, was Schuldig getan hatte. Farfarello hatte angenommen, dass er sich das Versprochene zurückholen konnte, aber Schuldigs Einfluss war bereits zu groß gewesen. Es hatte nicht funktioniert. So gab es im Grunde nur noch eine Möglichkeit, dem anderen zu nehmen, was er für sich selbst haben wollte und nicht mehr bekommen konnte. Ein schwacher Trost, in dem wenig Befriedigung lag. Einen Wehrlosen zu töten, machte nicht so viel Spaß wie einen richtigen Gegner.

 

 

Ein Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit. Es war leise, fast nicht hörbar, aber seine Ohren waren die eines Jägers. Er spürte, dass dort draußen jemand war. Langsam stand er auf, ging zu der großen Glastür und öffnete sie. Auf der anderen Seite wartete die Dunkelheit und rief ihn. Die Dunkelheit war sein Freund. Sie verbarg ihn vor neugierigen Augen, bis er so nahe war, dass er ihre Angst riechen, ihre Furcht schmecken konnte. Aber das dort draußen waren keine ängstlichen Opfer. Ihre Schritte waren zu sicher, ihre Bewegungen zielgerichtet. Diese dort draußen waren gekommen, um selbst zu jagen.

 

Farfarello warf einen Blick zurück. Hinter ihm lag die Sicherheit des Hauses, trügerisch und heimtückisch versprach sie, was nicht da war. Heute Nacht war niemand sicher. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck öffnete er die Tür noch ein Stück weiter und schlüpfte in den dunklen Garten hinaus.

Mit leisen, kurzen Schritten huschte er durch das Gras und hielt am Springbrunnen an. Das Wasser plätscherte nicht, der Stromausfall hatte die Pumpe lahmgelegt. Er tunkte zwei Finger in das Wasser, wohl wissend, dass er es mit seinem Blut verunreinigte. Er fuhr mit den feuchten Fingern über die Stirn, den Mund und die Brust.

„Vergib mir Vater, denn ich habe gesündigt“, flüsterte er und zog seinen Dolch.

 

 

 

 

 

Ein Zweig knackte unter seinem Fuß. Omi gefror in der Bewegung und wartete ab, ob eine Reaktion erfolgte. Als sich nichts in seinem Sichtbereich bewegte, trat er endgültig an den Zaun heran, der das Grundstück vom Park abtrennte, und zog eine Drahtschere heraus. Mit knappen, effektiven Bewegungen trennte er ein Loch in das metallene Gitter. Seine Augen ruhten auf den erleuchteten Fenstern. Er sah auf die Uhr und zählte die letzten Sekunden. Das schwache Geräusch einer Explosion war zu hören, dann verlöschten die Lichter der umliegenden Straßenzüge. Für einen kurzen Moment trat vollkommene Stille ein, so als hielte die Welt den Atem an.

„Wir sind drin“, wisperte er nach hinten, wo Aya und Yoji im Schutz der Bäume warteten.

Er zwängte sich durch die Lücke im Zaun und wartete nicht ab, bis die beiden ihm gefolgt waren. Stattdessen schulterte er den Rucksack mit den Sprengsätzen und bewegte sich zielsicher auf das Haus zu. Sie hatten unter Umständen nicht viel Zeit und Omi wollte alles davon nutzen. Als er an dem Springbrunnen vorbeieilen wollte, schoss plötzlich eine Gestalt auf ihn zu, warf ihn zu Boden und drückte eine Klinge an seinen Hals. Über ihm hockte ein drahtiger Mann mit kurzen, hellen Haaren und einer Augenklappe. Farfarello!

„Sie an“, gurrte er. „Ein Weiß. Hast du noch mehr von deinen Freunden mitgebracht?“

„Hat er“, konnte Omi Ayas tiefe Stimme irgendwo über seinem Kopf vernehmen. „Lass ihn los.“

„Warum sollte ich?“, fragte Farfarello.

„Weil wir dich töten, wenn du es nicht tust“, antwortete Yoji und Omi konnte das sirrende Geräusch hören, mit dem sein Draht durch die Luft flog. Farfarello reagierte sofort, sprang rückwärts und das dünne Metall flog über Omi hinweg, ohne sein Ziel zu treffen. Farfarello fauchte und Omi nutzte die Gelegenheit, um sich rückwärts in Sicherheit zu bringen. Er überlegte fieberhaft. Dieses Hindernis brachte ihren Zeitplan durcheinander. Er musste improvisieren.

„Balinese, die Kameras.“

„Verstanden, Ich kümmere mich darum.“

Er hörte Schritte, dich sich entfernten.

 

Farfarello stand immer noch zwischen ihnen und dem Gebäude. Wenn sie hineingelangen wollten, mussten sie wohl oder übel an ihm vorbei. Der Mann legte den Kopf schief. Er schien zu überlegen.

„Ihr seid gekommen, um das andere Kätzchen zu befreien“, stellte er fest.

„Und um euch zu töten“, ergänzte Aya. Er stellte sich neben Omi, das Katana in seiner Hand glänzte im schwachen Mondschein. Farfarello hob grüßend den Dolch.

„Eine gute Herausforderung“, sagte er, bevor er plötzliche innehielt und zum Haus zurück sah. Als Aya die vermeintliche Lücke in Farfarellos Deckung ausnutzen wollte, hielt Omi ihn zurück. Er legte die Hand auf Ayas Arm und schüttelte den Kopf. Er konnte dessen wütenden Blick förmlich auf sich spüren, aber sein Gefühl sagte ihm, dass sie warten sollten. Irgendetwas geschah gerade. Etwas Wichtiges.

 

Die Augenblicke dehnten sich bis zur Unendlichkeit. Leise Geräusche zeugten davon, dass Yoji die Kameras beseitigt hatte und auf dem Rückweg war. Omi kribbelten die Finger, er legte sie um einen Dart. Es war eines der Projektile, deren Spitze er in Gift getaucht hatte. Er wusste nicht, inwieweit Farfarello das beeinflussen würde, aber es war einen Versuch wert.

 

Der hagere Mann drehte sich wieder zu ihnen herum. Auf seinem Gesicht lag ein beinahe friedlicher Ausdruck. Er lächelte.

„Invidia“, flüsterte er und sein einzelnes Auge glomm im Dunkeln auf. „Geht. Findet euren Freund. Ich lasse euch heute am Leben.“

Mit diesen Worten steckte er das Messer ein, drehte sich um und trabte in die Dunkelheit davon. Nach wenigen Metern wurde die schmale Gestalt von den Schatten aufgesogen und ließ Omi mit einer Gänsehaut zurück. Er schluckte und sah Aya an. Der zuckte mit den Schultern.

„Der Weg ist frei. Lasst uns reingehen.“

Omi nickte langsam. „Ich bringe eben noch die Sprengsätze an, dann komme ich nach. Sollte nicht lange dauern.“

Aya gab Yoji ein Zeichen und sie näherten sich der Tür, die ins Innere führte. Omi atmete tief durch und griff nach dem Rucksack. Der raue Stoff unter seinen Händen und das vertraute Gewicht gaben ihm die Sicherheit zurück, die er brauchte. Schnell und präzise verteilte er die Sprengladungen, bevor er den anderen beiden in das dunkle Haus folgte.

 

 

 

 

Abyssinians Augen hatten sich schnell an die Dunkelheit angepasst. Er passierte den Wohnbereich des Zimmers und warf einen Blick in die Küche. Der Teil des Raums war ebenfalls leer. Er gab Balinese ein Zeichen und der bewegte sich lautlos zur Tür. Sie öffnete sich in einen Flurbereich, der durch das einfallende Mondlicht schemenhaft beleuchtet wurde. Balinese wies mit einem fragenden Blick auf die Treppe. Abyssinian schüttelte den Kopf. Er hatte die dunkle Öffnung in der Wand darunter entdeckt. Ein Gefühl sagte ihm, dass sie nach unten mussten. Wenn Schwarz Ken irgendwo versteckt hielt, dann sicherlich im Keller. Es behagte ihm nicht, dass sie nur so wenig Kenntnis über die Räumlichkeiten hatten. Sie hatten Bilder von einem ähnlichen Haus gesehen, dass der Anbieter vermietete, aber über das Kellergeschoss hatte dieser keine Auskunft enthalten. Sie waren blind, wenn sie dort hinunter gingen.

Er wies mit zwei Fingern auf die Tür und Balinese nickte. Seine Hand wanderte zu seinem Handgelenk und zog den dünnen Draht heraus, um im Falle eines Angriffs bereit zu sein. Abyssinian gab ihm ein Zeichen und sie näherten sich zu zweit der Treppe. Ein Rascheln hinter ihm ließ ihn herum wirbeln. Bombay stand in der Tür. Er hielt einen Daumen nach oben. Die Sprengladungen waren platziert. Er gab dem Jüngsten ein Zeichen, am Eingang der Treppe stehen zu bleiben, und schob sich an Balinese vorbei in die dunkle Tiefe.

Seine Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Er sah praktisch nichts. Vor ihm nur uferlose Finsternis. Jeden Moment konnte ein Angriff erfolgen. Er hielt das Katana nahe am Körper, die Spitze auf einen möglichen Angreifer gerichtet. Er spürte die Stufen unter seinen Füßen enden und trat einen Schritt zur Seite, um Balinese neben sich zu lassen. Dann stand er da und lauschte. Da waren Geräusche. Leise, unterdrückt. Was war das? Er blickte sich nach seinem Partner um und konnte seine Umrisse fast gar nicht erkennen. So konnten sie sich nicht koordinieren, es sei denn, sie sprachen miteinander. Das jedoch würde einen möglichen Gegner auf sie aufmerksam machen. Der Überraschungseffekt wäre dahin.

 

„Sehr richtig, Abyssinian. Dumm nur, wenn euer Gegner euch gar nicht hören muss, nicht wahr?“

'Schuldig!'

„Sehr richtig. Ich würde vorschlagen, ihr lasst eure Waffen fallen, sonst muss ich euch leider erschießen.“

Die Stimme kam von irgendwo vor ihnen. Distanz etwa acht Meter. Unter seinen Füßen gefliester Boden, ein breiter Gang der Akustik nach zu urteilen. Schuldig musste irgendwo an dessen Ende stehen. Aya hörte ein unterdrücktes Geräusch. Jemand atmete heftig.

„Ken?“ Balineses Stimme war dumpf in der Dunkelheit.

„Ja, er ist bei mir. Und wenn ihr brav seid, passiert ihm auch nichts. Also los, Kätzchen, Waffen fallen lassen.“

Balinese drehte den Kopf zu ihm herum. Er fühlte die Bewegung mehr, als dass er sie sah. Seine Augen wurden schmal. Irgendwas stimmte hier nicht.

„Ich sagte, Waffen fallen lassen!“ Schuldig klang ärgerlich. Warum? Welchen Grund konnte er haben, so darauf zu bestehen, dass sie unbewaffnet waren. Es sei denn...

„Er blufft“, sagte Abyssinian plötzlich. „Er hat keine Waffe.“

„Willst du das tatsächlich riskieren?“, war die spöttische Antwort aus der Dunkelheit. „Außerdem denkst du doch nicht wirklich, dass ich eine Waffe brauche, um jemanden zu töten, oder?“

Er überlegte. Vermutlich brauchte Schuldig das nicht. Er traute dem Mann durchaus zu, Ken das Genick zu brechen. Aber im Grunde genommen war das auch egal. Er war gekommen, um sie beide zu töten. Was für einen Unterschied machte es also, ob er oder Schuldig Ken ins Jenseits beförderten.

„Was?“, kam aus der Dunkelheit. Er registrierte mit Befriedigung, dass Schuldig hörbar mit ihnen sprach, statt in seinem Kopf herumzuspuken. Ihr Plan schien aufzugehen.

„Du willst mir also weismachen, dass ihr hergekommen seid, um uns beide umzubringen? Für wie dumm hältst du mich, Abyssinian? Ich wollte dir ja eigentlich gratulieren, dass ihr es bis hierhin geschafft habt, aber du beleidigst meine Intelligenz.“

„Tue ich das?“, antwortete Abyssinian ruhig. „Weiß ist kein Rettungsteam. War es nie. Wir sind ausgebildet worden, um Ziele zu eliminieren. Darum sind wir hier.“

„Du lügst“, kam von Schuldig zurück. „Ich habe genau gehört, dass du dich gefragt hast, ob es deinem Freund gut geht. Los, Ken, sag was dazu.“

„Aya? Yoji?“ Ken Stimme war dünn und zitterig in der Dunkelheit. Er hatte gehört, was Abyssinian vorhatte. Ganz offensichtlich hatte er Angst.

„Mir scheint, dass du was verwechselt hast, Schuldig“, mischte sich jetzt Balinese ein. „Das mit dem retten wollen war wohl ich. Tut mir leid, wenn dich das verwirrt hat. Ich würde Ken ja gerne erst eine Erklärung abgeben lassen, wie es dazu kam, dass er mit dem Feind kollaborierte.“

„Mir hingegen ist das alles egal“, ließ sich jetzt Bombay von der Treppe vernehmen. „Ich denke, ich werde einfach das ganze Gebäude in die Luft jagen. Dann war es das mit Weiß und Schwarz.Uns wird man ersetzen können und unser Tod ist ein geringer Preis, wenn dafür die Welt von euch befreit wird.“

 

Abyssinan hörte die verräterischen Laute aus der Dunkelheit vor sich. Ein kaum wahrnehmbares Scharren, als Schuldig das Gewicht verlagerte. Bewegungen, die seinen kurz darauf folgten. Dem Echo nach zu urteilen, musste er in der Mitte des Gangs stehen, Ken vermutlich vor sich gestellt. Wenn er vorstürmte und mit dem Katana ausholte, würde er mit Glück seine beiden Gegner mit einem Streich erledigen können. Oder er erwischte zuerst Ken und würde dann Schuldig mit dem nächsten Schlag erwischen, da dieser sich nicht schnell genug bewegen konnte in den beengten, räumlichen Verhältnissen. Das Ergebnis war das Gleiche. Primärziel und Verräter eliminiert. Mission abgeschlossen.

 

Ein Zischen kam aus der Dunkelheit. „Gar nicht schlecht. Ich sollte euch gratulieren, dass ihr so schlau gewesen seid. Drei verschiedene Pläne auszuarbeiten, damit wir nicht herausfinden, welcher der richtige ist. Clever, die Kätzchen. Aber nicht clever genug. Ich weiß, dass ihr nicht hergekommen seid, um Selbstmord zu begehen, obwohl man das fast annehmen könnte, wenn ihr es wagt, euch hier einzuschleichen. Wir werden euch im Handumdrehen erledigen.“

„Was wird das jetzt, Schuldig?", fragte Balinese spöttisch. „Die Stelle im Film, an dem der Bösewicht eine endlos lange Rede hält, bis der Held genug Zeit hatte, ihn zu übertölpeln? Nur dass es dieses Mal umgekehrt ist? Du versuchst doch nur, Zeit zu schinden. Vor allem wüsste ich nicht, wer mit wir gemeint sein soll. Farfarello hat sich vorhin gerade aus dem Staub gemacht. Auf seine Hilfe kannst du nicht mehr zählen.“

„Aber um ganz sicher zu gehen, denke ich, dass wir uns einfach mal von der obersten Etage verabschieden sollten“, sagte Bombay und man konnte ein Schnappen hören, als er den Sicherheitsriegel vom Auslöser entfernte. „Sag 'Auf Wiedersehen' zum Rest von Schwarz.“

Es klickte und Sekunden später waren weit über ihnen drei Explosionen zu hören.

 

 

 

 

 

Das Schild war an Ort und Stelle, noch bevor er die Augen geöffnet hatte, noch bevor sein Bewusstsein wirklich das Stadium des Traums verlassen hatte, in dem er sich gerade befunden hatte. Es war ein Reflex, lange genug antrainiert, um in diesem Augenblick an Ort und Stelle zu treten. Die Wucht der Explosion schleuderte ihn in einer Wolke von Trümmern und Splittern durch den Raum, der keiner mehr war, und warf ihn über die ehemalige Mauer in die Tiefe. Der Moment der Schwerelosigkeit reichte, um seine Konzentration zu brechen. Er kam hart und ungeschützt auf dem Boden auf. Instinktiv zog er die Barriere neu, als Steine und brennende Holzteile von oben auf ihn herabregneten. Der Schild zitterte und wankte. Sein Kopf dröhnte vom Lärm der Explosion, in seinem Ohr nur ein taubes Fiepen. Staub nahm ihm die Sicht und hüllte ihn ein wie ein Leichentuch. Über ihm ein Geräusch, ein ächzendes Stöhnen, als das Dach des Hauses nachgab und in die Tiefe rutschte.

Strauchelnd kam er auf die Füße, hustete, taumelte vorwärts. Er war sich nicht sicher, ob er den Aufprall eines so großen Objekts würde abfangen können. Etwas Scharfes schnitt in seinen Knöchel, eine zerbrochene Fensterscheibe ragte wie ein aus dem Boden wachsendes Messer in die Höhe und spiegelte die aufkommenden Flammen. Er unterdrückte einen Schmerzenslaut und humpelte weiter, bis er ein gutes Stück weit vom Haus zusammen brach. Mit letzter Kraft rollte er sich auf den Rücken und starrte auf die Reste dessen, was bis vor ein paar Sekunden noch sein Zuhause gewesen war. Die gesamte obere Etage war wie weggeblasen, das Dach an einer Seite zu Boden gerutscht und bizarrerweise noch relativ unberührt. Die untere Etage stand ebenfalls noch, auch wenn Nagi nicht auf die Tragfähigkeit der Decken gesetzt hätte.

 

Er atmete heftig. Wie oft hatten sie ihn dafür trainiert? Ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Wie oft hatte er Schläge kassiert, weil er nicht schnell genug reagiert hatte. Hatte sich vor Schmerzen krümmend auf dem Boden gelegen, während ihn sein Ausbilder anschrie, dass er jederzeit bereit sein müsse, bevor er ihn weggezerrt und für Tage ins Dunkle gesperrt hatte. So hatte er gelernt, was ihm gerade das Leben gerettet hatte. Ein bitteres Lachen lag in seiner Kehle und wollte nicht herauskommen. Er fühlte sich, als müsse er sich übergeben.

Mit Mühe stemmte er sich in die Höhe und stand nun schwankend und bebend vor der in eine Staubwolke gehüllte Halbruine. Alles, was er besessen hatte, war gerade in die Luft geflogen. Die mühsam aufgebaute Sicherheit hatte sich in ein qualmendes Nichts aufgelöst. Er fühlte eine unbeschreibliche Wut in sich aufsteigen. Wer hatte es gewagt, ihm das anzutun? War hatte es geschafft, alle seine Sicherheitsmaßnehmen zu umgehen? WER?

 

Eine Bewegung in seinem Augenwinkel ließ ihn herumfahren. Etwas blinkte und flackerte. Die Straßenlaterne auf der anderen Seite der Mauer erwachte gerade wieder zum Leben. Warum war sie ausgefallen? Er blickte zum Hause und sah, wie auch die Beleuchtung im Haus wieder anging. Crawford hatte ihn das Haus mit vielen, unabhängigen Stromkreisen versehen lassen, nachdem Farfarello ein paar Mal das Computersystem zum Absturz gebracht hatte, weil er irgendetwas Spitzes in eine Steckdose gerammt hatte.

Der Anblick des halben Hauses, dessen untere Etage beleuchtet und bewohnt aussah, war absurd. Eine Obszönität, die seiner Wut neue Nahrung gab. Er wusste plötzlich, wer dafür verantwortlich war. Weiß war hier. Sie waren gekommen, um Ken zu holen. Diesen elenden Verräter, den Schuldig hier angeschleppt und zu seinem persönlichen Schoßtier erkoren hatte. Er hatte ihn nicht, wie Nagi gehofft hatte, gefoltert, sondern ihn stattdessen ins Haus gebracht. In sein Heim! Den Bereich, in dem Nagi sich sicher fühlen konnte. Er konnte ihm das nicht verzeihen. Schuldig hatte eine Grenze überschritten. Er hatte ihn verspottet, ausgelacht und angegriffen!

Crawford hatte ihm versprochen, dass es hier anders werden würde. Dass er ein vollwertiger Teil des Teams sei, dass er sich lediglich an die Regeln halten müsse, die Crawford ihm vorgab. Dass die ständigen, ermüdenden Kämpfe, das sich immer wieder beweisen müssen, die ständige Angst vor Angriffen vorbei sei. Und Schuldig hatte diese Sicherheit verletzt, hatte die Regeln gebrochen, hatte einmal zu viel auf alles gespuckt, was Nagi wichtig war.

 

Er fühlte es eher, als das er es hörte. Schuldig versuchte, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er war also noch im Haus und Weiß war bei ihm. Er brauchte Hilfe? Nagi lächelte böse und kappte die Verbindung. Setzte seine mentalen Schilde mit der Endgültigkeit einer zuschlagenden Panzertür. Der Telepath konnte bleiben, wo der Pfeffer wuchs. Er wollte mit den Kätzchen spielen? Dann sollte er das tun. Obwohl...

