The vow between the lines von C-T-Black ================================================================================ Kapitel 1: Ein Stück wahrgewordener Traum 1 ------------------------------------------- Wie ferngesteuert verließ Ray die Schule, als der letzte Gong ertönte. Sie war froh, dass dieser Tag endlich vorbei war. Schon in der Nacht hatte sie kaum ein Auge zu getan und selbst während des Unterrichts hatten sie Tagträume verfolgt. Normalerweise kam so etwas eher selten vor, doch in den letzten Tagen hatten diese Träume stark zugenommen. Ständig sah sie diese Bilder vor ihrem inneren Auge. Bilder voll Dunkelheit und Blutvergießen. Sie hinterließen sie mit einem seltsam beklemmenden Gefühl und doch schlug ihr Herz jedes Mal wie wild. So als läge in diesen Bildern eine Art Hoffnung, die sie bisher nicht begreifen konnte. Trotzdem wünschte sie sich endlich von all dem Befreit zu sein. Sie wollte die Nächte wieder durchschlafen können und sich am Tag nicht noch seltsamer Benehmen als nötig. Denn auch ohne diese Anwandlungen war ihr Leben kompliziert genug. Das bewies nicht zu Letzt der Stoß gegen ihre Schulter, der sie stolpern ließ und dafür sorgte, dass ihre Bücher zu Boden fielen. „Rachel Gardner! Wie immer schmerzt es meine Augen dich zu sehen.“ Auf den Knien sammelte Ray ihre Bücher zusammen, als diese eiskalte Stimme ihr Ohr erreichte. Von einer Person, die sie nur zu gut kannte. „Es gibt mehr als einen Ausgang aus dieser Schule, warum benutzt du nicht den, der deinem Klassenzimmer am nächsten ist, Catherine?“, fragte Ray, als sie sich erhob. Dabei glitt ihr Blick über die gleiche Schuluniform, die sie auch trug. Schwarze Schuhe, weiße Kniestrümpfe, ein dunkelblauer Rock, der knapp oberhalb des Knies endete, eine weiße Bluse und ein ebenfalls dunkelblauer Blazer auf dessen linker Brusttasche das goldene Emblem der Schule eingestickt war. Um Catherine direkt in die kalten, jadegrünen Augen sehen zu können, musste Ray ihren Kopf leicht zurücklegen. In Moment wie diesen hasste sie es so klein zu sein. Denn sogar Catherine war mit ihren 1,66 Metern ganze zehn Zentimeter größer als sie selbst. Was sie wunderbar dafür nutzte um auf sie herab blicken zu können. Mit einer Geste ihrer Hand strich sie sich die honigblonden, Schulterlangen Haare zurück, deren spitzen in ein helles Rosa übergingen, bevor sie die Arme vor der Brust verschränkte. „Als würde ich mir von dir vorschreiben lassen, durch welche Tür ich dieses Gebäude verlasse.“, zischte sie abfällig. „Genau! Steh ihr also nicht im Weg und verschwinde von hier.“ Rays Blick wanderte zu der unscheinbaren Gestalt neben Catherine. Ihr ewiger Schatten und Schoßhündchen Lucy. Mit ihren schwarzen Haaren, die sie immer in einem geflochtenen Zopf trug und ihrer übergroßen Brille, wirkte sie meist wie eine graue Maus. Doch wenn es um Catherine ging, konnte sie furchtbar grausam und böse werden. Ray war versucht etwas zu sagen, doch erneut blitzte ein Bild vor ihrem inneren Auge auf. Es war die Gestalt, die sie in den letzten Tagen am häufigsten gesehen hatte. Ein großer Mann, dessen Kapuze sein Gesicht verdunkelte, doch dessen eines, goldenes Auge, sie so intensiv anstarrte, als wüsste er genau was sich auf dem Grund ihrer Seele befand. Noch nie hatte sie mehr von diesem Mann gesehen, aber etwas in ihrem Inneren sagte ihr, dass sie ihm vertrauen konnte. Egal wie unheimlich er auch wirkte. „Sieh sie dir an. Sie ist ganz geblendet von dir.