Im Himmel ist der Teufel los von Sky- (Apokalypse Reloaded) ================================================================================ Kapitel 1: Die spinnen, die Engel --------------------------------- Das Wetter im Himmel war für gewöhnlich warm, sonnig und wolkenfrei. Das lag in erster Linie daran, weil sich das Königreich der Engel über den Wolken befand und nicht etwa weil die globale Erwärmung ihre Spuren bereits in den höchsten spirituellen Gefilden hinterlassen hatte. Nein, so weit war es zum Glück noch nicht gekommen, auch wenn es vielleicht nur eine Frage der Zeit war, bis es selbst in diesen Höhen unangenehm warm wurde. Da sich das Reich Gottes weit über der irdischen Welt befand und somit nicht der unberechenbaren Willkür gewöhnlicher meteorologischer Launen ausgesetzt war, blieb das Wetter für gewöhnlich immer gleich. Wenn sich allerdings mal ein Regenschauer oder sogar ein Gewitter einstellte, war dies in der Regel ein Zeichen dafür, dass sich Unheil zusammenbraute und man besser irgendwo in Deckung gehen sollte. Ein solch prophetisches Wetter hatte deshalb durchaus seine Vorteile. Man brauchte nur aus dem Fenster zu schauen und wenn alles friedlich war und die Sonne schien, war für gewöhnlich davon auszugehen, dass es ein guter Tag werden würde. Stellte sich ein leichter Nieselregen ein, konnte man mit einer leichten Unannehmlichkeit rechnen und ging besser seiner eigenen Wege. Ein starker Wind und dunkle Wolken verhießen in der Regel einen ernsten Streit innerhalb der höchsten Eliteklasse der Engel und hatte nicht selten eine handfeste Auseinandersetzung zur Folge, bei der ordentlich Federn gelassen wurden. Ein Sturm oder sogar ein Gewitter mit Donner und Blitz zählten zu den schlimmsten vorstellbaren Katastrophen und konnten nur Folgendes bedeuten: der Allmächtige war wütend und würde ein paar Köpfe rollen lassen, oder es tobte Krieg im Himmel. Aus diesem Grund reagierten die Engel besonders übervorsichtig und sensibel auf jede Art von Wetterveränderungen. Nun stelle man sich vor, ein Engel reiste zum ersten Mal auf die Erde hinab. Es hatte schon seine Gründe, warum der Allmächtige seine Boten niemals bei schlechten Wetter zu den Menschen hinabschickte. Schaute man in der Bibel nach, fanden sich für gewöhnlich kaum Passagen, in denen berichtet wurde, wie ein Engel bei Wind und Wetter hinabgeflogen kam. Das lag nicht etwa daran, dass es sich mit nassen Flügeln schwer fliegen ließ, sondern eher weil die Himmelsbewohner ein relativ schwaches Nervenkostüm hatten. Denn wenn man so sehr daran gewöhnt war, dass schlechtes Wetter ein Unheil biblischen Ausmaßes ankündigte, dann entpuppte sich das meteorologische Chaos auf der Erde als regelrechter Kulturschock. Das hatte nicht selten zur Folge, dass den Engeln völlig die Nerven durchgingen, sobald sie auch nur ein leises Donnern in der Ferne vernahmen. Da war es der Gnade des Herrn geschuldet, dass er wenigstens für gutes Wetter sorgte, wenn er schon seine Diener hinabschicken musste. Mit schwer traumatisierten Engeln ließ sich nämlich schwer arbeiten. Um solchen Problemfällen vorzubeugen, wurden meist spezielle Botenengel ausgebildet, die nicht nur körperlich, sondern auch mental auf den Abstieg auf die Erde vorbereitet wurden. Diese mussten sämtlichen Belastungen standhalten und diese Aufgabe wurde für gewöhnlich den Erzengeln anvertraut, der Elite der gewöhnlichen Engel. Seit einiger Zeit herrschte höchste Alarmbereitschaft, denn es stürmte und gewitterte wie schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Sämtliche Engel, die sich außerhalb der heiligen Hallen aufhielten, eilten wie eine Schar aufgeschreckter Hühner umher und es herrschte ein heilloses Durcheinander. Als wäre das Gewitter an sich nicht schon beunruhigend genug, hatten Gerüchte schnellen Umlauf gemacht und keiner wusste so recht, was man denn nun tun