Nagi sah auf das Haus und ein Gedanke begann sich zu formen. Was, wenn er die Gelegenheit nutzte, um den unausstehlichen Deutschen endgültig loszuwerden? Niemand würde es merken. Er konnte Weiß die Schuld dafür in die Schuhe schieben und sie dabei gleich noch mit erledigen. Das Licht spiegelte sich in seinen Augen, die dunkel wurden, als er die Hände ausstreckte, um zu beenden, was die Explosionen angefangen hatten. Er wand seine Kräfte um die tragenden Wände und spannte sich an, um sie zum Einsturz zu bringen. Es war schwer, schwerer als er gedacht hatte. In seinen Ohren fiepte es immer noch und sein Knöchel schmerzte. Er griff tief hinein und versuchte den Hass, den er in sich trug, zu mobilisieren. Langsam aber stetig nahmen die Kräfte zu. Die Wände begannen zu zittern, Fensterscheiben vibrierten, etwas knirschte und knackte, bewegte sich. Gleich. Gleich hatte er es geschafft. Dann würde die zusammenbrechende Ruine seine Probleme ein für alle Mal unter sich begraben.

Er spannte sich ein letztes Mal an und ein zufriedener Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Sayonara, Schuldig!“

 

„Es reicht, Nagi“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Er erschrak, die Kräfte glitten ihm aus den Händen. Das Mauerwerk ächzte, als der Druck, der auf ihm lastete, plötzlich verschwand. Crawford!

Er drehte sich langsam herum. Der Mann stand auf der andere Seite des Tors, sein Blick ruhte auf Nagi wie ein Stein. Er schluckte.

„Crawford...ich...“

„Ich weiß, was du tun wolltest. Wie hat es sich angefühlt?“

Nagi glaubte, sich verhört zu haben. Er überlegte. „Es hat sich...gut angefühlt. Richtig. Berauschend.“

Crawford nickte, als hätte er diese Antwort erwartet. Er schob seine Brille auf dem Nasenrücken zurecht. „Gut, dann hast du deine Lektion für heute gelernt. Komm, wir gehen.“

Nagis Augen huschten kurz zum Haus, aus dem er immer noch das feine Knistern zu vernehmen meinte, das durch die instabile Struktur lief. Er spürte, wie es bebte und schwankte, wie sich die Waage zwischen Bestehen und Zusammenbrechen langsam aber stetig in Richtung letzterem verschob. Die Trümmer würden Schuldig und die anderen unter sich begraben. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, unentschlossen, ob er Crawford darauf hinweisen sollte, dass immer noch ein Mitglied von Schwarz dort gefangen war.

Er warf einen Blick auf den Amerikaner. Crawfords Gesicht schien wie aus Stein gemeißelt. „Du machst dir zu viele Gedanken, Nagi. Das geht dich nichts mehr an. Was jetzt noch passiert, liegt nicht in unseren Händen.“

Widerstrebend folgte er Crawford. Er konnte nicht so recht glauben, dass sie Schuldig tatsächlich zurückließen. Aber andererseits...hatte er nicht genau das gewollt? Fühlte es sich nicht richtig an, dass der Bastard endlich bekam, was er verdient hatte? Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. Vielleicht würde er nun endlich die Gelegenheit bekommen, sich zu beweisen. Wirklich zu zeigen, was in ihm steckte. Wenn Schuldig ihm nicht mehr im Weg stand, würde er zu Crawfords rechter Hand werden. Er war in der Hierarchie gestiegen. Ein Vorteil, den er zu nutzen gedachte. Niemand konnte sagen, dass er nicht anpassungsfähig war. Er würde wachsen und die Lücke ausfüllen, die der Telepath hinterlassen hatte. Er wusste, er konnte das, und er würde es allen beweisen.

 

 

 

Staub rieselte von der Decke, als die Wellen der Explosion auch den Keller erfassten. Abyssinian schloss den Mund und atmete flach, um nichts davon in die Lunge zu kriegen. Er fasste das Katana fester und trat einen Schritt nach vorn. Über ihm waren gedämpfte Geräusche zu hören. Vermutlich Trümmerteile, die zu Boden fielen. Man hörte ein Knirschen und Rutschen, ein dumpfer Aufprall folgte. Danach breitete sich eine dichte, fast obszöne Stille aus, in der man nur noch ihr vielfaches Atmen in der Dunkelheit hören konnte.

„Wir sind noch am Leben“, hörte er Balinese sagen. Es klang ehrlich überrascht.

„Das war nur ein Vorgeschmack“, antwortete Bombay, die Stimme flach und emotionslos. „Ich habe noch mehr Sprengsätze angebracht. Beim nächsten Mal fliegt das komplette Gebäude in die Luft und wir mit ihm.“

 

Abyssinian wusste, dass das die Wahrheit war. Es war die Voraussetzung dafür, dass ihr Plan aufging. Jeder von ihnen hatte eine Zielvorgabe, die es galt, zu erreichen. Jeder Plan war echt und jeder von ihnen würde alles daran setzen, seinen jeweiligen Teil umzusetzen, auch wenn er tief im Innersten hoffte, dass er nicht derjenige war, der dieses Wettrennen gewann. Er schob den Gedanken weit weg, bevor er verräterisch nah an die Oberfläche kommen konnte.

„Und da sagen die Leute, wir wären wahnsinnig“, hörte er Schuldig aus der Dunkelheit. Es war schwer zu sagen, aber Abyssinian bildete sich ein, ein klein wenig Unsicherheit herauszuhören. So leise wie möglich trat er noch einen Schritt nach vorne und schob sich somit näher an sein Ziel heran. Mit Glück wäre er in ein paar Augenblicken in Schlagreichweite.

 

In diesem Augenblick erwachten die Neonröhren über seinem Kopf wieder zum Leben. Die flackernde Beleuchtung warf ein ungewohnt grelles Licht auf die Szene im Flur. Er besann sich nicht lange und handelte. Mit einem Schrei warf er sich nach vorne, das Katana zum Streich erhoben. Ken, der wie vermutet vor Schuldig stand, riss die Augen auf. Die Hand auf seinem Mund verschwand, als Schuldig ihn losließ und zurückwich. Abyssinian senkte im letzten Moment das Schwert, ließ sich fallen und riss Ken mit einem gezielten Tritt von den Füßen.

Während er weiter nach vorne rutschte, zielt er mit der Schneide auf Schuldig. Der wich weiter zurück und prallte gegen die Wand hinter sich. Etwas surrte durch die Luft und Schuldig griff sich an den Hals. Er stolperte einen Schritt zur Seite. Schon war Balinese hinter ihm und zog die Schlinge um seinen Hals wieder zu. Schuldig Hände glitten nach oben, um ihn zu fassen. Er gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Abyssinian sprang mit einem Satz wieder auf den Füßen und setzte Schuldig die Spitze des Katanas auf die Brust.

„Es ist vorbei“, sagte er und atmete heftig.

 

Hinter ihm stürzte Bombay zu Ken, der benommen am Boden saß und sich den Kopf hielt. Seine Lippe blutete und an seinem Arm hatte er einen Verband, war ansonsten jedoch augenscheinlich unverletzte. Bombay redete leise auf ihn ein, während Abyssinian seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Schuldig konzentrierte.

„Das kann nicht sein“, fauchte der und seine Augen blitzten wütend auf. „Wie habt ihr...? Ihr seid unwürdig, ein Nichts, ein netter Zeitvertreib, nichts weiter.“

„Ein Zeitvertreib?“, lachte Balinese hinter ihm in einem beinahe gutmütigen Ton. „ Ich habe gesehen, wie deine Art Zeitvertreib mit Ken aussah. Ich glaube, ich verzichte.“

Schuldigs Lippen formten sich zu einem anzüglichen Grinsen. „Ach, ist Abyssinian wirklich so gut? Kann ich mir gar nicht vorstellen. Bei dem Stock in seinem Arsch wirst du nicht viel Platz haben, um ihn zu vögeln. Oder machst du immer für ihn die Beine breit?“

Er keuchte, als Balinese die Schlinge etwas enger zog. „Ich wäre vorsichtig mit dem, was ich sage, wenn mir jemand eine Klinge in die Nähe lebenswichtiger Organe hält, meinst du nicht, Schuldig?“

„Ich habe...“, keuchte Schuldig, „mich immer gerne... mit meinen Opfern unterhalten... Macht die Sache spaßiger.“

„Ich glaube, du verkennst deine Lage“, knurrte Abyssinian. „Du wirst jetzt sterben.“

 

„Nein!“ Ken war plötzlich wieder auf den Füßen und sah Abyssinian entsetzt an. „Aya, das kannst du nicht tun. Bitte! Du kannst ihn nicht töten.“

Abyssinian entblößte die Zähne. „Sag mir einen guten Grund, warum ich ihn am Leben lassen sollte.“

Bombay schob sich neben Ken und legte ihm die Hand auf den unverletzten Arm. „Ken, ganz ruhig. Du hast einiges durchgemacht in den letzten Tagen. Es wird alles wieder gut werden. Bitte, lass uns das erledigen und dann verschwinden wir.“

„Nein!“, wiederholte Ken und schüttelte den Kopf. In seinen Augen waren Tränen zu sehen. „Ihr dürft ihn nicht töten. Bitte. Ich...er war gut zu mir, er hat...er mag mich.“

„Das waren Lügen, Ken. Nichts als Lügen“, versuchte Bombay zu ihm vorzudringen. „Er hat dich manipuliert, dir etwas vorgemacht.“

 

Ein prustendes Geräusch füllte die entstandene Stille. Ein mühsam zurückgehaltenes, ein wenig atemloses, raues Kichern. Abyssinian starrte Schuldig an, der sich bemühte, nicht in lautes Lachen auszubrechen.

„Oh, ihr solltet eure Gesichter sehen“, keuchte er, bestrebt die Schlinge um seinen Hals nicht noch enger zu ziehen.

„Was hast du mit ihm gemacht?“, knurrte Abyssinian und presste die Klinge seines Katanas gegen die halb entblößte Brust. Die Klinge ritzte die Haut und ein feiner Blutfaden rann die Haut hinab Richtung Nabel.

„Hey, hey, kein Grund, gleich grob zu werden“, fauchte Schuldig. „Dein Lover kann einem wirklich leid tun. Nimmst du ihn auch immer so hart ran? Ich könnte mir vorstellen, du bist der Typ für Fesseln, Knebel und solchen Kram. Peitschst du ihn aus, wenn er unartig war? Geht dir dabei einer ab?“

„Es reicht!“ Anscheinend hatte jetzt auch Balineses Geduld ein Ende. „Sag uns jetzt endlich, was mit Ken los ist.“

Schuldig seufzte theatralisch. „Also gerade du solltest das doch erkennen. Der arme Junge ist schwer verliebt. Es würde ihm das Herz brechen, wenn ihr mich tötet. Also los, nur zu! Rammt mir die Klinge ins Herz und seht zu, was passiert. Ich könnte mir denken, dass das eine nette Vorstellung wird.“

„Nein!“ Ken Stimme war inzwischen zu einem Wimmer verkommen. „Ich verstehe das alles nicht. Was tut ihr hier? Woher habt ihr die Waffen? Was ist hier los?“

Bombays Augen irrten von einem zum anderen. „Was meint er damit? Ich dachte, er wäre froh uns zu sehen. Stattdessen scheint es eher so, als hätte er vor uns Angst.“ Er runzelte die Stirn. „Könnte das dieses Stockholm-Syndroms ein? Ihr wisst, wo sich die Opfer mit den Tätern verbünden?“

Schuldig kicherte erneut. „Oh, dieses Kätzchen ist ja richtig schlau. Man könnte es fast annehmen, nicht wahr? Ich meine, meine einnehmende Persönlichkeit spricht dafür, aber ich verrate euch, es ist noch mehr als das.“ Er sah zu Ken hinüber. „Hey, Kätzchen, wo arbeitest du?“

Ken sah verwirrt aus. „In einem Blumenladen zusammen mit Omi, Aya und Yoji.“

Schuldigs Grinsen wurde breiter. „Und warum sind die drei jetzt hier in voller Montur und mit Waffen erschienen?“

„Ich...ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich sehe sie so heute zum ersten Mal.“

 

 

 

 

 

 

 

 

Balinese blinzelte überrascht. Was hatte Ken gerade gesagt? Tatsächlich war in seinem Gesicht keinerlei Wiedererkennen zu entdecken, nur ein ängstliches Flackern in seinen Augen. Das konnte nur das Werk dieses elenden Telepathen sein.

„Was hast du Bastard mit ihm gemacht?“, knurrte er und zog den Draht enger um Schuldigs Hals. Ein Röcheln antwortete ihm. Schuldigs Bewegungen begannen fahrig zu werden.

„Sei vorsichtig, wir brauchen erst noch Antworten von ihm“, warf Bombay ein. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und sah sorgenvoll von einem zum anderen. Er holte einen von seinen Darts heraus und zielte damit auf Schuldig. „Lass ihm ein bisschen mehr Luft. Uns drei wird er nicht gleichzeitig manipulieren können. Also los! Erzähl uns, was du mit ihm gemacht hast.“

Schuldig schluckte und griff sich an den Hals. „Ihr solltet etwas netter zu mir sein, dann haben wir bestimmt alle etwas davon. Na schön, ich sage es euch, obwohl es gerade dir ja nicht schwerfallen sollte, das zu erraten. Ich habe seine Erinnerungen manipuliert. Er hat alles vergessen, was er je über Weiß, das Kämpfen oder sonst irgendetwas, was damit zusammenhängt, wusste. Das hier ist nur noch Ken, der Blumenhändler, der nette Junge von nebenan. Man könnte fast sagen, ich hätte ihm damit einen Gefallen getan, meint ihr nicht?“

 

Balinese glaubte erst, sich verhört zu haben. Schuldig hatte Kens Erinnerungen gelöscht? War das möglich? Schuldig hustete und spuckte Abyssinian blutigen Speichel vor die Schuhe.

„Ihr seid alle so überrascht. Was glaubt ihr denn, wen ihr hier vor euch habt? Meint ihr vielleicht, ich trage den Namen Mastermind nur zum Spaß? Mir bleibt nichts verborgen, was in einem menschlichen Geist vor sich geht. Ich kann nach Belieben in euren Gedanken herumpfuschen und ihr würdet es nicht einmal merken.“

„Du lügst“, knurrte Abyssinian und fasste den Schwertgriff fester. „Ich glaube, es wird Zeit, diese Farce zu beenden.“

„Und damit die einzige Chance wegzuwerfen, um Siberian jemals wiederzubekommen?“, fragte Schuldig lauernd. „Denn weißt du, wenn ihr nett wärt, würde ich euch ja verraten, dass der Prozess reversibel ist. Aber so, wie ihr euch hier gerade benehmt, bin ich mir nicht sicher, ob ich das möchte.“

Der Draht in seinen Händen zitterte, als Schuldig schluckte. Es musste wehtun, die ganze Zeit so darin festzuhängen. Er sah, dass bereits etwas Blut auf dem Hemdkragen zu sehen war. Das dünne Metall hatte die Haut verletzt. Aber was, wenn es tatsächlich stimmte? Wenn er ihnen Ken – den ganzen Ken – wieder zurückbringen konnte.

„Beweise es“, sagte er.

Abyssinians Gesichtsausdruck wurde finster. „Balinese, was soll das?“

„Er sagt, er kann es rückgängig machen, dann soll er es beweisen. Bring Siberian zurück, dann verhandeln wir weiter.“

Schuldig stieß spöttisch die Luft aus. „Nicht einmal du kannst so dumm sein, Blondie. Was hätte ich davon, wenn ich ihn zurückhole, wenn ihr mich danach umlegt? Dein Lover hier sieht nicht so aus, als würde er mit seinem Brotmesser lange fackeln.“

„Aber wir brauchen einen Beweis dafür, dass du die Wahrheit sagst“, warf Bombay ein.

„Bring ihn zurück oder du stirbst“, knurrte jetzt auch Abyssinian. Schuldig richtete sich, so gut es ging, in seinen Armen auf.

„Nur zu, töte mich. Aber könntest du es langsam geschehen lassen? Ich würde gerne mitbekommen, was danach passiert.“

Abyssinians Augen wurden schmal. „Was meinst du damit?“

„Oh“, sagte Schuldig und lachte leise. „Wenn ihr Glück habt, hat euer Freund hier nur einen Nervenzusammenbruch. Keine Ahnung, wie lange es dauern würde, ihn da wieder rauszuholen. Wenn das überhaupt möglich ist. Aber wenn ihr Pech habt...“

Er sprach nicht weiter. Balinese zog die Schlinge ein wenig enger. „Spuck es aus, Schuldig. Was passiert im schlimmsten Fall?“

„Dann dreht er durch“, antwortete der Man vor ihm fröhlich. „Weiß wollte doch bestimmt immer schon mal seinen eigenen Berserker haben, oder? Wobei ich mich dann an eurer Stelle schon mal von eurem erbärmlichen, kleinen Leben verabschieden würde. Es dürfte dann nämlich nur noch sehr kurz sein.“

 

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Konnte es sein, dass Schuldig die Wahrheit sagte? Brauchten sie ihn tatsächlich, um Siberian wieder zurückzubekommen? Oder war das wieder alles nur ein Trick? Der Draht unter seinen Fingern vibrierte, als Schuldig anfing, vor sich hin zu summen.

„Wisst ihr, ihr solltet euch wirklich langsam mal entscheiden. Umbringen, nicht umbringen, mir glauben oder nicht. Ich verstehe ja, dass es keine leichte Entscheidung ist, aber ich habe wirklich nicht den ganzen Tag Zeit, um mit euch hier unten abzuhängen. Zumindest nicht ohne etwas Anständiges zu trinken. Wir haben Scotch oben. Jemand Interesse?“

 

Balinese schluckte. Er hättet gerade tatsächlich einen Drink vertragen können, aber er riss sich zusammen. Er musste sich konzentrieren, obwohl ihm das gerade ziemlich schwerfiel. Die Möglichkeit, dass Schuldig tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, ließ ihm keine Ruhe. Was, wenn er tatsächlich die Erinnerungen verschwinden lassen konnte. Natürlich war es indiskutabel, diesen psychopathischen Irren in seinen Kopf zu lassen. Aber die Möglichkeit, alles zu vergessen, was mit Weiß zusammenhing. Das Blut, die Morde, die Gewalt. All das hinter sich zu lassen, klang so verdammt verlockend. Und dann war das noch die Erinnerung an sie. An Asuka. Die Bilder, die ihn so oft heimgesucht hatten. Die Erinnerung an das, was er gehabt und verloren hatte. Was, wenn er sie auslöschen konnte?

Sein Blick irrte zu Abyssinian. Für einen Augenblick sah er Aya in dessen Zügen und er wusste, dass er Schuldigs Hilfe nicht brauchen würde. Er hatte etwas Neues gefunden, er hatte den Panzer geknackt, der sich mit Asukas Tod um sein Herz gelegt hatte. Fast hätte er gelacht, als ihm klar wurde, dass nicht nur Aya sich die ganze Zeit versteckt hatte. Er hatte das ebenfalls getan, nur war seine Maske ungleich schwerer zu entdecken gewesen. Statt sich abzukapseln, hatte er so getan, als wäre alles in Ordnung, war eine nutzlose Beziehung nach der anderen eingegangen. Hatte sich selbst vorgelogen, dass er das nicht nur für sich, sondern auch für die Frauen tat, mit denen er zusammen war. Dass er Wiedergutmachung leistete. Ihnen gab, was er ihr nicht mehr geben konnte. Er hatte nach Vergebung gesucht, wo es keine gab. Aber vielleicht auch nicht geben musste. Vielleicht konnte er leben mit dem, was er hatte, denn er war damit nicht allein. Er lächelte bei dem Gedanken.

 

„Fokus, Balinese“, schnappte Abyssinian, der seine Abgelegenheit offensichtlich bemerkt hatte. Er räusperte sich und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann, den er gefangen hielt.

„Du kannst seine Erinnerungen wieder zurückbringen?“ Bombays Stimme zitterte unmerklich. Anscheinend war er nicht der Einzige, der von den Möglichkeiten, die Schuldig ihnen eröffnete, überwältigt wurde. „Wie sollte das gehen?“

„Mhm, lass mich überlegen“, antwortete Schuldig. „Wie erkläre ich das so, dass auch ihr das versteht. Ah, ich weiß. Stellt euch die Erinnerungen wie einen großen Eimer voller bunter Blumen vor. Ich habe jetzt immer einen Teil davon genommen, habe ihn in raschelndes Papier verpackt, mit einer hübschen Schleife versehen und tief in seinem Geist versteckt. Wenn ihr die Erinnerungen wiederhaben wollt, müsst ihr das Sigel lösen, dass ich daran angebracht habe. Das erklärt übrigens auch, warum ihr den lieben Ken nicht einfach zu irgendeinem x-beliebigen Psychiater schleppen könnt, wie einer von euch gerade gedacht hat. Es benötigt genau die richtigen Schlüsselwörter, um die Erinnerungen wieder freizusetzen. Hat man die nicht und geht zu grob vor, könnten die armen Pflänzchen geknickt werden und das Ergebnis wäre wiederum ein geistiges Wrack mit einer Erinnerung voller Lücken. Ich glaube nicht, dass eure Bosse erlauben würden, dass so jemand frei herumläuft.“

Er fühlte förmlich, wie Schuldig grinste. „Kurzum, ihr braucht mich, ansonsten könnt ihr euch von eurem Freund, so wie ihr ihn kennt, verabschieden.“

 

Balinese schüttelte den Kopf, als könnte ihm das helfen, das Chaos, das darin herrschte, wieder zu ordnen. Das Ganze überstieg definitiv seinen Horizont, obwohl er zugeben musste, dass er nach Schuldigs Erklärung eine ungefähre Ahnung davon hatte, was dieser mit Ken angestellt hatte. Er sah zu seinem Freund hinüber, der inzwischen am Boden hockte, das Gesicht in den Händen vergraben. Für ihn musste das Ganze furchtbar verwirrend sein. Wenn er sich wirklich nicht mehr an Weiß erinnern konnte, war das hier vermutlich sein schlimmster Alptraum.