“ Lucy, die zu Catherine sprach, brachte Ray wieder ins hier und jetzt. Wie immer hing sie an Catherines Arm und bettelte um Aufmerksamkeit, doch diese wies sie mit einem schnalzen ihrer Zunge zurück. Daraufhin wich Lucy einen Schritt zurück und zog den Kopf ein. „Ich werde jetzt gehen.“, sagte Ray, als sie das sah und ging durch die Tür nach draußen. Egal wie sehr Catherine versuchte sie zu ärgern. Sie war immer bemüht nicht darauf einzugehen. Immerhin hatte sie nichts davon, sich hier zum Opfer machen zu lassen und sie empfand Lucy als das größere Opfer. Sie sehnte sich nach nichts anderem, als Catherines Liebe. Ohne zu verstehen, dass sie diese wohl niemals erhalten würde. Ray hatte das Tor der Schule fast erreicht, als die Beiden zu ihr aufgeholt hatten. „Du wagst es, mich einfach so stehen zu lassen?“, zischte Catherine. Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, ging Ray weiter und tat so, als würde sie Catherine nicht hören. Sie schritt durch das Tor und bog nach rechts ab. Bis zur nächsten Kreuzung würde sie die Beiden nicht loswerden, doch wenn sie schnell genug lief, dann wäre sie sie in zwei Minuten los. Zumindest war das ihr ursprünglicher Plan. Hätte diese Stimme sie nicht zurückgehalten. Im ersten Moment hatte sie gedacht, sich das Ganze nur eingebildet zu haben. Immerhin besuchte sie eine Mädchenschule und sie kannte eigentlich nur einen Jungen in ihrem Alter. Es war also praktisch unmöglich, dass hier jemand ihren Namen rief. Doch als sie die Stimme erneut hörte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie blieb so spontan stehen, dass Catherine fast mit ihr zusammen stieß. Mit einem angewiderten Geräusch trat sie einen Schritt zur Seite und drehte sich um, um zu sehen, wer da wie ein verrückter nach Ray rief. „Oh wie niedlich. Hast du jetzt einen Straßenköter adoptiert?“, fragte Catherine, als sie sich wieder zu ihr umdrehte. „Geh lieber einen Schritt zurück. Nicht das du dir Flöhe einfängst.“, lachte Lucy und trat tatsächlich einen Schritt zurück. Doch keines ihrer Worte erreichte Ray. In diesem Moment gab es nur die Stimme dieses Mannes, die in ihrem Körper wiederhallte. Immer und immer wieder und sie wusste, dass es die gleiche Stimme war, die sie in ihren Träumen immer wieder hörte. Ganz langsam drehte sie sich um, denn sie hatte Angst sie könnte ihn verschrecken, wenn sie sich zu schnell bewegte. Ein bisschen fürchtete sie auch, es könnte wieder nur eine Einbildung sein. Doch dann traf sich ihr Blick mit seinem und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Alles in ihrem Körper wusste, dass sie hier ihrem Seelengefährten gegenüber stand. Sie waren eins. Verbunden durch ein Band, dass älter war, als ihr jetziges Leben und das sie dazu gebracht hatte, sich zu finden. In diesem Moment existierten für Ray nur dieses schwarze und dieses goldene Auge, in die sie blickte. Und das Gefühl, Zuhause angekommen zu sein, durchströmte sie. Es war genau dieser Augenblick. Als erneut das Bild vor ihrem inneren Auge aufblitzte. Der Mann unter der Kapuze, der diese jetzt ganz langsam abnahm. Darunter kam derjenige zum Vorschein, der jetzt einige Meter entfernt vor ihr stand. „Zack?