sollte. Luzifer der Lichtbringer war nämlich nach langer Zeit der Verbannung zurückgekehrt um persönlich mit den Erzengeln zu verhandeln. Jeder erinnerte sich noch lebhaft an Luzifer, den in Ungnade gefallenen Morgenstern. Er war Gottes ehemaliger Liebling mit einem derart gewaltigen Vaterkomplex, dass jeder Psychologe seine helle Freude an ihm gehabt hätte. Dabei hätte die ganze Sache wahrscheinlich gar nicht eskalieren müssen, hätte das himmlische Personal einen Gruppentherapeuten zur Verfügung gehabt. Nachdem sich der Lichtbringer nämlich erdreistet hatte, sich besser als alle anderen zu stellen und mit seinem Sonderstatus als Gottes Liebling zu prahlen, hatte der Allmächtige genug von diesem Blödsinn. Um ihn etwas mehr Bescheidenheit und Anstand zu lehren, hatte dieser ihn kurzerhand vor die Tür gesetzt und wortwörtlich zum Teufel geschickt. Diese Bestrafung war bei Luzifer natürlich nicht sonderlich gut angekommen und er verbrachte sein Leben seitdem wie ein rachsüchtiger Internet-Troll und Möchtegern-Satanist, der allein schon aus Prinzip und gekränktem Stolz sein gesamtes Dasein darauf verschwendete, seinem Schöpfer die Ewigkeit so schwer wie möglich zu machen. Ob die Bestrafung nun angemessen oder nicht vielleicht doch eine Überreaktion seitens Gott war, blieb mal da hingestellt. Luzifers plötzliches Erscheinen im Himmel war deshalb nicht ohne Grund mehr als beunruhigend und viele Engel fürchteten, dass es schon wieder Krieg geben würde. Und als es hieß, er würde bereits vor dem Tor stehen und jeden Augenblick hindurchschreiten, konnten sie sich nicht wirklich entscheiden, ob sie nun flüchten oder Hilfe holen sollten. Und wenn sich das Gehirn nicht zwischen A und B entscheiden konnte, ging es zu einem Übersprungsverhalten über und wählte einfach eine dritte Option, die weder angebracht war noch irgendeinen logischen Sinn ergab. Als Luzifer also die gewaltigen Pforten durchschritt, staunte er nicht schlecht als er eine Schar Engel sah, die planlos im Kreis liefen und geistlos herumkreischten. Ein solches Durcheinander hatte er schon seit langer Zeit nicht mehr erlebt, aber andererseits war es auch schon eine Ewigkeit her gewesen, seit er Hausverbot erteilt bekommen hatte. Doch dann bahnten sich zwei mächtige Seraphim ihren Weg durch die schreienden Massen hindurch und gingen direkt auf ihn zu. Der erste von ihnen war groß gewachsen, hatte sechs prächtige Flügel mit makellos weißen Federn und strahlte die Macht und Erhabenheit eines wahrhaftigen Seraphs von allerhöchstem Rang aus. Sein Haar war wie aus Gold und seine Augen glänzten Blau wie der Himmel. Es war der König der Engel Metatron selbst. Etwas weiter hinter ihm folgte ein etwas auffälliger aber umso eleganter und erhabener Engel, der im starken Kontrast zu seinem Begleiter kohlrabenschwarzes Haar hatte. Seine Augen, die seit langer Zeit nichts mehr gesehen hatten, waren blind und trüb und seine Schwingen genauso tief schwarz wie sein Haar. Kein Licht strahlte von ihm aus, dafür aber eine kalte Aura, die einen sterblichen Menschen das Bewusstsein rauben konnte. Es war der gefürchtete Todesengel Samael, auch genannt „das Gift Gottes“. Luzifer war sehr erfreut über diese Begrüßung und trat näher. „Metatron, Samael! Wir haben uns schon viel zu lange nicht mehr gesehen!“ „Die Freude ist ganz meinerseits, Luci“, erwiderte Samael und grüßte seinen alten Kameraden mit einer herzlichen Umarmung. „Und? Wie ist die Lage dort unten?“ „Katastrophal“, seufzte Luzifer und fuhr sich durch seine dunklen Locken. „Wir wissen so langsam nicht mehr, wohin mit all den Seelen und Baal hat zusammen mit Beelzebub und Eurynome eine Gewerkschaft gegründet und fordert bessere Arbeitsbedingungen für die Hölle. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auch noch auf den Trichter kommen, Mindestlohn zu fordern. Um es kurz zu machen: wir sind hoffnungslos unterbesetzt und deshalb hat mich Satan geschickt, um mit dem Himmel zu verhandeln.