Memories von Pragoma ================================================================================ Kapitel 5: Ein Buch mit sieben Siegeln -------------------------------------- Er war nicht wirklich bei der Sache, nicht bei Jim, dessen braune Augen ihn immer wieder skeptisch betrachteten und schon gar nicht beim Joggen, er war bei ihm und nur diese eine Person beherrschte seine Gedanken, sein Denken und Handeln. Kevin hätte sich die Haare raufen können, aber das würde genauso wenig bringen wie alles andere, was er bereits versucht hatte, um zu vergessen. Er bekam Andre einfach nicht aus dem Kopf und ihm war, als hätte sich ein kleiner, gemeiner Parasit in seinem Gehirn festgesetzt und lachte ihn jeden verdammten Tag aus. Andre war überall und selbst Musik war etwas, was er mittlerweile nicht mehr hören oder fühlen konnte. Besonders aber bestimmte Lieder und ganz weit vorne Gina von Doplex. Vor Jahren hatten sie es ständig gehört, sogar im Fitnessstudio und es entpuppte sich als fieser Ohrwurm, der nicht wegzudenken war. Kevin seufzte wie so oft, schob Gina in die hinterste Ecke seines Kopfes und ging noch eine Runde an der Moldau entlang. Jim beachtete er gar nicht mehr oder war es umgedreht und sein Kollege lief weiter vorn, weil er die Faxen dicke hatte? Möglich war es, er hatte ihn eben ziemlich angeraunzt und Jim konnte für Andres Verschwinden nichts. Er kannte ihn nicht einmal und scheinbar war es genau das Gleiche wie bei ihm selber. Neun Jahre Zusammenarbeit und lediglich den Geburtstag wusste er von Andre. Alles andere glich der Büchse der Pandora, der Bundeslade, die man nicht öffnen konnte, weil sie nicht auffindbar war. Ein Buch mit sieben Siegeln, welches noch zusätzlich durch den Datenschutz gesichert war. Es war ja nicht so, dass er nicht daran gedacht hätte, einfach in Andres Vertrag zu gucken und sich dessen Adresse aufzuschreiben. Fast war er so weit, doch Marty war schneller, mit seinen Adleraugen und beinahe hätte er ihn erwischt. Hin und wieder hatte Kevin Glück, aber eher bei den falschen Dingen des Lebens. Das Karma meinte es wirklich nicht gut mit ihm, ebenso Jim, der stehen blieb und ihn argwöhnisch ansah. "Geh nach Hause, du Trantüte", beschwerte er sich der braunhaarige Tscheche mit der viel zu breiten Nase, stemmte die Hände seitlich in die Hüfte und schüttelte unterstreichend den Kopf. "Chill mal die Tage und lass den Kopf aus den Wolken. Oder fahr zu deiner Familie." Kevin überlegte, ob das Sinn machte, zu seinen Eltern zu reisen, verwarf den Gedanken aber schnell wieder, da momentan seine kleine Schwester zu Besuch war und ihm das zu viel des Guten war. Vielleicht sollte er zu Natuschka fahren, zu seinen beiden Neffen aufs Land und raus aus der stickigen Großstadt. "Vielleicht mache ich das", erwiderte Kevin seinem Kollegen, der ihn daraufhin dankbar umarmte, sich aber genauso schnell wieder löste. "Danke, Digga. Ich mache mir sonst echt Sorgen und ich tue das ungern, wie du weißt." Kevin nickte, er wusste, dass Jim kein Freund davon war, wenn es anderen schlecht ging und normal hielt er sich dezent zurück. Nicht aber, wenn es scheinbar offensichtlich war und da konnte Jim schon anders reagieren, oder vielmehr auch mal überreagieren. Und das war etwas, was seine große Schwester genauso gut konnte. Super, also doch zu Hause bleiben oder ... Kevin kam die zündende Idee, er zog sein Handy aus der Trainingsjacke und rief kurze Zeit