„Könntest du...“, begann Bombay. „Könntest du ihm nicht einen Teil seiner Erinnerungen wiedergeben? Damit wir sehen, dass du die Wahrheit gesagt hast.“

Schuldig schien zu überlegen. „Gar nicht dumm, das Kätzchen. Ja, das sollte eigentlich möglich sein. Die Siegel können einzeln gebrochen werden. Aber mach dir keine Illusion. Ich werde ihm garantiert nicht das Wissen und die Fähigkeit zu kämpfen wiedergeben. Vielleicht fangen wir mit ein bisschen harmloseren Sachen an. Ken?“

 

Der Angesprochene sah auf. Schuldigs Stimme schien ihn aus seiner Lethargie gerissen zu haben. In seinen Augen schimmerten Tränen.

Lockvogel, Paradies, Fräulein.“

Die Worte waren definitiv nicht japanisch. Sie hörten sich grob und kantig an, auch wenn Schuldig sie mühelos aussprach. Wahrscheinlich entstammten sie der gleichen Sprache, aus der auch Schuldigs Name kam. Balinese konnte eine leichte Ähnlichkeit feststellen. Doch wo ihm die Begriffe nur ungewohnt und nichtssagend vorkamen, schienen sie Ken mit dem Gewicht eines Vorschlaghammers zu treffen. Bei jedem neuen Wort zuckte und zitterte er. Sein Gesicht wurde bleich und Schweiß trat auf seine Stirn. Sein Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei. Er griff sich an den Kopf, als hätte er furchtbare Schmerzen.

Entführen, Raubtier, Abkunft.

Ken stöhnte und winselte. Omi versuchte ihn festzuhalten, aber er entriss sich seinem Griff und rollte sich auf dem Boden zusammen. Balinese biss die Zähne zusammen und versuchte, sich nicht von dem Anblick mitreißen zu lassen. Das war mitleiderregend und grausam.

„Du hast keine Vorstellung“, wisperte Schuldig in sein Ohr. Er schrak zusammen, als er sich bewusst wurde, dass er den Draht lockergelassen hatte und Schuldig somit in der Lage gewesen war, sich zu ihm umzudrehen. Der Ausdruck in seinem Gesicht war mörderisch. Er schien Gefallen daran zu finden, einen Menschen so zu quälen. Und doch....irgendetwas sagte ihm, dass Schuldig aus erster Hand wusste, wie es sich anfühlte, was Ken gerade durchmachte. Der harte Zug um den Mund, die Grausamkeit in seinen Augen. All dies war nicht kalt und emotionslos, sondern hinterlegt mit dem heißen Feuer der Rache. Es war etwas Persönliches, auch wenn es nicht unbedingt etwas mit Ken oder gar mit Weiß zu tun hatte. Das hier war ein Hund, der gelernt hatte zurückzubeißen.

 

Abyssinian war ebenfalls von dem Schauspiel, dass sich ihnen bot, abgelenkt worden. Er hielt das Katana noch in den Händen, aber die Schneide war zu Boden gesenkt. Seine Augen waren auf Ken gerichtet, der jetzt schluchzend in Omis Schoß kauerte.

„Sollen wir weitermachen?“, fragte Schuldig in heiterem Tonfall und erweckte damit wieder Abyssinians Aufmerksamkeit.

„Was tust du?“, fragte der angewidert. „Du bringst ihn ja um.“

„Ich tue, was ihr mich gebeten habt zu tun. Ich gebe ihm seine Erinnerungen zurück. Ich hatte wohl vergessen zu erwähnen, dass der Prozess schmerzhaft ist? Mein Fehler.“ Schuldig grinste breit.

Abyssinian hob das Katana und grollte, aber Schuldig schob die Klinge mit einer Hand beiseite. „Ihr braucht mich. Wenn ich das hier zu Ende bringen soll, lässt du deinen antiquierten Gemüsehobel mal schön bei dir und schaust zu, wie die großen Jungs arbeiten.“

 

Er trat einen Schritt vor und sprach unerbittlich weiter: „Träne, Mitleid, Schraube.“

Ken jaulte auf wie ein getretener Hund und brach dann ohnmächtig zusammen. Sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt und seine Gesichtszüge waren zu einer Maske des Entsetzens verzerrt. Schuldig zuckte nur mit den Schultern, als er sich zu ihm hinab beugte.

„War vielleicht ein bisschen viel auf einmal. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Siegel nach und nach zu brechen, aber ich habe so das Gefühl, dass wir einander nicht unbedingt länger als notwendig Gesellschaft leisten wollen, nicht wahr? Also, schön. Ihr habt bekommen, was ihr wolltet. Das heißt, noch nicht ganz. Es fehlen noch zwei Siegel, die ich erst lösen werde, wenn ich frei und in Sicherheit bin.“

„Und das sollen wir dir glauben?“, knurrte Abyssinian und hob seine Waffe wieder.

„Das werdet ihr wohl müssen“, gab Schuldig süffisant zurück. „Entweder das oder euer kleiner Siberian bleibt vollkommen nutzlos für euch. Daher schlage ich vor, wir verlagern unseren Standpunkt nach draußen, dort gebe ich euch dann die letzten zwei Siegel und dann seid ihr wieder eine große, glückliche Katzenfamilie.“

 

Schuldigs Worten folgte ein Geräusch, das Balinese zuerst nicht ganz zuordnen konnte. Es klang wie knisterndes Zellophan, wurde jedoch lauter und lauter. Das Licht begann zu flackern. Mit einem Satz war Bombay auf den Füßen.

„Das Haus stürzt ein.“, rief er und versuchte, den immer noch am Boden liegenden Ken hochzuheben. „Kommt, wir müssen hier raus.“

„Nehmen wir ihn mit?“, fragte Balinese und wies auf Schuldig. Abyssinian nickte und wollte schon loslaufen, um Bombay zu helfen, als sie plötzlich ein abgrundtiefes Stöhnen hörten. Er schauderte.

 

Im zuckenden Licht der Deckenbeleuchtung begann Ken sich zu bewegen. Er rollte sich mit einem Grunzen auf den Rücken und knurrte. Es klang wie ein Tier, unmenschlich, wild, blutrünstig. Mit purer Willenkraft kämpfte er sich in die Höhe, die Bewegungen ungelenk und steif wie von einer Puppe. Das flackernde Licht verstärkte den Effekt noch. Mit gesenktem Kopf stand er schließlich da und keuchte. Etwas tropfte aus seinem Mund und die roten Flecken auf dem Boden verrieten, dass es sich um Blut handeln musste. Es war ein Wunder, wenn er sich bei der Tortur, die Schuldig ihm hatte angedeihen lassen, nichts von seiner Zunge abgebissen hatte. Verdammt, sie hätten besser reagieren müssen. Irgendetwas tun.

„Ken?“, fragte Bombay vorsichtig. Er wagte es anscheinend nicht, seinen Freund zu berühren. Wahrscheinlich war das besser so. In seinem Zustand wirkte er, als würde er jedem, der das probierte, den Arm abreißen. Selbst auf Schuldigs Gesicht war eine leichte Unsicherheit erschienen. Er ging vorsichtig einen Schritt zurück. Ein Fehler, wie sich zeigen sollte, denn Kens Kopf ruckte zu ihm herum. Er taxierte den rothaarigen Mann an der Wand und knurrte erneut. Seine Hand wanderte zu dem Verband an seinem Arm. Er riss die Gazestreifen weg, als hinge sein Leben davon ab. Mit einem reißenden Geräusch gab der Stoff nach und den Blick frei auf einige Schnittwunden, die den Unterarm bedeckten. Ken jaulte auf und griff sich an den Kopf. Er stammelte zwei Worte, die Balinese nicht verstand. Es klang fast wie...wie...

„Erinnere dich!“, sagte Abyssnian mit einem Mal.

Bombays Kopf ruckte hoch. Er riss die Augen auf und wiederholte ebenfalls: „Erinnere dich!“

Balinese fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Sein Mund fühlte sich an wie mit Sandpapier ausgelegt. Mit Mühe fand er seine Stimme wieder und flüsterte ebenfalls: „Erinnere dich!“

 

Schuldigs Gesicht war weiß wie die Wand, vor der er stand.

„Was tut ihr?“, kreischte er. Alle Arroganz schien plötzlich von ihm abgefallen. Eine Faust schoss vor und Finger krallten sich um seinen Hals. Er keuchte.

„Du!“, grollte Ken. „Du hast mich benutzt. Hast mich hier eingesperrt. Du hast mir meine Freunde gestohlen, mein Leben, meine Waffen. Aber ich bin zurück. Dein Zauber hat nicht funktioniert. Ich bin zurück und ich weiß alles.

„Aber wie kann das sein?“, stieß Schuldig würgend hervor. „Die letzten zwei Sigel. Sie sollten noch halten. Sie...“ Seine Stimme erstarb, als Ken weiter zudrückte.

„Farfarello“, antwortete er auf die Frage. „Er hat mir diese Verletzungen zugefügt. Ich wusste nicht, was sie bedeuten sollten, aber jetzt sehe ich es. Siehst du es auch, Schuldig? Siehst du es?“

Er ließ Schuldig los, der sich keuchend an den Hals griff. Mit gekrümmten Fingern fuhr Ken über die Wunden und ließ diese wieder aufbrechen. Fünf blutende, rote Schnitte, exakt nebeneinander, als hätten fünf Messer sie gleichzeitig gerissen. Ein Muster wie von einer riesigen Kralle.

Schuldig schluckte. „Deine Waffe. Sie hinterlässt genau solche Wunden.“

Kens Lippen verzogen sich zu einem grausamen Lächeln. „Genau. Und weißt du, was ich jetzt tun werde? Ich werde die Bugnuks holen und dann werden wir mal sehen, wie viele von ihnen du aushältst, du Made. Ich wette, es sind viele, und ich werde jeden von ihnen genießen.“

 

„Dazu haben wir keine Zeit.“ Abyssinians Stimme duldete keinen Widerspruch. Wie zur Bestätigung erklang über ihnen ein drohendes Grollen. „Wenn wir weiter hier bleiben, werden wir lebendig begraben. Ken, hol deine Sachen und dann nichts wie raus hier.“

Ken schien nicht gewillt, sein Opfer einfach so aus den Klauen zu lassen. Balinese beschloss zu handeln. Er nahm Schuldig am Arm und schob Ken von ihm weg.

„Mach schon, Kumpel. Wir müssen hier weg.“

Ken nickte widerstrebend und ging, jedoch nicht ohne Schuldig noch einen letzten, hasserfüllten Blick zuzuwerfen.

„Komm, gehen wir“, sagte er zu Schuldig, fesselte seine Hände und schob den Mann in Richtung Ausgang.

„Sehr zuvorkommend, Kätzchen“, giftete der andere, aber der Bemerkung fehlte der gewohnte Biss. Fast ohne Widerstand ließ er sich die Treppen hinaufschieben.

 

 

Sie verließen das Gebäude durch den Vordereingang. Als sie vor dem Haus auf der Einfahrt standen, konnten sie zum ersten Mal das volle Ausmaß der Explosion erkennen. Das komplette, obere Stockwerk war weggeblasen worden, das Dach zur Seite gerutscht, wobei es Schuldigs Wagen unter sich begraben hatte. Der Mann schien es nicht einmal zu bemerken. Von irgendwo aus der Ferne waren erste Sirenen zu hören. Vermutlich würde es in wenigen Minuten hier nur so von Einsatzkräften wimmeln.

„Soll ich den Rest noch sprengen?“, fragte Bombay. Er hielt den Zünder in der Hand. Abyssinian nickte. Sie entfernten sich schnell, um genügend Abstand zwischen sich und das Gebäude zu bringen. Bombay entriegelte den Mechanismus und vier weitere Explosionen ließen den Rest der Ruine in Flammen aufgehen.

Schuldig neben ihm machte einen belustigten Laut. „Ich wollte schon immer mit einem Knall abtreten“, sagte er leise. „Allerdings dachte ich immer, dass ich es sein würde, der dabei was in die Luft sprengt.“

'Und ich dachte nicht, dass ich dabei allein sein würde.'

Er war ich nicht sicher, ob Schuldig ihn diesen letzten Satz wirklich hatte mit Absicht hören lassen, oder ob dem Telepathen inzwischen auch langsam die Kontrolle entglitt. Das war offensichtlich etwas, das er nicht gewohnt war. Er hatte es mehr als einmal deutlich gemacht, dass er sich für etwas Bessere hielt als die normalen Menschen. Die Erkenntnis, dass er jetzt sterben musste, schien ihn tief zu erschüttern.

Blaue Augen blitzen wütend auf. „Spar dir dein Mitleid, Weiß“, zischte Schuldig. „Ich werde nicht vor euch kriechen und ich werde auch nicht betteln. Wenn ihr mich töten wollt, dann tut das. Macht es schnell oder langsam, mir ist es gleich. Ich habe auf dieser Welt nichts mehr zu erledigen. Ich bin hier fertig.“

 

„Wer wird es tun?“, fragte Abyssinian. Er hatte sein Schwert bereits auf Schuldig gerichtet, sah jedoch abwartend auf Ken. Der starrte Schuldig an und sah dann auf die Krallen in seinen Händen.

„Er ist es nicht wert“, sagte er schließlich. „Schlag ihm seinen hässlichen Kopf herunter und dann lasst uns hier verschwinden.“

Balinese ließ Schuldig in die Knie gehen und neigte seinen Kopf nach unten. Die langen Haare fielen nach vorn und bedeckten sein Gesicht. Er lachte leise.

„Ein Samurai-Tod. Wie poetisch. Na los, Kätzchen. Darauf hast du doch schon lange gewartet. Bring es zu Ende.“

 

Abyssinian hob das Schwert. Die Flammen spiegelte sich in der Klinge und ließ sie aufleuchten, als wäre sie aus purem Feuer. Er zögerte einen kleinen Augenblick. Balineses Augen wurden schmal. Das sah Abyssinian nicht ähnlich. Woran dachte er? Was konnte ihn jetzt noch zurückhalten? Was...? Er riss die Augen auf, als ihm klar wurde, was dem anderen gerade durch den Kopf ging.

„Halt!“, rief er und fiel ihm in den Arm. Wütend starrte Abyssinian ihn an.

„Was soll das? Lass es mich beenden.“

Er schüttelte den Kopf. „Du weißt, warum ich das nicht kann. Ich weiß, woran du gedacht hast. Du hast an sie gedacht.“

„Schweig!“ Das Wort war eine Warnung und eine Drohung zugleich, doch er würde nicht zurückweichen, weil er wusste, dass er Recht hatte.

„Es ist vielleicht ihre einzige Chance. Du hast gehört, was er gesagt hast. Der menschliche Geist steht ihm offen. Er kann sie vielleicht zurückholen. “

Abyssinians Atem kam stoßweise. Er rang mit sich. Er wusste, was er tun sollte, was die Mission von ihm verlangte. Aber andererseits...

„Das hier ist keine Mission. Kritiker weiß nichts hiervon. Niemand würde es erfahren. Wir müssen es versuchen. Er ist vielleicht der Einzige, der das kann. Ich werde nicht zulassen, dass du deine letzte Chance einfach wegwirfst aus irgendeinem dummen Pflichtgefühl oder Ehrenkodex heraus.“

Abyssinian schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Ich... Er darf nicht...“

„Du wirst ihr anders nicht helfen können. Ich habe gehört, was du im Krankenhaus zu ihr gesagt hast. Dass du dir wünschst, dass es irgendeinen Weg gibt, sie zurückzuholen. Du musst diese Möglichkeit ergreifen. Bitte, tu es nicht für dich oder für mich. Tu es für sie. Denk wenigstens noch einmal darüber nach, bevor du etwas tust, dass du nicht rückgängig machen kannst. Aya, bitte!“

 

Der Name, den er mit seiner Schwester teilte, brachte anscheinend den Ausschlag. Er senkte das Katana und sah zu den beiden andere Team-Mitgliedern.

„Wir...wir müssen da etwas besprechen“, sagte er langsam. „Ich würde Schuldig gerne vorerst verschonen.“

„Was?“ Kens Gesicht fiel förmlich auseinander. „Bist du wahnsinnig? Nach allem, was der Mistkerl mit mir gemacht hat?“

„Nicht alles davon, fandest du schlecht“, warf Schuldig ein, schwieg aber, als Abyssinan ihm einen bösen Blick zuwarf.

Bombay hingegen nickte verständnisvoll. Er fasste Ken am Arm. „Wir sollten es ihm erlauben. Es ist vielleicht wirklich die einzige Chance, wie er seine Schwester retten kann.“

Ken sah von Abyssinian zu Schuldig und wieder zurück. Er bleckte die Zähne und meinte dann: „Na meinetwegen, nehmt ihn mit. Aber ich verspreche euch, dass ich kein bisschen nett zu ihm sein werde. Der Arsch ist so was von fällig.“

Balinese nickte und zerrte Schuldig wieder auf die Füße. Obwohl er nichts sagte, konnte er die Erleichterung, die von dem Mann ausging, geradezu spüren.

„Da hast du ja nochmal Glück gehabt“, flüsterte er ihm zu. „Noch vor ein paar Wochen hätte er...hätte ich dich einfach sterben lassen.“

„Ich bin euch ja so dankbar“, heuchelte Schuldig zurück. Die näher kommenden Sirenen und das bereits sichtbare Blaulicht ließen keinem von ihnen Zeit, sich noch weiter Gedanken zu machen. Sie packten ihren Gefangenen und verließen das Grundstück auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren.

 

 

 

Am Lieferwagen angekommen, zögerte Yoji. Omi und Ken waren bereits eingestiegen. Aya machte sich daran, sich hinter das Steuer zu setzen. Er wollte ihm gerne beistehen, fühlte sich jedoch verpflichtet, die anderen beiden nicht mit Schuldig allein zu lassen. Er suchte Ayas Blick.

„Kommst du klar?“, fragte er. Er wusste, dass Aya durchaus in der Lage war, sich diese Idee selbst wieder auszureden. Es war im Grunde genommen ja auch totaler Irrsinn. Trotzdem bereute er nicht, den Vorschlag gemacht zu haben. Sie konnten Schuldig in keinster Weise trauen, aber ihn einfach so ziehen zu lassen, stand auch nicht zur Debatte. Was also sollten sie tun?

Aya sah zu ihm hinüber. „Pass auf ihn auf“, sagte er mit einem Kopfnicken in Richtung ihres Gefangenen. „Ich möchte nicht bereuen müssen, ihn am Leben gelassen zu haben.“

Yoji seufzte und schob Schuldig in Richtung der seitlichen Wagentür. Er bugsierte ihn in eine Ecke und setzte sich dann ihm schräg gegenüber, sodass er zwischen ihm und den anderen beiden saß. Es war eine sinnlose Geste, wenn man bedachte, was Schuldig konnte, aber es fühlte sich trotzdem richtig an. Er klopfte gegen die Rückwand des Wagens, um Aya ein Zeichen zum Losfahren zu geben. Als sie sich in Bewegung setzten, atmete er erleichtert aus und begann, nach seinen Zigaretten zu kramen.

„Also das habe ich nicht vermisst“, witzelte Ken und versuchte sich an einem schiefen Grinsen. Yoji erwiderte es.

Omi legte Ken eine Hand auf den Arm. „Geht´s dir gut? Wie fühlst du dich?“

Ken zuckte mit den Schultern. „Ist noch ziemliches Chaos da oben. Anscheinend muss sich mein Kopf erst wieder neu sortieren. Die alten und die neuen Erinnerungen passen nicht so ganz zusammen. Es fühlt sich ein bisschen an, als hätte ich zwei Leute in meinem Kopf. Der eine würde den Mistkerl gerne umbringen, der andere...“ Er schwieg und zog ein finsteres Gesicht.

Schuldig räusperte sich. „Ich könnte dir die Erinnerungen an die letzte Woche nehmen, wenn du willst.“

„Kommt nicht infrage“, grollte Ken. „Wenn du glaubst, dass ich dich nochmal in meinen Kopf lasse, bist du verrückter, als ich dachte.“

Gelangweilt pustete sich Schuldig eine Strähne aus dem Gesicht. „Wie du meinst, Kätzchen. Es war nur ein Angebot.“

„Dass du natürlich nur aus reinster Nächstenliebe gemacht hast“, fauchte Ken. Er sah sich suchend im Wagen. Sein Gesicht hellte sich auf, als er eine große Rolle Klebeband entdeckte. Er nahm sie von der Wand, riss einen Streifen ab und klebte ihn Schuldig über den Mund. Als er Yojis Draht sah, benutzte er es auch gleich noch, um Schuldigs Hände zusammenzubinden. Dann setzte er sich wieder neben Omi, auf dem Gesicht einen Ausdruck grimmiger Befriedigung.

„Damit du mal weißt, wie das ist“, sagte er noch und legte das Kinn auf die Knie. Er gähnte.