“ Es war eine ungläubige Frage. Sein Name war ihr gerade erst durch den Kopf geschossen, doch sie wusste, dass er richtig war. All das hier war Richtig und Tränen stiegen in ihr hoch. Ja, sie hatte eine Familie. Ein gutes Leben und gute Noten in der Schule, doch ein Teil von ihr, hatte sich immer so gefühlt, als gehöre sie nicht dazu. Dieses Gefühl, dass ihr ganzes bisheriges Leben beherrscht hatte, war in diesem Moment verschwunden. Ein glückliches Lächeln legte sich auf ihre Lippen und dann konnte sie die Gefühle nicht mehr unterdrücken. Ohne darüber nachzudenken, was die Mädchen um sie herum sagen könnten, begann Ray zu rennen. Sie lief blindlings darauf los, während immer neue Tränen über ihre Wangen liefen und sie nicht aufhören konnte vor lauter Glück zu Lächeln. Es war ihr auch nicht peinlich, denn der junge Mann, Zack, sah genauso aus wie sie. Überglücklich und erleichtert sie gefunden zu haben. Auch wenn er vielleicht nicht der Traum der Mädchen dieser Schule war. Mit seinen wirren, schwarzen Haaren, dem Hockeyschläger über der Schulter und dem Hemd, das unachtsam in seine Hose gestopft war. Das alles war Ray egal. Immerhin konnte sie ihn so ganz für sich haben. Denn jetzt, da sie sein Gesicht gesehen hatte, ergaben all die Bilder, die ihre Träume heimsuchten, plötzlich einen Sinn. Er war es gewesen, der sie aus der Finsternis geführt hatte und der ihr gezeigt hatte, wofür es sich lohnte zu leben. Zack breitete die Arme aus und Ray ließ sich in diese hinein fallen. Sie schlang die Arme um seine schmale Taille und klammerte ihre Finger in seine Jacke, während Zack ebenfalls die Arme um sie legte und fest an sich drückte. Einen unendlich langen Moment verharrten sie so. Glücklich, den anderen gefunden zu haben. Bis Ray schließlich wieder ihre Stimme fand. „Zack! Wie hast du mich gefunden?“, fragte sie unter Tränen. Sie sah zu ihm auf. Einfach weil sie sein Gesicht sehen wollte. Es sich einprägen und nie wieder vergessen wollte. Jede Gefühlsregung. Sie wollte einfach alles in ihr Gedächtnis einbrennen. Und als Zack zu Lächeln begann, erwiderte sie es sofort. Sanft streichelte er ihr Haar, bevor er mit einem breiten Grinsen antwortete: „Du weißt doch, ich verliere nie etwas aus den Augen, was ich wirklich haben will!“ Sie hatte diese Worte schon einmal gehört. Vor viel zu langer Zeit. In einem anderen Leben. Diese Erkenntnis ließ sie vor lauter Freude lachen und sie wischte sich mit einem Ärmel über die Augen, um ihre Tränen zu trocknen. Ohne Erfolg. „Ja… das habe ich schon einmal gehört.“, sagte sie und drückte ihre Stirn wieder an seine Brust. Unendliches Glück überlief Ray. So intensiv, dass sie kaum noch richtig atmen konnte. Er hatte sie gefunden. Hatte wer weiß was angestellt um jetzt hier sein zu können. Doch da war noch dieses andere Gefühl. Tief in ihrem Herzen verborgen, war da ein Körnchen Angst. Wenn Zack so viel auf sich genommen hatte um sie zu finden, dann ergaben all diese Träume, all die Bilder, für ihn einen Sinn. Er wusste ganz genau was sie verband und nur deshalb war er hier. Weil er die Ray haben wollte, die er kannte. Das machte Ray Angst, denn sie konnte höchstwahrscheinlich nicht diejenige sein, die er sich vorstellte. Und plötzlich weinte sie nicht nur, vor Freude. „Aber es… Es tut mir Leid.“, sagte sie zögernd und löste sich von ihm. Sie sah ihn nicht an, als sie einen Schritt zurück trat und seiner Hand auswich, die er nach ihr ausstreckte. „Was?“, fragte er sofort, versuchte sie aber nicht noch einmal zu berühren. Ray atmete tief ein. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es aussprechen konnte. Aber sie musste irgendwie. „Ich weiß nicht-“ Bevor sie überhaupt richtig beginnen konnte, trat Zack einen Schritt auf sie zu und zwang sie so zu ihm aufzusehen. „Hey! Weißt du wer ich bin?“, fragte er ernst. Sie blinzelte bei dieser Frage. Auch wenn die Bilder in ihrem Kopf nicht immer Sinn ergaben, sie wusste zumindest, wer der Mann vor ihr war. „Du bist Zack.