For the Snow will Surely Melt von Votani (Hatori x Tohru | Arisa x Saki) ================================================================================ Kapitel 1: Über Gebäck und Schwingungen. ---------------------------------------- 1 Hatori mochte diese Besuche nicht. Sie waren gefährlich, aber vor allem brachten sie zu viele alte, an den schlechtesten Tagen verdiente und an den besten Tagen verdrängte, Erinnerungen mit sich. Ganz konnte er sich nie von ihnen befreien. Obwohl die gelehrte Kunst seines Vaters ihm die Fähigkeiten gab, die Erinnerungen anderer zu unterdrücken, war es seine Aufgabe sich an all das zu erinnern und mit den Konsequenzen seines Handelns zu leben. Leichter wurde es dadurch aber nie. Hatori überquerte die Kreuzung, als die Fußgängerampel umschaltete. Die Hände hielt er in den Taschen seines schwarzen, langen Mantels vergraben, als er die kleine Bäckerei an der Straßenecke betrat. Die kleine Glocke über der Tür läutete, doch das Geräusch und sein Eintreten ging im allgemeinen Stimmengewirr unter. Da das Lokal erst um zehn Uhr geöffnet hatte, war der Andrang groß, da Geschäftsmänner der nahegelegenen Büros Brot für ihr Mittagessen und Hausfrauen welches für ihren Nachmittagstee kauften. Schweigend mischte sich Hatori unter die Besucher, die mit ihren Tabletts an den Auslagen entlang gingen, um sich das gewünschte Gebäck aufzufüllen, bevor sie die Theke zum Bezahlen ansteuerten. Hinter dieser stand eine junge Frau mit langen, braunen Haaren und einem freundlichen Lächeln, die fleißig abrechnete. Hatori wandte den Blick von Honda Tohru ab und richtete ihn stattdessen auf das präsentierte Gebäck, als er durch die Bäckerei schlenderte. Obwohl er in regelmäßigen Abständen sicherging, dass das Leben des Mädchens, das in den letzten Jahren zu einer hübschen, jungen Frau herangereift war, in den richtigen Bahnen verlief, war es das erste Mal, dass Hatori sie in ihrer neuen Position hier in der Bäckerei sah. Ohne das Gebäck wirklich wahrzunehmen, betrachtete Hatori die verschiedenen Brotarten und Naschereien, die angeboten wurden. Nur gelegentlich musste er einen Besucher vorlassen oder aus dem Weg gehen. „Sie sehen etwas verloren aus“, sagte eine helle Stimme dicht an Hatoris Ohr. Ihr Klang ging ihm durch Mark und Bein und das Herz setzte einen schockierenden Schlag aus. Sein Kopf ruckte zur Seite, um Honda Tohru einen Seitenblick zuzuwerfen. Den Sekundenbruchteil später wanderte sein Blick weiter, zurück zur Kasse, hinter der sie gerade noch gestanden hatte, die aber nun von einer anderen Frau übernommen worden war. „Meine Pause hat gerade angefangen, aber Sie sahen so verloren aus“, erklärte Tohru, ohne dass Hatori etwas sagen musste. Sie hatte sich kein Stück verändert, wurde Hatori bewusst. Irgendwie hatte sie sogleich die Verwirrung von seinen sonst so ausdruckslosen Zügen abgelesen und interpretiert, denn aus irgendeinem Grund hatte Honda Tohru schon immer gewusst, was andere Leute brauchten. „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“, erkundigte sie sich, als Hatori zu lange schwieg. Sie wandte sich dem Gebäck zu, das mit kleinen, weißen Schildchen bestückt war, die über ihre Namen informierten. „Ich arbeite noch nicht lange hier“, plapperte sie, „aber das Shokupan ist sehr beliebt und eines unserer meist verkauften Brote. Auch die Anpan kann ich nur empfehlen. Ich nehme mir manchmal nach der Arbeit welche mit nach Hause, da meine Mitbewohnerinnen sie ebenfalls mögen. Sie sind mit Bohnenbrei gefüllt. Oder bevorzugen Sie lieber westliches Brot?“ Obwohl vier Jahre vergangen waren, kam sich Hatori in diesem Moment in der Zeit zurückversetzt vor. Tohru sprach noch immer mit einer Höflichkeit, die nicht viele Menschen besaßen, während sie in ihm dasselbe Gefühl der Nostalgie hervorrief. Damals war es eine Sehnsucht nach seiner Zeit mit Kana, nun war es eine Sehnsucht nach der Zeit, bevor Akito ihn beauftragt hatte, Tohrus Erinnerungen an die Sohma-Familie zu löschen. Es hatte so vielen Menschen das Herz gebrochen, doch keines schlimmer als die Herzen von Yuki und Kyo – und trotzdem hatte Hatori es ausgeführt. Die Schuld an dem Leid, welches seine Handlung verursacht hatte, ergriff auch nun wieder von ihm Besitz und schloss sich wie eine eiskalte Hand um sein Herz und schnürte ihm den Atem ab. Hatoris Schultern sackten und er sog zittrig die Luft ein. Übelkeit schäumte in seinem Bauch. Tohru sah zu ihm hinüber und Besorgnis schlich sich in ihre braunen Augen. „Ist alles in Ordnung?“ Ihre Hand hob sich, um nach seinem Arm zu greifen, als er für einen Moment wankte. „Nicht…“, presste Hatori beinahe erstickt hervor und entzog Tohru seinem Arm, bevor sie diesen überhaupt berührt hatte. „Es geht schon“, fügte er beschwichtigend hinzu, als sich ihre Augen weiteten und ihr Gesicht etwas Verletzliches annahm. Immerhin wollte er ihre Gefühle verletzen nicht, sondern lediglich verhindern, dass er sich aus Versehen mitten in der Öffentlichkeit und vor Tohru verwandelte. Es war ein reiner Reflex, antrainiert über all die Jahre hinweg, in denen die Sohma bereits mit diesem Fluch gestraft waren. „Ich sollte gehen“, murmelte Hatori und wandte sich von Tohru ab, die er über die Jahre hinweg beobachtet hatte, aber mit der er nie direkten Kontakt gesucht hatte. Er suchte sich den Weg zwischen den Kunden hindurch, die neu durch die Türen der Bäckerei traten, bis er draußen in der eisigen Luft stand und zum ersten Mal, seit er Tohrus Stimme in seinem Ohr vernommen hatte, wieder atmen konnte. Selbst durch die breiten Scheiben der Fensterfront spürte Hatori ihren Blick auf seiner Gestalt. Erinnerte sie sich an ihn? Hatte ihre Unterhaltung, vor allem aber sein merkwürdiges Verhalten, etwas in ihr geweckt? Die Sorge, dass er alles in Gefahr gebracht hatte, nur um ein Versprechen einzuhalten und sein Gewissen zu erleichtern, war sein Begleiter auf dem Weg zum Sohma-Anwesen. Sie quälte ihn auch noch, als er zu Akito zurückkehrte. 2 Ein warmes Gefühl erfasste Tohru, als sie die Haustür aufschloss und über die Türschwelle trat. Sie wusste nicht, was es war, aber der Anblick ihrer zwei Freundinnen, die auf den weichen Matten am Kotatsu saßen und sich die Beine wärmen ließen, ließ ihr Herz jedes Mal höher schlagen, wenn sie nach Hause kam. „Willkommen zu Hause, Tohru!“, rief Arisa aus, die den Kopf in den Nacken legen musste, da sie mit dem Rücken zur Eingangstür saß. Saki stellte mit lackierten Fingern ihre kleine Schale mit den Stäbchen auf den Tisch, bevor sie aufstand, ihren langen, schwarzen Rock glattstrich und in die Küche verschwand. „Setz dich, Tohru-kun. Ich hole dir eine Schüssel. Arisa hat gekocht.“ „Das erklärt den wunderbaren Geruch“, entwich es Tohru und sie klatschte erfreut in die Hände, ehe sie sich aus Schal und Mantel schälte und ihre Stiefel auszog, um sie ordentlich auf die Fußmatte neben der Tür zu stellen. Arisa zuckte achtlos mit den Schultern und strich sich ein paar der langen, blonden Haarsträhnen beiseite. „Es ist nichts Besonderes. Nur Takikomi gohan.“ „Aber das ist doch etwas Besonderes, Uo-chan. Es schmeckt bei dir immer wie in einem Restaurant“, meinte Tohru lächelnd. Da ihre Wohnung nicht besonders groß war, sich dafür aber ganz nah an der Bäckerei befand, bot der Gemeinschaftsraum nicht mehr als ihr Kotatsu, den sie sich von ihrem wenigen Erspartem als Einzugsgeschenk an sich selbst gekauft hatten. Doch mehr brauchte Tohru nicht, als sie sich auf die freie Matte kniete und die Knie unter das beheizte Innere schob. Ein wohliger Schauer wanderte durch ihren Körper und Tohru schloss die Augen, um ihn besser zu genießen. „Wie war dein Tag, Tohru-kun?“, erkundigte sich Saki, als sie sich elegant auf ihren Platz zurücksetzte und Tohru etwas von dem Reisgericht aus dem Topf, der in der Tischmitte stand, in die von ihr mitgebrachten Schüssel auffüllte, um sie anschließend vor Tohru abzustellen. „Sehr aufregend“, kommentierte Tohru, als sie ihre Stäbchen zur Hand nahm, während Arisa sich bereits wieder den Reis in den Mund schaufelte. „Heute früh herrschte reger Ansturm, so dass wir kaum hinterhergekommen sind, aber Mina-san war so freundlich gewesen, mich abzulösen und ich konnte zur Pause gehen.“ Eigentlich hatte sie Mina nur ungern die ganze Arbeit überlassen wollen, was vermutlich der Grund gewesen war, dass sie ihre Pause im Verkaufsraum verbracht hatte, um wenigstens dort einigen Kunden mit ihren Bestellungen zu helfen. Bei diesem Gedanken fiel ihr unwillkürlich die eher sonderbare Begegnung mit dem Mann wieder ein, der sie für einen Sekundenbruchteil angeschaut hatte, als hätte er einen Geist gesehen. Sie hatte sich fürchterliche Sorgen gemacht, dass er zusammenbrechen würde, nachdem er urplötzlich bleich geworden war. Auch jetzt konnte sie die Besorgnis nicht gänzlich abschütteln. Hoffentlich ging es ihm gut, dachte Tohru, als Arisa lachte und sich beinahe an ihrem Reis verschluckte. „Tohru, du wirst irgendwann einmal eine wundervolle Ehefrau und Mutter werden“, presste Arisa kurzatmig hervor und Tränchen saßen in ihren Augenwinkeln, von denen Tohru nicht wusste, ob diese aus Atemnot oder aus Sentimentalität entstanden. „A-Alles in Ordnung, Uo-chan?