Rebellious von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 3: ----------- I'll show you mine if you show me yours first Let's compare scars, I'll tell you whose is worse Let's unwrite these pages and replace them with our own words Rise against – Swing life away „Ganz schön spät geworden“, war das Erste, das Joe bemerkte, als sie die Wohnung betraten und sein Blick direkt auf die teure Uhr fiel, die im Flur platziert war. Fun Fact: Ihre Mutter sammelte Uhren und liebte es, sie überall in der Wohnung zu verteilen, weil sie so ihren Zwang, ständig wissen zu müssen, wie spät es war, wenigstens mit der Ausrede einer 'edlen Dekoration' verteidigen konnte. Den Kontrollzwang hatte Joe eindeutig von ihr geerbt. Eigentlich hatte er ziemlich viel von ihren Genen mitbekommen – bei ihm wirkten diese Eigenschaften jedoch wundersamerweise wesentlich liebenswerter. „Bin ich froh, dass ich das hinter mir hab“, stieß Gordon hörbar erleichtert aus, während er Joes kleine, kompakte Tasche, die in der Tat nicht den kompletten Fleck hatte verdecken können, auf dem Boden abstellte. Joe schien etwas sagen zu wollen, in der Richtung wie „Stell dich doch nicht so an“, verkniff es sich aber, als Andy ihn demonstrativ in die Seite stubste. „Ich schau mal, ob ich irgendein Shirt für dich finde!“, sagte er schnell, selbst erleichtert darüber, dieses eingesaute Teil endlich ausziehen zu können. Ausziehen, ging es ihm durch den Kopf, als er vor seinem offenen Kleiderschrank stand, und er fragte sich, ob das für Gordon überhaupt in Ordnung war – sich hier und jetzt umzuziehen, während auch noch Joe anwesend war. Andererseits hatten die beiden doch auch gemeinsamen Sportunterricht, was bedeutete, dass sie sich schon oft gegenseitig in der Umkleide gesehen haben mussten. Wahrscheinlich machte er sich viel zu viele unnötige Gedanken. Joes und Gordons Stimmen waren aus dem Flur zu hören, sie unterhielten sich noch über irgendetwas. Er bekam nicht wirklich mit über was, seine Aufmerksamkeit war zu sehr auf das Innere seines Schrankes gerichtet, ohne dabei zu irgendeinem Schluss zu kommen oder auch nur wahrzunehmen, was eigentlich darin lag. Kurzerhand griff er nach dem erstbesten Oberteil, das ihm ins Auge fiel – eines der vielen dunklen Tank Tops, die er besaß –, um es sich selbst anzuziehen, solange er noch alleine im Raum war. Das blieb allerdings beim Versuch, denn als Gordon ins Zimmer kam, hatte er das alte Shirt noch nicht einmal vollständig abgestreift. Gordon sah ihn an, nicht sonderlich offensichtlich oder aufdringlich, aber ausreichend, dass Andy wie automatisch in der Bewegung stockte, bevor er sich das Teil endgültig aus- und das Neue anzog. Er war nicht sicher gewesen, ob er mit einer solchen Situation nicht mindestens einen von ihnen beiden in Verlegenheit bringen würde – Scheiße, er war sich über gar nichts mehr sicher! –, aber zumindest war Joe im Moment nicht im selben Raum. Der Gedanke, dass Joe, auch wenn es unwahrscheinlich war, irgendetwas zwischen seinem Bruder und seinem besten Freund bemerkte, bevor besagter bester Freund überhaupt mit ihm über seine Neigungen gesprochen hatte, schien irgendwie... nicht richtig. Verdammt, er hatte ja selbst bis heute nicht gewusst, dass er eine solche Anziehung zu jemandem verspüren konnte, der keine Frau war! Man lernt nie aus, dachte er, während er ein weiteres Mal in den Schrank griff, um diesmal etwas für Gordon herauszusuchen. Er war etwas kleiner und zierlicher gebaut als er selbst, also im besten Fall ein möglichst kurzes und enges Shirt. Irgendwo musste so etwas rumliegen... „Du brauchst nicht so lange zu suchen. Alles ist besser als das hier“, hörte er Gordon hinter sich sagen und sah, als er sich zu ihm umdrehte, dass er auf das weiße Shirt zeigte – das er mit der anderen Hand festhielt, weil es sich bereits nicht mehr an seinem Oberkörper befand. „Äh... ja, da hast du wohl Recht“, gab er zurück – sehr geistreich – und blieb ebenfalls für ein oder zwei Sekunden an dem Anblick vor sich hängen, bevor er, ohne länger darüber nachzudenken, irgendetwas aus dem Klamottenstapel herauszog. Eines der wenigen Shirts in seinem Schrank, die neben Schwarz auch noch eine Menge Rot besaßen. In diesem Fall kombiniert mit einem beinahe psychedelischen Totenkopfmuster. „Ich hoffe, die längeren Ärmel stören dich nicht. Der Stoff ist auch ziemlich dünn.“ „Kein Problem“, sagte Gordon, nahm das Shirt an sich und zog es sich über – tatsächlich gerade in dem Moment, in dem auch das Geräusch Joes zufallender Zimmertür ertönte, weil er offenbar mit dem, was er dort noch erledigt hatte, fertiggeworden war und sich nun zu ihnen gesellte. Sie hatten schon beim Essen abgesprochen, dass er das tun würde, um Gordon noch die Hausaufgaben bei sich abschreiben zu lassen. Anscheinend brauchte man ihn nur beharrlich genug anzubetteln, und er ließ sich zu allem breitschlagen, egal, wie strikt er dagegen war. „Wo hast du das denn her?“, fragte Joe im Vorbeigehen, wie erwartet seine Schulhefte mit sich tragend, an Gordon gerichtet, der das etwas zu lange Shirt ein wenig an den Ärmeln zurechtzupfte. Trotz der nicht ganz passenden Größe stand es ihm erstaunlich gut. „Hab ich von deinem Bro“, antwortete er das Offensichtliche, während Andy noch damit beschäftigt war, Gordons Aussehen in dem neuen Outfit auf sich wirken zu lassen. „An dir sieht's aber echt ganz anders aus als an mir“, sagte er feststellend, was Gordon lächelnd zur Kenntnis nahm. „Besser oder schlechter?“ Schlechter ganz sicher nicht, dachte Andy, sagte aber nichts, weil Gordon schon wieder von Joe beschlagnahmt wurde, bevor er dazu kam. Verständlich. Sie kannten sich viel länger, und wenn er sich nicht täuschte, gab Joe ihm schon, seit Gordon vor drei Jahren in seine Klasse gekommen war, Nachhilfe. Wenn man schon von 'Beschlagnahmen' reden konnte, dann war es wohl eher er, der das tat. „Sollen wir unsere Runde dann eben noch zu Ende spielen?“, kam es von Gordon, und er brauchte etwas zu lange, um zu realisieren, dass es nicht mehr an Joe gerichtet war sondern an ihn. „Ich beeil mich gleich auch mit dem Abschreiben. Joe meint, du könntest ja solange dein anderes Spiel weiterzocken, mit dem du letztens angefangen hast!“ „'Fantasy Land'? Oh je. Da blamier ich mich nur.“ „Hast du dich nicht vorhin schon beim Autorennen blamiert?“, warf Joe mit dem typischen Charme eines kleinen Bruders ein. Irgendwo hatte er Recht. „Das... werde ich gleich ändern! Außerdem hab ich trotzdem fast jede Runde den ersten Platz gemacht, obwohl dein verehrter Freund mich so abgelenkt hat!“ „Abgelenkt? Ich dachte, auf mittlerer Schwierigkeitsstufe kannst du das im Schlaf?“, grinste Gordon, der sich inzwischen mit Joe auf das Bett gesetzt hatte, neckisch. Andy schnappte sich seinen Controller und setzte sich dazu. „Ihr seid beide doof“, konterte er gespielt beleidigt, wartete bis sein Mitspieler ebenfalls wieder den Controller bereit hatte, und startete dann die nächste Runde, während er Gordon mit einem herausfordernden Blick bedachte, den er sogleich von ihm zurückbekam. Leider half der Siegeswille nicht viel. Am Ende war er zwar der Gewinner des gesamten Cups, aber während zweier Runden war er doch tatsächlich knapp vor dem Ziel von Gordon überholt worden. Irgendwie war er heute nicht in Form. „Das war wirklich spannend. Ich glaub, ich sollte euch öfter beim Zocken zugucken, das ist besser als Sport im Fernsehen!“, sagte Joe offenbar gut gelaunt. „Du guckst doch sowieso keine Sportsendungen!