“, bestätigte sie ihm deshalb, was ihn nicken ließ. „Richtig. Und du bist Ray! Das ist alles, was wichtig ist. Mehr spielt für mich keine Rolle. Das schwöre ich dir.“, fuhr er fort. Diese Worte schallten in Rays Körper wieder, wie der Klang einer Glocke. Sie waren ihr so vertraut, dass ihre Zweifel sich fast vollständig in Rauch auflösten. „Du… schwörst es mir?“ Sie sagte die Worte, bevor sie sich dessen überhaupt bewusst wurde. Doch sie sorgten dafür, dass Zack zufrieden nickte und sie mit diesem Lächeln anstrahlte, dass jede noch so dunkle Nacht erhellen könnte. „Natürlich tue ich das!“ Ray schluckte und nicke schließlich ebenfalls. Woraufhin Zack breit grinste. „Du kannst dich an alles erinnern, oder? Deine Worte… Sie lösen etwas in mir aus. Berühren etwas in mir... Leider sehe ich immer nur Bilder in meinem Kopf, die für mich keinen Sinn ergeben. Ich will dem auf den Grund gehen, aber ich weiß nicht, ob ich die sein kann, die du dir vorstellst.“ Jetzt hatte sie es doch ausgesprochen. Und sogar ohne größere Unterbrechungen oder stottern. Ihre größte Angst in diesem Moment und sie war gespannt darauf, was Zack sagen würde. „Schwöre es auch.“, war die einzige Antwort, die er ihr gab. „Was?“, fragte sie irritiert. Zack griff auch mit der zweiten Hand an seinen Hockeyschläger, hob ihn von seiner Schulter und schwang ihn so um Ray herum, dass sie einen Schritt auf ihn zu machen musste. Mit dem Schläger in ihrem Rücken, verhinderte er, dass sie ihm noch einmal einen Schritt ausweichen konnte. So gefangen, beugte er sich zu ihr herunter, bis ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander getrennt waren. „Das ist ein Hockeyschläger, Richtig? Ich bin also auch nicht mehr der Zack, den du vielleicht in deinen Träumen siehst. Trotzdem bin ich nicht bereit dich einfach wieder verschwinden zu lassen. Wir gehören zusammen. Das haben wir schon immer. Also schwöre es mir!“ Seine Worte ließen Rays Wangen rot anlaufen. Wie er so etwas einfach so sagen konnte. Vor all den Schülerinnen ihrer Schule. Ohne auf irgendwelche Konsequenzen zu achten. Er tat offenbar nur das, was er für richtig hielt und wofür er bereit war zu kämpfen. Eine Eigenschaft, die ihr sehr imponierte. „Ich schwöre dir, dass alles andere egal ist, solange du mein Zack bist.“ Ray wurde schrecklich heiß, als sie das sagte und ihre Knie begannen weich zu werden. Doch sie schaffte es aufrecht stehen zu bleiben und schließlich seinem Blick wieder zu begegnen. Sein zufriedenes Grinsen zauberte auch auf ihre Lippen ein kleines Lächeln. „Sehr gut. Dann lass uns jetzt wo anders hin gehen. So viele Leute auf einer Stelle kann ich nämlich nicht ausstehen.“, erklärte Zack, schwang seinen Hockeyschläger wieder auf seine Schulter, ergriff Rays Handgelenk und zog sie mit sich. Kapitel 2: Ein Stück wahrgewordener Traum 2 ------------------------------------------- Ray klammerte sich an ihr Trinkpäckchen voll Apfelsaft und konnte nicht anders, als Zack die ganze Zeit über aus den Augenwinkeln zu beobachten. Wie er neben ihr auf der Parkbank saß: Die Füße ausgestreckt, die Ellenbogen auf der Rückenlehne ruhend. Seinen Hockeyschläger hatte er neben sich abgestellt, genauso wie seine Tasche. Er hatte die Augen geschlossen und schien einfach nur die Ruhe im Park zu genießen. Wahrscheinlich war Ray die Einzige, die diese ganze Situation nicht begreifen konnte. Noch heute Morgen hatte sie sich den Kopf über ihre Träume zerbrochen. Hatte sie verflucht und sich gewünscht, sie loswerden