“, stammelte Tohru, als Panik von ihr Besitz ergriff. Sie ließ die Stäbchen in ihre Reisschale fallen, um nach Arisas Wasserglas zu greifen und es ihr zu reichen. Behutsam klopfte Saki ihrer Freundin auf den Rücken. „Siehst du, Arisa. Das kommt davon, dass du dich in unnötige Dinge immer so reinsteigerst. Außerdem spricht man nicht mit vollem Mund, ist es nicht so, Tohru-kun?“ „Ähm, nun… vielleicht nur, wenn es etwas wirklich Dringendes ist?“, plapperte Tohru, als Arisa das Glas entgegennahm und es in einem Schluck fast gänzlich leerte. „Aber ich habe doch recht, Saki.“ Arisa stellte das Glas ab und stemmte ihre Hände auf dem Teppich hinter sich ab, um sich nach hinten lehnen zu können. Saki lächelte schmal, was es jedoch nicht weniger herzlich machte. „Es stimmt, Tohru-kun“, gestand sie. „Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es überhaupt einen Mann gibt, der dich verdient hat.“ „Genau“, bestätigte Arisa. „Der muss erst einmal an uns vorbei, wenn er es überhaupt schafft.“ Saki tippte sich mit einem Zeigefinger gegen das Kinn. „Oder wir machen einfach gleich eine Dreierbeziehung aus uns.“ Ihr Blick ging zu Arisa und Belustigung lag in ihren geschminkten Augen. „Ich bin sicher, dass Arisa dir auch ein bisschen Decke abgeben wird, obwohl sie diese gern für dich beansprucht.“ Sogleich saß Arisa wieder kerzengerade, die Augenbrauen zusammengezogen. „Wie bitte? Willst du etwa behaupten, dass ich dir die Bettdecke klaue, Saki?“ Doch Saki platzierte bereits eine besänftigende Hand an Arisas Wange. „Manchmal. Aber es gibt mir Gelegenheit, mich enger an dich zu kuscheln.“ Obwohl Sakis Ton die gewohnte Zwanglosigkeit in sich trug, fühlten sich Tohrus Wangen bei dieser intimen Unterhaltung trotzdem furchtbar heiß an. Natürlich hatte sie in ihrer Jugend, gerade nach dem Tod ihrer Mutter, oft ein Bett mit beiden Frauen geteilt, doch das war schon einige Zeit her und noch bevor die beiden angefangen hatten, miteinander auszugehen. „Ich… ich könnte niemals zwischen euch kommen!“, entwich es Tohru so energisch, dass Saki und Arisa verstummten und sie ansahen. „Ich meine… ihr… eure Liebe ist so tief und innig. Sie weckt in mir den Wunsch, ebenfalls eine Person zu finden, mit der ich alles so offen und ehrlich teilen kann.“ Ihre Lippen verzogen sich bei dem Gedanken, den sie schon lange mit sich herumtrug, zu einem traurigen Lächeln. Obwohl sie unendlich dankbar und glücklich war, dass sie sich dieses Leben mit Arisa und Saki hat aufbauen dürfen, so klaffte dennoch eine merkwürdige Leere in ihr, die Tohru sich nicht erklären konnte. Sie ging davon aus, dass das mit dem Tod ihrer Mutter zu tun hatte, den sie selbst nach all den Jahren noch nicht richtig überwunden hatte, doch es war nicht alles. Das spürte sie vom ganzen Herzen, auch wenn sie es nicht in Worte fassen und mit Arisa und Saki teilen konnte. „Tohru…“, holte sie Arisas Stimme wieder aus ihren Gedanken. „Ohne dich wäre unsere Liebe nicht machbar gewesen“, sagte Saki und lächelte sie an. „Du warst es, die uns gefunden hat. Die uns zu den Menschen gemacht hat, die wir heute sind.“ Arisa grinste schief. „Saki hat recht, Tohru. Du hast uns gerettet.“ „Oh...“ Die Tränen stiegen Tohru so schnell in die Augen, dass sie nichts anderes tun konnte, als die Hände gegen ihre Wangen zu pressen, um sie aufzuhalten, bevor sie von ihrem Kinn tropfen konnten. „Es tut mir leid. Ich… Ich weiß auch nicht, woher sie kommen.“ Doch im nächsten Moment schlossen sich bereits Arisas und Sakis Arme um sie, da diese aufgestanden und um den beheizten Tisch herumgekommen waren, bis Tohru nicht mehr sagen konnte, ob es traurige oder glückliche Tränen waren, die sie weinte. 3 Ihre Finger fuhren sanft über Tohrus Haar, während Saki ihrem ruhigen Atem lauschte. Endlich war Tohru zur Ruhe gekommen und war eingeschlafen. Noch immer verstand Saki nicht, warum sie nicht einfach bei Arisa und ihr schlief, genauso wie sie früher stets ein Bett geteilt hatten. Arisa hätte nichts dagegen gehabt, das wusste Saki mit Sicherheit. Was sie jedoch nicht wirklich wusste war, was Tohru so traurig gestimmt hatte. Ihre Aura hatte eine Menge wirrer Gefühle preisgegeben, was allgemein nichts Besorgniserregendes in Tohrus Fall war, da ihre Emotionen stets eine Mischung aus Freude und Melancholie waren, doch gelegentlich mischte sich etwas anderes mit hinein. Etwas, was Tohru in ihrer Jugend nicht besessen hatte, sondern erst in den letzten Jahren hinzugekommen war. Allerdings konnte Saki nicht ausmachen, was genau es war, da eine Art Barriere sie von diesem Teil von Tohru abschirmte. Hatte Tohru diese bewusst errichtet? Langsam und lautlos zog Saki ihre Hand zurück, schob die Bettdecke beiseite und erhob sich aus Tohrus Bett, in dem sie in ihre Decke eingemurmelt lag. Sie könnte noch Ewigkeiten hier sitzen oder sogar hier neben Tohru einschlafen, aber sie wusste, dass es Tohru am Morgen nur bekümmern würde, wenn sie darüber nachdachte, dass Arisa dadurch allein geschlafen hätte. Zu schade, dass Tohrus Bett zu klein für drei Personen war. Ohne ein Licht zu entzünden, durchquerte Saki den finsteren Flur, der beide Schlafzimmer miteinander und mit dem einzigen Bad ihrer Wohnung verband. Die kleine Nachttischlampe auf Arisas Seite brannte noch, als Saki das Zimmer betrat. Der Blick ihrer Freundin folgte ihr, als sie leise die Tür anlehnte und das Bett umrundete. „Schläft Tohru? Ich hoffe, sie ist nicht mit Tränen eingeschlafen.“ Saki entzog ihren Haaren das Haarband, bevor sie die langen, schwarzen Strähnen aus ihrer geflochtenen Frisur löste. „Sie sah friedlich aus. Auch die Wellen, die sie ausgestrahlt hat, waren ausgeglichener.“ Arisa sank tiefer in das Kissen und starrte zur Decke hoch, als Saki sich auf ihrer Bettseite setzte und die Haarbürste vom Nachttisch nahm. „Weißt du, Saki… ich ertrage es einfach nicht, Tohru so zu sehen. Ganz besonders, wenn ich nicht einmal weiß, was sie so traurig gemacht hat. Waren wir es?“ „Nein“, antwortete Saki, als sie ihre Haare kämmte. „Es ist schwer zu beschreiben, aber in Tohru gibt es eine Leere.“ „Eine Leere…?“ Arisa drehte den Kopf in ihre Richtung und hob eine Augenbraue. „Was meinst du damit? Hast du etwas aufgeschnappt?“ Saki lächelte schmal, denn es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie angenommen hatte, dass niemand jemals ihre Gabe verstehen und akzeptieren würde. Jedenfalls war es so gewesen, bevor sie Tohru und Arisa getroffen hatte. Einst hatte sie geglaubt, dass sie sich niemals verlieben würde und keiner ihre Liebe jemals erwidern könnte und nun lag ihre beste Freundin und Geliebte direkt neben ihr im Bett und sprach über ihre Gabe, als handelte es sich dabei um das Wetter, um eine Intuition, die normal und nicht gefährlich war. „Gelegentlich nehme ich furchtbar schwere Schwingungen von Tohru auf. Sie sind undeutlich. Verwirrt und traurig. Sie zeigen sich in ganz banalen Momenten, in denen nicht einmal Tohru sie erwartet. Zum Beispiel nehme ich sie wahr, wenn wir über unsere Zeit an der Oberschule sprechen. Oder auch, wenn Tohru nach Hause kommt und uns am Tisch sitzend vorfindet. Ich bin nicht einmal sicher, ob Tohru sie selbst wahrnimmt.“ Noch während sie sprach, raschelte neben ihr die Bettdecke. Im Augenwinkel sah sie, wie Arisa sich aufsetzte und die Beine über die Kante schwang, so dass ihr Nachthemd lange, gutaussehende Beine freigab. Beine, die ihre Modelkarriere erklärten, aber kein Vergleich zu der Schönheit von Arisas Herzen besaßen, obwohl Saki sie ebenfalls unheimlich mochte. „Wo gehst du hin?“, erkundigte sich Saki, als sie die Haarbürste zurück an ihren Ort legte. Arisa packte ihr Kissen. „An denselben Ort, an dem du hingehst. Wir schlafen heute Nacht bei Tohru.“ „Einer von uns wird auf dem Boden schlafen müssen“, sagte Saki, doch Arisa grinste. „Kein Problem. Der Boden macht mir nichts aus.“ „Lass mich ein paar extra Decken aus dem Schrank holen“, meinte Saki lächelnd und stand auf, um genau das zu tun, während Arisa sich auch ihr Kissen nahm, um diese auf leisen Sohlen in Tohrus Zimmer zu tragen. Kapitel 2: Über Schnee und Wasser. ---------------------------------- 4 Es war bitterkalt. Selbst Hatoris Mantel, der während der meisten Winter ausreichend war, genügte an diesem Abend kaum noch, als er die kleine Buchhandlung verließ. Erst als er in die eisige Kälte hinaustrat und einen Blick auf die Armbanduhr warf, die bei dem Licht aus dem Schaufenster mit den neusten Auflagen einiger Bücher erleuchtet wurde, wurde Hatori bewusst, wie viel Zeit er eigentlich in dem kleinen Geschäft verbracht hatte. Mit Fingern, die bereits kalt waren, zog Hatori seinen Schal höher, bevor er das gekaufte Buch enger an sich drückte und die verschneite Straße entlang schritt. Nicht viele Dinge zogen Hatori in den Bann, doch Bücher schafften es immer wieder. Ganz besonders, da er nur wenige freie Abend wie diese hatte, in denen Akito ihn nicht brauchte und in denen er das Sohma-Anwesen tatsächlich verließ. Noch wenigere Gelegenheiten verbrachte er damit, in die Stadt zu gehen, um dem gebrauchten Buchhändler aufzusuchen und tatsächlich einmal zu stöbern. Zugegeben, würde er dies als essentiell empfinden, würde Hatori wahrscheinlich öfter die Zeit dafür einräumen, aber das Lesen galt immerhin nur der Entspannung und er hatte noch einige ungelesene Bücher in dem kleinen Regal zu Hause stehen, auf die er im Notfall zurückgreifen konnte. Hätte Akane ihm bei ihrer letzten Begegnung nicht zufällig von der kleinen, versteckten Buchhandlung erzählt, hätte