“ Andy streckte sich einmal ausgiebig, blieb einen Moment auf der Bettkante sitzen und stand schließlich auf, um die Konsole auszuschalten. Von den bisherigen Ereignissen des Tages war er ein wenig müde, aber irgendwie auch zufrieden. „Tja, soll ich dann jetzt also mein Lieblingsspiel des Grauens anmachen, um ein weiteres Mal unter Beweis zu stellen, dass ich armes Wesen doch kein so guter Gamer bin, wie ich's gerne wäre?“ „Ja, tu das.“ Joe klang wie eine Mischung aus völlig trocken und schadenfroh. Gordon wirkte noch amüsierter, als er die kompletten vergangenen fünfzehn Minuten schon gewirkt hatte. „Ich hätte nie gedacht, dass du so eine Drama Queen bist“, lachte er, während er sich scheinbar entspannt zurücklehnte und daraufhin von Joe mit einem strengen Blick gescholten wurde. „Jetzt wird nicht gechillt. Nimm dein Heft und mach erst mal deine Hausaufgaben, bevor du dich hier einrichtest!“ „Ist ja gut... Mann, schon mal drüber nachgedacht, Kommandeur bei der Army zu werden oder so?“ „Heißt das nicht 'Kommandant'?“ „Was weiß ich. Du weißt, was ich meine!“ „Euch beiden zuzuhören, reicht eigentlich schon fast als Hauptbeschäftigung“, sagte Andy grinsend dazwischen, als auf dem Bildschirm in großen, bunten Buchstaben der Schriftzug 'Fantasy Land' erschien, nachdem er die Disc ausgetauscht hatte. Der Schriftzug des Verderbens. Gordon schaute abwechselnd auf Joes Heft, sein eigenes Heft und den Fernseher, als Andy sich wieder zu ihnen aufs Bett gesetzt hatte und 'Spiel fortsetzen' anwählte, woraufhin sich eine bizarre Landschaft vor ihnen erstreckte, in der eigentlich nichts wirklich Sinn ergab. Ihm war schon des Öfteren der Gedanke gekommen, dass die Macher des Spiels wahrscheinlich von mehr als einem Joint Gebrauch gemacht haben mussten, als sie sich dieses Wirrwarr ausgedacht hatten. „Abgefahren“, bekundete Gordon sehr treffend. „Heißt dein Charakter wirklich Andy oder hast du den so genannt?“ „Den hab ich so genannt“, antwortete er, während er besagten Charakter auf einen Abgrund zusteuerte, von dem er gleich herunterspringen musste. „Cool, sportlich, gutaussehend... Ich dachte, der muss einfach so heißen.“ Zwar konnte er es nicht sehen, aber er vernahm ein erheitertes Schnauben rechts neben sich. Von noch weiter rechts vernahm er ein leises „Angeber“. „Was ist denn so schwer an dem Spiel?“, war Gordons nächste nebenbei gestellte Frage, während sein Stift sich in Lichtgeschwindigkeit über sein Heft bewegte, wie Andy bei einem kurzen Blick bemerkte. Seiner Schrift war die Geschwindigkeit deutlich anzusehen. „Najaaa“, machte er langgezogen. „Wo soll ich anfangen... Du kannst dir ja einfach mal anschauen, wie ich jetzt versuche, von hier oben, aus ungefähr zehn Metern Höhe, kunstvoll von diesem Abgrund zu fallen und genau auf dem Rücken dieser beknackten Mutanten-Libelle zu landen, auf dem ich dann durch diesen komplett zufällig zusammengewürfelten Luftverkehr fliegen darf – übrigens absolut unmöglich zu steuern – und... Ich hab keine Ahnung mehr, wie der Satz angefangen hat, aber ich glaub, du kannst dir vielleicht schon so ein Bild machen!“ Gordon sah so aus, als würden ihm gerade eine Menge Bilder durch den Kopf gehen. „Klingt spaßig.“ „Ja, sehr. Wenn du das mit eigenen Augen sehen willst, demonstrier ich's dir gerne mal...“ „Jetzt bist du aber derjenige, der meinen verehrten Freund ablenkt!“, meldete Joe sich zu Wort, was Andy nur am Rande mitbekam, weil er sich darauf konzentrierte, zum richtigen Zeitpunk von der Klippe abzuspringen – was ihm nicht gelang. „... wie man es nicht macht“, beendete er seinen Satz verspätet, inzwischen mehr darauf konzentriert, ein krampfhaftes Lächeln aufrechtzuerhalten. „Ich liebe Libellen. Bestes Tier der Welt. Wozu braucht man Flugzeuge, wenn es Libellen gibt.“ „Haste eigentlich schon mal überlegt, dich dabei aufzunehmen?“ „Hä? Wie jetzt?“ „Naja, beim Zocken. Ich hab schon 'n paar Mal gesehen, wie Leute das gemacht haben. Ihre Gameplays irgendwie gefilmt, dabei 'n bisschen vor sich hingequatscht und die Videos dann hochgeladen. Kam ziemlich gut an, das könntest du doch bestimmt auch!“ „Haben wir uns sowas nicht auch mal zusammen angeguckt?“, fragte Joe, den es auf einmal gar nicht mehr zu stören schien, dass Gordons Aufmerksamkeit sonst wohin schweifte. „Du hast mir doch mal so ein Video gezeigt, als ich bei dir war, letzten Winter oder so. Und du meintest, sowas nennt sich 'Let's Play'.“ „Ah...!“ Jetzt erinnerte er sich auch, so etwas schon mal gesehen zu haben – mehr durch Zufall als alles andere. „Ja, ich weiß, was ihr meint. Aber das fand ich irgendwie eher langweilig... Ein normaler Walkthrough hätt's auch getan.“ „Weil der Typ, der da gespielt hat, wahrscheinlich auch unlustig war. Wenn du das machen würdest, wär's das garantiert nicht, glaub mir!“, entgegnete Gordon voller Zuversicht, als sei er sein persönlicher Manager. Andy konnte gar nicht anders als tatsächlich kurz darüber nachzudenken. Einen Versuch war es vielleicht wert. „Wenn mich keiner auspiepst und ich mich so viel aufregen darf, wie ich will“, grinste er halb-abwesend. „Aber erst mal muss ich dieses verdammte Spiel bis zum Ende schaffen, bevor ich was Neues anfange. Ich krieg ja nicht mal diesen einen Sprung richtig hin!“ „Vielleicht kann ich dir ja nachher helfen, wenn ich mit meinen Aufgaben hier fertig bin!“ „Wenn du das schaffst, ist mein Ego endgültig angekratzt“, sagte er nicht sonderlich ernsthaft, noch unwissend, dass Gordon ihm, nachdem er sich etwa eine halbe Stunde lang übergangsweise mit Sidequests beschäftigte, tatsächlich mit seinem angeborenen Talent (oder Anfängerglück) in den nächsten Abschnitt verhelfen würde – und das, so wie es sich anfühlte, nicht nur in diesem Spiel, das er gerade spielte. Nachdem alle Hausaufgaben erledigt waren, verbrachten sie noch Stunden damit, abwechselnd durch die surrealen Landschaften von Fantasy Land zu streifen, ihre Unterhaltungen aus dem MC Burger's fortzuführen und sich alle paar Sekunden über die bescheuertsten Dinge totzulachen. Die Zeit verging wie im Flug, während sie zu dritt zusammensaßen und den Abend gemeinsam verbrachten, als seien sie schon immer ein eingeschworenes Team gewesen. Es war so anders als mit den Punks von der Straße, von denen er kaum etwas wusste. Mit ihnen abzuhängen, war nett, ein schöner Zeitvertreib. Aber es schien mehr ein Lückenfüller für etwas anderes zu sein. Früher hatte Christina ihm viel gegeben, sie war alles gewesen, was er zu diesem Zeitpunkt gebraucht hatte. Bis zu ihrem Absturz. Was war danach gewesen? Er war sich nicht sicher, was danach wirklich noch übriggeblieben war. Aber das, was jetzt mit einem Mal da war, kam diesem Gefühl von damals erstaunlich nahe. „Sorry, es war echt cool mit euch beiden, aber ich muss euch jetzt verlassen“, sagte Joe irgendwann während eines kurzen Momentes der Stille. Andy drehte sich flüchtig Richtung Uhr. „Es ist erst viertel vor zehn!“ „Eben“, gab er zurück. „Spät genug. Wir haben noch kein Wochenende, und ich will noch ein bisschen für den Test morgen lernen, bevor ich ins Bett gehe. Mit euch beiden im selben Raum wär das unmöglich.“ „Da hast du wohl Recht“, bestätigte Gordon, offenbar keiner Schuld bewusst, als Joe sich gerade vom Bett erhob und langsam zur Tür schlenderte. „Dann sehen wir uns heute auch nicht mehr, ne?“ „Nee, ich bleib dann in meinem Zimmer, damit ich rechtzeitig zum Schlafen komme. Und du? Bleibst du über Nacht?