zu können. Weil sie das Gefühl der Leere gehasst hatte, dass sie immer danach verspürt hatte. Und die Tränen, die sie deswegen vergossen hatte. Doch jetzt saß sie hier. Neben der Verkörperung ihrer wildesten Träume. Und sie hatte Angst. Weil sie nicht mehr dieselbe war. Sie konnte es auch gar nicht sein. Immerhin hatte sie jetzt Eltern, die sich um sie sorgten. Manchmal sogar etwas zu sehr. Sie hatte ein schönes Zuhause und einen geregelten Alltag. Sie war zwar nicht gerade beliebt, aber das hatte sie bisher nicht weiter gestört. Ihr war es immer egal gewesen, was andere von ihr dachten, nur jetzt war es ihr wichtig dass Zack sie mochte. „Jetzt spuck es schon aus!“ Seine Stimme plötzlich zu hören und den ungeduldigen Ton darin, ließ Ray zusammen zucken und Zack ansehen. Zack öffnete seine Augen einen Spalt breit um sie anzusehen. Was hatte sie sich auch dabei gedacht, ihn die ganze Zeit einfach so schamlos zu beobachten? Als Ray spürte, wie ihre Wangen warm wurden senkte sie beschämt ihren Blick und zog am Strohhalm ihres Apfelsafts, um sich noch einen Moment vor einer Antwort zu drücken. „Du bist immer noch genau so kompliziert wie früher.“, stellte Zack mit brummigem Ton fest und griff nach seiner Dose Cola, die er neben seine Tasche auf den Boden gestellt hatte. „Kannst du mir davon erzählen? Immerhin erinnerst du dich-“ „Das wäre nur Zeitverschwendung.“, unterbrach Zack sie sofort. Überrascht sah Ray wieder auf, doch Zack sah sie nicht an. Er gönnte sich nur einen Schlug aus seiner Dose und stellte sie anschließend wieder zurück. Mit ihrer Frage hatte sie nur von ihren wirren Gedanken und der Pflicht eine Antwort geben zu müssen ablenken wollen. Doch natürlich interessierte es sie auch brennend, was Zack von ihrem alten Leben wusste, das bei ihr noch im Schatten lag. „Wieso?“, fragte sie deshalb zögernd, als Zack sich nicht erklärte. Mit einem Seufzen ließ er sich wieder zurück sinken und kehrte in seine entspannte Haltung zurück. „Weil das vergangen ist und nicht zurück kommt. Was bringt es also, daran zu hängen?“, antwortete er fast schon gelangweilt. „Oh.“, war alles, was Ray darauf erwidern konnte. Zack mochte vielleicht Recht haben, aber er wusste offensichtlich bereits alles aus ihrem früheren Leben. Für Ray fühlte es sich jedoch so an, als könne sie nicht entspannen, wenn sie nicht wusste, was passiert war. Doch Zack machte nicht den Eindruck noch etwas dazu sagen zu wollen und sie wollte ihn nicht zu sehr bedrängen. Also wand sie ihren Blick auf den See, der sich auf der anderen Seite des Gehwegs wie ein Spiegel ausbreitete. Sie überlegte fieberhaft, was sie zu Zack sagen konnte. Das Problem bestand nur darin, dass sie bisher kaum Kontakt zu Jungs gehabt hatte. Weshalb sie nicht so recht wusste, was sie sagen oder machen sollte. Immerhin wollte sie keinen schlechten ersten Eindruck erwecken. Letztlich nahm Zack ihr die Überlegungen ab, als er genervt aufseufzte. Er gab seine entspannte Pose auf und griff nach Rays Kragen um sie nah an sein Gesicht heran zu ziehen. So nah, dass sich ihre Nasen fast berührten. Ein überraschter Laut schlüpfte über ihre Lippen und Zacks Aufmerksamkeit blieb für einen Moment zu lange an ihrem Mund hängen, bevor er sprach: „Na schön. Hör mir gut zu, denn das werde ich nur einmal sagen: Uns ist so viel Scheiße passiert, dass es ein ganzes Leben füllen könnte. Und ich werde nicht derjenige sein, der dich wieder kaputt macht. Also sei froh, wenn du dich nicht erinnerst!