er diesen Ausflug heute sicherlich nicht unternommen, da er eigentlich keine weiteren Bücher benötigte. Für gewöhnlich wechselte Akane nur wenige Worte mit ihm oder irgendeinem anderen Mitglied der Zodiac und ging stattdessen den ihr aufgetragenen Verpflichtungen im Anwesen nach. Umso überraschter war Hatori gewesen, als sie ihm stotternd gestanden hatte, seine Zuneigung für Bücher nachvollziehen zu können und sogar zu teilen. Die Laternen hatten sich längst eingeschaltet und malten runde Lichtkreise auf den verschneiten Gehweg, während gelegentliche Schneeflocken vom düsteren, wolkenbehangenen Himmel segelten. Ihr Anblick trug etwas Beruhigendes in sich, brachte aber auch bleischwere Erinnerungen mit sich. Der Winter mit seinem Schnee erinnerte Hatori immer instinktiv an Kana, was er mehr darauf schob, dass die Anzahl seiner glücklicheren Momente begrenzt waren. Aber das war etwas, mit dem sich Hatori abgefunden hatte, denn immerhin gab es unzählige Menschen, die ein schlechteres Leben als er führten. Es gab Menschen mit chronischen Krankheiten, die kein Arzt und keine Medizin heilen konnten, während andere wiederum weder Geld noch Nahrungsmittel oder Dach über dem Kopf besaßen, woran es der Sohma-Familie ganz sicher nicht mangelte. Er hatte sogar Menschen, die es gut mit ihm meinten, auch wenn er einigen von ihnen gelegentlich gern den Hals umdrehen würde. Auch Kana lief er nur überaus selten über den Weg und hatte sie das letzte Mal vor gut einem Jahr mit ihrem kleinen Sohn gesehen. Sie besaß eine Familie, die sie erfüllte, mehr musste Hatori nicht wissen. „G-Guten Abend“, stammelte jemand hinter ihm. Erst in diesem Moment verflüchtigten sich die Erinnerungen an Kana. Zum ersten Mal nahm er die Schritte hinter sich wahr, die das bisschen Schnee, welches sich bereits wieder auf den Wegen sammelte, knirschen ließen. Hatori kam zum Stillstand und warf einen Blick über seine Schulter. Ein Schauer ging durch seinen Körper, eiskalt und erschütternd, als er Tohru Honda ansah, die mit ihm aufgeholt hatte. Sie stand direkt hinter ihm, eingehüllt in ihren bekannten, rosafarbenen Wintermantel, während sie ihre Tasche mit behandschuhten Fingern vor sich hielt. Lange, dunkelbraune Haare wippten unter dem beständigen Wind, der unter seine Kleidung schlüpfte und die feinen Härchen in seinem Nacken und auf seinen Armen schockiert zu Berge stehen ließ. „Ich habe mich nicht geirrt. Sie waren gestern in der Bäckerei“, stellte Tohru fest und lächelte freudig, denn es waren schon immer die kleinen Dinge im Leben gewesen, die Tohru glücklich machten. Meist genügte ein bekanntes Gesicht, selbst wenn sie sich nicht an dessen Bedeutung erinnern konnte. „Es scheint ihnen besser zu gehen, da bin ich aber froh“, fügte sie hinzu. „Sie sehen nicht mehr ganz so blass aus.“ Hatori stieß den angehaltenen Atem aus, als Tohru lediglich die gestrige Begegnung ansprach. Offenbar erinnerte sie sich an nichts weiter, obwohl Hatori nicht ausschließen konnte, dass ihr Unterbewusstsein etwas mehr in ihm erkannte. „Nein, es geht mir besser“, sagte er, um die aufkommende Stille zwischen ihnen diesmal besser zu füllen. Sie hatte mehr verdient, als unhöflich von ihm behandelt zu werden. „Danke für deine Sorge.“ Sein Blick glitt an ihr vorbei und die Straße hinunter, obwohl er wusste, dass die Bäckerei, in der sie nun arbeitete, sich einige Häuserblöcke entfernt befand. War sie sich auf dem Weg nach Hause? Waren sie nur zufällig in dieselbe Richtung gegangen? Tohru legte den Kopf schief. „Erwarten Sie jemanden?“, erkundigte sie sich freundlich und drehte sich ebenfalls um, um seinem Blick zu folgen und nach der Person, auf die er warten könnte, Ausschau zu halten. Diese Geste erlaubte es Hatori, Tohrus Hinterkopf für einige Sekunden zu mustern. Tohru Honda musste sich unbewusst an irgendetwas erinnern, auch wenn es nur ein Gefühl oder ihre Intuition war – denn warum sollte sie sonst mit ihm aufholen und ihn ansprechen? Bisher hatte es niemanden gegeben, der die Erinnerungen, die Hatori mit seiner Hypnosetechnik unterdrückt hatte, wiederlangt hatte. Kana, deren Gefühle für ihn so stark gewesen waren, dass es sie krank gemacht und ihr jegliche Lebenslust genommen hatte, war das beste und vielleicht sogar traurigste Beispiel dafür. Selbst Yukis Klassenkameraden aus Kindertagen, die ihn danach noch täglich in der Schule begegnet waren, hatten sich nicht mehr an ihn erinnert. Wie konnte Tohru Honda also die Ausnahme sein? Es war unmöglich, oder etwa nicht? „Ich warte auf niemanden“, korrigierte Hatori und wandte sich ab. Umso kürzer er dieses Treffen hielt, umso besser. „Du solltest nach Hause gehen, bevor du dir eine Erkältung bei diesem Wetter zuziehst.“ „Es ist so lieb von Ihnen, dass Sie sich um mich sorgen“, sagte Tohru hinter ihm. Hatori brauchte sie nicht einmal anschauen, um zu wissen, dass sie lächelte und ihre Wangen sowohl vor Kälte als auch vor Freude errötet waren. Wahrscheinlich hatte sie sogar die Augen für einen kurzen Moment geschlossen, um das warme Gefühl in ihrem Bauch zu bewahren und sich einzuprägen. Hatori verstand, warum ausgerechnet Tohru das Herz von Kyo und Yuki erreicht hatte und erwärmen konnte. „Außerdem solltest du nicht mit irgendwelchen fremden Männern reden, die sich merkwürdig benehmen.“ „Ich finde überhaupt nicht, dass Sie merkwürdig sind“, antwortete Tohru, und Hatori konnte diesmal nicht anders, als abermals in ihre Richtung zu schielen. Ihre braunen Augen trugen dieselbe Wärme und Sanftheit in sich, wie sie es auch gestern in der Bäckerei getan hatten, wie damals, als sie noch viel zu jung gewesen war. Tohru zuckte zusammen und ihre Augenbrauen hoben sich hilflos. „Ich habe mich überhaupt nicht vorgestellt. Wie unhöflich von mir!“ Sie deutete eine Verbeugung an, die Tasche mit plötzlich festerem Griff gepackt, als ihre Haare über ihre Schultern wallten. „Ich... Ich heiße Tohru Honda. Es ist nett, Sie kennen zu lernen.“ Hatoris rechter Mundwinkel zuckte bei ihrer Ernsthaftigkeit und ihrer Panik ein Stück in die Höhe. Konnte er es riskieren oder sollte er einfach einen falschen Namen nennen? Doch diese Art der Kreativität lag ihm ohnehin nicht. Das Lügen fiel ihm schwer, ganz besonders, wenn er es nicht tun wollte. „Hatori.“ „Sind Sie auf dem Weg nach Hause, Hatori-san?“, erkundigte sich Tohru. Selbst nach all den Jahren klang sein Name mit der förmlichen Anrede aus Tohrus Mund noch immer vertraut. Alles an ihr war vertraut und auch willkommen. „Ja. Wir sollten bei dieser Kälte auch nicht weiter hier stehen, sonst schlagen wir noch Wurzeln“, meinte Hatori und setzte sich in Bewegung. Binnen Sekunden befand sich Tohru an seiner Seite und plötzlich gingen sie zu zweit die Straße entlang. Tohru hob den Blick zum Laternenlicht hinauf, als sie eine Straßenbeleuchtung passierten. „Der Schnee glitzert wunderschön im Licht“, sagte sie mit ehrfürchtiger Stimme, während Hatori die Hände tiefer in die Manteltaschen vergrub, um dort vielleicht doch noch etwas Wärme vorzufinden. „Es wird wohl noch einiger fallen, aber schon bald wird der Frühling anreisen. Darauf ist immer Verlass.“ Ihre Worte waren wie ein schmales, langes Messer, welches sich zwischen Hatoris Rippen schob. Doch in diesem Moment, den er unerwartet mit Tohru in der abendlichen Dunkelheit teilte, kam es ihm auch wie eine Gewissheit vor, die er vergessen hatte, aber die unwiderruflich existierte. War es tatsächlich Zufall, dass Tohru ihm begegnet war? Die Frage hing unbeantwortet in seinen Gedanken, vollkommen losgelöst von sämtlichen Befürchtungen und Hoffnungen, als Hatori zum im Licht glitzernden Schnee hinaufsah. 5 Gelegentlich holten Arisa und Saki sie von der Arbeit ab, jedenfalls damals, als sie noch im Supermarkt gearbeitet hatte und wenn es die Zeitpläne der beiden erlaubt hatte. Doch es war das erste Mal, dass sie mit jemanden nach Hause ging, seit sie ihre neue Arbeitsstelle angenommen hatte. Ein freudiges Lächeln schlich sich auf Tohrus Lippen, als sie schweigend neben Hatori herging. Er war nicht der Gesprächigste, doch das störte sie nicht. Diese Stille war leicht und angenehm und sie bewunderte Hatori dafür, dass er diese wohltuende Atmosphäre scheinbar problemlos kreieren konnte. An jeder Straßenecke erwartete Tohru, dass Hatori abbiegen und sich ihre Wege somit trennen würden. Daher war sie dankbar für jede Minute, die sie nebeneinander hergingen. Sie hätte schließlich nicht erwartet, ihn so schnell oder überhaupt wiederzusehen, obwohl ihr die Begegnung in der Bäckerei kaum aus dem Kopf gegangen war. Hatori hatte so verloren gewirkt und sie angeschaut, als hatte er einen Geist gesehen. Fast so, als wäre es ein Wunder gewesen, dass sie ihn bemerkt hatte. Sein Blick hatte ein Kribbeln auf ihrer Haut ausgelöst und auch jetzt bemerkte sie die abendliche Kälte kaum, als ihre Gedanken zu diesem Blick zurückkehrten. Ein Lächeln zupfte ohne ihr Zutun an ihren Lippen, während sich in ihrem Bauch dieselbe Wärme ausbreitete, wie in dem Moment, in dem Tohru ihn aus der kleinen Buchhandlung hatte treten sehen. Dabei konnte sie nicht sagen, was es genau an Hatori war, was dieses Gefühl in ihr auslöste. Es kam Tohru fast so vor, als wären sie alte Bekannte, die sich schon eine Ewigkeit nicht mehr begegnet waren. Ihre Intuition sprach von Sicherheit und Geborgenheit, wenn sie in sein blasses Gesicht schaute, was Gefühle waren, die sie abgesehen von Arisa und Saki nicht oft so stark in der Gegenwart anderer Menschen spürte. „Hatori-san“, sagte sie und selbst sein Name fühlte sich auf ihrer Zunge so vertraut an, als hätte sie ihn schon tausend Mal ausgesprochen. „Ja?