Omi lächelte und rückte noch ein Stück näher an Ken heran. „Du musst müde sein. Bald sind wir wieder zu Hause, dann...“, Er unterbrach sich und fasste Schuldig scharf ins Auge. „Moment, wenn Schuldig vom Koneko weiß, sind wir dort nicht mehr sicher. Was, wenn Schwarz uns dort suchen kommt?“

Schuldig murmelte etwas und drehte sich zur Wand. Yoji war sich sicher, dass er sich nur harmlos gab und die nächste Gelegenheit zur Flucht nutzen würde. Trotzdem war es merkwürdig, dass sein Team ihn einfach so aufgegeben hatte. Er äußerte diesen Umstand laut. Verwundert musste er feststellen, dass nicht Schuldig – der sicherlich trotz Klebeband einen Weg gefunden hätte, seine Meinung kundzutun - sondern Ken darauf antwortete.

„Ich glaube, die sind sauer auf ihn.“

„Was?“, fragte Omi und Yoji gleichzeitig.

Ken hob leicht die Schultern. „Die letzte Begegnung zwischen Nagi und Schuldig war nicht gerade freundlicher Natur. Und wenn ihr sagt, dass Farfarello ihn auch im Stich gelassen hat... Wobei ich mir nicht vorstellen kann, warum das so sein sollte. Die beiden schienen recht gut aufeinander eingespielt, wenn man das über ein Team von blutrünstigen Sadisten und Mördern so sagen kann.“

Omi überlegte. „Farfarello hat etwas gesagt, bevor er gegangen ist. Ich glaube das Wort war...Invidia.“

Ken blickte auf. Er schien zu überlegen. „Invidia ist Latein. Es bedeutet so viel wie Neid oder Missgunst.“

Yoji hob die Augenbrauen. „Du kannst Latein?“

Ken grinste schief. „Naja nicht wirklich. Invidia ist eine der sieben Todsünden. Etwas, dass dich mit ziemlicher Sicherheit in die Hölle bringt.“

„Oh, dann bin ich ja sicher“, lachte Yoji. „Ich teile gerne alles mit meinen Freunden.“

„Dich würden wohl eher Wollust und Maßlosigkeit dort hinbringen“, frotzelte Ken und Yoji kam nicht umhin zu denken, wie froh er war, dass Ken wieder da war. Er hatte den Burschen vermisst. Er warf einen schnellen Blick auf Schuldig, der scheinbar teilnahmslos in seiner Ecke saß. Yoji traute dem Ganzen allerdings nicht so ganz.

„Was machen wir mit ihm?“, fragte er daher? „Irgendwelche guten Ideen, wie wir ihn ruhigstellen.“

'Besorgt euch ein paar hübsche Barbiturate, dann wird das auch was mit der Gefangennahme.'

Schuldigs Stimme in seinem Kopf ließ ihn zusammenzucken.

Ken war sofort in Habachtstellung. „Was ist los, Yoji?“ Er sah zu Schuldig und fuhr auf. „Raus aus seinem Kopf.“

'Sag ihm, dass er dann das Klebeband entfernen soll. Ich hasse es, wenn man über mich spricht, während ich anwesend bin.'

„Er sagt, wir sollen das Klebeband abmachen.“

„Kommt nicht infrage!“

 

 

 

 

Schuldig zuckte gelangweilt mit den Schultern und starrte wieder die Wand an. Die drei Weiß gingen erneut dazu über, sich zu unterhalten, wenngleich sie sich jetzt auch Mühe gaben, ihn nicht mehr hören lassen, worum es ging. Als wenn ihn das interessiert hätte. Immerhin hatte er jetzt eine ungefähre Vorstellung davon, warum Farfarello davon gelaufen war, ohne die Gelegenheit zu nutzen, ein hübsches, kleines Schlachtfest mit den restlichen Kätzchen zu veranstalten. Verwirrend war immer noch die Tatsache, dass er es geschafft hatte, das telepathische Siegel zu brechen. Vermutlich ein reiner Glückstreffer. Schuldig bezweifelte, dass der irische Mistkerl genug über die Funktionsweise des menschlichen Geistes wusste, um das absichtlich getan zu haben. Wobei Farfarello manchmal überraschend scharfsinnig sein konnte. Vielleicht hatte er dem Jungen tatsächlich mit Absicht ein stark emotional belastetes Bild an die Hand gegeben, mit dessen Hilfe er seine Erinnerungen selbst hatte befreien können. Meine Güte! Wenn er sein Spielzeug hätte zurückhaben wollen, hätte er doch nur zu fragen brauchen.

 

Obwohl Schuldig zugeben musste, dass er Kens Gesellschaft vielleicht tatsächlich ein wenig zu sehr genossen hatte. Es war so überaus praktisch und bequem gewesen, ihn bei der Hand zu haben, und es hatte Spaß gemacht, ihn auseinander zu nehmen und die zunehmende Verwirrung und Abhängigkeit auszukosten. Fast genauso viel Vergnügen hatte es ihm bereitet, ihn wieder zusammenzusetzen, obgleich die Anwesenheit der restlichen Weiß seinen Enthusiasmus ein wenig gedämpft hatte. Schuldig erinnerte sich trotzdem gern an das Gewimmer und die unerträglichen Schmerzen, die ihm das zugefügt hatte. Die Agonie seines Geistes, dessen Aufschrei bestimmt bis an das andere Ende der Stadt zu hören gewesen war.

Es grenzte an ein Wunder, dass er noch lebte. Schuldig kannte Menschen, die an dieser Prozedur zerbrochen waren. Psychisch und physisch. Eigentlich hatte er gedacht, dass bei Ken genau das passieren würde. Er hatte ja schließlich nicht vorgehabt, ihn auf ewig zu behalten, daher hatte er die Erinnerungen auch nicht besonders tief vergraben. Auseinander nehmen, ein wenig spielen, wieder zusammensetzen und dann zerbrechen. Einfacher Plan, der grandios gescheitert war. In doppelter Hinsicht. Er hatte nämlich eigentlich mitnichten vorgehabt, Weiß die restlichen zwei Siegel zu geben, wenn er einmal den Fuß nach draußen gesetzt hatte. Aber auch diese Variation seines Spiels war erfolgreich verhindert worden. Verdammter Farfarello. Verdammte Weiß.

 

Er warf einen Blick zu Ken und bekam, kaum das er bemerkt wurde, einen wütenden und warnenden Blick zugeschossen. Das Kätzchen hatte in der Tat seine Krallen wieder. Schuldigs Interesse erlosch im gleichen Augenblick. Das Spiel war amüsant gewesen und jetzt war es vorbei. Das brachte ihn zu der Frage, mit wem er als Nächstes spielen sollte. Obwohl....vielleicht war es ratsam, eine Weile nach ihren Regeln zu spielen. Er gab es nicht gerne zu, aber er fühlte sich der Situation nicht ganz gewachsen. Sollte er es auf einen Kampf anlegen, würde er womöglich verlieren. Nicht, dass er sie würde merken lassen, dass ihm etwas an seinem Leben lag. Aber ganz so gleichgültig, wie er sich im Angesicht seines bevorstehenden Todes gegeben hatte, war er nicht. Außerdem nagte die Tatsache an ihm, dass Schwarz ihn einfach so hatte fallen lassen.

Farfarello, okay. Dessen Gründe machten im Kopf des irren Iren sicherlich irgendeinen Sinn und Schuldig konnte ihm nicht wirklich böse sein. Nagi war einfach ein dummes, verwöhntes Kind. Allerdings eins, das er unterschätzt hatte. Er hatte gespürt, dass Nagi nach der Explosion noch da gewesen und sich von ihm zurückgezogen hatte. Er hatte außerdem gespürt, dass der Junge seine Kräfte benutzt hatte. Wozu, wusste Schuldig nicht, aber die Möglichkeit bestand, dass es nicht zu seinem Vorteil gewesen war. Zu guter Letzte war da noch Crawford. Sie beide kannten sich schon lange und arbeiteten bereits eine geraume Weile zusammen. Warum hatte ihn der Amerikaner so auflaufen lassen? War das mal wieder eine dieser Precog-Geschichten, bei denen er immer so geheimnisvoll tat? Oder hatte er das tatsächlich nicht kommen sehen. Schuldig grinste bei dem Gedanken. Oder besser gesagt, er versuchte es. Dieses Klebeband war wirklich verdammt lästig.

 

Er schloss die Augen und versuchte stattdessen die Gedanken von Abyssinian... Aya aufzufangen. Er hatte eine Schwester? Nun, das war neu. Schien auch so eine Weiß-Krankheit zu sein, dass den Burschen auf einmal Schwestern wuchsen. Aber was war so besonders an ihr, dass er tatsächlich in Betracht zog, Schuldig um Hilfe zu bitten? Und bitten würde er müssen. Betteln. Ihn anflehen. Vorsichtig streckte er die Fühler aus und lauschte dem Gedankenfluss auf der anderen Seite der Wand.

'Ich kann ihm nicht trauen. Wenn Aya etwas passiert, würde ich mir das nie verzeihen. Aber was, wenn es tatsächlich klappen würde? Wenn er ihren Geist von dort zurückholen könnte, wo er sich gerade befand. Sie aus dem Koma aufwecken.Wenn nur die geringste Möglichkeit besteht, dass das wahr ist, wäre ich ein Narr, ihn gehen zu lassen. Aber was, wenn er mit ihr auch so etwas anstellt, wie mit Ken? Wenn er ihr all ihre Erinnerungen nimmt. Wenn sie mich nicht mehr erkennt?'

Schuldig war kurz davor, sich mental zu übergeben. Dieses Gesülze konnte sich ja kein Mensch mitanhören.

'Du würdest sie doch sowieso nie wiedersehen wollen, oder?', wagte er dazwischen zu werfen. Aya merkte gar nicht, dass der Gedanke nicht von ihm war.

'Ich müsste dafür sorgen, dass sie nichts über mich und Weiß erfährt. Das könnte ich ihr nicht antun. Ob Manx oder Birman sich darum kümmern würden, ihr ein neues Zuhause zu besorgen? Mit dem Geld, was ich noch gespart habe, könnte sie vielleicht ins Ausland gehen. Ihren Traum verwirklichen. Obwohl es mich umbringen würde, nicht zu wissen, was mit ihr geschieht. Ich könnte mit ihr zusammen fortgehen. Aber dann hätten wir ein Leben lang Kritiker auf den Fersen. Sie glauben vielleicht, sie wären subtil, aber die Geschichte mit Botan hat gezeigt, dass wir ohnehin nie wieder aus dieser Nummer herauskommen.Einmal Weiß, immer Weiß. Ich bin und bleibe ein Mörder. Das Blut an meinen Händen wird auf ewig daran kleben bleiben. Ich könnte es nicht ertragen, sie mit diesen Händen zu berühren.'

'Boohoo, sucks to be you', dachte Schuldig, ohne Aya an dieser Weisheit teilhaben zu lassen. Er kannte Shopping-Kanäle die interessanter waren.

'Wahrscheinlich ist es ohnehin sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Er wird mir nicht helfen. Selbst wenn er es könnte, was ich bezweifele. So gut ist selbst er nicht.'

'Hey, jetzt reicht's aber!“, dachte Schuldig laut und fühlte, wie der Wagen kurz ins Schlingern geriet.

'Pass auf die Straße auf, Kätzchen. Du wirst uns noch alle umbringen.'

'Schuldig!'

'Ja wer den sonst? Du denkst ja so laut, dass ich davon Kopfschmerzen kriege. Du hast also ein süßes, kleines Schwesterlein, dass im Dornröschen-Schlaf liegt und nicht aufwachen will, ja? Und ich soll nun ihr rettende Prinz sein? Interessante Vorstellung.'

'Du wirst sie nicht anrühren!'

Es war erstaunlich, wie wütend Aya sogar denken konnte. Seine Worte krallten sich förmlich in Schuldigs Gehirn und ließen ihn zusammenzucken. Er war heute wirklich nicht auf der Höhe.

'Von anfassen war ja auch nicht die Rede. Obwohl physischer Kontakt die Wirksamkeit durchaus noch erhöht.'

'Vergiss es!' Die Gedanken waren zu einem Knurren ausgewachsen, das Schuldig eher an einen Tiger, denn an eine Katze denken ließen. Einem ziemlich schlecht gelaunten Tiger.

'Sachte, sachte, du willst doch nicht den Retter deines geliebten Schwesterleins verärgern, mein Großer. Gut, sagen wir mal, ich würde mich dazu bereit erklären, der holden Jungfrau in Nöten zu helfen. Was bekäme ich dafür?'

Die Gedanken auf der anderen Seite machten eine Pause, um dann in einen heilloses Durcheinander zu verfallen. Für und Wider prallten aufeinander, Angst und Hoffnung, Pflichtgefühl und Misstrauen, Mordgedanken und Resignation.

Schuldig zog sich für einen Moment zurück, um sich nicht in dem Strudel mitreißen zu lassen, und wiederholte dann noch einmal: 'Was bekomme ich dafür?'

Ayas Gedanken waren oberflächlich jetzt wieder ruhig und gleichmäßig, auch wenn Schuldig den Sog in der Tiefe darunter spürte, als er zurückfragte: 'Was willst du?'

 

 

 

 

 

 

Es war schwer, sich auf die Straße zu konzentrieren und gleichzeitig mit Schuldig Zwiesprache zu halten. Noch dazu, wenn ihm die Entscheidung, die vor ihm lag, so unglaublich schwerfiel. Im Grunde genommen war es Wahnsinn, das zu versuchen. Nicht nur, weil sie Schuldig am Leben ließen, der geschworen hatte, sie alle umzubringen. Er wollte diesen Irren auch noch in die Nähe seiner Schwester lassen? Irgendwas musste ihn schwer am Kopf getroffen haben, dass er das wirklich in Erwägung zog. Am besten hielt er den Wagen hier und jetzt an und brachte zu Ende, was er vorhin begonnen hatte. Schuldig verdiente es nicht, weiterzuleben. Egal, wie hoch der Preis für seinen Tod war.

'Habe ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden?', fragte die Stimme in seinem Kopf erneut.

'Nein!', dachte er mit Nachdruck zurück. 'Es war von Anfang an eine dumme Idee. Sobald ich einen geeigneten Ort gefunden habe, werde ich dich töten.'

'Und du glaubst, er wird es dich dieses Mal tun lassen? Dein Lover, meine ich. Er scheint irgendwie der Meinung zu sein, er müsste dich retten.'

'Er versteht das nicht.'

Er fühlte förmlich, wie Schuldig in seinem Kopf grinste. 'Das stimmt wohl. Aber ich verstehe es. Du hast Angst, dass es tatsächlich funktionieren könnte.'

'Was? Das ist nicht wahr!'

'Oh doch. Du fürchtest, dass du sie dann verlierst. Für immer. Dass du dir bereits darüber Gedanken gemacht hast, wie es wohl wäre, macht die Situation nicht weniger bedrohlich. Du bist wie ein kleiner Junge, der sich Abenteuergeschichten ausdenkt, während er im Warmen sitzt und mit seinen Spielzeugen herumhantiert.'

 

Aya dachte über das nach, was Schuldig gesagt hatte. Konnte das stimmen? Es war immer sein größter Wunsch gewesen, seine Schwester wieder gesund zu sehen. Aber genau das würde nicht möglich sein. Er würde sie nicht sehen und nicht mit ihr sprechen können. Sie würde nicht mehr Teil seines Lebens sein, denn das Leben, dass er führte, bot keinen Platz mehr für sie.

'Siehst du. Genau das macht dir Angst. Du hast Angst, allein zu sein.'

Aya wollte etwas erwidern, besann sich dann aber eines Besseren. Natürlich! Schuldig hatte Recht. Er wäre dann völlig allein. Wenn er irgendwann sterben würde, würde niemand an seinem Grab weinen. Er war nicht mehr als ein Werkzeug, das, wenn es einmal verbraucht war, keinerlei Spuren in der Welt hinterlassen würde. Er brauchte seine Schwester, um sich ein kleines bisschen Menschlichkeit zu erhalten. Sie war sein Anker, der ihn am Leben festhalten ließ. Wenn er sie verlor, würde er nicht mehr lange durchhalten. Er konnte das nicht zulassen.

 

Aya trat abrupt auf die Bremse, fuhr an den Straßenrand, sprang aus dem Wagen und riss die Tür zum hinteren Teil des Lieferwagens auf.

„Es reicht“, schnappte er. „Raus aus dem Wagen, Schuldig!“

„Was ist los, Aya? Was ist passiert?“ Omi sprach aus, was die anderen zwei anderen, ihren Gesichtern nach zu urteilen, dachten.

„Ich habe mich anders entschieden. Ich will nichts mit diesem Bastard zu tun haben. Ein Fehler, den ich jetzt revidieren werde.“

„Aya!“ Yojis Stimme war sanft aber eindringlich. „Ich wusste, dass das dabei herauskommt, wenn man dich alleine lässt. Sei doch vernünftig. Lass es ihn wenigstens versuchen.“

Aya schüttelte nur den Kopf. „Verstehst du denn nicht? Er ist böse. Abgrundtief böse. Sein Ziel ist es, uns und den Rest der Welt leiden zu sehen. Der einzige Grund, aus dem er uns helfen würde, ist der, dass er annimmt, dass sich unsere Lage dadurch verschlimmert. Er spielt nur mit uns, so wie er mit dem Leben aller spielt, die ihm über den Weg laufen. Es wird Zeit, dieses Spiel ein für alle Mal zu beenden. “

 

Er hatte zu seinen Freunden gesprochen, dabei aber die ganze Zeit Schuldig angesehen. Die Augen des Mannes wurden schmal. Ein spöttisches Funkeln lag darin.

Yoji seufzte. „Aya, bitte. Du kannst diese Chance nicht wegwerfen.“

„Du hast nicht über mein Leben zu bestimmen oder über das meiner Schwester“, fauchte Aya ihn an. „Du weißt nicht, wie es ist, jemanden wirklich zu lieben. Ich brauche dich nicht. Ich kann jeden haben, den ich will. Jeden, egal wen, verstehst du. Also maße dir nicht an, mir meine Entscheidungen abzunehmen. Bleib zurück und misch dich nicht ein!“

Yoji sah ihn mit steinernem Gesicht an. Aya wich seinem Blick aus. Er griff nach dem Katana.

„Ich werde Schuldig jetzt töten“, sagte er und zog die Klinge aus der Scheide.

„Nein, das wirst du nicht. Ich erlaube es nicht“, sagte Yoji. Er spürte einen Schlag auf den Kopf und die Welt um ihn herum wurde schwarz.

 

 

 

 

 

„Yoji, was hast du getan?“ Omi Stimme war schrill und zu laut. Ken starrte ihn nur an.

„Ich habe ihn vor sich selbst gerettet“, gab Yoji zurück. Er stieg in den Wagen und half Schuldig auf die Beine. „Ich werde jetzt mit ihm zum Krankenhaus fahren. Entweder kommt ihr mit oder ihr bleibt hier bei Aya. Eure Entscheidung.“

„W-wir können Aya doch nicht hier mitten im Nirgendwo lassen“, stammelte Omi.

„Aber wir können Yoji auch nicht mit diesem Irren allein lassen“, antwortete Ken. „Aya kann schon auf sich aufpassen. Wir legen ihn hier in den Graben und fahren mit Yoji.“

„Ken-kun...“ Omi wollte offensichtlich noch etwas erwidern, schwieg dann aber und half Ken und Yoji, den Bewusstlosen an einer sicheren Stelle abzulegen. Er holte noch schnell einer der Overalls aus dem Wagen und deckte Aya damit zu.

Yoji zog Schuldig das Klebeband vom Mund. „Du kommst zu mir nach vorne. Aber halte dich aus meinem Kopf raus. Du wirst deine Kräfte gleich noch brauchen. Wenn es nicht funktioniert oder ich das Gefühl habe, dass du ein krummes Ding abziehst, töte ich dich.“

Schuldig bewegte prüfend den Mund, den er so lange nicht hatte benutzen können. „Kein Problem, Kätzchen. Aber wenn du mich davon abhalten willst, solltest du mir etwas Interessantes erzählen, während wir auf dem Weg sind. Weißt du, ich langweile mich so furchtbar schnell. Wie wäre es mit ein paar schmutzigen, kleinen Geheimnissen?“

Yoji lächelte dünn und klemmte sich hinter das Steuer. Er hoffte nur, dass er das Richtige tat.

 

 

Vor dem Krankenhaus stellte er mit einer entschiedenen Geste den Motor ab. Schuldig hatte sich neben ihm auf dem Sitz ausgebreitet, die Füße auf dem Armaturenbrett und grinste.

„Er wird dich verlassen?“

„So sieht es wohl aus“, antwortete Yoji langsam. „Wahrscheinlich kann ich froh sein, wenn er mich nicht umbringt. Aber wenn er dadurch...“

„Oh, erspar mir diese klischeebehaftete Rede. Ich muss es tun, weil ich ihn so liebe, und nur will, dass er glücklich wird. Da wird mir ja im Fernsehen schon schlecht dabei. In Natura muss ich das nicht auch noch haben. Außerdem hast du das in der letzten halben Stunde ungefähr 38 Mal gedacht. Abwechselnd mit Er wird mich hassen und Es wird das Team auseinander reißen. Mal ehrlich. Was habt ihr Weiß nur mit dieser Opfernummer?“

„Wolltest du dich nicht aus meinem Kopf raushalten?“, fragte Yoji finster.