“ „Und da hast du es nicht für nötig gehalten, dich wenigstens vorher anzumelden?“ schaltete sich Metatron in einem Ton ein, der zwar versuchte, streng und autoritär zu sein, doch es wollte ihm nicht so ganz gelingen. „Wie in Gottes Namen soll ich das dem Allmächtigen bloß erklären, dass ein gefallener Engel einfach so wieder in den Himmel spaziert?“ „Dann hol ihn doch her, damit der Alte es mir direkt ins Gesicht sagen kann“, erwiderte Luzifer schamlos und Metatron zuckte unwillkürlich bei dieser lästerlichen Äußerung zusammen. Obwohl er schon in der Vergangenheit mit Dämonen und gefallenen Engeln gesprochen hatte, konnte er sich bis heute nicht an deren gotteslästerliche Redensart gewöhnen. Der König der Engel war trotz seiner Stellung ein eher zart besaiteter und zurückhaltender Zeitgenosse, der empfindlich auf jegliche Art von negativer Schwingung reagierte. Sein himmlischer Glanz war so ziemlich das einzig Königliche, das er aktiv ausstrahlte. Ansonsten hatte Metatron das Auftreten eines sanften Riesen, dem es an natürlicher Dominanz fehlte, um als ehrfurchtgebietende Erscheinung durchzugehen. Er besaß zwar einen noblen, aufrichtigen und barmherzigen Charakter, jedoch befand sich seine autoritäre Ausstrahlung auf dem Level eines in Zuckerwatte eingepackten Hundewelpen. Im starken Kontrast zum sanftmütigen und zurückhaltenden Himmelsregenten war sein Vizeregent, der Todesengel Samael, ein ganz anderes Kaliber. Was Metatron an Autorität und Strenge fehlte, machte Samael allein mit seiner düsteren Aura locker wieder wett. Jeder im Himmel fürchtete und achtete ihn als denjenigen, der die schlimmsten Drecksarbeiten im Namen des Allmächtigen erledigte. Er besaß das Auftreten eines aalglatten Geschäftsmannes mit der Vornehmheit eines Adligen, aber auch die Hinterhältigkeit einer karrieregeilen Klatschtante, die sich für nichts zu schade war. Unter all den Engeln war er derjenige, der den Menschen am feindlichsten gesonnen war, was ihn nicht sonderlich umgänglich machte. Und seit Moses ihm bei seiner Abberufung in den Himmel einen Stock ins Gesicht gedonnert und Samael versehentlich sein Augenlicht genommen hatte, war letzterer verständlicherweise noch schlechter auf die Menschheit zu sprechen. Da überraschte es einen auch nicht, dass er sich mit Leuten wie Satan und Luzifer ziemlich gut verstand. Nach der kurzen Begrüßung gingen sie zusammen in die goldene Halle, wo sich bereits die anderen Erzengel versammelt hatten. Und wie schon auf dem Vorplatz ging es auch hier drunter und drüber und Geschrei und Gezänk hallte durch den Raum wieder. Verursacher dieses Lärms waren die beiden Erzengel Michael und Gabriel, die sich mal wieder wegen irgendwelcher belanglosen Kleinigkeiten gegenseitig provoziert hatten. Raphael und Uriel, die einfach nur das Pech hatten, im gleichen Raum wie die beiden Streithähne zu sein, waren ebenfalls zwischen die Fronten geraten und so schrie sich irgendwie jeder gegenseitig an, ohne dass ein roter Faden durch diese Streitgespräche ging. Um die Dynamik der vier Erzengel Michael, Gabriel, Raphael und Uriel zu verstehen, musste man zuerst eines wissen: jeder von ihnen hatte eine Art Rolle auszufüllen und das ließ sich am besten mit einem Fantasy-Rollenspiel vergleichen. Es gab den Damage Dealer, den Heiler und den Tank. Michael war ein mächtiger Kriegsengel mit heiligen Flammen und einem heiligen Schwert, mit dem er einst den Drachen Satan niederstreckte und in die Hölle hinabwarf. Als Damage Dealer der Truppe besaß er eine enorme Angriffskraft und war der unangefochtene Anführer. Hauptsächlich deshalb, weil er der Auffassung war, dass ihm als waschechter Drachenkämpfer diese Position allein schon aus Prinzip zustand. Das Gegenstück zu ihm verkörperte Gabriel, der Schutzengel und