“ „Lesen Sie gern?“, fragte Tohru, da ihr bereits vorhin das Buch aufgefallen war, welches zwischen Hatoris Arm und seine Seite gepresst war, damit er die Hände vor der Kälte schützend in die Manteltaschen vergraben konnte. Ihre eigenen Finger waren in Handschuhen gehüllt, während sie an ihrer Tasche wie an einem Anker festhielten. Obwohl Hatori ihr seltsam vertraut war, war dieses Gefühl ungewiss und neuartig, während sie gleichzeitig aber auch den Eindruck hatte, dass ein falsches Wort von ihr die ruhige Atmosphäre zwischen ihnen zerstören könnte. Es kam ihr vor, als bewegte sie sich auf dünnem Eis, das jeden Moment unter ihr zusammenbrechen könnte, bevor sie jemals die andere Uferseite erreicht hätte. An Hatoris Seite überquerte sie die leere Straße, kurz bevor die Ampel wieder umschaltete. „Wenn ich die Zeit dafür finde, dann schon“, erwiderte Hatori so vage, dass Tohru auffiel, dass sie nicht einmal wusste, was für einen Beruf er ausübte. Sie wusste überhaupt nichts über den Mann, den sie so selbstverständlich angesprochen hatte, als hätte ihre Mutter ihr keine Manieren beigebracht. Andererseits war ihre Mutter der Rote Schmetterling gewesen, der jeden angesprochen hatte, wenn ihr danach gewesen war. Doch Höflichkeit war Tohru immer schon wichtig gewesen und ihr Herz flatterte panisch bei der Idee, dass sie Hatori mit Fragen löcherte, die er vielleicht nicht beantworten wollte. Ihr Griff um ihre Tasche wurde so fest, dass Tohru die Knöchel schmerzten. Zudem verlangsamten sich ihre Schritte, bis sie einige Meter zurückblieb und auch Hatori ihretwegen stehen blieb, der bereits wieder auf dem Bürgersteig stand. „Ich hoffe, dass Sie meine Frage nicht stört. Ich... Ich wollte nur—“, begann Tohru, wusste aber nicht, wie sie ihren Satz vollenden sollte, damit er Sinn ergab, aber nicht genauso egoistisch klang, wie ihr bisheriges Verhalten gewirkt haben musste. „Honda-san...“ „Ich wollte...“, versuchte sie es noch einmal und wandte sich halb von ihm ab, um seinem fragenden Blick zu entgehen. Was musste er bloß von ihr denken? Von einer Verkäuferin, die ihn auf offener Straße wie ein verlorenes Hündchen hinterherlief, weil— „Tohru, pass auf“, unterbrach Hatori den Strom ihrer Gedanken, da Tohru gänzlich stehen geblieben war. Bevor sie die Bedeutung seiner Worte einordnen konnte, blendeten sie bereits zwei Autoscheinwerfer. Tohrus Kopf ruckte in die Höhe und sie visierte das Auto an, dessen Fahrer die Hupe betätigte. Zwei Arme schlangen sich um ihre Schultern, um sie von der Fahrbahn zu ziehen. Tohru stolperte nach vorn, direkt gegen einen warmen Körper, der sie für den Bruchteil einer Sekunde sicher festhielt, ehe er... sich in Luft auflöste. Tohru öffnete die Augen und blinzelte, da sie noch immer den Stoff von Hatoris Mantel in den Armen hielt, aber Hatori verschwunden war. Erst nach ein paar Sekunden fühlte sie, wie sich etwas in dem Stoff bewegte, etwas, das schmal und klein war. Sie zuckte zusammen, zwang sich jedoch an der von Hatori übriggebliebenen Kleidung festzuhalten, anstatt sie in den dreckigen, matschigen Schnee fallen zu lassen, der sich am Rand des Bürgersteigs gesammelt hatte und der langsam durch Tohrus Stiefel und die dicken Socken darunter sickern wollte. Vorsichtig ließ Tohru ein wenig die Arme sinken, um einen Blick in den Kleiderhaufen zu werfen, der merkwürdiger Weise nicht nur seinen Mantel, sondern auch Hemd und Hose beinhaltete. Nur Hatoris Schuhe mitsamt den Socken standen vor ihr im Matsch, während das kleine Etwas, was sich im Stoff bewegte zum Vorschein kam. Tohru blinzelte das kleine Seepferdchen an, welches sich im weißen Hemd rekelte. Für einen Moment gefror sie. Ein Seepferdchen. Ein echtes, kleines Seepferdchen, das sich an Land befand. Das sich in ihren Armen befand. Gehörten sie nicht ins Wasser? Konnten sie überhaupt Luft einatmen? Wandte es sich deshalb so von links nach rechts? Panik ergriff von Tohru Besitz. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Wasser! Die Idee traf sie wie ein Blitzschlag und im nächsten Moment hockte sich Tohru bereits hin, um Hatoris Schuhe mitsamt den Socken einzusammeln, bevor sie losrannte. Sie rutschte mehrmals über den Schnee, hielt sich jedoch auf den Beinen, als sie den restlichen Weg nach Hause wetzte. Ihre Finger zitterten, als sie umständlich den Wohnungsschlüssel hervorholte und die Tür zu ihrer Wohnung öffnete. Im Inneren herrschte Dunkelheit, was nur bedeuten konnte, dass Arisa und Saki noch nicht zu Hause waren. Die Tür fiel hinter Tohru zu, als sie in das einzige Badezimmer rannte, das Licht anschaltete und sogleich den Hahn zur Badewanne aufdrehte. Vorsichtig setzte sie das kleine Seepferdchen in die Wanne, als der Boden mit Wasser bedeckt war. 6 „Warum ist es so kalt?!“ Arisa schüttelte sich wie ein nasser Hund, obwohl die eisige Winterkälte nicht so leicht abzuschütteln war. Nur die paar dicken Schneeflocken, die noch in ihrem Haar hingen und auf den Schulterblättern ihres dunklen Mantels ruhten, stoben umher, als sie die Wohnung betraten. Saki schloss die Tür hinter ihnen, stellte die Tüte mit dem Essen auf dem Schränkchen daneben und wickelte ihren Schal ab. „Was erwartest du im Winter?“ Das Flurlicht war angeschaltet, was nur bedeuten konnte, dass Tohru es vor ihnen nach Hause geschafft hatte, was ein Seltenfall war. Für gewöhnlich trödelte Tohru selbst an kalten Tagen wie diesen. „Tohru ist schon zu Hause“, entrann es Saki, während sich Arisa aus ihrem langen Wintermantel kämpfte. „Huh? Dann muss sie im Dunkeln sitzen“, meinte Arisa mit gezuckten Brauen, da die Küche, das Wohnzimmer sowie der hintere Flur, der zu ihren Schlafzimmern und dem Bad führte, unbeleuchtet waren. Elegant aus ihrem Schuhen schlüpfend, durchquerte Saki die kleine Wohnung, dicht gefolgt von Arisa, die ihre nassen Winterstiefel bei ihrer plötzlichen Sorge um Tohru, die Saki selbst ohne ihre Fähigkeiten gespürt hätte, beiseite warf. Obwohl Saki den starken Beschützerinstinkt gegenüber Tohru teilte, war es eine von unzähligen Eigenschaften, die Saki an Arisa als unheimlich niedlich und anziehend empfand. Wie sich in kürzester Zeit herausstellte, lag nicht die gesamte Wohnung in Dunkelheit, denn ein Lichtstreifen zeichnete sich unter der Tür zum Badezimmer ab. Obwohl Saki nicht genau festlegen konnte, was es war, so verspürte sie eine Menge Anspannung in der Luft, die ihr unangenehm die Nackenhärchen aufstellte. Sachte klopfte Saki gegen die Tür, um Tohru nicht unnötig zu verschrecken, sollte etwas vollgefallen sein. War es dieselbe Traurigkeit, die sie am vorigen Abend schon heimgesucht hatte? „Tohru-kun, wir sind zu Hause.“ „O-Oh... willkommen Zuhause!“, folgte Tohrus Antwort. Ihre Stimme kam näher, was bedeutete, dass sie direkt vor der Tür stand, aber scheinbar nicht vorhatte, die Tür zu entriegeln. „Tohru!“, rief Arisa und lehnte sich so energisch gegen die Tür, dass es einem Krachen gleichkam. „Alles in Ordnung da drin? Wir haben Abendessen mitgebracht. Yakitori.“ Eine Pause folgte. Ein Zögern, ging es Saki durch den Kopf. Sie brauchte nur einen Blick mit Arisa auszutauschen, um zu wissen, dass ihre Freundin das Gleiche dachte. „Alles in Ordnung, versprochen. Macht euch keine Sorge. Ich... Ich brauche nur noch ein paar Minuten. Bitte fangt schon mit dem Essen an und ich werde zu euch stoßen.“ „Tohru, wa—", begann Arisa, doch Saki legte ihr eine Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf, eine Geste, die Arisas Temperament zügelte. „In Ordnung, Tohru-kun“, sagte Saki stattdessen. „Rufe uns, wenn irgendetwas ist.“ „Natürlich“, antwortete Tohru sogleich. „Danke.“ Ihre Stimme erklang wackelig und tränenschwer, aber auch stark und entschlossen. Was auch immer vorgefallen war, Tohru war noch nicht bereit, es mit ihnen zu teilen und Saki akzeptierte das. „Arisa, komm mit“, wies sie ihre Freundin an und nahm ihre Hand, um sie zurück zum Wohnzimmer zu ziehen, in dem sich Arisa verwirrt auf einem der Matten im Schneidersitz niederließ. „Irgendetwas stimmt nicht.“ Saki holte die Tüte mit ihrem Abendessen aus dem Flur und stellte sie auf dem Kotatsu ab. „Vielleicht braucht Tohru-kun ein paar Minuten für sich.“ „Ich hätte wahrscheinlich die Tür eingetreten...“, murmelte Arisa und sah ihr dabei zu, wie sie die Schachteln mit ihrem Yakitori auspackte. Saki lächelte und stellte ihr eine von den Essensschachteln vor die Nase. „Du bist eben Tohrus Prinzessin in weißer Rüstung.“ Sich mit der Hand durch die langen Haare fahrend, sackte Arisa nach hinten, bis sie auf dem Boden lag. „Manchmal habe ich den Eindruck, dass es nicht genug ist“, meinte sie mit einem Seufzen. Ein Arm fand den Platz über ihren Augen. „Bin ich auch für dich die Prinzessin in weißer Rüstung, Saki?