„Du hast das förmlich projiziert. Jeder Telepath von hier bis Kyoto hätte dich hören können. Ist nicht meine Schuld, wenn du so einfach zu lesen bist, Blondie.“

„Es gibt noch mehr wie dich?“

 

Schuldig machte ein abfälliges Geräusch. „Natürlich nicht. Niemand ist wie ich.“

„Das dachte ich mir. Oder sagen wir mal, ich hatte es gehofft. Ich würde ungerne noch jemand treffen, der mit unseren Gedanken spielt.“

„Immerhin suhle ich mich nicht in sinnlosem Bedauern so wie Euereins. Ich tue Dinge, ich bin schuldig an Dingen, aber ich bereue sie nicht bis zum Erbrechen. Ihr Weiß kultivierte einen derartigen Pathos in eurem Leben, dass jede südamerikanische Telenovela vor Neid erblassen würde. Es ist wirklich amüsant, euch dabei zuzusehen, wie ihr euch selbst auseinander nehmt.“

„Freut mich, dass du Spaß hast“, gab Yoji trocken zurück.

„Die Freude ist ganz meinerseits“, grinste Schuldig. „Also los, zeig mir das kleine Prinzesschen. Wollen doch mal sehen, was sie in ihrem Schönheitsschlaf gefangen hält.“

 

Ken und Omi waren bereits ausgestiegen und sahen unsicher zum Krankenhaus empor. Es war mitten in der Nacht, die meisten Fenster waren dunkel, wenngleich auch die Flure hell beleuchtet waren. Eine Tatsache, die sie unangenehm zu spüren bekamen, als sie das Krankenhaus betraten. Das wenige Nachtpersonal, das um diese Zeit noch unterwegs war, beäugte sie misstrauisch.

Kurzentschlossen legte Yoji seinen Mantel ab und auch die anderen beiden bemühten sich, ihr Erscheinungsbild ein wenig zu normalisieren. Nur Schuldig stand mitten in dem hell erleuchteten Gang, das Hemd voller Blutflecken, die orangerote Mähne wie ein Leuchtfeuer. Hätte er eine blinkende Leuchtreklame getragen, er hätte nicht auffälliger sein können. Schnell schob Yoji ihn weiter in Richtung Aufzug und atmete erst auf, als sich die Türen endlich hinter ihnen schlossen.

Es war eng in der Kabine und Yoji konnte sehen, dass Ken sich möglichst weit weg von Schuldig in eine Ecke stellte. Im Grunde genommen war er erstaunt, wie gut sich sein Freund im Griff hatte. Der Ken, den er kannte, hätte Schuldig vermutlich schon längst eine verpasst. Er fragte sich, ob er wohl irgendwann wieder ganz der Alte werden würde. Er warf einen Blick auf Schuldig und der grinste nur. Er musste vorsichtiger sein, was er dachte.

 

Wie durch ein Wunder erreichten sie unbehelligt das Krankenzimmer. Yoji zögerte kurz, bevor er die Klinke herunterdrückte und seine drei Begleiter in das Zimmer ließ. Er sah noch einmal den leeren Flur entlang, bevor er hineinging, die Tür hinter sich schloss und sich breitbeinig davor stellte. Bei dem, was sie vorhatten, konnten sie keine störenden Besucher gebrauchen. Seine Sorge war sicherlich unbegründet, da sicherlich niemand mitten in der Nacht nach einer Komapatientin sehen würde. Trotzdem fühlte er sich so etwas sicherer.

„Das ist sie also?“, fragte Schuldig und trat neben das Bett. Er legte den Kopf schief. „Sie sieht ihrem Bruder gar nicht ähnlich. Hat sie ja Glück gehabt. Na dann wollen wir mal sehen, was du in deinem hübschen Köpfchen versteckt hast.“

Yoji atmete tief ein, als Schuldig die Hand auf Ayas Stirn legte und die Augen schloss. Er sah unsicher zu Omi und Ken hinüber. Die beiden hatten sich in der Nähe des Fensters postiert und betrachteten das Schauspiel ebenfalls mit vorsichtigem Interesse. Er atmete tief ein und dachte, wie sehr er jetzt eine Zigarette gebraucht hätte. Aber es gab Grenzen und in einem Krankenzimmer würde er sich zusammenreißen. Hoffentlich würde es nicht allzu lange dauern.

 

 

 

 

Schuldig wusste nicht, was er davon halten sollte. Wo sich eigentlich ein menschlicher Geist erstrecken sollte, war...nichts. Gar nichts. Er tastete sich weiter und weiter vor, aber um ihn herum war nur Leere. Das konnte nicht sein. Die Köpfe der meisten Menschen waren vollgestopft mit allem Möglichen, doch hier konnte er nichts davon entdecken. Langsam wagte er sich weiter vor, immer ein Schritt nach dem anderen. Ein Prickeln in seinem Nacken warnte ihn, dass er dabei war, zu weit zu gehen. Aber er wäre nicht er selbst gewesen, wenn er im Angesicht einer Gefahr zurückgeschreckt wäre. Es fühlte ich fast ein wenig an, als würde er an einer Kante entlang balancieren, nur noch einen Schritt vom Abgrund entfernt. Er wusste, dass man sich im Geist eines anderen Menschen verlieren konnte. Es war wichtig, immer einen Rückweg offen zu lassen. Für die meisten Menschen musste er sich nicht besonders weit aus dem Fenster lehnen, aber das hier überstieg alles, was er kannte. Er holte metaphorisch gesehen tief Luft, trat an den Rand und ließ sich fallen.

 

Er landete inmitten einer weiten Ebene. Unter seinen Füßen war rotbraune Erde, so weit das Auge reichte. Über ihm etwas, das ein Himmel hätte sein können, aber es gab kein Wort, das seine Farbe, geschweige denn das Gefühl von Weite hätte beschreiben können, das er bekam, als er nach oben sah. Ihn schwindelte und er richtete seinen Blick wieder nach unten.

„Was ist das hier?“, fragte er sich und seine Stimme klang seltsam hohl. Er ging einige Schritte und sah, dass seine Füße keine Spuren im Staub hinterließen. Er runzelte die Stirn. Das war nicht gut. Er ging trotzdem noch ein paar Schritte und blieb stehen, als er etwas fand, das halb in der Erde vergraben war. Er bückte sich danach und hob es auf. Es war irgendein Spielzeug, das man wohl kleinen Kindern gab. Ein Ring aus Plastik mit verschiedenen Formen daran. Es klapperte, als er es schüttelte. Eine verschüttete Erinnerung? Aber es hätte hier voll davon sein müssen. Wo waren all diese Dinge?

Es sah sich erneut um und dachte nach. Ein normaler Mensch hätte nicht in der Lage sein sollen, eine solche Welt zu errichten. Psis wie er oder Crawford wurden in so etwas unterrichtet, auch wenn er die Stunden immer furchtbar langweilig gefunden und, so oft es ging, geschwänzt hatte. Einmal hatte Crawford darauf bestanden, dass er es probierte. Die Welt, in der er gelandet war, hatte der Horrorvision eines Rummelplatzes geglichen mit zu vielen Geisterbahnen, die von bösen Clowns bewohnt wurden. Die Karussellpferde hatten Reißzähne gehabt und aus der Achterbahn stieg nie wieder jemand aus. Es war amüsant gewesen, aber nicht unbedingt etwas, das er zu wiederholen oder gar zu nutzen gedachte. Warum hatte das Mädchen diese Welt erschaffen? Und wie?

 

Schuldig ging noch einen Schritt weiter und verharrte dann unentschlossen. Er wusste, er musste den Ausgangspunkt wieder erreichen, wenn er zurückkehren wollte. Verlief er sich, würde er auf ewig hier drinnen herumirren. Er überlegte und zog dann sein Hemd aus. Er legte es an dem Punkt auf den Boden, an dem er angekommen war, und ging weiter. Kurz darauf hatte er ein komisches Gefühl. Etwas stimmte nicht. Er sah an sich herab und hob erstaunt die Augenbrauen, als er sein Hemd wieder am Leib trug. Der Platz hingegen, an dem er es zurückgelassen hatte, war leer. Er wiederholte das Experiment noch einmal mit einem Schuh. Das Ergebnis war das gleiche. Er konnte nichts, was er bei sich hatte, zurücklassen.

Sein Blick strich über die Ebene. Irgendwo musste es einen Bewohner in dieser Ödnis geben. Das Mädchen musste hier irgendwo sein, verirrt in seinem eigenen Geist. Er konnte sie nicht suchen gehen, ohne seinen Rückweg zu markieren. Das Risiko war zu groß. Wenn er den Ausgang markieren wollte, musste er etwas anderes von draußen hier mit herbringen. Etwas oder jemanden, der ihn hier festhielt. Er überlegte kurz und schloss dann die Augen.

 

Als er sie öffnete, war er wieder im Krankenzimmer. Die drei Weiß fuhren auf, als sie sahen, dass er wieder zurück war.

„Und?“, fragte Yoji sofort.

Schuldig schüttelte den Kopf und konnte sich nicht des kleinen Triumphs erwehren, der ihn überkam, als sich in der Miene des blonden Mannes Enttäuschung breit machte. Da hatte er sein kleines Schnuckelschnäuzchen also völlig umsonst verärgert. Zumindest dachte er das wohl. Schuldig grinste innerlich.

„Ich schaffe das nicht alleine“, sagte er nach einer angemessenen Pause, in der die Frustration noch ein wenig nachwirken konnte. „Ich brauche jemanden, der mich im Hier und Jetzt verankert, wenn ich die Kleine suchen soll. Da drinnen ist...ach das versteht ihr ohnehin nicht. Tatsache ist, dass ich einen von euch mit hineinnehmen muss.“

Unsichere Blicke irrten hin und her. Natürlich. Sie vertrauten ihm nicht. Das hier konnte eine Falle sein und einen kurzen Augenblick überlegte er, ob er die Gelegenheit nutzen sollte. Vielleicht konnte er sie überraschen, einen oder zwei von ihnen töten. Aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Das, was er geplant hatte, hatte viel mehr Klasse. Die Wiederkehr dieses Mädchen würde das Ende für Weiß bedeuten. Ein schleichender Zerfall von innen heraus und der wäre sicherlich viel amüsanter zu beobachten, als ein schneller Tod. Er lachte leise in sich hinein.

Yoji räusperte sich schließlich.“Was muss ich tun?“

Schuldig warf ihm einen kurzen Blick zu und wiegte dann den Kopf hin und her. „Ich weiß nicht, ob du die geeignete Wahl bist. Eine Person, die ich kenne, wäre weit besser geeignet. Was meinst du, Ken. Vertraust du mir?“ Seine Stimme war weich, einlullend. Er wollte das hier, denn er war neugierig, was an diesem Mädchen so besonders war. Wenn er dabei sein altes Opfer noch ein wenig verunsichern konnte, umso besser.

Ken sah ihn finster an. “Vergiss es. Ich traue dir nicht weiter, als ich dich werfen kann.“

Schuldig lachte laut auf. „Ich hatte schon ganz vergessen, wie witzig du sein kannst, Kätzchen. Aber du musst dich wirklich nicht fürchten. Ich werde nicht in deinen Kopf eindringen. Ich will dich mitnehmen in ihren.“ Er wies auf das Mädchen, das still und blass in ihrem Bett lag. „Ansonsten könnte es sein, dass ich mich in ihrem Geist verlieren und dann hätte sie mich für den Rest ihres Lebens in ihrem Kopf. Willst du das wirklich? Ich dachte, du bist ein Held, Ken. Kannst du das mit deinem Gewissen vereinbaren?“

 

Die Muskeln in Kens Gesicht zuckten.

„Gut“, knurrte er endlich. „Ich mache es. Aber ich vertraue dir trotzdem nicht.“

„Das wird deine Reise schwer machen, nicht meine“, erwiderte Schuldig mit einem Achselzucken. „Komm her zu mir und gib mir deine Hand.“

„Was? Ich soll mit dir Händchen halten?“

Schuldig rollte mit den Augen. „Das sollte nun wirklich das geringste Problem sein, oder? Aber dein Arm tut es auch. Hauptsache, ich habe Hautkontakt. Du kennst das Spiel doch.“ Er grinste und zwinkerte dem Jungen zu.

Ken murmelte etwas sehr Unfreundliches und streifte seinen Ärmel nach oben. Er atmete tief durch und streckte Schuldig den Arm entgegen. Schuldig griff zu und spürte, wie der andere zusammenzuckte.

„Schließe deine Augen“, wies er ihn an. „Je weniger Ablenkung wir haben, desto besser funktioniert es. Und jetzt versuch an gar Nichts zu denken.“

Ken nickte und gehorchte. Schuldigs Mundwinkel zuckte ein wenig, als ihm der Gedanke kam, wie vertrauensselig der kleine Weiß trotz allem noch war. Unerschütterlicher Optimismus oder Dummheit? Er wusste es nicht, aber es war jetzt auch egal. Zunächst einmal musste er dieses Mädchen finden. Er schloss ebenfalls die Augen.

 

Als er sie wieder öffnete, stand er auf der rotbraunen Ebene. Neben ihm stand Ken. Er keuchte erschrocken auf, als er sich umsah.

„Wo sind wir?“

„Das ist ihre innere Welt. Aber es sollte hier nicht so aussehen und vor allem sollte sie hier sein. Deine Aufgabe ist einfach. Du bleibst hier stehen und bewegst dich nicht vom Fleck, egal was passiert.“

Ein Geräusch ließ die beiden auffahren. Sie drehten sich um und starrten das Etwas an, das hinter ihnen im Sand kauerte. Es war etwa so groß wie ein Mensch und hatte vage, menschliche Umrisse. Damit hörte die Ähnlichkeit aber auch schon auf. Das Wesen hatte eine hässliche, dunkle Farbe, die irgendwo zwischen schwarz und rot lag und Schuldig an geronnenes Blut erinnerte. Borstiges, schwarzes Fell bedeckte den Körper, Stacheln rasselten, als es sich bewegte. Ein Aufblitzen von scharfen Zähnen und rote, leuchtende Augen, die sie hungrig ansahen. Krallen kratzten über den Boden, als es sich ein Stück auf sie zubewegte.

„W-was ist das?“, stotterte Ken. Er war wie hypnotisiert von dem Anblick und irgendwie kam Schuldig dieses Ding vage bekannt vor. Konnte das...

„Das bist du“, sagte er leise. „Der Teil von dir, der noch nicht zurückgekehrt ist. Durch Farfarellos Eingreifen, war die Fusion unvollständig. Du hast zwar alle deine Fähigkeiten wieder, aber der Blutdurst, der Hunger nach dem Töten, das, was er an dir so faszinierend fand, ist noch nicht wieder Teil deines Selbst.“

„Das da soll ein Teil von mir sein?“ In Ken Stimme lag tiefe Abscheu. „Das ist widerlich und grausam.“

Schuldig lächelte dünn. „Jeder Mensch trägt so etwas in sich. Bei den meisten kommt es nie zum Vorschein. Andere wiederum werfen sich diesem Ding hemmungslos entgegen. Und wieder andere kämpfen ihr Leben lang dagegen an.“

„Kann man es töten?“

Schuldig sah Ken an, der das Ding immer noch anstarrte. „Du willst einen Teil deines Selbst töten? Überlege kurz, wie sich das in deinen Ohren anhört. Oder noch besser, überlege dir das, während ich das Mädchen suchen gehe.“

„Was? Du willst mich mit dem Ding alleine lassen?“

Schuldig zwinkerte ihm zu. „Das bist doch du. Also, Ken, vertragt euch beide und macht keinen Unsinn. Und was immer du tust, geh hier nicht weg!“

 

Er drehte sich um und sah auf die Ebene, die vor ihm lag. Irgendwo dort musste der Geist des Mädchens verloren gegangen sein. Kein Wunder, dass sie nicht aufwachte. Er würde sie finden und hierher bringen müssen. Hinter ihm machte Ken einen erstickten Laut und ein Knurren antwortete ihm. Gut, der Junge war beschäftigt. Er hoffte nur, dass er tatsächlich noch lebte, wenn er wiederkam. Obwohl seine Überreste sicherlich auch genug wären, um den Rückweg zu markieren.

Er musste plötzlich an Hänsel und Gretel denken und die Spur aus Brotkrumen. Ob ihn wohl eine Spur aus Ken-Krumen zurückführen würde? Zerfleischt von der eigenen, inneren Bestie. Er lachte laut, während er losging und sich auf die Suche machte. Das Bild war wirklich zu komisch.

 

 

 

 

 

Schuldig hatte nicht gezählt, wie viele Schritte er schon gemacht hatte. Die Zeit dieser inneren Welt lief anders und so wusste er, dass in der realen Welt nur Augenblicke vergangen sein konnten. Hier drinnen jedoch schien die rotbraune Weite einfach kein Ende nehmen zu wollen. Er fluchte leise und wollte schon umkehren, als er ein Geräusch hörte. Es war eine Art Schaben und Kratzen. Leise, unregelmäßig, so als würde ein Gegenstand über eine harte Oberfläche gezogen. Er sah sich um und lauschte. Das Geräusch kam von links. Er wandte sich in die Richtung und erblickte plötzlich etwas, das er vorher hier noch nie gesehen hatte. Es war ein Loch im Sand, ungefähr eine Hand groß und etwa genauso tief. Er kniete sich nieder und untersuchte das Loch. Etwas oder jemand hatte sich durch die feine Sandschicht gegraben und war kurze Zeit später auf undurchdringlichen Felsen gestoßen. Er runzelte die Stirn und stemmte sich wieder in die Höhe.

Als er weiterging, sah er ein weiteres Loch, dann noch eines und noch eines, bis er schließlich auf ein weites Feld vollkommen identischer Löcher starrte. Das kratzende Geräusch war lauter geworden und jetzt endlich sah er inmitten der Löcher eine kleine Gestalt hocken. Er ging rasch auf sie zu und erkannte, dass es das Mädchen war, das er gesucht hatte. Sie kniete am Boden und hatte eine kleine Schaufel in der Hand. Damit war die gerade dabei, ein weiteres Loch auszuheben. Wie schon die unzähligen Male zuvor, war sie auf die harte Schicht unter der Oberfläche gestoßen und die kleine, orange Plastikschaufel in ihren Händen war nicht in der Lage, das Gestein zu durchringen. Als das Loch groß genug war, stand das Mädchen auf, ging zu einem Platz, an dem noch kein Loch war, und begann zu graben. Es war ein sinnloses Unterfangen und er fragte sich, wie lange sie sich wohl schon damit beschäftigte.

 

"Hey!", rief er. "Ich bin gekommen, um dich hier rauszuholen."

Das Mädchen hielt in seinem Tun inne und drehte den Kopf zu ihm herum. Große, dunkle Augen sahen ihn forschend an. Sie schien einen Augenblick zu überlegen, dann drehte sie sich wieder zu ihrem Loch und begann erneut zu graben.

„Hör auf damit“, knurrte er sie an. „Du kommst nicht hindurch. Was sollen überhaupt diese Löcher?“

„Alles ist auf der anderen Seite“, antwortete sie.

Er runzelte die Stirn. „Was alles? Auf welcher Seite?“

Sie seufzte. „Ich habe überall auf dieser Seite gesucht und ich habe nichts finden können. Nur ich bin hier. Also muss alles andere auf der anderen Seite der Felsen sein.“

Das klang vage logisch, war aber vollkommener Blödsinn. Innere Welten funktionierten nicht so. Nicht soweit er wusste. Obwohl... Vielleicht hatte sie Recht. Sie war in dieser Welt, die sie auf welche Weise auch immer geschaffen hatte, gefangen. Wenn sie sie zerstörte, kam sie möglicherweise frei.

„Du brauchst ein besseres Werkzeug“, sagte er und wies auf die keine Schaufel. „Damit wirst du nicht durch den Stein kommen.“

„Aber ich habe nichts anderes. Ich habe gesucht und gesucht. Das ist alles, was ich gefunden habe.“

Schuldig rollte mit den Augen. „Also schön, Prinzesschen, pass auf. Du nimmst jetzt diese Schaufel und machst daraus eine Waffe. Was richtig schön Spitzes. Einen Speer vielleicht. Los, mach!“

Sie sah ihn an und wusste anscheinend nicht, was sie tun sollte. Zögernd wollte sie sich wieder dem Graben zuwenden, wagte allerdings nicht, sich ihm zu widersetzen. Unschlüssig hielt sie die Schaufel in ihren Händen.

 

Schuldig schnaubte frustriert. Was auch immer dazu geführt hatte, dass sie diese Welt erschaffen hatte, war anscheinend fort. Vielleicht hatte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen, der für einen gewissen Zeitraum Areale ihres Hirns zum Einsatz gebracht hatte, die ihr die notwendigen Fähigkeiten verliehen hatten. Jetzt allerdings konnte sie diese Welt weder verlassen, noch verändern. Wenn er sie hier rauskriegen wollte, musst er ihr zeigen, wie. Er nahm ihr die Schaufel aus der Hand. Sie wollte zunächst protestieren, schwieg dann aber.