“ Gordon schaute erst Joe vor der Tür planlos an und warf dann Andy einen fragenden Blick zu. „Also... Wenn du willst, kannst du in meinem Zimmer übernachten“, sagte er vorsichtig, wohlwissend, dass Gordon natürlich keinen Schlafsack oder Ähnliches dabei hatte. Seiner Geste zufolge – dem obligatorischen Schulterzucken und darauffolgenden Nicken – schien er damit aber kein Problem zu haben. „Klar. Wenn's dir nichts ausmacht?“ „Dann könnt ihr euch morgen früh aber nicht viel Zeit lassen“, mahnte Joe mit der üblichen Strenge. „Es sei denn, ihr wollt mal wieder schwänzen, aber das hoffe ich nicht!“ „Keine Sorge, das klappt schon irgendwie“, meinte Gordon schließlich und beendete die Konversation mit einem liebevollen „Bis morgen, du Streber!“, das von Joe mit einem ebenso freundlichen „Gute Nacht, du faule Sau!“ quittiert wurde, ehe sich die Tür hinter ihm schloss. „Ihr Zwei seid echt ein Herz und eine Seele, oder?“ Gordon lachte auf eine Art, die vieles hätte bedeuten können. „Joaah... Kann man schon so sagen, glaub ich.“ Er starrte eine ganze Weile lang, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlte, auf seine Beine, die er zu einem Schneidersitz ineinandergelegt hatte, bis er mit schiefem Lächeln wieder zu ihm aufsah. „Und es ist wirklich okay für dich, wenn ich heute Nacht hier bleibe?“ Andy überlegte, etwas zu sagen, aber bevor ihm etwas einfiel, kam Gordon ihm mit einem subtilen „Dir ist ja klar, dass ich außer meiner Schultasche jetzt nichts mitgenommen hab“ zuvor. Ja. Das war ihm durchaus sehr bewusst. „Wenn du meinst, dass du nicht weißt, wo du schlafen sollst...“, sagte er, obwohl es das Einzige war, das gemeint sein konnte, „... kann ich dir versichern, dass es genug Möglichkeiten gibt. Ich mein, hier ist die ganze Nacht sturmfrei, du könntest auch die Couch im Wohnzimmer belegen... theoretisch. Also, falls du lieber deine Ruhe und mehr Platz für dich alleine hättest.“ „Okay“, machte Gordon nuschelnd. „Wär dir das denn lieber?“ „Mir...?“ Diese Gegenfrage hatte er nicht kommen sehen. „Naja... nee? Mir ist das egal, du kannst auch hier- Wie macht ihr das denn, wenn du und Joe mal 'ne spontane Übernachtung veranstaltet?“ „Wenn das bei Joe und mir mal passiert, teilen wir uns ein Bett“, antwortete Gordon, und diesmal war es eindeutig, dass dieser Umstand ihn verlegen machte. „Aber das ist was Anderes, weil... weil Joe halt nicht weiß, dass ich schwul bin. Du bist der Einzige, dem ich das gesagt hab. Und vor heute war ich mir da ja selber nicht mal sicher... Joe ist so zierlich und war noch nicht mal richtig im Stimmbruch. Ich dachte, wenn ich ihn mag, hat das nicht unbedingt was zu sagen, und die Mädchen, die ich kenne, sind vielleicht einfach nicht mein Typ.“ „Mann... Du bist echt in meinen Bruder verknallt, oder?“ Ein sehr leichtes Nicken, aber es war als solches erkennbar. „Und sonst? Ansonsten hast du noch keine Erfahrungen mit Typen gemacht?“ Ein Kopfschütteln. „War das erste Mal heute mit dir.“ Stille. Es verging ein Moment, der etwas so Intensives an sich hatte, dass er fast glaubte, eine Gänsehaut zu bekommen. Gordon sah ihn so direkt an, als würde er geradewegs in seine Seele blicken. Aber das konnte er nicht. Wie sollte Gordon wissen, was in ihm vorging, wenn er es selbst nicht einmal wusste? Wahrscheinlich starrte er Gordon sogar ganz genauso durchbohrend an, ohne es zu merken, weil er irgendwie unbewusst versuchte, etwas in ihm zu lesen, irgendetwas, das ihm weiterhelfen würde, diese ganze verfluchte Situation besser zu verstehen und in den Griff zu kriegen. Es half nichts, es schien immer noch wie ein großes Rätsel. „Darf ich dich mal was fragen?“, durchbrach Gordons Stimme wieder die Stille und wartete mit dem Weitersprechen, bis er sein Okay gegeben hatte. „Stehst du denn eigentlich wirklich auf Jungs? Oder war das heute eher... du weißt schon, 'ne Ausnahme, so zum Ausprobieren?“ „Das ist echt 'ne sehr gute Frage...“ „Du hattest also bisher nur was mit Mädchen? Und hast du nie daran gedacht, sowas auch mal... naja...“ „Christina war bisher eigentlich die Einzige, mit der ich jemals zusammen war. Und sie war nicht unbedingt ein typisches Mädchen“, erklärte Andy, als er vermutete, dass Gordon wohl nicht vorhatte, seinen Satz noch zu beenden. „Trotzdem hatte ich nie... wie soll ich sagen... Ich hatte nie Zweifel daran, dass ich auf Frauen steh, weil ich einfach weiß, dass es so ist. Ich bin aber nie wirklich auf die Idee gekommen, dass ich auch was mit 'nem Kerl anfangen könnte. Vielleicht hab ich mal gedacht, dass einer gut aussieht oder so... ach, keine Ahnung!“ „Hast du das von mir auch gedacht, auf der Wiese?“ „Schon irgendwie... Aber da kam eh so viel zusammen, und ich kann mich gar nicht mehr richtig erinnern, wie es jetzt eigentlich dazu gekommen war. Weiß auch nicht... Du stellst echt viele Fragen!“ Andy brachte ein Lachen zustande, während er das sagte, und war froh, dass zumindest die Lage sich etwas gelockert zu haben schien – wenn es auch noch immer ein wenig an Klarheit mangelte. Gordon saß neben ihm, ein schmales Lächeln auf den Lippen, aber irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Wieder verging eine Weile, bis er etwas sagte, allerdings hatte es keinen Bezug mehr zu dem Thema von eben. Nicht direkt. „Du bist wirklich der Erste, mit dem ich über sowas reden kann, ohne dass es mir falsch vorkommt“, gab er mit leiser Stimme und irgendwie nachdenklich von sich. „Alle anderen, mit denen ich reden kann, würden mich wahrscheinlich umbringen oder zumindest das größte Opfer der Stadt aus mir machen, wenn sie das wüssten. Und mein Vater...“ Pause. „Ich hab meinem Vater versprochen, irgendwann eine Frau zu heiraten, mit der ich alt werde und Kinder haben werde und- Es wäre doch einfach so eine Enttäuschung, wenn ich das alles nicht schaffe! Ich wollte ihm diesen Wunsch so gerne erfüllen...“ „Warte, warte, warte“, unterbrach Andy ihn schnell. „Wieso willst du- Ich meine, es ist ja okay, wenn dein Vater sich deine Zukunft so vorstellt, aber es ist doch immer noch dein Leben! Würde er es echt nicht verstehen, wenn du ihm sagst, dass du... naja, andere Vorstellungen hast?“ „Mein Vater ist vor vier Jahren gestorben.“ „Was?! Oh Shit...“ Was sollte man auf so eine Offenbarung antworten? „Tut... mir leid.“ Immer dieser abgedroschene Spruch. „Wie ist das... passiert? War er krank?“ „War er“, sagte Gordon schwach. „Schon länger. Wir wussten alle, dass er nicht mehr lang haben würde. Das war 'ne echt schwierige Zeit. Als wir dieses Gespräch hatten, war das irgendwie wie ein Abschied von ihm. Er wollte mir einfach noch was mit auf den Weg geben, für mein Leben und so. Er hat sich das so für mich gewünscht.“ „Ja, kann ich gut verstehen. Aber... er hätte doch gewollt, dass du glücklich wirst, oder nicht? Wenn er wüsste, dass du dich zu irgendwas zwingst, das du gar nicht willst, wäre er doch bestimmt traurig.“ „Ich weiß nicht.“ Er lächelte wieder, aber es war ein sehr bedrücktes Lächeln. Wie wenn man sich selbst etwas vormacht. „Klar wollte er, dass ich glücklich bin. Aber bestimmt nicht so! Er hatte ja keine Ahnung, dass aus seinem Sohn mal 'ne Schwuchtel werden würde. Das ist es doch, was immer alle sagen. Keiner will einen Homo als Sohn. Und überhaupt... Ich war doch eh immer nur eine Enttäuschung für alle.