“, fragte sie nach einer Weile der Stille, in der Saki ihre eigene Schachtel geöffnet hatte und ihr der Duft von Barbecue-Hähnchen entgegenwehte. Die zwei Fleischspieße waren mit Reis serviert, der obgleich des kurzen Fußmarschs in der eisigen Kälte noch immer ein wenig dampfte. „Natürlich bist du das“, erwiderte Saki, als sie auch die verpackten Stäbchen aus der Tüte holte und diese verteilte. Dabei blieb ihr Blick unwillkürlich an der leeren Sitzmatte hängen, auf dem Tohru für gewöhnlich saß. Ihr kam es nicht richtig vor, ohne Tohru zu essen, obwohl es Tohrus Wunsch gewesen war. Anhand von Arisas noch immer liegender Position wurde deutlich, dass es ihr nicht anders erging. Mit einem Lächeln auf den Lippen senkte Saki die Lider und schloss ihre Essenschachtel – und im selben Moment schallte Tohrus spitzer Schrei durch die Wohnung und Arisa saß kerzengerade neben ihr. Kapitel 3: Über Verwandlungen und Flüche. ----------------------------------------- 7 Das alles kam Tohru noch immer fürchterlich unglaubwürdig vor. Vor gut fünfzehn Minuten war sie mit Hatori noch die verschneite Straße entlang gegangen und nun beobachtete sie das kleine Seepferdchen, in das Hatori sich verwandelt hatte, in ihrer Badewanne. Jedenfalls konnte es sich Tohru nicht anders erklären, als dass das Seepferdchen Hatori war. Neugierig bettete Tohru die Finger auf dem kalten Porzellanrand der Badewanne und beobachtete das kleine Tier, als es im Wasser lustlos auf- und abschwamm. „Hatori-san“, begann Tohru, wusste jedoch nicht genau, wie sie das bedrückende Gefühl bei seinem Anblick erklären konnte. „Es tut mir sehr leid, dass Sie sich durch mich in ein Seepferd verwandelt haben. Ich… Ich bin nicht sicher, wieso es geschehen ist. Vielleicht… vielleicht lastet ein Fluch auf mir.“ Doch woher hatte sie ihn? Für einen Moment schien das Seepferdchen durch die Wasseroberfläche zu ihr aufzusehen, während Tohru durch die geschlossene Badezimmertür Saki und Arisas dumpfe Stimmen vernahm. Hatte sie falsch reagiert? Hätte sie Saki und Arisa einweihen sollen? Aber Hatori war ihr wie ein unheimlich privater Mensch vorgekommen, der wahrscheinlich nicht gewollt hätte, das andere erfuhren, dass er von Tohru irgendwie in ein Tier verwandelt worden war. Andererseits konnte sie Hatori nicht ewig in ihrer Badewanne verstecken. Das war kein Geheimnis, welches Tohru für immer vor anderen verstecken könnte. Und was war mit Hatoris Familie? Sie würden sich fürchterlich um ihn sorgen, wenn er nicht nach Hause käme. Blitzschnell beugte sich Tohru tiefer über die Badewanne, die Finger fest um den Rand geschlossen. „Soll ich jemanden anrufen? Haben Sie Kinder, Hatori-san? Eine Frau? Einen Bruder? Sollte ich nicht irgendjemanden benachrichtigen?“ Aber natürlich konnte sie von einem Seepferd keine Antwort erwarten, jedenfalls hatte es bisher keine Reaktion von sich gegeben. Nur Hatoris Blick wirkte selbst in dieser Form so bedrückt, dass es Tohru fast das Herz vor Mitgefühl und Schuld zerriss. Tohrus Augen füllten sich gegen ihren Willen mit Tränen. Mit einer schnellen Bewegung wischte Tohru sie fort, aber sie wollten keine Ruhe geben und weitere flossen ihren Wangen hinab. Bevor sie Tohru vom Kinn tropfen konnte, gab es eine lautlose Explosion, die Tohru schockiert nach Luft schnappen ließ – und im nächsten Sekundenbruchteil befand sich vor ihr in der Wanne nicht mehr das kleine Seepferd, sondern ein äußerst nackter Hatori. Ein spitzer Schrei entwich Tohrus Kehle, als sie nach hinten stürzte und auf den harten Fliesen landete. Sofort schlug sie sich eine Hand vor die Augen. „Ein… ein Handtuch“, japste Tohru und ertastete blind eines auf dem Regal, um es in Hatoris Richtung zu halten. Sie spürte, wie Hatori es ihr abnahm. „Es gibt niemanden zu benachrichtigen“, meinte er so leise und tonlos, dass es fast in dem Rauschen von Tohrus Ohren unterging. „Tohru?!“ Abermals drang Arisa grölende Stimme durch die Tür, gefolgt von einem heftigen Hämmern, das versprach, dass die Tür eingetreten werden würde, sollte Tohru nicht innerhalb weniger Sekunden antworten. „A-Alles in Ordnung“, rief Tohru, als sie sich blind aufsetzte, die Hand weiterhin gegen die Augen gepresst. „Ich bin nur umgefallen.“ „Wie bitte?“, rief Arisa. „Wie kann das nichts sein, wenn du gefallen bist. Mach die Tür auf, damit ich dir glauben kann, dass es dir gut geht!“ „Arisa…“, mahnte Saki, während Tohru den Mut zusammennahm und ihre Hand sinken ließ. Vorsichtig blinzelte sie in Hatoris Richtung, der bewegungslos in der Wanne saß und sich wenigstens das Gesicht abgetrocknet hatte, auch wenn nasse Haarsträhnen ihm noch immer in die Stirn hingen. Sein Blick lag auf der Wasseroberfläche vor sich. Beinahe kam es Tohru so vor, als brachte er es nicht über das Herz, sie anzusehen. Er sah schuldig aus, obwohl es doch Tohru gewesen war, die ihn irgendwie in ein Tier verwandelt hatte. Tohru schluckte, als ihre Augen unwillkürlich an Hatoris nacktem Oberkörper zu ruhen kam. Hitze stieg ihr sogleich in die Wangen. „Du hast zehn Minuten, um rauszukommen, Tohru-kun“, sagte Saki inzwischen, bevor Tohru ein weiteres Mal den Schritten lauschte, die sich von der Tür entfernten. „Komm, Arisa.“ Langsam rappelte sich Tohru auf, bis sie wieder auf den Knien saß. „H-Hatori-san?“ „Ich habe gehofft, dass du das nicht zu sehen bekommst“, antwortete er und wandte das Gesicht in ihre Richtung. Tohru krabbelte auf allen Vieren auf ihn zu, bis sie direkt vor der Wanne saß und Hatori das Handtuch abnehmen konnte. Ihre Finger berührten sich, ehe Hatori seine Hand wegzog und den Stoff gänzlich freigab. „Geht es Ihnen gut, Hatori-san?“, fragte Tohru mit hochrotem Kopf. Obgleich ihres Alters hatte sie noch nie einen nackten Mann gesehen, geschweige denn war allein mit einem in ihrem Badezimmer gewesen. Sie wollte gar nicht daran denken, was Saki und Arisa denken würden, sobald sie von seiner Anwesenheit erfuhren. Doch in diesem Moment, in dem Hatori so traurig aussah, waren Tohru weder ihre Verlegenheit noch die Meinungen ihrer besten Freundinnen wichtig. „Kann ich Ihnen helfen, Hatori-san?“, fragte Tohru und streckte im gleichen Moment die Hand mit dem Handtuch aus, um es sachte an Hatoris Stirn entlang zu tupfen, da neue Tropfen von seinen Haaren an seiner Haut hinunterliefen. Hatori hielt still, aber musterte sie mit einer Intensität, die Tohrus Haut kribbeln ließ. „Erinnerst du dich?“ Sein Ton verriet, dass seine Frage eine tiefe Bedeutung in sich trug. Tohrus Augen weiteten sich. „Ich… Sie haben mir das Leben gerettet, Hatori-san“, erwiderte sie. „Daran erinnere ich mich. Ich war furchtbar unvorsichtig, aber Sie haben mich rechtzeitig von der Straße gezogen.“ Ein Lächeln breitete sich auf Tohrus Lippen aus und erneut stieg Wärme in ihr auf, die diesmal nichts mit Verlegenheit zu tun hatte. Obwohl sie sich kaum kannten, hatte Hatori sie beschützt. Er war ein unheimlich guter Mensch. „Vielen Dank, Hatori-san.“ Verwundert hob Hatori den Blick, bevor seine Mundwinkel sich ein Stückchen hoben. Er schien sich mit ihrer Antwort zufrieden zu geben oder sie zumindest zu akzeptieren. Beinahe kam es Tohru so vor, als hätte er kaum etwas anderes aus ihrem Mund erwartet. Erging es Hatori ähnlich und auch ihm kam es ein bisschen so vor, als würden sie sich schon ewig kennen? Tohrus Herz flatterte bei diesem Gedanken aufgeregt in ihrer Brust und sie presste eine Hand gegen ihren Brustkorb, als könnte sie es mit dieser Geste beruhigen. „Ich… ich habe auch Ihre Sachen.“ Hastig stand Tohru auf und holte die Kleidungsstücke, die sie in ihrer Eile auf dem Rand des Waschbeckens abgelegt hatte. „Es ist ein Fluch“, sagte Hatori, als Tohru seine Sachen heranschaffte und neben der Badewanne ordentlich auf einen Haufen zusammenlegte. Sein Augenmerk lag auch weiterhin auf ihr und abermals schlich sich Tohru die Ahnung auf, dass diese Worte eine Menge Gewicht in sich trugen. Dass sie mehr als nur die Wahrheit und ein tiefes Geheimnis beinhielten, welches Hatori ihr somit anvertraute, auch wenn sie seine Bedeutung nicht richtig verstand. Ein Fluch? „Also habe ich Sie nicht in ein…“, begann Tohru, sah jedoch wie sich Hatori Gesichtsmuskeln anspannten und brachte die restlichen Worte nicht über die Lippen. „Nein“, sagte Hatori knapp, ehe er erneut nach dem Handtuch griff. Vielleicht hatte er, ähnlich wie Tohru, den anfänglichen Schock inzwischen verarbeitet, denn er begann sich die Haare trocken zu rubbeln, bevor er auch seine Arme und seinen Brustkorb abtrocknete. Tohru schlug die Hände an die warmen Wangen, ehe sie sich umwandte, um Hatori wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu geben. „Wenn ich die Tür öffnete—“ „—werden deine Mitbewohnerinnen wissen, dass du einen unbekleideten Mann in deinem Badezimmer versteckst“, beendete Hatori. Tohru nickte, obwohl sie nicht sicher war, ob Hatori es sah. „Es ist nichts Persönliches, Hatori-san“, entwich es ihr erstickt, als sie das Wasser hinter sich plätschern hörte, als Hatori sich aus der Wanne hievte. Sie konnte es sich leider bildlich vorstellen und Schuldgefühle erfassten sie. „Sie sind nur um mich besorgt. Manchmal sogar ein wenig zu viel, aber das macht Hana-chan und Uo-chan so besonders“, plapperte Tohru. „Sie haben große Herzen und ein Stück davon für mich reserviert.“ Es fiel Tohru einfach, über ihre beiden besten Freundinnen zu sprechen. Zudem lenkte es sie von Hatori ab, der sich dem Rascheln der Kleidung nach zu urteilen gerade anzog. „Ich wüsste nicht, was ich ohne sie machen würde.