“ Er klang wütend. Doch Ray konnte sich nicht vorstellen, dass er auf sie oder ihre Frage wütend war. Was war ihnen nur geschehen, dass er sie so vehement davor beschützen wollte? Von den zusammenhanglosen Fetzen, aus denen ihre Träume bestanden, wusste Ray, dass es eine blutige Vergangenheit voller Gewalt und Missbrauch gewesen war. Doch Zack war am Ende bei ihr gewesen und das Wissen darüber erzeugte alles andere als Furcht in ihr. Dieser Gedanke, zusammen mit der geringen Distanz zwischen Zack und ihr, ließ erneut Hitze in ihr aufsteigen und sie spürte, wie sich ihre Wangen rot färbten. Noch nie hatte sie so etwas gespürt und doch war es alles andere als unangenehm. Es war dieser Moment, in dem tief in ihrem Inneren eine helle Glocke läutete. So als wollte sie ihr zu verstehen geben, dass sie sich gerade am richtigen Ort befand. Das sie genau hier hin gehörte und auf die Erinnerungen an ihr früheres Leben verzichten konnte. Zack blinzelte plötzlich, so als wäre er gerade aus einem Traum erwacht und richtete sich kerzengerade auf. Er wand den Blick ab und presste sich einen Handrücken auf den Mund. Sein ganzer Körper spannte sich an und nur langsam schaffte er es, seine verkrampften Finger von Ray zu lösen. Diese Reaktion erschreckte Ray so sehr, dass sie ihre Hände an Zacks Arm legte und versuchte in seine Augen zu sehen. „Zack? Was ist los?“, fragte sie dabei besorgt. Heftig fluchend schüttelte Zack den Kopf. Er wich ihrem Blick immer noch aus, doch er stieß ihre Hände nicht von sich. „Scheiße Ray! Du hast so ein verdammtes Glück, dass ich nicht mehr derselbe bin wie damals.“, zischte Zack durch zusammengebissene Zähne. Zuerst verstand Ray nicht, was er meinte, doch dann erinnerte sie sich an mehrere Bruchstücke aus ihren Träumen. Wie bei einem Puzzle fanden die einzelnen Teile zusammen und schufen ein größeres Bild. Eins von einem gesichtslosen Lächeln, gefolgt von einem Meer aus Emotionen, Blut und Tod… Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz und sie schlug sich entsetzt eine Hand vor den Mund. Emotionen waren Zacks Trigger. Das, was dafür sorgte, dass er die Kontrolle verlor. „T- Tut mir Leid…“, stammelte Ray entschuldigend. Wie sollte sie jemals wissen, wie sie richtig mit Zack umgehen sollte? Gerade fühlte es sich wie ein Ding der Unmöglichkeit an. Wie sie von einem Fettnäpfchen ins nächste trat und sich dessen gar nicht bewusst war. „Nicht!“ Zack fuhr hoch, ergriff ihr Handgelenk und zog ihre Hand von ihrem Mund. „Entschuldige dich nicht! Ich will sie sehen. Jede noch so kleine Emotion!“ Die Stimme erhobenen sah er ihr endlich wieder in die Augen und darin leuchtete ein Feuer, dass Ray eine Gänsehaut über den Körper jagte. Und unwillkürlich wuchs in ihr der Wunsch, Zack glücklich machen zu wollen. Weshalb sie ein Lächeln auf Ihre Lippen zauberte. „In Ordnung. Aber das Gleiche gilt für dich auch!“, erklärte sie und legte ihre Hand auf sein Herz. Von ihrem eigenen Mut überrascht wurde ihr Lächeln nur noch breiter vor Stolz auf sich selbst, als Zack seine große Hand über ihre legte. Beim Anblick ihres Lächelns hatte Zack die Augen aufgerissen. Jetzt, mit ihrer Hand auf seiner Brust, zog er sie an sich und hielt sie an seine Brust gedrückt. „Ich bin froh, dass ich dich wieder gefunden habe.“ Zacks Worte waren nur ein Flüstern, doch Ray hörte jedes einzelne davon. Wäre Zack irgendein Junge gewesen, ihr wäre diese Nähe, dieser intime Moment höchst peinlich gewesen. Doch mit Zack fühlte es sich richtig an, weshalb sie vorsichtig einen Arm um Zack legte um seine Umarmung zu erwidern. „Ich bin auch froh.