„So geht das“, knurrte er ärgerlich und konzentrierte sich. Es war schwierig, weil das hier nicht seine Welt war, in der er nach Lust und Laune schalten und walten konnte. Aber er war nicht umsonst Meister darin, die Gedanken anderer zu manipulieren, Wenn er wollte, dass das hier etwas anderes wurde, dann wurde es das auch! Die Schaufel in seinen Händen wuchs, sie veränderte sich und kurz darauf hielt er einen fast mannsgroßen Speer mit silberner Spitze in den Händen. Er drückte ihm dem Mädchen in die Hand.

„Damit stößt du jetzt so fest zu, wie du kannst. Das wirst du ja wohl können, oder?“

Sie zögerte und betrachtete den Speer in ihrer Hand. Unmerklich war es dunkler um sie herum geworden. Der farblose Himmel hatte ein helles Grau angenommen, dessen Tiefe und Intensität von Augenblick zu Augenblick anschwoll.

„Nun mach schon!“, rief er ärgerlich. Diese dumme Gans hielt ihn länger auf, als er gedacht hatte. „Den Speer in den Boden rammen. Ach gib schon her!“

 

Er griff nach der Waffe, riss sie ihr aus den Händen und stieß mit aller Kraft zu. Wo sie Spitze auf den Stein traf, bildeten sich Risse. Das Mädchen zuckte zusammen. Wind kam auf, der die rotbraunen Staubkörner umherwirbeln ließ. Schuldig hob erneut den Speer und stieß zu. Dieses Mal erklang ein Geräusch wie herannahender Donner. Mit ein wenig Kraftaufwand, zog er den Speer wieder auf dem Boden, sah sie an und stieß ein drittes Mal zu.

Etwas brach. Er fühlte es mehr, als das er es sah. Der gezackte Riss, der sich zwischen seinen Füßen hindurch rasend schnell in Richtung Horizont ausbreitete, war nur eine Illusion des Geistes, der diesem Irrsinn hier innewohnte. Es mochte sein, dass sie nicht in der Lage war, diese Welt zu verändern, wie es eigentlich der Fall sein sollte, nachdem sie sie errichtet hatte. Aber sie war in der Lage zu verstehen, was er ihr als Bild anbot und darauf entsprechend zu reagieren. Der Himmel, der einst so weit erschienen war, hing jetzt zum Greifen nah über ihnen. Donner rollte über sie hinweg und Blitze zuckten in einem unsichtbaren Sturm, der um sie herum tobte. Ein Blitz fuhr ganz in der Nähe in den Boden und ließ sie aufschreien.

„Komm, Prinzesschen. Es wird Zeit zu gehen.“

Er bot ihr seine Hand an und lächelte. Vorsichtig legte sie ihre Finger in seine. Das Lächeln wurde breiter, als sich seine Hand um ihre schloss, er sie festhielt und zu sich heranzog.

„Gute Reise“, flüsterte ihr ins Ohr und schleuderte sie mit einer plötzlichen Bewegung in die Luft. Ihr Körper wurde vom Sturm nach oben gewirbelt, krachte gegen die Illusion eines Himmels und ließ ihn in Stücke zersplittern. Dahinter quollen Dinge hervor. Tausende und abertausende von Erinnerungen, Gedanken, Wünschen, Träumen. Alles, was ein menschlicher Geist normalerweise beinhaltete und von dem sie sich so lange abgespalten hatte. Ein Gefängnis mitten in ihrem Selbst.

 

Der Boden unter seinen Füßen zerbarst. Er wirbelte herum und lief los zu dem Punkt, wo er Ken zurückgelassen hatte. Hinter ihm heulte der Sturm, brüllte, drohte auch ihn zu verschlingen.

'Das steht aber auch in keinem Lehrbuch', dachte er bei sich und beschloss, sich später über diese Anomalie Gedanken zu machen. Zunächst musste er diese zusammenbrechende Welt verlassen, bevor sie ihn mit in Fetzen riss. Er warf noch einen letzten Blick auf die unendlichen Weiten. Dies war eine Welt, die einem großen Geist Platz geboten hätte. Vollkommen verschwendet an so ein kleines Mädchen, das damit nichts anzufangen wusste und auch nicht in der Lage war, sie zu kontrollieren. Hier hätte man Imperien errichten können und sie spielte nur im Sand. Eine Ironie des Schicksals.

 

Er erreichte Ken und den anderen Ken innerhalb weniger Augenblicke. Beide waren aufgesprungen und sahen sich um. Die Zerstörung raste jetzt von allen Seiten auf sie zu, auf diesen letzten Punkt, den der Abgrund verschlingen würde.

„Zeit zu gehen“, erklärte Schuldig und griff nach Kens Arm. Er wies auf den anderen Ken, der ihn aus hungrigen Augen musterte. Geifer tropfte von seinem Kiefer und hinterließ feuchte Spuren im Sand. „Willst du den mitnehmen oder hierlassen?“

Ken schien zu überlegen. „Was passiert mit ihm, wenn ich ihn hierlasse?“

Schuldig zuckte mit den Schultern. „Vermutlich wird er sich einen neuen Wirt suchen. Die Kleine nehme ich an.“

Ken sah ihn entsetzt an. „Niemals. Er kommt mit.“

Schuldig lachte innerlich. Die Reaktion dieser Weiß war so berechenbar. Er musste Ken ja nicht unbedingt verraten, dass der anderen Ken viel eher mit dieser Welt untergehen würde. Warum diese nette kleine Überraschung so einfach verschwinden lassen. Es war ein bisschen, wie eine Landmiene auf einem Spielplatz zu vergraben. Früher oder später würde sie jemand finden und dann würde es einen netten, kleinen Knall geben. Jetzt aber mussten sie erst einmal hier weg. Er schloss die Augen und holte tief Luft, als der Sturm sie erreichte und der Boden unter ihren Füßen wegbrach.

 

 

 

Yoji schrak zusammen, als Ken plötzlich aufschrie und sich wild keuchend umsah. Er ließ Schuldigs Arm los, als hätte er sich verbrannt und stolperte einen Schritt rückwärts.

„Wo ist...wo sind...“, stammelte er und atmete erleichtert auf, als er merkte, dass er sich wieder im Krankenzimmer befand. Im selben Augenblick begann ein Monitor neben dem Bett, der bisher geschwiegen hatte, einen Signalton von sich zu geben. Es war ein tiefes, sich wiederholendes Summen und etwas daran sagte Yoji, dass dieser Ton mit einem Alarm im Schwesternzimmer verbunden sein würde. Sie mussten hier weg.

Omi, der ebenfalls aufgesprungen war, nahm sich des leicht desorientierten Kens an, während Yoji Schuldig auf die Füße zog. Er sah ihm direkt in die Augen.

„Hat es funktioniert?“, fragte er. Der Ausdruck auf Schuldigs Gesicht sprach Bände.

„Natürlich hat es funktioniert.“ Der Mann grinste überheblich. „Du sprichst hier mit einem Profi. Sieht hin.“

Yoji schielte an ihm vorbei auf das Bett. Ayas Augenlider flatterten, ihre Hände bewegten sich auf der Bettdecke, als versuchte sie etwas zu greifen. Sie murmelte etwas.

„Gut“, nickte er. „Dann nichts wie raus hier.“

„Kein Dank?“, fragte Schuldig, aber Yoji knurrte nur und schob ihn aus der Tür.

 

Er hörte bereits, wie eilige Schritte den Flur hinuntereilten. Sie wandten sich zur anderen Seite und hasteten eine Treppe hinunter. Zu ihrem Glück war es immer noch recht früh, sodass sie relativ unbehelligt den Ausgang des Krankenhauses erreichten. Er wollte schon aufatmen, als er eine er einsamen Gestalt gewahr wurde, die auf dem Vorplatz des Krankenhauses stand und ihnen entgegensah. Im dämmrigen Zwielicht waren die Gesichtszüge nicht zu erkennen, aber das war auch nicht notwendig. Er wusste, dass der Mann, der dort mit dem Katana in der Hand auf sie wartete, Aya war. Er hatte seinen Mantel auf den Boden gelegt und die schmale Silhouette verriet Kampfbereitschaft. Yoji blieb stehen und schluckte hart. Jetzt war der Augenblick der Wahrheit gekommen.

„Sieh an, dein Lover ist auch hier“, sagte Schuldig gedehnt. „Was für eine Überraschung. Willst du ihm die gute Nachricht überbringen oder soll ich das machen?“

Yoji warf einen Blick auf Schuldig, der sich offenkundig wunderbar amüsierte. Er hoffte, er betete, dass dem arroganten Telepathen das Lachen gleich im Halse stecken bleiben würde. Andernfalls würde er sich wohl mit einem Katana zwischen den Rippen auf dem Boden wiederfinden. Er strafte die Schultern und ging auf Aya zu.

 

Der andere setzte sich ebenfalls in Bewegung. Zwei einsame Gestalten, die sich auf dem großen Platz wie an einer Schnur aufeinander zu bewegten. Als sie nur noch etwa einen halben Meter voneinander entfernt waren, blieben sie beide stehen. Der Ausdruck auf Ayas Gesicht war schwer zu lesen. Ein Teil der eisigen Maske, die er so lange getragen hatte, war noch vorhanden. Doch da waren kleine Zeichen, die Yoji zu lesen gelernt hatte. Die leichte Änderung in seinem Atemrhythmus, das winzige Zucken in seinem Mundwinkel, das leichte Flattern in seinen Augen. Hoffnung stieg in Yoji auf. Hatte er sich doch nicht geirrt? Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Aya kam ihm zuvor.

„Hat er es geschafft?“

Yoji nickte langsam. „Sie ist...sie war gerade dabei aufzuwachen, als wir gingen.“

Zunächst geschah gar nichts. Aya sah ihn einfach nur weiter an. Dann plötzlich trat er einen Schritt vor, schloss die Lücke zwischen ihnen und zog ihn in eine Umarmung. Yoji atmete auf und legte seine Stirn gegen Ayas.

„Danke“, flüsterte Aya. „Ich hatte Angst, du hättest es nicht verstanden. Hatte Angst, er würde unseren Plan durchschauen.“

Yoji lachte leise. „Und ich hatte gefürchtet, ich hätte mich geirrt. Dass du mich jetzt in zwei Hälften teilen würdest.“

Aya sah auf. „Niemals“, antwortete er und für einen Augenblick war da eine Wärme in seinem Blick, die Yoji durch und durch ging. Er spürte die Tränen in seinen Augen und schloss sie schnell. Er zog Aya zu sich und neigte den Kopf, um ihn zu küssen. In diesem Moment hörte er Schuldig Stimme hinter sich.

„Was soll das? Was ist hier los?“

Yoji drehte sich zu ihm herum. „Siehst du nicht, dass du störst?“, fragte er halb lächelnd, halb ärgerlich.

Schuldig funkelte Aya schadenfroh an. „Hat er dir gesagt, was er getan hat? Was ich getan habe?“

Aya nickte. „Er hat genau das getan, worum ich ihn gebeten habe. Er hat dich an meiner Stelle zu meiner Schwester gebracht. Ich bin fast geneigt, mich bei dir zu bedanken, wenn ich nicht genau wüsste, dass du das nur getan hast, um mich und Weiß zu vernichten.“

Schuldigs Gesichtszüge entglitten ihm zusehends. Er sah von einem zum anderen. „Was soll das heißen? Ihr...ihr habt mich...reingelegt?“

 

Ayas Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln, das Yoji noch nie bei ihm gesehen hatte. „Wenn du nicht so selbstverliebt wärst, hättest du vielleicht gemerkt, was vor sich geht. Aber du hast nur gesehen, was du sehen wolltest. Du wolltest denken, dass Yoji mich verrät. Du wolltest glauben, dass ich mich vor er Einsamkeit fürchten muss. Und vor gar nicht so langer Zeit hättest du damit auch noch Recht gehabt. Das hat es mir einfach gemacht, das zu denken, was du glaubtest, das es in meinem Kopf vorgeht. Eigentlich peinlich, dass du zweimal auf den gleichen Trick hereinfällst. Aber du kennst mich nicht. Ich bin nicht allein. Ich habe Yoji und ich habe meine Freunde. Wir sind füreinander da und passen aufeinander auf. Wir sind ein Team. Derjenige, der sich wirklich vor der Einsamkeit fürchtet, bist du.“

Schuldig war bleich geworden. „Das ist nicht wahr“, fauchte er. „Ich bin nicht allein. Jemand wie ich ist niemals allein. Deine Arroganz ist so was von zum Kotzen, weißt du das?“

Meine Arroganz?“, fragte Aya und machte ein abfälliges Geräusch. „Ich glaube, du verwechselst da etwas. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir das zwischen uns endlich zum Abschluss bringen.“

 

Er griff nach seinem Katana und wollte es aus der Scheide ziehen, als Yoji ihn zurückhielt. „Das hier ist der Tag, an dem deine Schwester wieder aufgewacht ist. Wir sollten ihn nicht mit Blutvergießen beginnen. Lass uns einfach zu den anderen gehen. Es war eine lange Nacht und ich sterbe, wenn ich nicht gleich eine rauchen kann und einen Kaffee bekomme. Dann hast du mich auch noch auf dem Gewissen.“

Aya sah ihn an, überlegte einen Augenblick und steckte die Waffe wieder zurück. „Du hast Recht. Lassen wir ihn laufen. Allein ist er keine große Gefahr. Nicht für uns.“

 

Sie gingen rechts und links an Schuldig vorbei und Yoji ließ es sich nicht nehmen, danach wieder nach Ayas Hand zu greifen. Der runzelte die Stirn und wollte sie ihm wieder entziehen, aber Yoji hielt seine Finger fest.

„Ich denke, das habe ich mir verdient. Immerhin habe ich eine Beinahe-Tod-Erfahrung hinter mir. Du sahst echt zum Fürchten aus, wie du da standest mit deinem Schwert. Gönn mir ein bisschen Nähe. Ich habe dich vermisst.“

Aya schüttelte den Kopf, ließ ihn aber gewähren und gemeinsam gingen sie zu Omi und Ken zurück, die immer noch in der Nähe des Eingangs auf sie warteten.

„Was ist mit ihm ?“, fragte Omi und wies auf Schuldig.

„Ich glaube, seine Welt bricht gerade zusammen“, erwiderte Yoji mit einem Grinsen. „Er kann einfach nicht begreifen, dass wir ihn ausgetrickst haben.“

„Ich eigentlich auch nicht“, sagte Ken und kratzte sich im Nacken. „War ne ziemlich riskante Nummer. Ich hätte nicht gedacht, dass Aya dir das durchgehen lässt. Ich meine, er hat doch gesagt, er will nicht, dass wir herkommen.“

Yoji grinste breit. „Du hättest besser zuhören sollen, Ken. Er hat gesagt, dass Schuldig uns nur helfen würde, wenn er denkt, dass er uns eigentlich schadet. Also musste Aya ihn glauben lassen, dass er eigentlich nicht will, dass seine Schwester aufwacht. Außerdem hat er etwas gesagt, von dem ich wusste, dass es nicht die Wahrheit ist. Das ist wie diese Geheimsprache, die Kinder benutzen. Du sagst ein bestimmtes Wort und danach hat alles, was du sagst, genau das Gegenteil zu bedeuten.“

Omi sah ihn aus großen Augen an. „Ihr habt Schuldig mit einem Kindertrick hereingelegt?“

Yoji zuckte mit den Schultern. „Hat doch funktioniert. Liegt wahrscheinlich daran, dass dieser Bastard nie ein Kind war. Und wenn doch, dann bestimmt ein ganz schreckliches Balg.“

Er grinste und platzierte einen Kuss auf Ayas Lippen, bevor dieser sich dagegen wehren konnte. Der schob Yoji von sich weg und boxte ihm in die Seite.

„Lass das, was sollen die anderen denn denken.“

„Na das, was sie sowieso schon denken. Dass niemand der unglaublichen Sexiness von Yoji Kudo widerstehen kann. Nicht einmal Mister Aya ich bin ein Eisblock Fujimyia.“

 

Omi lachte auf und Ken gab ein eigenartiges Geräusch von sich.

„Ich glaube, an den Gedanken muss ich mich erst noch gewöhnen“, murmelte er und betrachtete seine Schuhe, als wären sie das achte Weltwunder. „Ich meine, ihr beide...das ist wie...wie...“

„Kaffee und Zigaretten“, sagte Yoji.

„Hä?“ Ken sah ihn verständnislos an.

„Ich brauche jetzt Nikotin und Koffein, sonst breche ich zusammen“, erklärte Yoji mit einem Augenzwinkern.

Ken lächelte schief. „Okay. Obwohl ich nicht...ich meine...es ist ja nicht...aber ich...“ Er wurde rot bis über beide Ohren. „Ich dachte nur immer, du magst keine Männer.“

Yoji überlegte, ob er darauf antworten sollte. Nicht etwa, weil es etwas mit Aya und ihm zu tun hatte, sondern weil es etwas über ihn selbst preisgab, von dem er es sich erst seit Kurzem bewusst war. Die Erkenntnis war neu und kostbar, aber er hatte das Gefühl, dass sein Freund eine ehrliche Antwort verdiente.

„Ich habe Männer gehasst, weil ich einem von ihnen nicht vergeben konnte, was er getan hat. Von dem ich glaubte, dass er es getan hatte. Ich habe versucht, seine Schuld wieder gutzumachen. Inzwischen habe ich verstanden, dass es dabei nicht um Männer oder Frauen ging, sondern nur um zwei bestimmte Personen. Jeder ist ein eigener Mensch und Menschen machen nun mal Fehler. Es ist ungerecht, andere dafür büßen zu lassen, was einer von ihnen einem angetan hat. Und irgendwann ist es auch an der Zeit loszulassen. Sich selbst zu vergeben und weiterzugehen.“

 

Als er die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm plötzlich bewusst, dass Ken in einer ganz ähnlichen Lage war. Er hatte Kase nie verzeihen können, was er ihm angetan hatte und selbst die Tatsache, dass er sich inzwischen gerächt und seinen ehemals besten Freund getötet hatte, hatte nicht dazu geführt, dass er die Sache vergessen und vergeben konnte. Dafür brauchte es Zeit und vielleicht auch jemanden, der einem dabei half.

Er gab Ken einen kleinen Stupser gegen die Schulter. „Lass es für heute gut sein, Ken. Wenn du mal über was reden willst, dann machen wir das, wenn wir beide betrunken genug dafür sind, okay?“

„Gute Idee“, antwortete Ken nicht sehr überzeugt. „Es ist nur...diese ganze Sache mit Schuldig. Ich habe das Gefühl, dass ich mehr hätte tun müssen. Dass ich...“ Seine Stimme erstarb und er zuckte hilflos mit den Schultern.

Yoji sah ihn ernst an. „Ich weiß, was du meinst. Dir muss klar sein, was immer auch Schuldig mit dir gemacht hat, war allein seine Schuld. Der Mann ist ein Telepath, Ken. Wenn er gewollt hätte, wärst du wahrscheinlich nackt auf einem Esel durch Shinjuku geritten und er hätte sich dabei ins Fäustchen gelacht. Von daher sollte er sich schon mal warm anziehen, denn wenn ich ihm das nächste Mal begegnen, wird es keine Gnade geben. Niemand vergreift sich ungestraft an meiner Familie.“

Er warf sich übertrieben in die Brust und bemühte sich um eine möglichst heldenhafte Positur. Auf Kens Gesicht erschien, wie er gehofft hatte, ein kleines Lächeln. Er verdrehte die Augen und boxte Yoji vor die Brust, sodass er wieder in sich zusammenfiel.

 

„Familie?“, mischte sich Omi ein und grinste breit. „Dabei fällt mir ein, dass ich Ken unbedingt noch die Fotos zeigen muss, die ich heimlich von dir geschossen habe. Die mit den gefärbten Haaren.“

Yoji fühlte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich. „Davon gibt es Fotos? Vergiss, was ich gerade gesagt habe. Ich enterbe dich, du undankbares Exemplar von einem Sohn!“

Aya räusperte sich und sah Omi eindringlich an. Der grinste nur noch breiter und schüttelte den Kopf. „Ihr werdet nie rauskriegen, wo ich die gespeichert habe. Also seit in Zukunft vorsichtig. Wenn ihr nicht spurt, könnte es sein, dass ich den Fangirls das eine oder andere Bild zukommen lasse.“

Er wurde wieder ernst. „Wir müssen uns mit Kritiker in Verbindung setzen. Unsere Tarnung ist aufgeflogen. Ich fürchte fast, wir müssen den Laden räumen. Obwohl Schwarz uns vermutlich ohnehin finden wird, wenn sie wollen. Aber da ist ja auch noch Ayas Schwester. Was wird mit ihr? Wirst du sie wiedersehen?“

Aya schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Ich muss...nachdenken.“

„Ja aber bitte nicht jetzt und nicht hier“, warf Yoji entschieden ein. „Wirklich Leute, ich brauche jetzt irgendwas zum Aufbauen.“

In diesem Moment knurrte Kens Magen vernehmlich.

Omis Gesicht hellte sich auf. „Hier in der Nähe gibt es ein Café, das die ganze Nacht geöffnet hat. Lasst uns dahin gehen. Ich sterbe auch gleich vor Hunger.“

Yoji lachte und klemmte sich Omi unter den einen und Ken unter den anderen Arm, während Aya ihnen mit einem letzten Blick zum Krankenhaus folgte. Niemand sah zurück zu der einsamen Gestalt, die immer noch auf dem Vorplatz des Krankenhauses stand und nicht wusste, wohin sie gehen sollte.