“ „Ich bin sicher, dass sie ganz genauso über dich denken, Honda-san“, erklang Hatoris Stimme schließlich so dicht hinter ihr, dass Tohru zusammenzuckte. Sein Ton war gesenkt und beinahe sanft – und Tohru stellte sich vor, wie er direkt hinter ihr stand und sie ansah. Ihre Gedanken kehrten sogleich zu seiner Rettungsaktion zurück, zu der Umarmung, die sie unfreiwillig geteilt hatten und die dazu geführt hatte, dass Hatori sich in ein Seepferdchen verwandelt hatte. Tohru fuhr herum, die Handflächen schützend ausgestreckt und die Augen fest zusammengekniffen. „Passen Sie auf, Hatori-san. Der Fluch!“ Auf ihren Aufschrei hin herrschte für einen Moment Stille, sodass es Tohru beinahe vorkam, als wäre Hatori nicht mehr mit ihr im Badezimmer. Doch er konnte sich doch wohl kaum in Luft ausgelöst haben. Hatte er sich schon wieder verwandelt? Hatte der Fluch schon wieder zugeschlagen? „Hatori-san?“ Blind suchte sie mit ihren Händen die Luft ab, bis ein paar Finger sanft ihre berührten und ihren Herzschlag zum Beschleunigen brachten. Die Berührung löste sich wieder. „Hatori-san…“ „Du kannst die Augen wieder öffnen“, sagte Hatori und wartete, bis Tohru blinzelnd die Augen aufschlug. Ihr Blick blieb an dem inzwischen etwas zerknitterten Hemd hängen, welches Hatori angezogen und zugeknöpft hatte. Nun hob er auch das Jackett auf und zog es an, ehe sein Mantel folgte. Tohru sah ihm dabei zu und ein Lächeln zupfte unwillkürlich an ihren Mundwinkeln. „Ich bin froh, dass es Ihnen gut geht, Hatori-san“, murmelte sie und meinte ein Zögern beim Aufheben seines Mantels zu sehen. 8 Interessante Schwingungen drangen aus dem Badezimmer, die Saki während des Essens immer wieder zum Schmunzeln brachten. Die Sorge über Tohrus außergewöhnliches Verhalten bereitete Saki noch immer ein wenig Kopfzerbrechen, wenn auch nicht so viel wie Arisa, aber die starken Emotionen, die sie von Tohru zwischenzeitlich immer wieder aufschnappte, versicherten ihr, dass sie trotz allem wohl auf war. „Weißt du was, was ich nicht weiß?“, erkundigte sich Arisa, die mit sackenden Schultern auf ihrem Sitzkissen saß und mit ihrem Stäbchen in ihrem Reis herumsteuerte. Das war schon mal ein Fortschritt, da es sie mindestens fünfzehn Minuten gekostet hat, die Essenschachtel überhaupt zu öffnen, nachdem Tohrus Schrei aus dem Badezimmer gedrungen und sie zur Tür gestürmt war. Arisa wollte Tohru vor allen im Leben beschützen, obwohl man manche Dinge allein erfahren musste – und was auch immer Tohru gerade durchmachte, wollte sie trotz der tiefen Zuneigung für ihre besten Freundinnen nicht teilen und dies mussten sie akzeptieren. „Ich weiß genauso wenig wie du“, versicherte Saki ihrer Freundin und griff mit den Stäbchen nach ein wenig mehr von ihrem Reis. „Dein Essen wird kalt.“ Arisa hob den Blick. „Wie kannst du ausgerechnet jetzt ans Essen denken? Tohru hat sich im Bad verbarrikadiert!“ Sakis Mundwinkel zuckten, bevor sie jedoch zu einer Antwort ansetzen konnte, knarrten die Dielen und Tohru tauchte im Türrahmen auf. Sie hatte die Finger ihrer Hände ineinander verhakt und fest gegen ihre Brust gepresst. Ihr Gesicht war errötet und verschwitzt und die Aura, die sie ausstrahlte, strotzte vor Aufregung und Verlegenheit und Liebe und Dankbarkeit – und hinter Tohru stand ein hochgewachsener Mann mit nassen Haaren und einem feinen Wintermantel auf dem Arm. „Hana-chan, Uo-chan, das ist Hatori-san“, erklärte Tohru Arisa klappte der Mund auf. „Guten Abend“, sagte Saki an ihn gerichtet. „Es ist nett Sie kennen zu lernen, Hatori-san. Haben Sie schon gegessen?“ „Ich sollte mich wirklich auf den Heimweg machen“, erwiderte er, bevor er an Tohru vorbeiging und die Tür ansteuerte. Tohru eilte hinter ihm her, während Arisa sie mit dem Blick verfolgte. „Jemand anzustarren ist nicht besonders höflich, Arisa“, erinnerte Saki sie, als Tohru den Mann, mit dem sie fast eine halbe Stunde allein im Badezimmer verbracht hatte, verabschiedete. „Glaubst du, dass sie…?“, begann Arisa. Saki belächelte die Zaghaftigkeit in ihrer Stimme, obwohl Arisa sich sonst furchtbar direkt und manchmal auch etwas ungehobelt ausdrückte. Diese Wendung ihres Abends hatte aber selbst ihr die Sprache verschlagen, was eigentlich nur unheimlich selten geschah. „Es würde jedenfalls die Schwingungen erklären, die ich aufgefangen habe“, witzelte Saki, woraufhin Arisa beinahe theatralisch die Stäbchen aus der Hand fielen. „Im Badezimmer?!“ „Du solltest am besten wissen, was man alles in einem Badezimmer tun kann.“ Jedenfalls konnte sich Saki an so einige aufregende Minuten erinnern, die sie dort gemeinsam verbracht hatten, wenn Tohru mal wieder länger fortgewesen war. Sie erinnerte sich an lange, heiße Duschen und an eine zwischen ihre Beine kniende Arisa, als Saki auf dem geschlossenen Toilettendecke gesessen und ihren Rock ihre langen Beinen hinaufgezogen hatte. Dem nachdenklichen Blick nach zu urteilen, erinnerte sich auch Arisa an diese gemeinsamen Momente. Arisa räusperte sich. „Aber wir sind auch verdorben. Tohru ist so unschuldig.“ Ihr Blick ging zum Flur und somit in Tohrus Richtung hinüber. „Und dann der Kerl da. Wer ist er? Und warum kennen wir ihn nicht?“ Wirsch fuhr sich Arisa durch das lange Haar und ein Seufzen glitt über ihre Lippen. Natürlich hatte sie nicht unrecht, aber Saki vertraute ihrer Intuition. Die Gefühle, die sie von Tohru gespürt hatte, waren so aufrichtig und rein gewesen, dass sie ihr dies nicht ruinieren wollte. Doch sollte Hatori ihr auch nur in irgendeiner Art und Weise das Herz brechen, würde sie ihm den schlimmsten Fluch auf den Hals hexen, der ihr einfallen würde. Hatori würde sein Lebtag nicht mehr froh werden, wenn sie mit ihm fertig war. Mit diesem Gedanken aß Saki genüsslich weiter, wohl wissend, dass sich das fehlende Puzzleteil in Tohrus Herzen hinzugefügt hatte. Kapitel 4: Über Gefühle und Geständnisse. ----------------------------------------- 9 Es war spät, aber die Rastlosigkeit wollte Hatori nicht zur Ruhe kommen lassen. Nur eine kleine Lampe brannte noch in seinen Räumlichkeiten, die nur wenig Licht spendete. Dieses und Hatoris Vertrautheit mit jedem Winkel des Sohma-Anwesens erlaubte es ihm, selbst bei dieser Dunkelheit noch problemlos den Tee aufzusetzen, bis er eine dampfende Tasse in der Hand hielt. Aber auch diese konnte seinen Gedanken keinen Einhalt gebieten. So viel war schiefgelaufen, eigentlich sogar alles. Wie hatte Hatori, der immerhin der Erwachsenere in der Situation gewesen war, es nur so weit kommen lassen? Er hatte falsch reagiert. Schon damals, als Yuki ihn um den Gefallen gebeten hatte, weiterhin ein Auge auf Tohru Honda zu haben und sicherzugehen, dass es ihr gut ging und sie glücklich war, hätte Hatori ablehnen sollen. Damals hatte er sich von seiner Schuld leiten lassen, aber über die Zeit hinweg war seine Schuld nur tiefer und schwerer geworden und Hatori gleichermaßen unvorsichtig. Ein Klopfen durchbrach die eiserne Stille. Hatoris Blick wanderte zur Tür hinüber. Um diese späte Uhrzeit verlangte man nur nach ihm, wenn etwas mit Akito nicht stimmte. Vorsichtig stellte Hatori seine Tasse ab, bevor er zur Tür ging und diese aufschob, um sich mit einem breiten, furchtbar nervtötenden Grinsen konfrontiert zu sehen. Hatori verdrehte die Augen. „Was willst du hier, Shigure?“ „Bittest du mich nicht mal herein, Haa-san?“, flötete dieser, ehe er sich auf seine merkwürdig elegante Art und Weise an Hatori durch den Türspalt drängte. „Du bist furchtbar unhöflich, mein Lieber.“ Hatori warf einen Blick in den dunklen Flur, doch keine Bediensteten und auch sonst niemand aus der Sohma-Familie schien in der Nähe zu sein. Wortlos schloss Hatori die Tür, bevor er zu seinem Tee zurückkehrte, ehe dieser kalt werden konnte. „Du warst bei Akito“, erklärte Hatori seinen unerwarteten Aufenthalt im Haupthaus der Sohmas. „Und du warst heute äußerst lange fort“, antwortete Shigure, als er sich zu Hatori umdrehte, nach dem er sich lange und interessiert in dem kleinen Sitzraum umgesehen hatte, den er nach all den Jahren bereits in und auswendig kennen musste. Shigure suchte nach etwas, wurde Hatori bewusst. Vielleicht waren es auch seine äußerst merkwürdigen, verräterischen Worte, da Shigure zwar ein Meister der Manipulation sein konnte, aber trotzdem äußerst durchschaubar für ihn war. Hatori sah zu der Stelle hinüber, in die Shigure als letztes geschielt hatte, und betrachtete das eingewickelte Buch, welches Hatori seit seiner Rückkehr zum Anwesen noch nicht geöffnet hatte. Es war fast ein Wunder, dass es bei den letzten Ereignissen weder in den Schnee noch in Tohru Hondas Badewanne gefallen war. „Du hast dafür gesorgt, dass man mir von dem kleinen Buchladen erzählt“, mutmaßte Hatori und bereute es, dass es ihm so viel Zeit gekostet hatte, um Shigures Pläne zu erkennen und zu durchschauen. „Du wusstest also, dass Honda-san nun in der Bäckerei arbeitet“, schlussfolgerte Hatori weiter. „Wusstest du auch, dass sie mich aus Versehen dort gesehen hat oder hast du gehofft, dass sie mich sehen würde, wenn ich auf dem Weg zum Buchladen bin?“ Im Nachhinein erschien ihm das sogar logisch, denn schließlich war es auch Akane-san gewesen, die ihn während ihrer Erzählungen von der entdeckten Buchhandlung darauf aufmerksam gemacht hatte, dass der Laden am Abend weniger besucht wurde und Hatori genügend Ruhe hätte, um sich dort umzusehen. Wenn er sich direkt daran erinnerte, hatte sie sogar eine ungefähre Uhrzeit genannt, an die sich Hatori gehalten hatte. Hatori hob die Hand vor die Augen, da er seine eigene Dummheit kaum glauben konnte. Er hätte gleich wissen sollen, dass da mehr dahintersteckte. „Wie hast du Akane-san dazu bekommen, dein albernes Spiel mitzuspielen?