“, murmelte sie an seiner Brust, woraufhin Zack sie noch etwas fester an sich zog. Ray konnte nicht sagen, wie lange sie sich umarmten, doch es war so angenehm, dass sie gerne für immer so dagesessen hätte. Das warme Gefühl in ihrem Inneren breitete sich währenddessen unaufhaltsam aus und erzeugte schließlich ein Kribbeln in ihrer Brust, dass von ihrem Schlüsselbein in einer graden Line hinunter in ihr Herz wanderte. Bevor sie dieses Gefühl jedoch weiter ergründen konnte, löste sich Zack von ihr. Er hielt sie eine Armlänge von sich und sah sie einen langen Moment schweigend an, bevor er aufsprang und sich seinen Hockeyschläger schnappte. „Dieses Rumsitzen macht mich ganz hibbelig. Lass uns ein Stück laufen.“, erklärte er, während er mit seinem Schläger seine Tasche aufhob und sich beides über die Schulter schwang. „Was?“ Irritiert blinzelte Ray, stand jedoch ebenfalls auf. Dabei fiel ihr auf, dass sie irgendwann während ihrer Unterhaltung ihren Apfelsaft fallen gelassen haben musste, denn sie hatte in nicht mehr in Händen. Doch da Zack bereits los gelaufen war, konnte sie ihn nicht mehr suchen und entschied sich dafür, lieber zu Zack aufzuschließen. Einen Schritt hinter ihm gehend hatte Ray genügend Zeit Zack noch einmal richtig zu mustern. Er war groß. Gut eineinhalb Köpfe größer als sie selbst. Durch den Hockeyschläger auf seiner Schulter und seinem zielstrebigen Gang wirkte er wie ein klassischer Schläger-Typ. Die wild zerzausten Haare und das unordentliche Hemd unterstrichen diesen ersten Eindruck noch. Doch wenn Ray an die Umarmung zurück dachte, wurde ihr klar, dass es zwei Seiten von Zack geben musste. Eine, mit der er sich vor der Welt schützte und eine, bei der er alle Mauern um sich herum sinken ließ. Ray wollte alles von seinem Leben erfahren. Was er machte und wo er lebte um solch einen ersten Eindruck erwecken zu müssen. Doch es war Zack, der zuerst sprach. Er warf ihr einen scharfen Blick über seine Schulter zu, bevor er einen Schritt aussetzte und Ray zu sich aufholen ließ. „Was läufst du so weit hinter mir?“, fragte er mit diesem genervten Unterton in der Stimme, den sie jetzt schon öfter bei ihm gehört hatte. War er etwa böse auf sie, weil sie so viel Abstand zwischen ihnen gelassen hatte? Ray konnte es nicht genau sagen, weshalb sie beschämt zu Boden sah. Und nicht nur deswegen, sondern auch, weil sie ihm sagen müsste, dass sie hinter ihm gegangen war, um ihn genau beobachten zu können. Das auszusprechen war ihr irgendwie peinlich. „Ich habe mich gefragt, woher deine Schuluniform ist. Die habe ich noch nie gesehen und ich konnte sie am besten mit etwas Abstand betrachten.“, erklärte sich Ray verlegen. Auf diese Erklärung hin gab Zack ein missbilligendes Geräusch von sich. „Das ist eine normale Uniform. Nichts Besonderes. Also lauf gefälligst so, dass ich dich sehen kann.“, knurrte Zack und eine Mischung aus Wut und Hilflosigkeit schwang in seiner Stimme mit. Sein Ton ließ Ray erschaudern und sie griff instinktiv nach dem Saum seiner Jacke und hielt ihn dort fest. Sie spürte, dass noch mehr hinter seinen Worten steckte, doch sie konnte nicht sagen, was es war. „Verstanden. Ich werde nicht mehr hinter dir laufen.“ Einen Moment lang sah Zack sie an, bevor er sich schließlich wieder in Bewegung setzte. Diesmal achtete Ray darauf, dass sie neben ihm ging und hinter seinen großen Schritten nicht zurück blieb. „Meine Schule liegt auf der anderen Seite des Flusses. Ich denke nicht, dass du sie kennst. Wahrscheinlich nicht einmal, wenn du den Namen hörst. Das ist nicht deine Welt, aus der ich komme.