Botschafter. Er konnte mächtige Schutzbarrieren beschwören, mit denen er sowohl den Himmel vor Eindringlingen, als auch Ungeborene und Kinder vor Schaden bewahren konnte. Zwar besaß er nicht dieselbe Durchschlagskraft wie Michael, doch seine Verteidigung und Ausdauer machten ihn zum verlässlichen Tank, der den meisten Schaden einsteckte. Als solcher leistete er eigentlich den Löwenanteil der ganzen Arbeit, fand aber kaum Anerkennung weil es stets Michael war, der den entscheidenden Schlag ausführte und somit den ganzen Ruhm für sich einheimste. Da war es also nicht verwunderlich, dass Gabriel nicht unbedingt gut auf ihn zu sprechen war. Der Heiler der Gruppe war niemand anderes als Raphael, dessen Kenntnisse um die Medizin und Heilmagie unvergleichlich und unübertroffen waren. Jede Gruppe, ganz egal wie stark sie auch sein mochte, war immer an irgendeinem bestimmten Punkt auf einen Heiler angewiesen und das machte ihn unersetzlich. Dieser Tatsache war sich Raphael durchaus bewusst und nutzte das gerne für sich aus, um besondere Privilegien für seine Hilfe einzufordern. Seiner Auffassung nach waren die Heiler die eigentlichen Helden der Truppe und genossen dadurch einen besonderen Schutz und Status. Denn wenn der Heiler zu Boden ging, war das Spiel so gut wie vorbei. Also hatte Raphael irgendwann damit begonnen, hoch zu pokern und seinen Sonderstatus auszunutzen, um sich das Leben deutlich angenehmer zu gestalten. Er wusste genau, dass niemand es wagen würde, sich zu beschweren. Michael war ein rücksichtsloser und hitzköpfiger Kämpfer, der sich ständig in Gefahr brachte und Gabriel musste immer eine Menge einstecken, um seinem Kollegen aus der Patsche zu helfen. Bei dieser katastrophalen Konstellation konnten sie unmöglich auf einen Heiler verzichten. Raphael war geschickt genug, um Michael im Glauben zu lassen, dass dieser das Kommando innehatte. Aber in Wahrheit war er der heimliche Strippenzieher, wenn es um seine persönlichen Vorteile ging. Nun waren es aber vier Erzengel und es stellte sich natürlich die Frage, in welches Schema Uriel hineinpasste. Hierzu musste man eines wissen: nicht alle erkannten ihn auch wirklich als Erzengel an. Es gab nämlich viele Quellen, die der Überzeugung waren, dass die Zahl Drei wegen der Dreifaltigkeitsgeschichte weitaus symbolträchtiger war als eine schnöde Vier. Zwar existierten auch Aufzeichnungen, die von sieben Erzengeln erzählte, aber das waren eher Reservekandidaten für den Fall, dass einer von den offiziellen vier bei einem handfesten Streit das Zeitliche segnen würde. Da sich also die meisten Schriften auf drei Erzengel verständigt hatten, um die Zahlensymbolik möglichst einheitlich zu halten, betrachtete man Uriel eher als unliebsames Anhängsel. Er besaß weder ausreichende Kampfkraft, um sich auf dem Level von Michael zu bewegen, noch hatte er eine Ausdauer und Verteidigung wie Gabriel. Von Heilkunst verstand er nicht allzu viel und seine einzige Fähigkeit bestand darin, Licht zu erzeugen. Wenn man aber bedachte, dass jeder gewöhnliche Engel im Himmel die Fähigkeit besaß, irgendeine Form von Licht zu beschwören, war das nicht wirklich etwas Besonderes. Uriel war deshalb so etwas wie der Barde der Gruppe: ein wandelnder Witz auf Kosten anderer, der niemals für voll genommen wurde und dessen Zugehörigkeit niemand freiwillig anerkennen würde. Die vier Erzengel, die für die Himmelsbevölkerung den vergleichbaren Status von Hollywood-Prominenten hatten, waren zu vertieft in ihre Streitereien um die drei zusätzlichen Anwesenden zu bemerken. Metatron versuchte erst vorsichtig und zaghaft, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, doch keiner hörte ihm wirklich zu. Erst als Samael in einem donnernden Ton, der die ganze Halle erzittern ließ, die Zankenden übertönte, kehrte augenblicklich Stille ein. Alle Augen wanderten zu den Eingetroffenen, vor allen auf den unerwarteten Besucher. „Was im Namen des Allmächtigen machst du denn hier?