 

 

 

 

 

Schuldig stand mit gesenktem Kopf auf dem Vorplatz des Krankenhauses. Er konnte es immer noch nicht wirklich glauben. Sie hatten ihn geschlagen. Die erbärmlichen Weiß hatten ihn tatsächlich geschlagen. Ihn! Mastermind! Er fühlte den Wunsch in sich aufsteigen, ihnen die Gedärme mit bloßen Händen herauszureißen. Dann aber verwarf er den Gedanken wieder. Das war nicht sein Stil. Er hob den Kopf und straffte sich. Da standen sie, lagen sich in den Armen, feierten ihren kleine Sieg. Diese Ignoranten. Ihr Triumph würde nicht von langer Dauer sein. Er würde zurückkommen und sich bitterlich rächen. Aber zunächst einmal musste er hier weg. Selbst er wusste, dass er an dieser Stelle, geschwächt, allein und ohne Plan, nichts gegen sie würde ausrichten können. Er musste neu Stellung beziehen. Ein taktischer Rückzug und nicht etwa eine Flucht, nach der es für einen ignoranten Beobachter vielleicht aussehen mochte. Er fürchtete die Kätzchen nicht. Wenn es jemanden gab, den man fürchten musste, dann war er es.
 

Schließlich setzte er sich in Bewegung. Er wusste nicht wirklich, wo er sich befand, aber wozu gab es Taxifahrer? Er ließ einen Wagen anhalten und nannte dem Fahrer eine Adresse. Er wusste nicht, ob sie dort sein würden, aber es war die naheliegendste Vermutung. Wenn nicht, würde er zumindest alles vorfinden, was er benötigte. Er schloss die Augen, als das Taxi sich in Bewegung setzte. Er wollte die Welt da draußen nicht sehen.

 

Der Wagen hielt vor dem Apartment und er wusste in dem Moment, in dem er ausstieg, dass sie da waren. Zumindest zwei von ihnen. Sein Blick wanderte an dem Apartmentgebäude nach oben und fand das Fenster, das sein helles Licht zu ihm herunter schickte. Er zögerte, bevor sich ein Gedanke in seinem Kopf formte. Was, wenn der Mistkerl das alles geplant hatte? Er würde ihm höchstpersönlich seine verdammte Knarre an den Kopf halten und ihn fragen, was er wohl für die nächste Zeit für sich voraussah. Mit einem entschlossenen Gesicht drückte er auf den Klingelknopf. Es dauerte nicht lange, bis der Summer betätigt wurde. Keine Fragen. Das bestätigte seine Theorie. Wütend wartet er auf den Aufzug und erging sich in Fantasien, Crawford mit seiner eigenen Krawatte zu strangulieren.

 

Er hatte das Apartment kaum erreicht, als sich die Tür bereits öffnete. Er trat ein und sah gerade noch, wie der amerikanische Mistkerl im Arbeitszimmer verschwand. Ohne lange zu überlegen, folgte Schuldig ihm.

„Ich bin wieder da“, sagte er überflüssigerweise. Crawford nickte und zeigte auf einen der Stühle, während er selbst hinter dem Schreibtisch Platz nahm. Schuldig konnte kaum an sich halten, die Gedanken seines Gegenübers zu lesen.

„Lass es und setz dich“, sagte Crawford. Er seufzte. „Ich habe einen Fehler gemacht.“

Schuldigs Augen wurden groß. Dass Crawford so etwa zugab, kam in etwa...nie vor.

„Einen Fehler?“, schnarrte er. „Vielleicht den, dass du mich bei diesen unsäglichen Weiß allein zurückgelassen hast?“

Crawfords Mundwinkel zuckten leicht. „Nein, das meine ich nicht. Ich habe die Sache einfach nicht ernst genug genommen. Ich meine, es ging um Weiß. Keiner von ihnen war nachweislich wichtig.“

„Und was meinst du dann?“ Schuldigs nicht unbedingt sprichwörtliche Geduld neigte sich dem Ende entgegen. Er was müde und hungrig, hatte eine beschissene Nacht gehabt und überhaupt keine Lust mehr, Spielchen zu spielen.

„Ich hätte in Betracht ziehen sollen, was das Ganze mit dir macht. Du bist zu hoch geflogen, der Sonne zu nahe gekommen. Als ich das gemerkt habe, wollte ich es beenden, aber ich hatte den Zeitpunkt verpasst. Es war bereits eine Entwicklung in Gang gesetzt worden, die ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aufhalten konnte.“

„Eine Vision?“

Crawford nickte bedächtig. Schuldig spürte erneut den Drang in sich, die Informationen einfach aus dem Kopf des anderen Mannes herauszuholen, aber er wusste, dass er das nicht durfte. Zähneknirschend wartete er, dass Crawford weitersprach.

 

„An dem Tag, als du Siberian aus dem Keller geholt hast, kam Nagi zu mir. Er bat mich, die Sache zu beenden. Nachdem ich gehört hatte, wie du dich ihm gegenüber verhalten hast, war ich geneigt, der Bitte nachzugeben. Ich griff nach meiner Waffe, um das Problem aus der Welt zu schaffen, als mich die Bilder trafen.“

Crawford war außergewöhnlich ernst. Schuldig entschied sich, ganz entgegen seiner Gewohnheit zu schweigen. Als Crawford nicht weiter sprach, ließ er sich zu einem „Was für Bilder?“ hinreißen.

„Eine neue Weltordnung unter der Herrschaft von SZ. Es war...faszinierend, grausam, durchgeplant, eine weltweite Diktatur, an deren oberster Spitze drei alte Affen saßen, die die Realität in ihren Händen hielten und sie nach Belieben neu formen konnten.“

„Und wir?“

„Schwarz hat in dieser Welt nicht mehr existiert.“

 

Die Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Schuldig hatte das Gefühl, dass er etwa zu trinken brauchte. „Hast du herausgefunden, wie es dazu kam?“

Crawford schüttelte den Kopf. „Nicht genau. In dem Moment, als ich es sah, war der Beschluss, den Weiß zu töten, nichtig geworden. Ich ahnte, dass die Sache aus dem Ruder laufen würde, aber das es notwendig sein würde, um Schwarz zu retten.“

„Alle von uns?“ Die Frage war aus Schuldigs Mund geschlüpft, ehe er es hatte verhindern können.

Crawfords Miene verriet keinerlei Regung. „Es war ungewiss, wie es ausgehen würde.“

Schuldig lächelte dünn. „Ich hätte also wirklich sterben können und du hättest es zugelassen?“

„Es gab keinen Weg, auf dem ich dir hätte helfen können. Es musste von dir ausgehen.“ Crawford lehnte sich zurück. „Die Zeit hat die Angewohnheit, unsere Fehler auszubügeln. Dinge, die geschehen müssen, geschehen früher oder später. Manchmal sind wir in der Lage, die Art und Weise zu beeinflussen, aber im Großen und Ganzen sind wir ihrem Treiben recht hilflos ausgeliefert.“

„Das klingt pessimistisch für ein Orakel.“

„Ich sagte nicht, dass sich nicht ein Nutzen aus dem Wissen darum ziehen lässt. Und dass es nicht Wege gibt, sich mit dem, was geschehen muss, zu arrangieren.“

„Und welchen Nutzen ziehen wir daraus, dass ich Abyssinian geholfen habe, seine Schwester wieder aufzuwecken? Ich meine, es war eine interessante Erfahrung, aber wo liegt der Vorteil für uns?“

 

Crawford sah auf seinen Schreibtisch und begann in einigen Unterlagen zu blättern. Schuldig wusste nicht, ob er ihm auswich oder tatsächlich nach einer Antwort suchte. Schließlich hatte er einige Blätter herausgesucht und legte sie sorgfältig vor sich auf den Tisch.

„Meinen Informationen zufolge hat Eszett in Tibet irgendwelche uralten Schrifttafeln aufgespürt, mit denen man Geister aus der Vergangenheit beschwören und in einen neuen Körper transferieren kann. Sie wollen dieses Ritual durchführen, um unendliche Macht und Unsterblichkeit zu erreichen. Allerdings benötigen sie dafür noch ein geeignetes Gefäß. Einen menschlichen Körper, der dem alten Führer als neue Heimat dienen soll.“

Schuldig überlegte einen Augenblick. Das Bild einer weiten Ebene strich durch seine Erinnerungen. Viel Platz für einen großen Geist. Ihm kam ein Verdacht.

„Du meinst, sie wollen dieses Mädchen? Nun, da werden wir sie wohl enttäuschen müssen. Was immer diese Göre auch besonders gemacht hat, sollte sich heute Nacht in Luft aufgelöst haben.“

Crawford lächelte leise. „Sie werden nach einem Ersatz suchen müssen, aber ich bezweifele, dass sie einen finden werden, bevor die Zeit für das Ritual gekommen ist. Aber sie können es ja in 800 Jahren noch einmal versuchen.“

Schuldig blinzelte ein paar Mal, dann begann er zu lachen. Er lachte und lachte, bis ihm die Tränen kamen. Er wischte sich über die Augen und gluckste: „Ich wusste nicht, dass und so witzig sein kannst.“

Crawford teilte seinen Heiterkeitsausbruch nicht. „Du hast noch einiges aufzuarbeiten. Wir werden uns Eszett trotz allem stellen müssen. Die Führung duldet kein Versagen, das weißt du. Sie werden keine Ruhe geben und sie zu täuschen wird nicht einfach werden. Dafür ist es notwendig, dass Schwarz als Team zusammenarbeitet. Haben wir uns verstanden?“

Schuldig machte eine wegwerfende Geste. „Ja ja, schon verstanden. Was willst du machen? Teambildungsmaßnahmen? Gemeinsam Campen gehen oder so was?“

„Dir wird etwas einfallen“, antwortete Crawford.

„Mir?“

Crawford hob eine Augenbraue. „Du hast uns den Schlamassel schließlich eingebrockt. Also setzt dich auf deinen Hintern und arbeite daran, es wieder auszubügeln. Aber zunächst einmal müssen wir Farfarello wieder einfangen. Nachdem du ihn nicht mehr beaufsichtigt hast, ist er allein auf einen Kreuzzug gegen Gott gegangen. Wir müssen ihn zurückholen.“

„Oh, mal was ganz Neues. War das alles?“

„Du weißt, was du zu tun hast.“

Schuldig seufzte. „Nagi. Alles klar. Ich hätte nicht...ach egal.“

Crawford schob seine Brille auf dem Nasenrücken nach oben. „Er ist stärker geworden dadurch. Wir brauchen ihn stark, wenn wir uns Eszett entgegenstellen wollen.“

Schuldigs Augen wurden schmal. „Du hast das doch alles geplant. Du wusstest, dass es so ablaufen würde.“

Crawfords Gesicht verriet nichts. Schuldig starrte ihn noch einen Augenblick lang an, dann sprang er auf und warf dem Mann hinter dem Schreibtisch einen bösen Blick zu „Fein. Spiel weiter das geheimnisvolle Orakel. Mir egal.“

 

 

 

Schuldig verließ den Raum und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Crawford atmete innerlich auf. Gut. Er hatte Schuldig erfolgreich auf eine falsche Fährte geführt. Indem er einen Fehler zugegeben hatte, hatte er Schuldig davon abgelenkt, dass sein eigentlicher Fehler schon viel früher stattgefunden hatte. Er sah noch die Flammen vor sich, die Masafumi Takatoris Villa verschlungen hatten. Crawford hatte gewusst, dass Schreient noch am Leben war und wie er sie retten konnte. Er hätte nur Nagi damit beauftragen müssen, die brennenden Trümmer aufzuhalten, um die Frauen daraus hervorzuholen. Der Junge hätte mit Freuden gehorcht.

Aber Crawford hatte es nicht getan. Er hatte gedacht, er könnte so den Zerfall des Teams aufhalten, den er durch den Loyalitätskonflikt ihres jüngsten Mitglieds vorausgesehen hatte. Also hatte er Schreient sterben lassen. Ein Fehler, wie sich herausstellte. Sie waren der entscheidende Faktor gewesen, der Schuldig davon abgehalten hätte, sich dem Spiel mit Weiß in diesem Ausmaß zuzuwenden. So hatte Crawford statt Nagi Schuldig an das Schicksal verloren. Und wie es Schuldigs Art war, war er bei seinem Fehlschlag gründlicher gewesen, als Nagi es je hätte sein können. Großes Drama, wie üblich.

 

Er lehnte sich auf den Schreibtisch, schloss die Augen und legte die Hände an die Schläfen. Es gab so vieles, was er bedenken musste. So viel, was schiefgehen konnte. Manchmal empfand er seine Gabe, all dies zu sehen, eher als einen Fluch. Er hatte die Wahrheit gesagt, als er Schuldig erklärt hatte, dass vieles geschehen musste. Man konnte den Zeitpunkt beeinflussen, aber nicht die Geschehnisse an sich. Pfuschte man zu viel daran herum, wehrte sich das Schicksal, die Zeit oder wie auch immer man es nennen wollte. Das war einer der Gründe, warum er so selten über das sprach, was er sah. Die Menschen neigten dazu, sich gegen das Unvermeidliche aufzulehnen. Vor allem Leute wie Schuldig. Der Mann war gut, überaus talentiert, aber immer ein Risiko. So war es schon gewesen an dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal trafen, und so würde es bleiben, bis einer von ihnen irgendwann starb.

 

Er seufzte, öffnete die Augen wieder und sah in seinen Terminkalender. Ein Treffen mit diesem Musiker heute Nachmittag. Also schön. Der Mann hatte großes Potential, auch wenn er ihn bei einem ersten Treffen als eitel und überheblich empfunden hatte. Aber waren sie das nicht alle? Die Leute, die glaubten, die absolute Macht in Händen zu halten. Crawford hatte seine Lektion gelernt. Er hatte versucht, das Schicksal zu ändern; war wie alle anderen darauf hereingefallen, dass sein Wissen ihm die notwendige Fähigkeit dazu verlieh. Diesen Fehler würde er nicht noch einmal begehen.

 

Er blätterte im Kalender und sah sich die nächsten Tage an. Da war dieser Anwalt, Kinugawa. Er war ein interessanter Fall. Er setzte gefährliche Verbrechen auf freien Fuß und heizte so die Stimmung zusätzlich an. Nützlich. Und vermutlich ebenso überheblich wie alle anderen, denen er sich bediente. Aber lange würde es nicht mehr dauern, dann würden sie endlich an den Punkt gelangen, von dem er und Schwarz schon immer geträumt hatten. Eine Welt im Chaos, in der nur noch der Stärkere überlebte. Es lag in der menschlichen Natur, dem Ruf nach Anarchie und Gewalt zu folgen, wenn man die Unzufriedenheit und die Angst nur weit genug anfachte. Alles, was es dann noch brauchte, war ein kleiner Stoß in die richtige Richtung.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]


Nachwort zu diesem Kapitel:
So. Nun hab ich also schon wieder was angefangen. Dieses Mal wird es aber definitiv langsamer vorangehen als letztes Mal. ;)

Das erste Kapitel war eigentlich mal ein One-Shot, den ich auf Englisch verfasst hatte. Ich habe ihn übersetzt und noch ein bisschen ergänzt/geschliffen. Es würde mich aber trotzdem sehr interessieren, ob es sich rund liest. Gerade wegen der Übersetzung. Ich hoffe auch, dass es zum nächsten Kapitel dann keinen allzu großen Bruch gibt vom Schreibstil her. Das Original („Close Encounters“) ist immerhin schon von 2005. Man bildet sich als Autor ja ein, sich mit der Zeit zu verbessern. :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ob Yoji wohl noch was einfällt? Oder ob ihm der Zufall in die Hände spielen wird? Ich weiß es schon, aber ich verrate es noch nicht. ^_~

Für die Bedeutung der Blumen hab ich übrigens mal ein Glossar angelegt. Was man sich halt so zusammen googlet... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich erinnere mich dunkel, mir selbst versprochen zu haben, dass ich diese Geschichte langsamer schreiben und veröffentlichen will. Tzz...erzählt das mal dem Häschen, das schon wieder mit laut trommelnden Pfoten durch die Gegend springt und ständig schreit: "Schreib mich auf!"
Und wer hat eigentlich schon wieder die Leichen in die Geschichte geschrieben? Na los, wer war das? Bitte mal Hand heben! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So. Das nächste Kapitel zickt rum, da wird es also bis zum Update noch etwas dauern. Bis dahin... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack: One more light – Linkin Park


Ok, ganz hart am Hurt and Comfort vorbeigeschrammt. Oder vielleicht kurz mal reingetreten. Aber wirklich nur ganz kurz. Inspiration für das Café war übrigens die Fischauktionshalle in Hamburg. Also von der Idee her und nicht so sehr vom Äußeren. Wer schon mal da war, weiß, was ich meine. Gespräche führen ist da eher nicht so gut. ^_~ Aber die Nacht auf dem Kiez verbringen und dann mit noch reichlich Tüdelüt im Kopf da frühstücken gehen, muss man mal gemacht haben. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Aya tigert zu „Lemon Tree“ von Fools Garden durch die Wohnung. Ansonsten Kill Bill Soundtrack ^_~

Mir gehen grad die Ideen für Szenen im Blumenladen aus. :D Also bitte mal die Hand heben: Wer dafür ist, dass wir zwei Wochen vorspulen und Yoji Aya ins Nachtleben schleifen darf! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Lyrics auf der Tanzfläche aus „18 Wheeler“ von Pink. (Die Tanzszene ist spontan entstanden, als ich das Lied im Auto gehört habe.) Die Dame hat mir auch noch mit „Get the Party started“ über die Runden geholfen und außerdem mischte auch noch Jan Delay mit „Klar“ mit. ;)


Ansonsten habe ich mir am Schluss des Kapitels echt einen abgebrochen.Ich hab Ayas Reaktion einfach nicht gut hinbekommen (da war echt alles dabei von errötende Jungfrau bis Shiiineee!) und bin auch jetzt nur so semi-zufrieden. Vielleicht tröstet es, dass der Abend noch nicht zu Ende ist und im nächsten Kapitel noch weitergeht? Keine Ahnung. Ich habe aber gedacht, ehe ich noch weiter verschlimmbessere, lade ich es mal so hoch und erwarte gerne konstruktive Kritik dazu.


Allen Lesern mal frohe Ostern! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dieses Mal wieder etwas kompakter, nachdem das letzte Kapitel irgendwie länger geworden war, als beabsichtigt. Euch geht da draußen nicht die Puste aus, oder? Das nächste Kapitel ist auf jeden Fall schon halb fertig. ^_~

Die Lyrics im Radio sind aus „Beautiful alone“ von Weiß Kreuz. Ich hoffe, die Übersetzung ist einigermaßen. Es passte so gut, weil sich das Kapitel auch teilweise auf das Drama „Endless Rain“ bezieht, an dessen Ende das Lied ebenfalls kommt.

Und? Kriegen´s die beiden nun endlich auf die Reihe oder war es eine schlechte Entscheidung von Yoji, sich in einen Raum mit Aya zu begeben, wo dieser sein Katana aufbewahrt? ^____ ^°


Ich musste übrigens nachträglich nochmal die Namen der beiden Damen ändern. Die waren etwas *hust* unglücklich gewählt... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Musik im alten Kaufhaus: „The sealed Kingdom“ von Adrian von Ziegler. Macht es noch ein bisschen creepiger. ^_~ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jaaa, hier musste ein Cliff hin. Sorry Leute, aber die Stelle war einfach zu einladend dafür. Außerdem wäre es sonst bestimmt zu lang geworden. Und ja, ich weiß, dass mit ziemlicher Sicherheit Farfarello Ouka getötet hat und er bei dem Kampf dabei war, aber da Aya und er sich da nicht direkt im Kampf begegnet sind und es dunkel in dem Park war, hoffe ich, dass man das mal durchgehen lassen kann.


Kurz nochmal eine Anmerkung zum ersten Teil. Die Tiere sind natürlich nicht „Brehms Tierleben“ entnommen *Schuldig einen bösen Blich zuwerf* (Oh, wenn ihr sehen könntet, wie der Kerl grinst. Ich könnte ihm den hübschen Hals umdrehen...) sondern der Bibel. Obwohl einige von ihnen durchaus auch positive Eigenschaften haben und als Sinnbild für Gutes stehen können, werden doch alle Tiere bis auf den Wolf auch als Symbol für den Teufel verwendet. Der Wolf wird als Ausdruck einer Bedrohung benutzt.


Soundtrack:
Farfarello – „If I had a heart“ Violin Cover by VioDance
Kirche - Requiem for a dream
Fashback - „Please don't leave me“ von Pink (Die beiden kriegen irgendwie zu viel Pink ab. ^__^°)


Öhm...zu langes Nachwort dieses Mal. ^//^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:

„Lone digger“ - Caravan Palace (Abyssinian vs Schuldig)
„Shadow's Mascerade“ – Shiro Sagisu Bleach OST (Siberian vs Farfarello)


Ansonsten schweige ich in diesem Moment lieber... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
Everybody knows – Sigrid
Band, Bang – Nancy Sinatra



Die Jungs sind gerade echt alle nur am Rumnölen. Omi, weil Yoji ihm seine Ansprache schon im letzten Kapitel geklaut hat und er wieder nur die Heulsuse ist, Farfarello, weil er zu wenig Text hatte, Ken will Beschwerde wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz einlegen und Aya wirft mir, statt zu meckern, böse Blicke zu. Nur Schuldig findet sich wieder toll.