“ Erwartet hätte Hatori dies von der jungen Frau jedenfalls nicht. Sie war ihm stets wie eine ruhige, zurückhaltende und besonnene Dame vorgekommen, die ihren Arbeiten hier im Sohma-Anwesen mit Bedacht nachkam. „Hast du sie mit irgendetwas erpresst?“ Shigure stieß ein raues Lachen aus, das halb amüsiert und halb ertappt klang. „Du denkst wirklich immer nur das Schlechteste über mich. Womit sollte ich die arme, unschuldige Akane-chan bitte erpressen?“ Hatori ließ die Hand sinken. „Stimmt. Es wäre viel wahrscheinlicher, dass sie etwas gegen dich in der Hand hätte.“ Nicht, dass Akane je auf die Idee käme, dies gegen Shigure zu verwenden. Die meisten Bediensteten hier schwiegen viel eher, weil sie wussten, was ihnen blühte, wenn all die kleinen Geheimnisse der Sohmas das Tageslicht erblicken würden. Zudem hatte nicht jeder das Privileg im Inneren zu arbeiten, auch wenn Hatori selbst es nicht unbedingt für ein Privileg hielt. „Und, wie ist es gelaufen?“, erkundigte sich Shigure, die Hände in den weiten Ärmel seines Gewands versteckt. Er nahm auf dem schmalen Sofa Platz, während Hatori an Ort und Stelle verweilte und ihn anschaute. „Möchtest du Akito unbedingt so sehr verärgert?“, fragte Hatori, ehe er einen Schluck von dem Tee nahm, der eigentlich beruhigend auf ihn wirken sollte, doch bei dieser Gesellschaft unmöglich seine Wirkung zeigen konnte. Shigure lächelte. „Ich möchte niemanden verärgern. Ganz sicher auch nicht Akito, aber ich gebe zu, dass es mir selbst jetzt schwerfällt, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind.“ „Und deswegen möchtest du Honda-san benutzen. Schon wieder“, fasste Hatori zusammen. „Benutzen ist ein hässliches Wort, Haa-san“, meinte Shigure und lehnte sich nach hinten. „Aber findest du nicht auch, dass sie Anrecht auf ihre Erinnerungen hat? Auf die Wahrheit?“ Nun hob sich doch eine von Hatoris Augenbrauen. „Willst du noch immer so sehr den Fluch brechen, dass du es in Kauf nehmen würdest, Honda-sans Leben noch einmal so durcheinander zu bringen?“ Shigure zuckte achtlos mit den Schultern. „Ich sehe das viel eher so, dass unser aller Leben etwas besser und hoffnungsvoller gewesen wäre, wenn Tohru an ihm teilgenommen hat. Ich glaube sogar, dass das auch für dich gilt.“ Hatori brauchte ihn nicht anzusehen, um Shigures neugierigen Blick auf seiner Person zu spüren. Doch trotz seiner unnützen Witzeleien, seiner oftmals faulen Art und seiner ständigen Manipulationen fand man in Shigures Worten auch oft ein Körnchen Wahrheit. Zumindest tat man es, wenn man ihm genau zuhörte und sich selbst gut kannte, denn Shigure hatte nicht unrecht. Er konnte problemlos an all die Begegnungen mit Tohru Honda zurückdenken. Sie war wie ein unerwarteter Sonnenstrahl durch ihren grauen Himmel gebrochen. Gerade Yuki und Kyo waren in ihrer Gesellschaft aufgeblüht und hatten zu sich selbst gefunden, während Momji durch ihren Einfluss erwachsener geworden war. Selbst nachdem Hatori ihre Erinnerungen gelöscht hatte, war ihr Einfluss ihnen erhalten geblieben. Tohru Honda hatte bereits ihre Welt verändert und das hatte Akito nicht mehr rückgängig machen können. Zunächst war es als Bestrafung von Akito gedacht, die Kinder mit den Erinnerungen an etwas, an jemanden, den sie nicht haben konnten, leben zu lassen, aber es hatte sich in etwas anderes verwandelt. In etwas Positives, wofür Hatori auch heute noch dankbar war. „Du hast dich in Tohru verguckt“, spöttelte Shigure, als Hatori den Fehler machte, zu lange zu schweigen und Shigure seinen Gedanken und irrsinnigen Ideen zu überlassen. „Wenn du damit andeuten möchtest, dass ich Gefühle für Honda-san entwickelt habe, irrst du dich“, meinte Hatori, spürte jedoch ein unangenehmes Stechen im Brustkorb, welches seinen Worten Lügen schimpfte. Abermals lachte Shigure kehlig auf. „Du kannst vielleicht dir selbst etwas vormachen, aber nicht mir. Dafür kenne ich dich ein paar Jahre zu lange.“ Er stand auf, die Hände weiterhin in den Ärmeln verborgen, während sein Gesicht etwas Ernstes annahm. „Zwar mag ich kein Experte in gesunden Beziehungen sein, doch ich kann dir versichern, dass Honda-san keine Herzen bricht.“ „Nur Flüche?“, erkundigte sich Hatori ironisch. „Sag mir nicht, dass du nicht immer noch gelegentlich daran denkst, wie es wohl damals gelaufen wäre, hätte Tohru den Fluch gebrochen“, spöttelte Shigure, ehe er sich verabschiedete und verschwand. Hatori hörte das Schließen der Tür, saß aber noch eine lange Zeit auf dem Sessel, den Tee so lange in der Hand haltend, dass er bereits kalt war, als er ihn abermals an die Lippen setzte. Hatte Shigure recht und er hatte tatsächlich für Tohru Honda Gefühle entwickelt? Er, der so viele Jahre älter als sie war? Wichtiger war jedoch die Frage, ob dies auch geschehen wäre, wenn sie nicht gestern Abend auf der Straße nach ihm gerufen hätte und er in ihrer Badewanne gelandet wäre. Der Gedanke daran erfüllte Hatori mit Scham, aber trotzdem konnte Hatori das Kribbeln in seiner Brust nicht ignorieren. Tohru hatte – ein weiteres Mal – sein peinliches Geheimnis herausgefunden und es ein weiteres Mal akzeptiert. Ebenso wie Kana es damals akzeptiert hatte. Das Gefühl, welches er in Honda-sans Gegenwart bekam, fühlte sich ähnlich an wie die Liebe, die er einst für Kana empfunden hatte, aber auch von Grund auf anders. Honda-san rief tiefes Vertrauen in ihm hervor, Zuneigung und eine Leichtigkeit, die er so nicht kannte. Doch änderte das alles irgendetwas daran, dass es egoistisch von ihm war, zuzulassen, dass sie abermals dazu benutzt werden sollte, den Fluch zu brechen. Honda-san hatte sich ein Leben fern von ihnen aufgebaut. Sie war glücklich – und Hatori konnte nicht zulassen, dass man ihr abermals ihr Glück unter der Nase wegschnappte. 10 Das Konzentrieren fiel Tohru an diesem Abend schwer. Immer wieder merkte sie, wie ihre Gedanken fort von den Karotten wanderten, die sie gerade in schmale Scheibchen schnitt, um sie garen zu können. Das andere Gemüse war bereits geschnitten und im Topf, doch auch dies hatte mehr Zeit als erwartet benötigt. Es waren die Geschehnisse der vorigen Tage, ganz besonders die gestrigen, die Tohru noch immer beschäftigten. Hatori hatte gesagt, dass es ein Fluch sei, der dafür gesorgt hatte, dass er sich in das niedliche, kleine Seepferdchen verwandelte. Diese Verwandlung schien ihm unangenehm gewesen zu sein. Viel wichtiger war jedoch, dass Tohru noch immer nicht richtig verstand, was die Verwandlung ausgelöst hatte. War sie es gewesen? War es der Zusammenstoß gewesen? Die daraus entstandene Umarmung? Allein bei der Erinnerung daran, wie sich Hatoris Körper per gegen ihren angefühlt hatte, schlich sich die Hitze erneut in Tohrus Wangen. Im selben Moment rutschte das Messer ab und verfehlte das letzte Stück der Karotte, um stattdessen ihren Finger zu erwischen. Tohru zog scharf die Luft ein, als sie zusah, wie Blut aus dem schmalen Schnitt in ihrer Haut hervorwallte. Hastig zog Tohru die Hand fort vom Brett, damit ihr Blut nicht auf das Gemüse tropfte. „Oh nein...“ Verwirrt stand Tohru für einen Moment in der kleinen Küche, ehe sie sich hastig in alle möglichen Richtungen drehte. Sie brauchte ein Pflaster. Oder sollte sie es zuerst unter Wasser halten? Sollte sie ihre Schürze nehmen? Würde sie das Blut wieder herausbekommen? Das Handtuch... Sie sollte das Handtuch benutzen! Tohru griff nach dem Küchenhandtuch, welches sie erst vorhin dort platziert hatte, und presste es gegen die Schnittwunde in ihrem Finger, die bei der Berührung unangenehm stach und brannte. Tränen formten sich gegen ihren Willen in ihren Augenwinkeln. Sie war fürchterlich unvorsichtig gewesen. Tohru presste die Augenlider aufeinander und wischte sich die Tränen an dem Ärmel ihrer Bluse ab, während sie noch immer das Handtuch gegen ihren Finger drückte. Ein helles Läuten hallte so urplötzlich durch die Wohnung, dass Tohru zusammenzuckte und beinahe das Handtuch fallen ließ. Gedankenlos trugen Tohrus Füße sie bereits zur Eingangstür. Erst als sie umständlich die Tür öffnete, fragte sie sich, wer es wohl sein konnte. Ein Blick auf die Wanduhr verriet, dass Arisa und Saki noch auf Arbeit waren. Außerdem hatten sie stets ihre Wohnungsschlüssel dabei und mussten nur selten klingeln, um hineingelassen zu werden. Vielleicht war es der Postbote, der eine spezielle Lieferung für sie hatte. Hatte Arisa sich nicht ein paar neue Stiefel bestellt, die sie mit dem roten Lack an den Roten Schmetterling erinnert hatten? Blinzelnd starrte Tohru zu der Person hinauf, die vor ihrer Tür stand und bei der es sich nicht um den Postboten handelte. „Hatori-san...?“, entwich es Tohru. Hatori trug seinen üblichen, schwarzen Wintermantel mit dem grauen Schal, der seinen Hals warmhielt. Nur Hatoris Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Etwas Intensives hatte sich in seinen Blick geschlichen, als er ihr Gesicht nach etwas abzusuchen schien. „Darf ich reinkommen, Honda-san?“ Tohru öffnete weiter die Tür. „Natürlich. Wie unhöflich von mir. Bitte, kommen Sie herein, Hatori-san.“ Hatori trat ein und schloss die Tür hinter sich, als er das Handtuch in Tohrus Händen bemerkte. „Hast du dir wehgetan?