“ Verdammt, dachte Andy, als er merkte, wie die letzten Worte ihm einen regelrechten Stich versetzten. So fühlte es sich also an, wenn jemand das aussprach, was man selbst schon seit Jahren tief verborgen in seinem Inneren über sich dachte. „Hör mir mal zu“, setzte er bereits an, während er noch dabei war zu überlegen, wie er seine Gedanken am besten in Sätzen formulierte, ohne dass es überdramatisch klang. „Du und ich... Ich glaub, wir haben einiges gemeinsam. Jedenfalls ist es so, dass ich wohl auch schon ein paar Leute enttäuscht hab. Aber weißt du was? Diese Menschen, die von mir enttäuscht sind, weil ich nicht so bin, wie sie mich gerne hätten, können mir sowieso gestohlen bleiben. Ich bin ich, und wenn irgendwer damit nicht leben kann, soll er's halt sein lassen. Du bist eben auch so, wie du bist. Lass dir da nicht reinreden.“ Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, den größten auswendig gelernten Schwachsinn aller Zeiten geschwafelt zu haben. Dann formte sich Gordons bedrücktes Lächeln aber tatsächlich zu einem Schmunzeln, das ihn irgendwie beruhigte. „Wenn man dich so sieht, würd man gar nicht glauben, dass du so poetisch sein kannst“, meinte er, anscheinend ein Stück weit aufgeheitert. „Das fands'te wirklich poetisch? War nur die Wahrheit“, entgegnete Andy gespielt abgeklärt und dachte dann einen Moment darüber nach, ob es das wirklich war oder nur etwas, das er sich immer wieder erfolgreich einredete. Was wirklich die Wahrheit war, war schließlich nur schwer herauszufinden. Wer bestimmte das überhaupt? „Sag mal... Wie würdest du es finden, wenn dein Vater noch leben würde, er aber nie da wäre, du ihn schon seit deiner Kindheit nicht mehr gesehen hättest und immer nur die gleichen hasserfüllten Geschichten von deiner Mutter zu hören bekommst, bei denen du dich schon fragst, warum sie ihn überhaupt geheiratet hat, wenn er angeblich so ein Arsch ist...?“ Irgendetwas zwischen Unverständnis und Mitgefühl spiegelte sich in seinem Gegenüber. „Ähm... Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir richtig folgen konnte, aber... Ist das bei deinem Vater denn so?“ „Jjjjep“, machte Andy schwungvoll. „Ich hab eigentlich bis heute keine Ahnung, wer meine Eltern wirklich sind. Meine Mutter interessiert's ja nur, was Andere über sie denken. Kein Plan, ob sie auch 'ne eigene Meinung hat. Soweit ich mich zurückerinnern kann, hat sie immer auf meinem Vater rumgehackt, uns eingeredet, was für ein Mistkerl er ist... Und ich weiß nicht mal, ob das stimmt oder ob sie sich da irgendwas zusammenreimt, weil ich nicht mehr richtig mit ihm geredet hab, seit ich neun oder zehn war. Er ist ja irgendwann abgehauen, und dann musste er auch noch in den Knast.“ „In den Knast?! Wieso das, was hat er gemacht?“ „Weiß ich ja selbst nicht wirklich! Toll, was? Meine Eltern hassen sich, mein Vater baut irgendeinen Scheiß, ich krieg davon überhaupt nichts mit, kriege aber Jahre später dauernd vorgeworfen, ich wäre genau wie er. Wirklich schön, so einen Spruch ständig zu hören, wenn man nicht mal was damit anfangen kann.“ „Mh-hmm. Das klingt echt hart...“ Gordon sah ihn auf eine Weise an, die irgendwie unschlüssig wirkte, so als wollte er gern noch mehr dazu sagen, wüsste aber nicht was. Natürlich wusste er das nicht. Was sollte man auch großartig zu so etwas sagen? „Sorry“, murmelte Andy, selbst alles andere als sicher, was er aus dieser Konversation noch herausholen sollte. „Das war jetzt vielleicht nicht sehr sensibel von mir... Ich sollte froh sein, dass ich überhaupt noch einen Vater hab, und nicht rumjammern wie ein Baby.“ „Quatsch, du bist kein Baby! Ich weiß nicht, ob es mir nicht an deiner Stelle noch viel mieser gehen würde... Ich mein, wenn ich wüsste, mein Dad ist irgendwo da draußen, aber ich hätte keine Ahnung, was er treibt und ob er mich überhaupt noch wiedersehen will.“ Ja, dachte Andy, das ist die Frage. Vielleicht will er das gar nicht, ist inzwischen wieder frei und glücklich da draußen und hat sich längst was Neues aufgebaut. Nicht dass er das nicht auch verstehen könnte bei diesem Drachen von einer Ehefrau. „Aber sag mal“, setzte Gordon einen Moment später wieder an, „... wenn du neun oder zehn warst, als du das letzte Mal mit ihm gesprochen hast... dann hast du doch noch Erinnerungen an ihn, oder? Wie war er denn so?“ „Naja, das ist lange her. So viel weiß ich wirklich nicht mehr, weil er schon damals oft nicht da war.“ Er versuchte, einen Ausschnitt seiner Kindheit abzurufen, irgendeinen Moment mit seinem Vater, der ihm richtig in Erinnerung geblieben war. „Ich weiß noch, dass ich manchmal nachts Gespräche mit ihm hatte, wenn meine Mutter schon im Bett war. Er kam dann in mein Zimmer und hat mir gesagt, dass die Luft rein ist – sie hätte mir nicht erlaubt, so lange wachzubleiben, aber er hatte nichts dagegen. Er hat sich dann mit mir auf die Couch gesetzt, was mit mir getrunken – ich hab immer mit ihm angestoßen, mit meinem Apfelsaft –, dann haben wir meistens noch was im Fernsehen geguckt und uns leise über alles Mögliche unterhalten. Was mir in der Schule auf die Nerven gegangen ist, wen ich mochte, was ich mir zu Weihnachten gewünscht hab... Und wir haben uns auch mal über Musik unterhalten. Er hat mir eine seiner CDs geschenkt, weil er die doppelt hatte... Das hatte ich echt fast vergessen.“ „Eine CD? Hast du die noch?“ „Ich denke schon. Kann ja mal nachgucken!“ Mit gemischten Gefühlen erhob er sich von der Matratze, um sein CD-Regal zu durchwühlen und das, wonach er suchte, sogar tatsächlich nach kurzer Zeit in den Händen zu halten. Seltsam, dachte er plötzlich, wie lange er diesen Schriftzug und das bunte Cover schon nicht mehr gesehen hatte. Die ineinander verlaufenden Farben schienen geradezu seine Gedankenwelt widerzuspiegeln. Sie waren ähnlich psychedelisch wie das Muster auf dem Oberteil, das er Gordon geliehen hatte. „Hier ist sie“, verkündete er, während er zu seinem Bett zurückging. „Ich hatte sie echt die ganze Zeit im Regal stehen.“ „'The Gates'“, las Gordon den verschnörkelten Schriftzug vor und besah sich die Hülle offenbar fasziniert von allen Seiten. Andy musste ein wenig grinsen, als er daran dachte, wie sein Vater von dieser Band geschwärmt hatte. War genau sein Ding gewesen – diese Art von Musik, bei der man das Gefühl bekommt, sich auf einem wundersamen LSD-Trip zu befinden. „Ist das Best of“, erwähnte er beiläufig, während er das Booklet aus der Hülle zog und sich die von weiteren bunten Schnörkeln und Farbklecksen umrahmten Bilder darin nach mindestens sieben Jahren zum ersten Mal wieder ansah. „Mann, ist das lange her... Ich weiß noch, dass ich diese CD auch damals mit meinem Dad schon mal gehört hab, in einer dieser Nächte. Wir hatten nur ganz schwaches Licht an und haben dabei auf dem Teppich gesessen, mit einer Picknick-Decke und Keksen. Ich hab mir vorgestellt, wir wären auf einem Camping-Ausflug... Auf was für komische Ideen ich früher gekommen bin!“ „Ich finde das gar nicht komisch. Eher ziemlich cool“, bekundete Gordon und machte auf einmal ein Gesicht, als hätte er selbst eine grandiose Idee. „Hast du nicht vielleicht Lust, das nochmal zu wiederholen?“ „Du meinst... jetzt? Das ganze Programm?“ Gordon nickte, zeigte auf die Deckenleuchte und sagte „Die hat doch einen Regler, oder?“. Den hatte sie in der Tat. „Ja, das Licht kann ich dimmen. Na gut, dann mach du doch die Musik schon mal an! Mein CD-Player steht da drüben. Ich guck mal, ob ich noch was zum Naschen hier finde, nur auf dem Boden sitzen können wir eher nicht. Du siehst ja... kein Platz und so.