später Jack an. Er wohnte selber auf dem Land, hatte zudem Pferde, einen Bauernhof und lebte unmittelbar am Waldrand. Ein kleines Paradies mitten auf Erden, um das er seinen besten Freund schon beneidete. Warum war er nicht früher darauf gekommen, einfach zu ihm zu fahren? Jack hatte es ihm sogar vor Tagen angeboten und doch hatte er abgelehnt, wollte ihn nicht stören und mit seinem Kummer ersticken. Jetzt aber sah er es doch anders, brauchte seinen besten Freund und da würde er auch die längere Autofahrt nach Milavče hinnehmen. Zeit wurde es, Jack war schon oft bei ihm in Prag gewesen, aber Kevin war nie bei ihm, da er es mit dem Land nicht ganz so hatte. Pferde hin oder her, es war nicht sein Ding überall mit dem Auto hinfahren zu müssen und nicht einfach spontan den Bus zu nehmen. Die Aussicht auf ein bisschen Ruhe und Gesellschaft überwogen jedoch und Jack freute sich am anderen Ende der Leitung und konnte es gar nicht erwarten, dass er endlich mal den Arsch hochbekam und die Flucht nach vorne antrat. Jim hingegen war verwirrt und dachte, Kevin würde zu seiner Familie fahren. "Du willst ernsthaft nach Milavče fahren? Weißt du überhaupt, wo das ist?" "Nicht wirklich, aber ich werde es schon finden", antwortete er auf Jims Frage hin. "Na ja, die nächste etwas größere Stadt wäre Domažlice", erklärte der braunhaarige Mann mit dem smarten Lächeln, setzte sich auf eine der Bänke und atmete die klare Frühlingsluft ein. Doma – was? Irritiert blinzelte Kevin seinem Kollegen entgegen. "Sagt mir so gar nichts." "Liegt unweit von Pilsen." Jim scrollte durch sein Mobiltelefon, rief Google Maps auf und hielt Kevin schließlich sein Handy unter die Nase. "Pilsen sagt mir dann doch was", erwiderte Kevin, nahm neben dem anderen Platz und streckte gelassen alle viere von sich, ehe er die Hände hinter dem Kopf verschränkte und die Augen schloss. Aber nur kurz, Kevin fuhr hoch und sah aus, als hätte er einen Geist erblickt. "Domažlice?", wiederholte er stockend. "Jahaaa ..." Beinahe schon vorsichtig sprach Jim, denn Kevin sah aus, als würde er entweder gleich an die Decke gehen oder freiwillig in die Moldau springen. "Da wohnt Adam." "Echt? Deswegen hab ich ihn letztens gesehen, als ich durchgefahren bin", murmelte Jim und runzelte die Stirn. "Scheint wieder in festen Händen privat zu sein. Sah jedenfalls schwer danach aus." Adam sollte in einer Beziehung sein? So ganz glauben konnte Kevin das nicht, Adam hätte es erzählt und ebenso Jack. "Da musst du dich irren, Adam hätte uns das erzählt." Stirnrunzelnd betrachte er Jim weiter. Kannte er Adam überhaupt? "Vermutlich", pflichtete Jim bei, doch hätte er schwören können, dass Adam mit der anderen Person Händchen gehalten hatte und ebenso hatte er beide in inniger Umarmung vorgefunden und wäre deswegen fast bei Rot über die Ampel gefahren. "Dennoch sah das schwer nach etwas mehr als nur Freundschaft aus", überlegte Jim laut, ignorierte dabei Kevins Blick, der alles bedeuten konnte und legte stattdessen den Kopf in den Nacken. "Niedlich war der ja, also das, was ich so von Weitem sehen konnte." Niedlich war ausschließlich einer in Kevins Augen und das war stets Andre, den er seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte und grübelte, ob er noch immer so unschuldig wirkte. Vielleicht hatte er sich mit der Zeit verändert, hatte andere Interessen, wobei er von denen nur eine kannte und die galt damals Blechkisten. Andre