'Weil ich eben toll bin!'

„Klappe halten und weiter arbeiten!“

'Alte Sklaventreiberin!' Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
„Hide and Seek" - Namie Amuro (Ich liebe das Wow-Video, das es dazu gibt. So genial *__*)
„Become a beast“ - Karliene



Also ich muss sagen, mit dem letzten Teil bin ich nicht so recht zufrieden. Der sollte eigentlich noch länger werden, das Gespräch zwischen Ken und Farfarello ausführlicher. Aber irgendwie ist es dann doch wieder Richtung Kampf abgedriftet. Mal sehen. Vielleicht später nochmal.*seufz*
Immerhin ist das Lied sooo passend. Hab ich erwähnt, dass ich „Hannibal“ nicht gesehen hab, weil ich so was nicht ertrage? Ich krieg auch bei Blut und Gewalt in Büchern immer so ein ekliges Gefühl in der Armbeuge. Wie beim Blut abnehmen nur schlimmer. Mir ist sogar mal bei „Interview mit einem Vampir“ schlecht geworden. Also erwartet nicht zu viel „Farfarello goodness“. ^_~ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
„Post blue“ - Placebo
„No more heroes“ - Aviators



Ich habe da so eine kleine Stimme in meinem Kopf, die gerade "Sympathy for the devil " summt. Ich frage mich, was sie meint... ^_~


Was ich noch überlege: Are you still with me? Bei einigen weiß ich es ja, aber ich habe gerade das Gefühl, die Geschichte dümpelt? Stimmt das oder ist es ok, wenn ich momentan ein wenig Raum für die "innere Welt" gebe? Würde mich mal interessieren, wie das so ankommt. Also nicht, dass ich es weglassen können wollen könnte, sondern einfach ob es noch Spaß macht, das zu lesen. Irgendwie ist die Geschichte recht viel länger geworden, als gedacht. :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
„The Tower“ und „Hope on fire“ - Vienna Teng (genial die Frau!)
„Becoming a Geisha“ - Memoirs of a Geisha Soundtrack



Lustig und mal am Rande erwähnt (und ich schwöre, dass mir das erst hinterher wieder eingefallen ist):
In einem der Weiß Kreuz Dramen (Wish a dream collection I: Spring dream) einem eher parodistischen Hörspiel, in dem die vier mit Manx und Birman in einem Ort mit heißen Quellen unterwegs sind, gibt es eine Stelle, an die Jungs durch Gift im Essen jeweils einen Alptraum haben. Während Yoji davon träumt, dass sich unzählige Frauen auf ihn stürzen (unter anderem Manx und Birman), die er sich nicht wirklich in der Lage sieht, alle zu befriedigen, und Ken ein wichtiges Spiel vergeigt, weil er sich von Manx und Birman ablenken lässt, die sich im heißen Wasser rekeln (Yoji zieht Ken die gesamte Badeszene lang damit auf, dass er spannen würde, was Ken vehement dementiert), träumt Omi von seinen Kollegen, die ihm eröffnen, dass sie eigentlich eine ganz andere Beziehung zu ihm haben. Yoji behauptet, er wäre eigentlich sein Vater. (ein älteres Mädchen hätte ihn im Kindergarten verführt) Ken sagt daraufhin, er sei das erste Kind dieses Mädchens und somit sein großer Bruder. Schließlich erklärt Aya ihm, dass er erstens bereits sehr viel älter, zweitens eine Frau und drittens seine und Kens Mutter sei. Omi erwacht schreiend.

Leider erfährt man nicht, was Aya geträumt hat...gemein!

So richtig super zufrieden bin ich mit dem Kapitel übrigens nicht. Ich habe das Gefühl, es ist an einigen Stellen sprachlich nicht so ganz rund, aber ich habe jetzt gemacht und getan und es wird irgendwie nicht besser und da ich euch nicht weiter auf die Folter spannen wollte, dachte ich mir, ich lade es einfach mal hoch. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
„Scaraborough fair“, „Blood of angels“ und „Lost in the darkness“ – Nox Arcana
„Wild hearts can't be broken“ - Pink
„Time is running out“ - Muse


Neeein, kein Lemon dieses Mal. Wenn ich das jedes Mal noch mitschreibe, kommen wir ja nie zum Ziel. ^_~
Außerdem habe ich mir vorgenommen, dass ich nichts doppelt haben will. Also stellt es euch eben einfach selber vor. Los, ihr könnt das. ^_____^

Nächstes Mal also Operation Undercover mit einem Gastauftritt von „Chappy the Rabbit“. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
„Raise your glass“ und „Glitter“ - Pink
„Crawling“ und „Given up“ - Linkin Park


Wuah, wieder bis tief in die Nacht getippt. Ich schlafe zu wenig. ;__;

Auweh, da haben Schwarz und Weiß ja alle dieses Mal ein bisschen was zu knabbern bekommen. Mal sehen, wie ich DAS wohl wieder aufgedröselt bekommen. (Keine Angst, ich weiß es schon. ^_~)


Die Info, dass Nagi seine Mutter getötet hat, ist übrigens aus dem Drama „Holy children“, in dem er auch Ken kennengelernt hat. Crawford unterhält sich mit der Nonne darüber und weiß es somit also; Nagi selbst hat es zu dem Zeitpunkt noch verdrängt/vergessen. Ob es ihm zu einem späteren Zeitpunkt noch mitgeteilt wurde, weiß ich nicht. Vermutlich wurde ihm diese Information aber von den netten Menschen, mit denen er sich so umgibt, nicht vorenthalten. Darauf so rumzureiten ist aber trotzdem nicht gerade die feine, englische Art, gell Schuldig?



Schuldig hat gemeint, ich hätte ihn gezwungen und er würde dem kleinen Nagi-chan nie etwas tun. Jetzt flüchtet er gerade vor einer wild gewordenen, fliegenden Schere, die droht, ihm die karottenfarbene Mähe abzuschnippeln, und Nagi guckt unschuldig. Sind sie nicht niedlich? ^___^°


Ach und noch was: Makoto bedeutet übrigens so viel wie Wahrheit oder Ehrlichkeit. Ich fand den Namen ganz passend und im Zuge der Verkleidung auch irgendwie doppeldeutig. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
„What about us“ - Pink
„The Phoenix“ - Fall Out Boy (Put on you warpaint!)
„Path Vol. 2“ - Apocalyptica


Mhm, irgendwie ist der Teil schon wieder länger geworden, als gedacht. Da muss ich jetzt hier wohl mal Stopp machen, auch wenn ich mich schon ewig auf das Zusammentreffen mit Schuldig freue. Ich hoffe, ich nerve euch nicht mit allem, was ich noch dazwischen geschrieben habe. ^____^°

Nur für den Fall, dass das noch nicht klar ist, eine kurze Erläuterung zu „Saliglia“. Das ist ein im Mittelalter entstandenes Akronym, das sich aus den Anfangsbuchstaben der lateinischen Bezeichnungen für die sieben Todsünden (Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Trägheit) zusammen setzt.

Und hoffentlich kann man auch dem, was ich mir denke, was in Farfarellos Kopf vorgeht, einigermaßen folgen? Falls nicht, bitte gerne bemängeln. Ich sagte schon mal, dass ich mich mit dem Kerl schwer tue, oder? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
„Rockstar (Jason Nevins Remix)“ – NERD
„Figure 09“ - Linkin Park


Ja, ich bin fies. Ich wollte (und habe) an dieser Stelle eigentlich schon weiter geschrieben, aber ich dachte mir, ich serviere euch erst mal diesen Teil, weil dieses Kapitel sonst vermutlich sehr lang geworden wäre und es außerdem noch gedauert hätte, bis es fertig wird. Von daher hoffe ich, ihr seht es mir nach, dass es an dieser Stelle mit einem kleinen Cliffhanger endet. ^_~ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
„Devil in a midnight mass“ - Billy Talent
"The Wolf" - SIAMÉS


Die Siegelwörter sind übrigens - wer hat´s erkannt? - Weiß Kreuz Episoden-Namen. Die waren so schön passend. *grinsel* Tja, nun haben wir also Ken wieder und dafür Schuldig am Hals. Ob Weiß sich das so gut überlegt hat? Und was könnte Schuldig dazu bringen, Aya tatsächlich zu helfen? Tjaaa...schauen wir mal. ^_~

P.S.: Ich war übrigens kurz davor, Schuldig wirklich sterben zu lassen, aber ich habe es dann doch nicht übers Herz gebracht. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, ich mache hier nochmal einen Cut, damit ihr schon mal weiterlesen könnt.

Musik gibt es dieses Mal keine. Hab leider nichts gefunden, das so wirklich passte. Der Teil war ohnehin schwierig genug zu schreiben. Ich habe auch so gedacht, dass wir von der anfänglichen Story schon ganz schön weit abgekommen sind. (Und dass ich Schuldig doch einfach hätte sterben lassen sollen, dann wäre Ruhe gewesen... War aber halt anders geplant. *seufz*) Wie sich das wohl liest so im Ganzen? Mal sehen, wenn ich viel Zeit habe, probiere ich es mal aus. Ansonsten hoffe ich, dass ihr mir noch gewogen seid und mit mir noch die letzten zwei Kapitel durchsteht, die uns noch erwarten. Teile davon sind auch schon geschrieben und müssen nur noch angepasst werden. Die Chancen stehen also gut, dass ihr das Ende noch vor dem Urlaub erlebt. ^_~ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
„Castle of glass“ und „Sorry for now“ - Linkin Park
„Heathens“ - twenty one pilots




Soo, jetzt ist also alles beim Alten. Fast. Butterfly Effect und so. Man sollte eben nicht mit der Zukunft herumhantieren, selbst wenn man sie sehen kann. Hat man ja bei Takatori gesehen, dass es im Endeffekt doch nichts gebracht hat. Nun ja, ein bisschen was kommt noch. Seid ihr bereit für etwas Kitsch und ähm...heiße Action im nächsten und nun wirklich allerletzten Kapitel? Na dann mal nichts wie los. ^_ Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (34)
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Von:  radikaldornroeschen
2018-05-29T04:17:18+00:00 29.05.2018 06:17
Oooooooooooooooh, vorbei *heul* TT_TT
Und so ein toller Abschluss! Den Kitsch verzeih ich dir, immerhin gab es den Tisch im Laden als Ausgleich XD
Und wieder so schön mit Witzen durchzogen, herrlich! Das liebe ich.

Also Alles in Allem.... TOLL.
Ich finde deine Geschichte umwerfend und bin wirklich traurig, dass sie nun vorbei ist.
Vielleicht hast du ja irgendwann wieder so ein Projekt, das wäre klasse! Dann bin ich auf alle Fälle wieder dabei!

Aber erstmal wünsche ich dir einen erholsamen Urlaub, den hast du dir redlich verdient ^.~
Fühl dich gedrückt! Liebe Grüße von der Ria ~~~*
Antwort von:  Maginisha
29.05.2018 08:46
Ach, ich freue mich, dass sie dir so gefallen hat. Ist immer toll, wenn man auch Feedback kriegt und weiß, da liest jemand mit. :)))


Die nächste Geschichte würde ich auf jeden Fall, wenn überhaupt, erst nach dem Anime ansetzen. dieses Gewusel immer. Außerdem bietet das Herumgereise im Trailer mal ne neue Kulisse. ^_~

Und falls du sie noch nicht kennst und englisch lesen magst, kann ich dir "Interlude in oils" von Tokyo Shapiro empfehlen. Momentan meien absolute Lieblings-Geschichte mit einem absolut göttlichen Yoji, wie ich finde. Der "Partner" ist zwar Ken, aber das passt in dem Fall einfach.

Bis denne und liebe Grüße
Mag
Von:  radikaldornroeschen
2018-05-29T04:04:10+00:00 29.05.2018 06:04
Seeeeehr cool, hier die drei alten Säcke und Aya als Gefäß einzubringen. So ist wieder der Bogen zur Original-Geschichte geschlagen, und das ziemlich gut!
Und die weite Ebene, da Gefäß... huuuuu, clever!

Irgendwie bemitleidenswert, dass Schuldig tatsächlich NIEMANDEN hat, der sich um ihn schert. Aber so wie er selbst mit seiner Umwelt umgeht... hach, man schwankt zwischen Mitgefühl und "Selber Schuld!" #_#

Ich trau mich gar nicht, das nächste Kapitel zu lesen, denn dann ist es ja vorbei TT_TT
Antwort von:  Maginisha
29.05.2018 08:39
Ja, er könnte einem wirklich fast leidtun. Aber wirklich auch nur fast. Ich meine, er lebt noch, oder?


So ein bisschen unlogisch war die Storyline des Anime bei näherer Betrachtung halt schon irgendwie. Also ich finde, warum Schwarz Aya-chan nun für sich selbst haben wollte, kommt nicht so recht rüber irgendwie. Aber wer braucht schon Logik. *pfeif*
Von:  radikaldornroeschen
2018-05-28T10:39:35+00:00 28.05.2018 12:39
Das hätte ich so nicht erwartet! Das Bild von Ayas Innerem ist krass, und doch richtig passend. Man kann es sich auch gut bildlich vorstellen, da du das wunderbar beschreibst.
Das Innere Monster von Ken... yoah, auf die Idee muss man erstmal kommen XD
Und dass er das dann dort mit hinein zieht, klingt dann auch logisch.

Nur noch zwei Kapitel?! O.O;
Verdammt!
Antwort von:  Maginisha
28.05.2018 13:15
Ha, ich musste jetzt erst mal überlegen, zu welchem Kapitel das Review gehört. Dann fiel mir auf, dass ich das nächste noch gar nicht freigeschaltet hab. Sorry! Hole ich gleich nach. :D

Die ganze "innere Welt" Geschichte ist übrigens ein bisschen von "Glühen" inspiriert, muss ich ja zugeben. Habe mir das inzwischen zumindest in den interessanten Passagen zu Gemüte geführt. Wenn nur das Charakter-Redesign nicht wäre... :D
Antwort von:  radikaldornroeschen
28.05.2018 13:58
Allein wegen der Charaktere hab ich mir Glühen nieee angeguckt XD
Hatte zu sehr Angst, dass es sich verschlechtert... da leb ich lieber in meiner Traumwelt weiter XDD
Von:  radikaldornroeschen
2018-05-24T06:56:50+00:00 24.05.2018 08:56
Sooo, nachdem ich gestern keine Zeit mehr hatte, heute mein Kommentar...
(ich fühl mich hier wie zu Hause XD *sessel aufstell*)

Sehr ausgefuchst, dass Schuldig scheinheilig Kens Siegel löst, aber eigentlich auf eine Selbstzerstörung abzielt! Mit dieser Folge hätte keiner der Weiß-Mitglieder rechnen können! Und dass Ken das weitestgehend unbeschadet übersteht - super! Die Überraschung in Schuldigs Gesicht hätte ich zu gerne gesehen XD

Dass Farfarello nun so... clever ist... was die Schnitte angeht. Sehr beeindruckend. Als Leser kann man da gut mit Schuldig mitfühlen - Zufallstreffer oder Können? Das macht mir Farfi direkt sympathisch ^^
Ich hoffe, da wird noch einmal darauf zurückgekommen.

Dass Crawford ihn (vorerst) hat fallen lassen, passt irgendwie zu ihm. Auch wenn durch die Precog-Sache offen ist, ob er vielleicht noch weiter in die Zukunft denkt und Schuldig wieder bei Schwarz landet.
Aber wohl eher nicht. (Meinem Gefühl nach)

Tja, ein Tod Schuldigs hätte genau so gut reingepasst wie sein Überleben. Beide Varianten hätten sich sicher gut in die Story eingefügt. Nun nimmt die Geschichte aber mit Rans Schwester schon wieder eine neue Wendung O_O;

*auf sessel bierchen öffne*
Bin gespannt, wie es weiter geht!
Antwort von:  Maginisha
24.05.2018 10:11
Huch, so ein langer Kommentar. Danke!

Jaa, alles gar nicht so einfach gerade. Ich hoffe, dass ich es überzeugend hinbekomme, alle losen Fäden zusammenzubekommen. Und alles hoffentlich noch vor meinem Urlaub, sonst musst du ja so lange warten, um die Auflösung zu bekommen. Ich beeile mich. ^_~
Von:  radikaldornroeschen
2018-05-22T11:04:51+00:00 22.05.2018 13:04
Woooaaaah, eyyyy!
Ich bin sprachlos O__O
Wie gemein! Und gleichzeitig eigentlich wurst, weil ich Ken eh immer nur als Randfigur betrachtet habe XD
Aber das wirft natürlich jetzt die Frage auf, ob es sich überhaupt noch lohnt, ihn zu retten - denn wer sollte die Gehirnwäsche rückgängig machen?!
Antwort von:  Maginisha
22.05.2018 13:24
Randfigur? Wie fies...wobei ich zugeben muss, so richtig tiefgehend war seine Betrachtung nicht. Eigentlich gemein, wo er doch so viel Screentime hatte.

Was das "sich lohnen" angeht...nun, da musst du wohl auf´s nächste Kapitel warten. ^_~
Von:  radikaldornroeschen
2018-05-19T18:08:28+00:00 19.05.2018 20:08
Du möchtest, dass wir Farfis Gedanken folgen können?
Nee, das geht doch nicht! Ist doch Farfi!
Wenn du krude Gedankensplitter verwendest, die nach einem geheimen Masterplan Sinn ergeben und für die Leser ein kleines (aber vielleicht lösbares) Rätsel sind, ist das doch viel passender!

Aber eventuell gibt sich das ja noch XD

Wieder ein sehr gutes Kapitel, bei dem das Lesen richtig Spaß macht!
Antwort von:  Maginisha
20.05.2018 08:43
Ich habe halt versucht eine Balance zu finden zwischen "zu viel erklären", weil das einfach nicht zu der Figur passt, die ja nicht so recht in normalen Linien denkt, und dem Ergebnis, dass der Leser dasitzt und denkt: "Und warum hat er die jetzt nicht einfach gekillt?" Im besten Fall kommt also sowas wie "in seinem Kopf hat das bestimmt gerade noch Sinn gemacht" dabei heraus.

Na ich schreibe mal weiter, dann wird das eine oder andere, was man vielleicht grad noch nicht so bemerkt hat, auch noch Sinn ergeben. ^_~
Von:  radikaldornroeschen
2018-05-19T17:53:32+00:00 19.05.2018 19:53
Ja, in dem Fall passt der Name “Makoto“ wirklich zu Omi ^^ trotz Killer-Dasein hat er meines Erachtens nach die reinste Seele.
Wahrscheinlich weil er so kindlich rüberkommt ^^;
Das Picknick klingt schön, ich kann es mir richtig bildlich vorstellen! Bin gespannt, ob Schuldig nicht doch die Drohne bemerkt hat....
Antwort von:  Maginisha
20.05.2018 08:39
Na wie du ja inzwischen gelesen hast, hat er es nicht bemerkt. War irgendwie abgelenkt, der Gute. :D
Von:  radikaldornroeschen
2018-05-19T17:36:54+00:00 19.05.2018 19:36
Jaja, und jetzt werden wir mit unserem Kopfkino allein gelassen, schon klar! XD
Hach, ein einfühlsamer Yoji..... ich schmelze dahin *___* <3
Antwort von:  Maginisha
20.05.2018 08:38
Hihi, das dachte ich mir, dass dir das gefällt. Aya macht´s ihm aber auch nicht gerade einfach.


Und Kopfkino ist doch auch was Feines. ^_~
Von:  radikaldornroeschen
2018-05-18T11:14:08+00:00 18.05.2018 13:14
Hihihiii, toll! Ein Kimono ist eine super Lösung!
Nicht zu abgedreht für eine Verkleidung, aber doch weiblich genug. Toller Kompromiss!
Und dass Manx dann noch Nachhilfe geben soll... ich lieg am Boden vor Lachen... aber es ist natürlich ein wichtiger Baustein, weil sonst trotzdem alles schief gehen könnte. (Habe den aktuellen Jumanji-Film im Kino gesehen und musste prompt daran denken... es ist gar nicht so einfach, weiblich zu wirken XD)
Antwort von:  Maginisha
18.05.2018 16:36
Haha, ja genau. *prust* Ich kannte den Film zwar nicht, hab aber die Szene gefunden, die du meinst. Und das dazu passende Interview mit Jack Black. "I am strangely very good at playing a teenage girl"

Wobei ich die andere Szene mit dem "Wie pinkele ich als Mann?" auch sehr schön fand. :D

Ach, danke für die Lacher. ^____^

Und viel Spaß mit dem Rest zu lesen. ;)
Von:  radikaldornroeschen
2018-04-30T20:01:16+00:00 30.04.2018 22:01
Ooooh, das war super! Danke schön <333
Wirklich gelungen, Daumen hoch :D

Ich denke mal.... Aya wird geschminkt und muss ein Kleid tragen xD ich bin mir nur nicht sicher, ob es ein Vorbild“ dafür geben .... Manx?
Oder irgendein Pop-Sternchen XDDD
Ooooh, Aya würde die beiden vierteilen, höhöhö...

Hiermit verabschiede ich mich in den Urlaub.... frohes Schaffen :)
Antwort von:  Maginisha
01.05.2018 06:58
Hihi, deine Gedanken gehen schon mal in die richtige Richtung, aber es wird noch ein bisschen anders. Wirst es dann ja sehen, wenn du wiederkommst. ^_~

Schönen Urlaub!


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