“ „Kein Problem, solange der Rest stimmt“, hörte er Gordon von der gegenüberliegenden Seite seines Zimmers aus antworten, wo er damit beschäftigt war, den CD-Player in Gang zu kriegen, der schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. Andy kramte unterdessen eine noch halbvolle Packung Cracker hervor, nachdem er das Licht auf ein Level heruntergedreht hatte, das vage an späte Abenddämmerung erinnerte. Es war eine so absurde Situation. Die ersten sphärischen Klänge der CD erfüllten den halbdunklen Raum, es war das nostalgischste Dejavu, das er jemals erlebt hatte – und mittendrin saß Gordon wie eine schemenhafte Gestalt auf seinem Bett. Gordon, den er heute erst richtig kennengelernt hatte, obwohl es sich anfühlte, als seien sie schon seit Jahren befreundet. Eines war klar, diesen Tag würde er so schnell nicht vergessen. „Was ist los?“ Gordons Stimme drang wie durch Watte zu ihm vor, als er sich wieder aus seiner Starre gelöst hatte. „Was soll los sein?“, gab er zurück, setzte sich wieder auf seinen Platz und positionierte die Cracker so, dass sie beide gut herankamen. Gordon bediente sich bereits und wirkte sichtlich zufrieden. „Wie du da gerade gestanden hast, das sah ein bisschen aus wie hypnotisiert. Also dachte ich, ich frag lieber mal.“ Andy genehmigte sich ebenfalls einen Cracker, den er vor dem Essen einen Moment lang betrachtete, weil er in dem Licht so surreal aussah. „Du hast schon Recht“, sagte er. „Ich fühl mich wirklich ein bisschen hypnotisiert. Wenn ich vorhin nicht über meinen Vater geredet und mich so weit zurückerinnert hätte, hätte ich an das alles von damals gar nicht mehr gedacht. Es war so weit weg... und jetzt sind wir hier und hören diese Songs und... es ist alles genau wie früher.“ „Jetzt müssen wir uns nur noch vorstellen, wir wären auf einem Camping-Platz“, lachte Gordon unbekümmert, fast so, als seien sie wirklich auf einem Ausflug, allein, ohne irgendwelche Eltern, Lehrer oder andere Menschen, die ihnen irgendetwas vorschreiben konnten. Andy griff nach der Fernbedienung und richtete sie auf den Bildschirm, auf dem noch immer das Pausenmenü von 'Fantasy Land' flimmerte. „Das geht aber besser, wenn die Glotze hier nicht so rumleuchtet“, sagte er, sich vornehmend, später noch nach einem Speicherpunkt zu suchen. Lange konnte er jedoch nicht über sein Spiel nachdenken, weil er, sobald er sich wieder zu Gordon umdrehen wollte, bemerkte, dass er dafür nach unten schauen musste. „... Bist du müde?“ Ein Kopfschütteln. „Ich dachte nur, im Liegen kommt das Feeling besser rüber. Wenn wir campen würden, würde ich mich auch ins Gras legen und mir die Sterne ansehen. Du nicht?“ Er versuchte sich bildlich vorzustellen, dass sie sich im Freien befinden würden, so wie er es auch als Kind getan hatte, und zu überlegen, ob er dann wohl dasselbe tun würde. Aber alles, was er sah, war, dass Joes bester Freund in gedämpftem Licht vor ihm lag, in seinem Shirt, das – wie um alles noch surrealer wirken zu lassen – auch noch ein Stück nach oben gerutscht war. Nein, das war doch einfach zu unwirklich, um sich in der Realität abzuspielen... „Fuck“, entwich es ihm leise; er hatte keine Ahnung, ob Gordon es gehört hatte oder ob es in der Musik untergegangen war. Er wusste auch nicht, was er sonst sagen sollte, also ließ er es bleiben und legte sich neben ihn, weil es das Naheliegendste zu sein schien, das er jetzt tun konnte. Gordon blieb auf dem Rücken liegen, wandte ihm aber sein Gesicht ein wenig zu. Wieder dieses aufdringliche Ziehen im Magen. „Weißt du was?“, sagte er ruhig. „Ich glaube nicht, dass dein Vater ein schlechter Mensch ist. Was du da vorhin erzählt hast, hört sich für mich so an, als wärst du ihm sehr wichtig gewesen. Und außerdem – jemand, der solche Musik hört, kann gar nicht so übel sein.“ Jetzt war es Andy, der lachen musste. „Wahrscheinlich hast du Recht“, entgegnete er, auch wenn seine Zweifel damit noch lange nicht beseitigt waren. „Ich denke ja auch nicht, dass er wirklich ein schlechter Mensch ist. Aber irgendeinen Grund wird’s schon haben, dass er im Knast sitzt. Und wenn ich ihm wirklich so ähnlich bin... Was ist, wenn aus mir dann irgendwann das Gleiche wird?“ „Aus dir wird nicht das Gleiche“, sagte Gordon. „Es kann ja sein, dass du ihm ähnlich bist, aber das muss doch nichts heißen! Du bist eben du, das hast du selbst vorhin gesagt. Und... ich finde, du solltest auch genau so bleiben.“ „Ja...“ Hatte ihm vorher schon einmal jemand so etwas gesagt? Er war sich nicht sicher. „Danke“, brachte er viel zu kleinlaut heraus und hoffte, dass man trotzdem hören konnte, wie ernst er es meinte. Gordon richtete sich ein Stück weit auf, sodass er sich mit den Armen auf der Matratze abstützte, und sah ihn eine Weile lang schweigend an. Andy richtete sich ebenfalls auf, um wieder mit ihm auf Augenhöhe zu sein. „Alles okay?“, fragte er zögerlich. „Wenn du noch über irgendwas reden willst, dann sag's ruhig! Du kannst mir alles erzählen.“ „Hm“, machte Gordon scheinbar nervös, seufzte leise und schien unschlüssig zu sein, wo er am besten hinschauen sollte. „Ich würde“, setzte er an, brach dann aber ab und fing von Neuem an. „Darf ich dich nochmal küssen?“ Diese Art von Frage hatte er nicht kommen sehen. Dabei hätte er absolut damit rechnen müssen, dass dieses Thema nicht einfach so abgehakt war – und trotzdem war er darauf nicht gefasst gewesen. Gordons Haltung wirkte angespannt, abwartend. Natürlich wartet er! Auf deine Antwort, du Volltrottel!, schleuderte ihm seine innere Stimme entgegen, und er wollte sich am liebsten selbst ohrfeigen, als sein Gegenüber sich mit den Worten „Sorry, vergiss es“ wieder von ihm wegdrehte. „Nein... warte!“ Besser spät reagieren als nie. „Du musst dich nicht entschuldigen! Mir tut's eher leid, ich... ich weiß einfach gerade nicht, was ich denken soll. Mir kommt das alles irgendwie vor wie ein Traum...“ „Ich weiß, was du meinst“, gab Gordon wider Erwarten zurück. „Mir kommt's genauso vor und ich weiß auch die ganze Zeit schon nicht, was ich denken oder sagen soll. Seit der Sache im Park.“ „Du meinst, dann-“ Wie automatisch atmete Andy einmal tief aus. Dann war Gordon doch nicht so locker und selbstbewusst, wie er gedacht hatte. Und irgendwie beruhigte ihn das ungemein. „Ich bin echt ein Idiot...! Und ich hab immer gedacht, ich wäre gut im Flirten, aber diesmal hab ich echt versagt!“ Ein unbeholfenes Grinsen. „Ich kann auch nicht flirten. Ich weiß gar nicht, wie das geht!“ „Ist ja auch egal, jetzt brauchen wir das nicht mehr“, sagte er mit wahrscheinlich ebenso sichtbarer Unsicherheit. „Und, ähm... Wegen deiner Frage vorhin“, fügte er etwas verspätet hinzu, „... Ja. Darfst du.“ Für einen kurzen Moment schien Gordon nicht darauf zu kommen, was er damit meinte. Aber als er realisiert hatte, dass es praktisch eine Einladung für ihn gewesen war, schien doch noch eine gewisse Selbstsicherheit in ihm aufzukommen, denn er zögerte nicht mehr lang, bis er den letzten Abstand zwischen ihnen überbrückte und der Einladung nachkam. Dieses Mal war es anders als im Park, bewusster vielleicht und weniger zurückhaltend. Möglicherweise lag es daran, dass sie in der kurzen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, bereits so vieles miteinander geteilt und sich gegenseitig anvertraut hatten, dass es keine Barrieren mehr zwischen ihnen gab, die ihnen irgendwie im Weg waren. Zumindest war das sein Eindruck, als er Gordon so nah bei sich spürte, eine seiner Hände in seinem Nacken, die anfängliche Schüchternheit fast vollständig hinter sich lassend. Andy gab sich dem widersprüchlichen Gefühl von etwas Unbekanntem und gleichzeitig so Vertrautem völlig hin, berauscht von der Atmosphäre, die sie sich selbst geschaffen hatten, und dem Bewusstsein, etwas zu tun, das er vorher noch nie getan hatte; und in diesem Moment wollte er sich nicht