“, erklärte Zack nach einer längeren Zeit des Schweigens. Dass Zack nicht aus der Nähe kam, hatte Ray bereits geahnt. Doch dass er selbst von der anderen Seite des Flusses kam, hatte sie nicht erwartet. Ihre Stadt war leider alles andere als ein perfekt ausgewogener Ort. Tatsächlich gab es für jeden einzelnen Bewohner der Stadt eine unsichtbare Grenze, die sie kaum überschritten. Diese Grenze stellte der Fluss dar, der mitten durch ihre Stadt floss. Auf der östlichen Seite gab es gigantische Hochhäuser, schicke Wohnviertel und Gegenden mit unsagbar großen Villen. Den Menschen dort ging es gut und kaum jemand musste schwer körperlich arbeiten. Hier gab es auch unzählige Schulen und Universitäten. Kultur und Bildungsstätten und alles, was man sich für ein angenehmes Leben wünschen konnte. Und dann gab es die westliche Seite. Dort gab es hauptsächlich Industriegebiete und Wohnblöcke für all die Arbeiter, die benötigt wurden. Es gab wenige Schulen und kaum Angebote für die Freizeit. Jeder im östlichen Teil der Stadt wusste, dass, war man westlich des Flusses geboren, man nur sehr schwer aus diesem Teil der Stadt heraus kam, wenn überhaupt. Selbst Ray hatte sich als Kind oft Horrorgeschichten über die Menschen aus dem westlichen Teil der Stadt anhören müssen. Geschichten in denen Menschen dort geboren, gelebt und gestorben waren, ohne auch nur ein einziges Mal ihren Straßenblock verlassen zu haben. Geschichten von einem schweren Leben und keinem Glück. Jeder, den Ray kannte, hätte bei dieser Offenbarung sofort das Weite gesucht. Hätte versucht Zack loszuwerden und nie wieder mit ihm gesprochen. Sie hätten ihn wie Luft behandelt und im Stillen gehofft, dass er von allein verschwinden würde. Der Gedanke, dass Zack dort lebte, ließ ihr Herz schwer werden. Denn egal woher er kam, das hier war immer noch Zack und es war Ray egal, woher er kam. „Zeigst du sie mir irgendwann einmal?“, fragte Ray deshalb mit einem kleinen Lächeln. „Deine Schule, meine ich.“, fügte sie hinzu, als Zack ihr einen entgeisterten Blick zuwarf. „Und dein Zuhause natürlich auch!“ Fassungslos starrte Zack sie einen Moment an, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach. „Was stimmt nur nicht mit dir, Ray? Hast du gar keine Angst? Kennst du keine Abscheu oder Ekel?“, fragte er amüsiert. Unwillkürlich fragte sich Ray, wie viel Spott und Schmerz die Menschen auf der anderen Seite des Flusses ertragen mussten, wenn Zack so sein Leid überspielte. Mit diesem Lächeln, dass seine Trauer wie eine Maske überdeckte. Mit ernster Miene trat sie vor ihn und brachte ihn so zum Stehen. Sie löste ihre Hand von seiner Jacke und nahm damit seine freie in ihre. Umschloss seine große Hand mit ihren beiden Händen und drückte sie fest. „Du bist ein Mensch Zack. Genau wie ich einer bin. Deshalb ist es mir egal woher du kommst oder wohin das hier führt. Solange ich bei dir sein kann bin ich zufrieden!“ Ihre Worte wischten das Lachen von Zacks Gesicht und ließen ihn erneut mit großen Augen zurück. Bevor sich ein sanftes Lächeln auf seine Lippen legte. Eins, dass dafür sorgte, dass Rays Herz ins Stolpern geriet. Zack löste seine Hand aus ihren Händen und legte sie ihr anschließend auf den Kopf. „Wahrscheinlich erinnerst du dich an mehr, als dir bewusst ist…“, murmelte er mehr zu sich selbst, als das Ray es hätte hören sollen, bevor er ihr zugestand: „In Ordnung. Ich werde dir alles zeigen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)