liebte es an Autos herumzuschrauben, sie aufzumotzen und aus alten Wracks abermals vorzeigbare Wagen zu zaubern. Mehr Interessen kannte Kevin nicht und sofort kam ihm wieder das Buch mit den sieben Siegeln in den Sinn. Unfassbar, dass man sich in einen Menschen verlieben konnte, ohne ihn je passend kennengelernt zu haben und hätte er die Möglichkeiten, er würde die Zeit zurückdrehen und noch einmal von vorne anfangen. Es richtig machen. Andre davon abhalten zu gehen, wie eine Seifenblase zu zerplatzen und nichts außer schmerzhafter Erinnerungen zu hinterlassen. Jim riss ihn aus seinen Gedanken, hatte den Arm um ihn gelegt und dicht an seinen Körper gezogen. "Egal, was es ist, lass nicht zu, dass es dich auffrisst." Auf die Worte hin konnte er nichts erwidern, er ließ die sorgende Geste einfach zu und konnte es nicht mehr verhindern, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Jim bemerkte es dennoch, aber auch er sagte nichts, er kannte diese Seite von Kevin nicht und wollte sich kein Urteil erlauben. "Soll ich dich nach Hause bringen?", fragte er dann aber, nachdem bereits eine Stunde vergangen war und es langsam kalt wurde. "Du hast doch sicher noch was Besseres vor, als Babysitter zu spielen", erwiderte Kevin ironisch seinem Sitznachbarn, der jedoch nur leise lachte und ihm in die Seite pickte. "Ich nehme mir gerne die Zeit und so wie du wirkst, solltest du lieber nicht alleine gehen." Kevin gab nach, Jim konnte verdammt hartnäckig sein, eine Eigenschaft, um die er ihn beneidete und sich wünschte, er hätte ebenfalls diesen Biss. Er glänzte eher als guter Zuhörer, hatte schon oft Helmut sein Ohr geliehen und ebenso war er für ihn da. Besonders dann, wenn zwischen ihm und Jerome mal wieder die Fetzen flogen, alles drunter und drüber ging und einer von beiden bereits den Auszug plante. So lief das in der WG, dennoch war Kevin in dieser alleine, seine Mitbewohner waren allesamt im sonnigen Kalifornien und nicht in Prag. "Lass uns gehen, ehe ich es mir noch anders überlege", murmelte Kevin, erhob sich von der Bank und reichte Jim die Hand, zog ihn hoch und mit einem leichten Lächeln hinter sich her. Jim folgte, doch da war noch etwas, was Kevin ansprechen wollte. "Adam hat vor dir aufgehört. Du kannst ihn unmöglich gesehen haben. Seine Akte ist vernichtet und wieso sollte Adam wieder mit seinem Ex anbandeln?" "Adam war doch dieser große, breite Kerl mit dem breiten Grinsen, oder nicht?", hinterfragte der Jüngere verwirrt, blieb stehen und war sich selbst unsicher. "Dieser Riese?" Kevin lachte bereits und schüttelte den Kopf. Jim sah zu witzig aus, stand da wie ein Kind, welches man bei einem Streich ertappt hatte und genierte sich in Grund und Boden. "Du hast gerade Kris beschrieben und ja, der lebt in der Nähe von Pilsen und ist seit einigen Jahren in festen Händen." "Fuck", stöhnte Jim auf. Peinlich, dass er die Jungs allesamt nicht auseinanderhalten konnte und sie ständig verwechselte. Da kam noch einiges an Arbeit auf ihn zu, lange Nächte, in denen er sich mit aktuellen Kollegen beschäftigten sollte und alte besser raushielt. "Jetzt komm, sonst überleg ich es mir nochmal und geh alleine." Ungeduldig sah Kevin ihn an, tippelte mit dem Fuß auf dem Schotter und stieß ihn frech an. "Hey", maulte Jim, setzte sich aber zeitgleich wieder in Bewegung und schob das Durcheinander in seinem Kopf beiseite. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)