vorstellen, heute noch damit aufzuhören. Da es allerdings auf Dauer zu anstrengend wurde, sein Gewicht auf nur einen Arm zu verlagern, mit dem er sich abstützte, ließ er sich kurzerhand rücklings auf die Matratze sinken und zog Gordon langsam mit sich, was sie nicht daran hinderte, mit dem, was sie taten, fortzufahren. Aus dem anfangs noch eher sanften Kuss war längst ein alles andere als gehemmter Zungenkuss geworden, und weder Gordon noch er selbst schienen länger darüber nachzudenken, was sie mit ihren Händen taten. Gordons Berührungen schienen sich über seinen gesamten Körper zu erstrecken, und verdammt, es fühlte sich so gut an, dass er allmählich glaubte, mit jeder weiteren verstreichenden Sekunde mehr und mehr die Beherrschung zu verlieren. Mit Sicherheit war das auch Gordon nicht entgangen, was ihn jedoch nicht im Geringsten störte, da es ihm selbst allem Anschein nach nicht anders ging. Es war eigenartig, ihn so zu sehen, wie er, nachdem er sich irgendwann von ihm gelöst hatte, über ihn gebeugt auf dem Bett kniete und ihn mit einem Blick betrachtete, der ihm augenblicklich einen Schauer über den Rücken jagte. „Gott“, hörte er sich selbst geistesabwesend sagen. „Ich bin wohl echt nicht so hetero, wie ich immer gedacht hab.“ Gordon schien diese Aussage zu amüsieren; Andy konnte es ihm nicht verübeln. „Dann haben wir ja beide heute etwas Neues über uns gelernt“, erwiderte er, während seine Arme noch immer locker um Andys Schultern geschlungen waren, und erst jetzt wurden ihm diese Kleinigkeiten bewusst, die allzu deutlich bewiesen, dass es nun mal kein Mädchen war, mit dem er hier das Bett teilte. Zwar waren seine Arme, passend zu seiner gesamten Statur, recht dünn, aber trotzdem bei Weitem kräftiger als Christinas Arme und Hände, die ihn schon so oft auf verschiedenste Weisen berührt hatten. Ihr Körper war kleiner gewesen, weicher. An Gordons Körper war nichts Weiches, seine Stimme war tief, und im Gegensatz zu Christina war es ihm auf nur einen gezielten Blick anzusehen, dass diese Nähe eine gewisse Wirkung bei ihm hinterlassen hatte. Es war ein so merkwürdiger Gedanke, dass er diese Wirkung hervorgerufen hatte, und noch merkwürdiger war, wie sehr er in diesem Moment noch mehr wollte als das. „Du hast das auch noch nie gemacht, oder?“, hörte er seine eigene Stimme wieder im Raum, als würde sie von weit entfernt kommen und nicht wirklich zu ihm dazugehören. „Oder doch...? Hast du schon mal ein Mädchen geküsst?“ „Ja, hab ich“, antwortete Gordon nachdenklich. „Aber das war nicht so wie mit dir gerade. Es war ganz nett, das mal auszuprobieren, und danach hab ich mich auch erwachsener gefühlt... Aber es war irgendwie nichts Spannendes dabei.“ „Ah ja, versteh ich. Mit mir ist es natürlich viel spannender!“ „Ja, schon!“ Interessant. Bei jeder anderen Person hätte diese Antwort vermutlich entweder schleimig oder zumindest ansatzweise ironisch geklungen, aber bei ihm klang sie einfach nur ehrlich. Eigentlich konnte er sich auch kaum vorstellen, dass Gordon überhaupt lügen konnte. „Weißt du, was ich spannend fänd? Wenn du mal deine Mütze absetzen würdest!“, gab Andy seinerseits zurück und machte sich bereits selbstständig daran, ihm das unnötige Teil abzustreifen und danach auf dem Tischchen neben dem Bett abzulegen, wo es nicht störte. „So, das sieht doch schon viel besser aus, wenn du mich fragst.“ „Findest du? Ich hab eigentlich gedacht, mir würde das gut stehen“, schmollte Gordon gespielt – oder auch weniger gespielt – beleidigt und strich sich wie aus Reflex durch seine Pony-Strähnen, wie um sie zu richten, obwohl sie nicht einmal durcheinander waren. „Das streite ich auch nicht ab, aber erstens haben wir fast Sommer. Es ist viel zu warm, um so rumzulaufen.“ „Und zweitens?“ „Zweitens... wollte ich halt einfach jetzt deine Haare sehen. Wenn's dir keine Umstände macht.“ „Nee, tut es nicht“, sagte er mit einem plötzlich verdächtigen Grinsen. „Aber wenn ich sage, dass ich dich jetzt gerne nochmal ohne Shirt sehen würde, darf ich's dir dann auch einfach ausziehen?“ „Hm. Kannst du ja mal versuchen.“ Gordon sah ihn auf diese Antwort hin beinahe so an wie ein Hund, der ein Kommando nicht richtig verstanden hat. Dann entschied er sich aber offenbar doch noch, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, indem er sich zu ihm herunterbeugte und etwas ungeschickt an dem Tank Top herumzupfte, das zum Teil von Andys Jeans und dem Nietengürtel bedeckt war. „Du solltest mir übrigens nicht so viele Fragen stellen“, merkte er beiläufig an, während er Gordon, der es endlich geschafft hatte, den Stoff seines Oberteils ein Stück nach oben zu schieben, aus einem Bedürfnis heraus durch die Haare strich. „Wenn du auf irgendwas Lust hast, dann mach's am besten einfach.“ „... Aber wie soll ich es denn sonst wissen, wenn du irgendwas nicht willst?“ „Das könnte ich dir dann ja immer noch mitteilen.“ Gordon nickte leicht, wirkte aber ziemlich verunsichert. „Um ehrlich zu sein, fällt mir auch eigentlich nicht viel ein, das ich nicht wollen würde“, fügte er hinzu, um ihm die Anspannung ein wenig zu nehmen, stellte aber selbst erst in dieser Sekunde fest, dass es da tatsächlich nicht viel gab. Er hatte schon so vieles mit Christina ausprobiert, und damals war er selbst derjenige gewesen, der ein Jahr jünger gewesen war als sie und der in diesem Aspekt von ihr gelernt hatte. Gordon war genauso unerfahren wie er selbst zu dieser Zeit. Hör auf, Gordon mit dir selbst oder Christina zu vergleichen, schalt er sich gedanklich, kam aber ohnehin nicht mehr dazu, mit den Gedanken allzu sehr abzuschweifen, als Gordon dazu übergegangen war, sich an seinem Gürtel zu schaffen zu machen und mit der Jeans schließlich auch seine Shorts etwas herunterzuziehen. Und nur wenige Sekunden später spürte er bereits dessen Lippen und Zunge an den Stellen, die er kurz zuvor freigelegt hatte; erst weiter oben, dann immer weiter unten. Noch weiter. Mittlerweile hatte er die Jeans, inklusive der Shorts, bis über seine Hüften gezogen, und Andy überkam schlagartig ein mehr als seltsames Gefühl, als Gordon sich für einen Moment einfach bloß anschaute, wie er unter seinen Sachen aussah. Ein kurzer Blick in seine Augen, mit dem er ihn offenbar stumm um Erlaubnis fragte, reichte jedoch, um dieses Gefühl wieder verfliegen zu lassen, und im nächsten Augenblick schaffte es kein anderer Gedanke mehr zu ihm vorzudringen, weil seine Konzentration sich vollständig auf Gordon beschränkte, dessen Gesicht zwischen seinen Beinen war und dessen Mund und Hände ihn mit einer Vorsicht berührten, als sei er eine zerbrechliche Porzellanpuppe. Ja, es mangelte ihm merklich an Erfahrung – aber allein die Tatsache, dass er das hier tat, jetzt wo niemand sonst mit ihnen im Raum war... allein das grenzte fast an Reizüberflutung. Mit der Zeit schien er sich mehr zu trauen, diese Vorsicht und Unsicherheit langsam abzulegen, genau wie es auch zuvor bei dem Kuss gewesen war. Ganz offensichtlich hatte er sich seinen Rat von vorhin sehr zu Herzen genommen; vielleicht war es ihm auch einfach unangenehm, wenn ihm seine Unerfahrenheit zu sehr anzumerken war, weshalb er jetzt umso mehr versuchte, sie nicht durchscheinen zu lassen. Was auch immer es war – weiteren Ansporn brauchte Gordon definitiv nicht mehr. Eher im Gegenteil. „Fuck... Warte“, brachte Andy irgendwann ein wenig zu zittrig hervor, ehe er sich wieder ein Stück mit dem Oberkörper aufrichtete. „Stopp mal kurz. Ich glaub, wenn du so weitermachst, bin ich gleich schon... naja, fertig.