“ Seinem Blick folgend, trat Tohru sogleich wieder der Schweiß auf die Stirn. „E-Es ist nichts Schlimmes. Nur... nur ein kleiner Schnitt. Ich... Ich war gerade dabei nach einem Pflaster zu suchen.“ „Wo bewahrt ihr euren Verbandskasten auf?“, fragte Hatori. „Im Badezimmer. Im Schrank unter dem Waschbecken“, entrann es Tohru, schüttelte im selben Moment jedoch den Kopf. „Ich werde mich darum kümmern, Hatori-san. Bitte machen Sie sich keine Sorgen.“ Doch bevor Tohru ihren Satz beendet hatte, schlüpfte Hatori-san bereits aus seinen Schuhen und durchquerte die Wohnung. Tohru eilte ihm hinterher. „Hatori-san...“ Aber er kannte sich bereits gut genug aus, um das Badezimmer sofort zu finden und ihr Bauch kribbelte vor Aufregung, als sie daran dachte, dass er gestern erst in ihrer Badewanne gesessen hatte. Arisa und Saki hatten sie gestern beim Abendessen, nachdem sie Hatori verabschiedet hatte, noch ausgefragt, um wen es sich bei ihm handelte, woher sie einander kannten und was Hatori solange zusammen mit ihr im Badezimmer gemacht hatte. Besonders Arisa war den Wuttränen nahgewesen und selbst Tohrus wiederholten, tränenverschmierten Entschuldigungen darüber, dass sie nicht alle Fragen beantworten konnte, blieben erfolglos. Am Ende hatte Tohru die gesamte Nacht wachgelegen, weil sie die Schuldgefühle, irgendetwas vor ihren zwei besten Freundinnen verheimlichen zu müssen, fast zerrissen hätten. Gleichzeitig brachte sie es aber nicht über das Herz, Hatoris Geheimnis mit jemanden zu teilen, denn sie hatte nur aus Versehen davon erfahren und irgendetwas in ihr sagte ihr, dass es wichtig war und mehr dahintersteckte. „Setz dich, Honda-san“, wies Hatori-san sie mit einer knappen Handbewegung zur Toilette hinüber. Brav nahm Tohru auf dem geschlossenen Deckel Platz, während Hatori den kleinen, dunkelblauen Verbandskasten heraussuchte. Schweigend öffnete er ihn und suchte einige Dinge heraus, bevor er vor Tohru auf die Knie ging. Sanft nahm er ihre Hand in seine und löste das Handtuch, welches Tohru gedankenlos und voller Aufregung um ihren Finger gewickelt hatte. Für einen Moment hatte sie sogar den Schmerz vergessen und wurde nur an ihn erinnert, als Hatori den Stoff löste und Luft an den schmalen Schnitt drang. „Es ist nicht sonderlich tief“, kommentierte Hatori. „Es hat schon zu bluten aufgehört. Gut, dass du das Handtuch auf die Wunde gepresst hast.“ Er riss das Papier des Desinfektionstuch auf, holte es heraus, ehe er sachte dem Schnitt entlang tupfte. Tohru zuckte bei dem Stechen zurück, doch Hatori hielt ihre Hand fest. „D-Danke, Hatori-san“, murmelte Tohru und musterte sein blasses Gesicht, das immer furchtbar ernst und fast ein wenig traurig wirkte. Sie schätzte ihn in den Dreißigern, doch er besaß weder Grüppchen noch Lachfalten, was Tohru instinktiv traurig stimmte. Als hätte er ihren musternden Blick gespürt, sah er zu ihr auf, als er das Tuch beiseitelegte. „Du solltest besser aufpassen.“ Tohru lächelte, als ihr Herz einen Takt schneller schlug und es in ihrem Bauch vor Aufregung kribbelte. Obwohl Hatori von draußen kam, waren seine Hände angenehm warm, als er das Pflaster auftrug. „Es ist jetzt schon das zweite Mal, dass Sie mir helfen. Sie besitzen gutes Timing, Hatori-san. Bleiben Sie fürs Abendessen?“ Ihm Abendessen zu kochen war schließlich das Mindeste, was Tohru für ihn tun konnte, obgleich ihre Frage auch Egoismus in sich trug, für den sie sich wahrscheinlich schämen sollte. Sicherlich hatte Hatori wichtigere Dinge zu tun, als mit ihr, Arisa und Saki zu essen, trotzdem hatte Tohru diese Frage nicht zurückhalten können. Immerhin hatte sie bereits angenommen, dass sie Hatori nicht mehr so schnell wiedersehen würde, dass er sie vielleicht sogar meiden würde. Sie wusste schließlich nicht einmal seinen Nachnamen oder wo er wohnte. Umso mehr freute es Tohru, dass er vorbeigekommen ist. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre“, erwiderte Hatori jedoch und brachte Tohru mit seiner Antwort abermals zum Zusammenzucken. „Oh.“ „Eigentlich bin ich gekommen, weil ich mit dir sprechen wollte, Honda-san“, gestand er und ließ von ihrer Hand ab, stand jedoch nicht auf. Er sah auf und suchte ihren Blick. „Es geht um gestern. Um das, was geschehen ist.“ Hatori Augenbrauen zogen sich zusammen, als er über seine Wortwahl nachdachte. Offensichtlich fiel ihm diese Unterhaltung schwer und es tat Tohru weh, ihn so zu sehen und der Grund für seine Frustration zu sein. „Dieser Fluch muss eine schwere Bürde für Sie sein, Hatori-san“, wisperte Tohru und presste die Hand mit dem verletzten Finger, der nun ein rosafarbenes Pflaster trug, gegen ihren Brustkorb. „Ich verspreche, dass ich niemanden von Ihrem Geheimnis erzähle, aber... aber ich bereue nicht, was passiert ist.“ Abermals traten ihre die Tränen in den Augenwinkeln, weil sie all das, was sie in diesem Moment fühlte, unmöglich in Worten ausdrücken konnte, die Hatori erreichen würden – und der Gedanke, dass Hatori nicht verstand, war unerträglich. „Ich... ich habe das Gefühl, dass Sie nicht viele Menschen haben, denen Sie sich anvertrauen und... und ich weiß, dass es egoistisch ist, aber ich wünsche mir, dass ich vielleicht eine Person werden könnte, mit denen Sie reden können, Hatori-san.“ Eine Träne rollte über ihre Wange und Tohru presste ihre Hände gegen ihre Augen, um weitere davon abzuhalten. Woher der Schmerz kam, der sie von innen zu zerreißen schien, konnte sie an dieser Stelle nicht festlegen. Er war verbunden mit der Traurigkeit, die sie manchmal in den merkwürdigsten Momenten zu überrollen schien und aus den Untiefen ihrer Seele zu kommen schien. „Es tut mir leid, Hatori-san“, murmelte Tohru. „Es tut mir leid.“ Finger schlangen sich um Tohrus Gelenke und zogen ihre Hände von ihrem Gesicht. „Es braucht dir nicht leid tun, Honda-san“, entwich es Hatori genauso leise. „Mir tut es leid.“ Tohru öffnete verwirrt die Augen, doch Hatori hatte den Blick gesenkt, bis schwarze Haarsträhnen ihr die Sicht auf sein Gesicht nahmen. „Hatori-san?“ „Du hast nichts falsch gemacht“, sprach Hatori weiter und seine Hände rutschten von ihren Handgelenken zu ihren Fingern hinunter, bis es ihr vorkam, als hielt an ihnen wie an einem Anker fest. „Du hast noch nie etwas falschgemacht, Honda-san. Und du verdienst etwas Besseres. Das Beste.“ Hatori wirkte so unnahbar, aber trotzdem war er zu solcher Nettigkeit fähig und war bereits für solche Aufopferung. Wärme erfüllte Tohru mit einem Mal und ihre Mundwinkel hoben sich ein Stückchen. „Aber, Hatori-san…“, begann Tohru und drehte ihre Hände in seine, bis ihre Handflächen einander berührten, „Wenn ich das Beste verdiene, dann verdienen Sie das aber auch.“ Sie wusste nicht, was es war, aber genauso schnell wie ein Blitz in einen Baum einschlug, erfasste sie diese Idee, dieser Entschluss und ihr Wunsch schlüpfte ungefragt über Tohrus Lippen: „Und wenn es einen Weg gibt, Ihren Fluch zu brechen, dann möchte ich ihn finden.“ Ein merkwürdiges Geräusch entwich Hatori-sans Kehle, welches sich nach einem fast lauslosen Schluchzen anhörte. Er senkte den Kopf so weit, dass seine Stirn gegen Tohrus Knie lehnte, während seine Finger aus ihren schlüpften. Vorsichtig streckte Tohru die Hand nach ihm aus und strich über das schwarze Haar, das sich fürchterlich weich anfühlte. Sie hoffte inständig, dass er verstand, dass er sich ihr anvertrauen und sich bei ihr fallenlassen konnte, weil es manchmal genau das war, was ein Mensch brauchte. Ihre Finger tauchten in das schwarze Haar, als sie ihn streichelte, während Hatori um seine Fassung rang. „Ich kann dir nicht zurückgeben, was ich dir genommen habe“, murmelte Hatori irgendwann, hob jedoch nicht den Kopf und entzog sich auch nicht ihrer Berührung. „Aber ich kann dir auch nicht noch mehr nehmen. Ich möchte es nicht. Das ist auch egoistisch von mir.“ Tohru verstand nicht, wovon Hatori da sprach, wusste aber, dass es von Bedeutung war. Vorsichtig rutschte sie vom Toilettendeckel, bis sie neben Hatori-san auf dem Boden kniete. Ihre Blicke suchten und fanden einander. Tohru lächelte. „Ich bin froh, dass Sie auch etwas egoistisch sind.“ Hatori lehnte sich vor, bis sich seine Stirn sanft gegen ihre lehnte. Noch immer sah er sie an, während Tohrus Wangen sich hitzig anfühlten. Nach einigen Momenten drehte er den Kopf zur Seite und überbrückte auch den letzten Abstand, um seinen Mund tastend gegen ihren zu pressen. Tohru schmeckte Salz auf seinen Lippen und das Herz zog sich ihr in der Brust zusammen. Sie schlang die Arme um seinen Hals, um an ihm festzuhalten, doch da fielen seine Kleider bereits zu Boden und er wälzte sich als Seepferdchen aus seinem Hemd hervor. Panisch schnappte Tohru nach Luft. „Es... Es tut mir so leid, Hatori-san!“ Sie hob ihn vorsichtig in ihre Arme und stolperte zur Badewanne hinüber, um Wasser einzulassen. „Es tut mir so, so leid, Hatori-san!“ Doch als sie Hatori in das Wasser setzte, meinte sie von den Zügen des Seepferdchens eher Resignation als Traurigkeit abzulesen. Tohru lehnte sich über den Rand der Badewanne und ließ ihre Hand in das Wasser eintauchen. „Ich weiß, dass Sie das nicht hören wollen, Hatori-san, aber ich finde Sie sehen wirklich schön in dieser Form aus.“ Obwohl Tohru sicher war, dass Seepferdchen nicht erröten konnten, meinte sie zu sehen, wie er sich etwas verfärbte und Tohru konnte das Lächeln nicht unterdrücken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)