“ „Oh“, machte sein Gegenüber bloß überrascht, offenbar war das nicht seine Absicht gewesen. Umso besser. „Ist ja nicht schlimm“, sagte er, halbherzig am Stoff seiner Hose zupfend, als ihm der Gedanke kam, dass Gordon sich möglicherweise doch zu überfordert fühlen könnte, wenn er sich jetzt einfach selbst von seinen Klamotten befreite. Andererseits... wenn er das alles nicht wollen würde, würde er sich dann nicht anders verhalten? Verdammt, warum war ihre Kommunikation ausgerechnet jetzt wieder so schwierig geworden? „Ich, ähm... hätte nichts dagegen, wenn du dich auch freimachen würdest“, deutete er nachträglich an, da Gordon scheinbar im Moment ebenfalls nichts mit sich anzufangen wusste, und hätte sich am liebsten dafür geschlagen, dass er sich gerade anhörte wie ein idiotischer Vierzehnjähriger. Wenigstens hatte diese unglaublich subtile Andeutung dazu geführt, dass wieder etwas passierte und sie sich nicht länger unbeholfen gegenseitig anstarrten. Während Gordon dabei war, sich das gemusterte Shirt abzustreifen, nutze Andy endlich die Gelegenheit, dasselbe mit seiner Jeans zu tun, und beugte sich anschließend etwas weiter nach vorne, um Gordons jetzt nackten Oberkörper aus der Nähe betrachten zu können. Selbst im Halbdunkeln ließ die Farbe seiner Haut in ihm die Frage aufkommen, ob der Junge jemals wirklich in Kontakt mit Sonnenstrahlen gekommen war. Anstatt sich in irgendeiner Form dazu zu äußern, behielt er es jedoch für sich, dass diese Blässe ihm eigentlich ganz gut gefiel – es hätte sich ausgesprochen ohnehin viel zu kitschig angehört – und begann stattdessen, dasselbe mit ihm zu tun, was Gordon vorhin mit ihm getan hatte. Ein leises Stöhnen entwich ihm, als er eine Hand über seinen Schritt streichen ließ, der sich unter dem dunklen Stoff mehr als deutlich abzeichnete. Es dauerte nicht lang, bis besagter Stoff sich um einige Zentimeter nach unten verschoben hatte, und kurze Zeit später lagen sie beide, sämtlicher Kleidungsstücke entledigt, wieder in ihrer vorherigen Position auf dem Kissen. Mit dem Unterschied, dass es sich jetzt, wo Haut auf Haut traf, noch intensiver anfühlte als vorher schon. Gordons Blick schien irgendwo an der Bettkante hängengeblieben zu sein, bis er ihm schließlich direkt ins Gesicht sah und einen Moment lang innehielt. „Schon komisch“, murmelte er, mit den Gedanken scheinbar woanders. „Heute Morgen war ich mir noch nicht mal richtig sicher, ob ich wirklich auf Jungs stehe, und jetzt sind wir plötzlich hier und- Ich kann das irgendwie gar nicht glauben.“ „Wenn mir vor ein paar Stunden jemand gesagt hätte, dass ich heute Nacht mit dem besten Freund meines Bruders Sex haben würde, hätte ich das auch nicht geglaubt.“ „Hmh.“ Was genau dieser Laut ausdrücken sollte, war nicht eindeutig, aber die von fast weiß zu rot gewordene Farbe auf Gordons Wangen ließ vermuten, dass eines der eben von ihm gesagten Worte irgendetwas in ihm ausgelöst hatten. Vermutlich entweder 'Bruder' oder 'Sex'. „Willst du das denn wirklich?“, fragte er schließlich, was mehr auf Letzteres schließen ließ. „Ich mein... so richtig?“ „Was heißt 'so richtig'?“ Die Farbe nahm schlagartig einen noch röteren Ton an. „... Komm schon, du weißt doch, was ich meine! Braucht man da nicht auch irgendwie... ein Hilfsmittel oder so?“ Andy konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen; diese Verklemmtheit war ja kaum zu fassen. „Kleinen Moment“, sagte er, rollte sich auf die Seite und streckte einen Arm nach dem kleinen Tisch aus, auf dem er auch Gordons störende Kopfbedeckung abgelegt hatte, um etwas aus der darunter befindlichen Schublade zu fischen. Das Ergebnis hielt er Gordon präsentierend entgegen, der das kleine Döschen wiederum mit sichtbarer Irritation musterte. „Du hast einfach so Gleitgel da?“, fragte er merklich neugierig, ehe er anscheinend einen Einfall hatte. „Wegen deiner Ex?“ „Naja... wegen ihr hab ich's gekauft. Aber eigentlich haben wir es eher für mich benutzt.“ Damit hatte sich die Verwunderung in Gordons Gesicht noch einmal verdoppelt. „Ich hab ja gesagt, sie war nicht gerade ein typisches Mädchen! Sie hat gerne mal die Rollen getauscht“, lachte Andy, obwohl ihm bei dem Gedanken an diese Beziehung immer weniger nach Lachen zumute war. Es war ein gottverdammter Zwiespalt. Wie sollte er diese Person jemals vergessen oder zumindest über sie hinwegkommen, wenn er immer wieder an sie dachte? „Weißt du... Lass uns vielleicht nicht so viel über meine Ex-Freundin reden“, sagte er zögerlich. „Ich glaube, das sollte man in so einem Moment einfach nicht tun. Über die Ex sprechen.“ „Wenn du das nicht willst... Mich stört's jedenfalls nicht“, gab Gordon ein wenig unbedacht zurück. Natürlich. Er bezog diese Aussage als Erstes auf sich selbst, und das konnte er ihm nicht einmal zum Vorwurf machen. „Aber... was du da vorhin gesagt hast“, druckste er plötzlich wieder herum. „Versteh ich das denn richtig mit dieser Rollentausch-Sache? Sie hat dich, ähm... Wie genau geht denn sowas?“ Andy sah ihn für einen Augenblick schweigend an und musste dabei wohl ziemlich amüsiert ausgesehen haben – jedenfalls ließ die Art, wie Gordon mit den Worten „Sorry, ich weiß, ich stell total blöde Fragen!“ zur Seite schaute und abwinkend mit den Armen herumfuchtelte, darauf schließen. „Hör auf, dich dauernd zu entschuldigen“, erwiderte er, tatsächlich eine Spur amüsiert, wenn auch noch immer zwiespältig. „Es gibt da schon genug Möglichkeiten, wie Frauen 'sowas' machen können. Christina war ganz gern hin und wieder in gewissen Shops unterwegs... wenn du weißt, was ich meine. Den Rest kannst du dir vielleicht selbst vorstellen!“ „Mh-mmh... Ja, ich glaub, das kann ich“, gab Gordon geistesabwesend zurück, anscheinend wirklich damit beschäftigt, seine Vorstellungskraft einzusetzen. Wie lebendig diese Vorstellungskraft war, konnte er nur anhand seines abgedrifteten Gesichtsausdrucks vermuten, mit dem er ihn fixierte. „... Und jetzt?“, fragte er vorsichtig, noch unsicher, ob er überhaupt weitersprechen sollte – was er aber doch schließlich tat. „Ich weiß, es ist dein erstes Mal... und das auch noch mit jemandem, den du gar nicht richtig kennst. Also, falls dir das doch irgendwie zu schnell gehen sollte, dann sag es mir jetzt. Wir können auch einfach so weitermachen wie vorher, du musst es mir nur sagen.“ „Eigentlich...“, setzte Gordon an, und Andy wünschte sich nichts weiter, als dass er ihn nicht bloß noch mehr verunsichert hatte. Er war nie ein besonders geduldiger Mensch gewesen. Aber er war sich ziemlich sicher, dass das Warten auf einen Zug oder auf ein Paket ihn deutlich weniger verrückt machte als... das hier. „Ich will nicht, dass du hinterher irgendwas bereust“, redete Gordon nach ein paar endlos scheinenden Sekunden endlich weiter. „Aber wenn du nichts dagegen hast, würde ich sehr gerne... mit dir schlafen.“ Dem Himmel – oder was auch immer – sei Dank. „Nein, ich hab absolut nichts dagegen. Ich wollte nur auch nicht, dass du irgendwas bereust... das ist alles.“ Gordon lächelte schüchtern, er wirkte erleichtert – aber Andy wusste, dass es da noch eine andere Frage gab, die er sich von alleine vermutlich nicht trauen würde zu stellen. „Willst du oben liegen?“, fragte er ihn deshalb selbst, obwohl er es im Grunde eindeutig von seinem Gesicht hatte ablesen können, dass er genau das wollte. Trotzdem schien er sich lieber krampfhaft zurückzuhalten, als in irgendeiner Weise zu aufdringlich zu wirken. „Wenn ich darf“, sagte er verhalten; viel zu höflich für einen eigentlich so rebellischen Sechzehnjährigen, der immer macht, was er will, und offen im Park seine Joints raucht. Wenn er doch nur jetzt noch so einen für ihn hätte, dachte Andy und wollte sich zum mindestens zweiten Mal dafür schlagen, dass er sich plötzlich um gut drei oder vier Jahre jünger fühlte als er wirklich war. Trotz Allem nickte er, nach außen hin so gelassen. „Klar.“ Immerhin reichte es, wenn schon einer von ihnen beiden nervös war, oder? Sollte Gordon ruhig denken, dass das alles für ihn nichts Besonderes war; dass er erfahren war und sowieso alles schon kannte. Vielleicht würde es ihn ja selbst beruhigen, wenn er sich das lange genug einredete. Mit einer alles andere als geschickten Geste öffnete er das kleine Döschen in seiner Hand und verteilte etwas von dem Inhalt auf seinen Fingern, ehe er zuerst sich selbst und dann Gordon damit einrieb, der wiederum jede seiner Bewegungen zu beobachten schien und ihm schließlich ganz leicht mit einer Hand über den Rücken strich. Andy wusste nicht, ob er durch seine selbstsichere, immer so selbstsichere Fassade hindurchsehen konnte, aber Gordons Berührungen und sein warmer Atem, den er in seiner Halsbeuge spürte, nachdem er ihn wieder zu sich heruntergezogen hatte, versetzten ihn beinahe in eine Art Trance, die es zumindest ein wenig schaffte, ihn davon abzulenken, wie rapide sich sein Puls innerhalb der letzten Minuten oder Sekunden erhöht hatte. Gordons Gewicht auf ihm, der Gedanke, dass er ihn wollte; dass jemand, dem er heute mehr durch Zufall begegnet war, jetzt mit ihm hier lag und ihn wirklich wollte, und dann das Gefühl, als er in ihm war und ihn zum ersten Mal danach wieder ansah, mit einem Blick, als hätte er sich selbst irgendwie verloren... all das verschmolz miteinander, vermischte sich mit der Musik und dem dämmrigen Licht zu einem Eindruck, der schwer in Worte zu fassen war. Andy schloss die Augen, spürte so vieles gleichzeitig, war vielleicht genauso dabei sich zu verlieren. Es war egal. Niemand konnte wissen, ob mindestens einer von ihnen es nicht hinterher bereuen würde, das hier getan zu haben. Vielleicht wünschte sich Gordon, während er mit ihm schlief, das Gleiche irgendwann mit Joe tun zu können. Vielleicht tat er selbst es in Wirklichkeit nur, um nicht mehr an Christina denken zu müssen. Aber das war alles egal – denn in diesem Moment war es so richtig wie nichts anderes. Angefangen mit dem ersten spontanen Kuss, über die Auseinandersetzungen mit den zwei Möchtegern-Raudies und all dem, worüber sie heute gesprochen hatten, bis hin zum jetzigen Zeitpunkt. Nichts war gezwungen oder geplant, und wie es dazu gekommen war, spielte ebenso wenig eine Rolle wie die Frage, was es für die Zukunft bedeuten könnte. Alles, was passierte, passierte deshalb, weil sie es in diesem Moment so wollten – vollkommen egal, was danach kam oder was irgendjemand anders darüber denken würde. Ob seine Mutter ihn enterben würde, wenn sie davon wüsste. Ob Joe oder irgendwer sonst es verstehen würde. Es war auch nicht mehr wichtig, ob irgendwer glaubte, dass er ein Abbild seines versoffenen Vaters war. Das alles schien in den Hintergrund zu rücken, interessierte ihn nicht mehr. Er und Gordon, sie beide waren eigenständige Personen, die tun konnten, was immer sie wollten, egal, ob es gut und vernünftig war oder nicht. Und genau das war es, was sich so unglaublich gut anfühlte: Freiheit. Er fühlte sich frei. Andy hörte auf nachzudenken, nahm nur noch das Hier und Jetzt wahr, beide Arme fest um Gordon geschlossen und dieses überwältigende Gefühl, das sich aus so vielem zusammenfügte, über sich hereinbrechen lassend wie eine riesige, unkontrollierbare Welle. Alles, was zählte, war dieser Moment. Und alles andere war absolut egal. Vogelzwitschern. Sonnenstrahlen. Als er aufwachte, war es bereits hellichter Morgen, wie das durch das Fenster dringende Licht verriet, das auch vor seinen geschlossenen Augen keinen Halt machte. Für gewöhnlich wurde er nie von der Sonne geweckt. Offenbar hatte er vergessen die Rolläden herunterzulassen, bevor er ins Bett gegangen war. Bevor er... mit Gordon... Andy öffnete die Augen, fest davon ausgehend, den anderen Jungen neben sich zu sehen – aber er war nicht da. Die Fläche neben ihm war leer und hätte ihn fast dazu veranlasst, die Geschehnisse der vergangenen Nacht bloß für einen abgefahrenen Traum zu halten. Fast. Denn dafür waren seine Erinnerungen viel zu real, und auch die Tatsache, dass er vollkommen nackt geschlafen hatte und sich wie gerädert fühlte, ließ nur den Schluss zu, dass diese Dinge wirklich passiert waren. Und je länger er darüber nachdachte, desto deutlicher sah er alles wieder vor sich. Gordon war die Nacht über bei ihm geblieben; wahrscheinlich war er erst vor Kurzem aufgestanden, um den Bus zur Schule nicht zu verpassen. Scheinbar war er auch in der Nacht schon einmal aufgestanden, um das Licht vollständig auszuschalten, das nun nicht mehr brannte. Er musste sehr darauf bedacht gewesen sein, ihn dabei nicht aufzuwecken, jedenfalls konnte Andy sich an nichts erinnern. Wie es aussah, war er wohl in einem beneidenswerten Tempo eingeschlafen und danach durch nichts aus der Ruhe zu bringen gewesen. Das letzte, woran er sich verschwommen erinnerte, war, dass er und Gordon noch eine Weile nebeneinander gelegen hatten, Gordon sich irgendwann sogar bei ihm angelehnt hatte... Wieder überkam ihn dieses intensive Gefühl, das er in diesem Ausmaß bisher nur bei einer einzigen anderen Person verspürt hatte. Er wusste nicht, wie es jetzt weitergehen würde. Weder in den nächsten Tagen noch in den nächsten Jahren. Ob er noch immer das Gleiche fühlen würde und ob diese Nacht überhaupt irgendeine Art von Einfluss auf irgendetwas haben würde. Aber eins wusste er. Er bereute nichts. Es brauchte ein paar Minuten, bis er sich dazu bewegen konnte, sich aufzusetzen, sich schließlich ganz von der Matratze zu erheben und seine auf dem Boden verteilten Sachen wegzuräumen, bevor er sich etwas Neues anzog, ohne groß darauf zu achten, was er aus seinem Schrank herauskramte. Bei einem flüchtigen Blick auf den Schreibtisch, stach ihm etwas ins Auge, das sich normalerweise nicht dort befand. Ein kleiner beschrifteter Zettel. „Bin in der Schule. Hoffe, ich seh dich da nachher wieder“, las er leise vor, was in ziemlich krakeliger Schrift auf dem Papier geschrieben stand, und merkte, wie es ihn ganz automatisch zum Lächeln brachte, obwohl die Vorstellung, sich einfach wieder ins Bett zu legen, durchaus verlockender war als die Vorstellung, zur zweiten Stunde – falls er das überhaupt noch schaffen würde – im Unterricht aufzukreuzen und sich als erstes eine Standpauke anzuhören, weil er zu spät war. Trotzdem konnte es zwischendurch ja nicht schaden, sich dorthin zu bequemen, vor Allem, wenn in Aussicht stand, seine neue Bekanntschaft an diesem Ort wiederzusehen und möglicherweise noch besser kennenlernen zu können. Rebellisch sein konnten sie immerhin auch zu zweit sehr gut, inmitten dieser grauen Masse aus Schülern und Lehrern, die ihnen vielleicht manches verbieten konnten, aber nicht alles. Ja, dachte Andy, heute war eigentlich kein schlechter Tag, um die Schule zu besuchen. Fast freute er sich sogar ein bisschen darauf, was sicherlich nicht der Fall gewesen wäre, wenn Joes bester Freund ihm einen Tag zuvor nicht über den Weg gelaufen wäre. Aber das war er, und Andy war sich sicher, hätte er die Zeit um vierundzwanzig Stunden zurückdrehen können – er hätte rein gar nichts anders gemacht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)