“ fragte Gabriel und wies dabei auf Luzifer, wobei sich seine Miene deutlich verfinsterte. „Gott hat dich verbannt und du hast nicht das Recht, dich hier blicken zu lassen!“ „Freut mich ebenso wenig, euch Schwachköpfe wiederzusehen“, erwiderte der gefallene Engel trocken und nahm am großen Tisch auf einem Stuhl Platz, ohne darauf zu warten, dass sich Metatron und Samael zuerst setzten. „Nur damit ihr’s wisst: ich bin rein geschäftlich hier und ich habe auch nicht vor, länger als nötig zu bleiben.“ „Respektlos und arrogant wie eh und je“, kommentierte Michael kopfschüttelnd und verzog angewidert das Gesicht. Nach und nach nahmen alle Platz, wobei hier eine besondere Ordnung eingehalten wurde. Nach den Spielregeln des Himmels setzten sich bei besonderen Ratsversammlungen die Höchstrangigen stets zuerst hin. Alles andere hätte als Anmaßung und grobe Beleidigung gegolten. Da Luzifer bereits seine Chancen im Himmel verspielt hatte und überzeugter Rebell war, hielt er sich nicht mehr unbedingt an die himmlische Etikette. Etwas anderes hätte bei einem gefallenen Engel, der sich gegen Gott aufgelehnt hatte, auch eher merkwürdig ausgesehen. Sah man aber von gefallenen Engeln ab, stellte sich die himmlische Hierarchie als weitaus komplizierter dar, als man im Allgemeinen vermuten würde. Denn „Engel“ war genauso wie das Wort „Säugetier“ lediglich ein sehr schwammiger Oberbegriff und es gab weitaus mehr Differenzierungen. Obwohl die vier Erzengel eine außerordentlich bedeutende Rolle in den heiligen Schriften spielten, befanden sie sich in der Himmelshierarchie überraschend weit unten. Insgesamt gab es neun Ränge, die in drei Klassen eingeteilt wurden. Während sich die Erzengel trotz ihres Bekanntheitsstatus auf dem vorletzten Rang der niedrigsten Klasse befanden, siedelten sich Metatron und Samael als Seraphim auf dem höchsten Rang der obersten Elite an. Und dabei waren sie vergleichsweise weniger bekannt. Aber wenn man im Hinterkopf behielt, dass man die Kassierer in den Supermärkten deutlich öfter persönlich antraf als das oberste Management, erklärte sich dieses vermeintliche Paradoxon relativ schnell. Das zeigte vor allem eins: die Himmelshierarchie unterschied sich im Allgemeinen nicht sonderlich von einem herkömmlichen Konzern und war mindestens genauso unfair. Metatron ließ einen Blick durch die Runde schweifen und fühlte sich ein wenig nervös als er all die feindseligen Blicke sah, die untereinander ausgetauscht wurden. Er wusste genau, dass es nur ein falsches Wort brauchte, damit sich die Erzengel wieder an die Gurgel gehen würden. Es war deshalb unfassbar schwer, sie alle zu einem gemeinsamen Treffen zu bewegen, geschweige denn vernünftig mit ihnen zu verhandeln. Ein kurzer Blick zu Samael, der mit einem zufriedenen Lächeln neben ihm saß und dabei Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte, flößte ihm dann aber doch wieder etwas Mut ein und er räusperte sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Also kommen wir nun zum Wesentlichen. Die Hölle steckt in einer ernsthaften Krise und Luzifer wurde als Bote Satans gesandt, um mit uns die Bedingungen für die Seelenurteile neu zu verhandeln. Dazu möchte ich Vorschläge von euch sammeln.“ „Neu verhandeln?“ echote Michael und lachte ungläubig. „Was gibt es da bitteschön neu zu verhandeln? Wir können nicht einfach so aus Jux und Laune die Gesetze abändern, die der Herr selbst wortwörtlich in Stein gemeißelt hat! Außerdem hat es doch Jahrtausende lang super funktioniert. Was geht uns denn bitteschön die Hölle an?“ „Naja…“, murmelte Uriel und zeigte sich etwas skeptisch über die Aussage seines Kollegen. „Wenn aber ein zu großes Ungleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herrscht, könnte das…“ „Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt!“ unterbrach Michael ihn und Uriel zuckte bei diesen barschen Worten zusammen. Auch Gabriel nickte beipflichtend und fügte noch hinzu „Das hier ist eine Sache unter richtigen Erzengeln, also halt du mal schön den Mund und geh uns nicht auf die Nerven.“ So zerstritten Michael und Gabriel auch sein mochten, in einer Sache waren sie sich aber dennoch einig: keiner von ihnen wollte ihren vierten Kollegen als gleichberechtigt ansehen und sie ließen dabei keine Gelegenheit aus, um auf ihm herumzuhacken. Das waren die einzigen Momente, wo sie nicht gerade versuchten, sich gegenseitig zu lynchen. Raphael hingegen hielt sich aus der Diskussion heraus und beobachtete das ganze Theater mit einem amüsierten Schmunzeln. Solange er keinen persönlichen Vorteil daraus schlagen konnte, würde er sich nicht großartig einmischen. Luzifer seufzte genervt und hatte keine große Lust auf die ganze Diskussion. „Das ist doch lächerlich“, grummelte er und blitzte seine ehemaligen Kollegen mit seinen dämonischen Augen an. „Können wir nicht einen Moment lang mal das Kriegsbeil begraben? Früher oder später wird die Krise auch den Himmel treffen. Die Bevölkerung auf der Erde ist in den letzten Jahrtausenden rapide angestiegen und trotz höherer Lebenserwartung sterben immer noch jeden Tag mehr Menschen als wir unterbringen können. Wenn ihr nicht wegen jeder kleinen Bagatelle die Menschen direkt zur Hölle schicken würdet, hätten wir dieses Problem gar nicht erst.“ „Bagatellen?“ fragte Gabriel stirnrunzelnd. „Das sind ernsthafte Verstöße gegen Gottes Gebote, über die wir sprechen!“ „Was ist mit den tausenden von Atheisten, die ihr zu uns runterschickt? Der Großteil von ihnen hat sich nicht einmal etwas zuschulden kommen lassen und meine Leute wissen gar nicht, wofür wir sie eigentlich bestrafen sollen. Ihr schickt immer noch Menschen nach unten, die nicht dem veralten Familienbild von Mann und Frau entsprechen. Ihr habt mir sogar Stephen Hawking nach unten geschickt und was hat der arme Kerl getan? Er sitzt im Rollstuhl, kann nicht mal mehr sprechen und philosophiert bloß die ganze Zeit über schwarze Löcher und Sterne. Was in Satans Namen soll das? Wer hat den Mist überhaupt verzapft, dass ihr mir immer noch Seelen nach unten schickt, die gar nichts in der Hölle zu suchen haben?“ „Das sind von Gott genehmigte Niederschriften und diese Regelwerke gelten seit über 2000 Jahren“, gab Samael zu bedenken. „Die Menschen selbst haben diese Vorschläge gebracht, nach denen sie gerichtet werden sollen. Wenn Michael also Seelen in die Hölle schickt, dann doch nur, weil es die Menschen selber nicht anders wollen.“ „Ach fang mir gar nicht erst mit diesem Thema an“, erwiderte Luzifer energisch. „Wir wissen doch alle, dass die Menschen überhaupt keine Ahnung davon haben, was gut für sie ist.“ „Genauso wenig wie du“, stichelte Gabriel und schnaubte ungläubig. „Spielst dich hier als Wohltäter und Verfechter der Menschheit auf, bist aber selber ein trotziger Rotzbengel, der bloß beleidigt ist weil Gott ihm nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hat.“ Dieser Schuss unter die Gürtellinie war zu viel. Diese Beleidigung wollte sich der ehemalige Engel des Morgensterns nicht länger gefallen lassen und er wollte aufstehen um Gabriel eigenhändig den Hals umzudrehen. Doch Metatron wies ihn an, sich wieder zu setzen und Luzifer besann sich wieder eines Besseren. Eine handfeste Auseinandersetzung würde in dieser Debatte auch nicht weiterhelfen. Stattdessen entschloss er, einfach mit dem gleichen Gift zurückzuschießen um sich für diese Kränkung zu rächen. „Du als die zweite Geige im Quartett sprichst da wohl aus Erfahrung. Nicht wahr, Gabi?“ Wenn es eines gab, womit man einen Erzengel wie Gabriel zur Weißglut treiben konnte, dann war es die bloße Erwähnung seines Spitznamens. Zwar gehörte er zu den Schönlingen unter den Erzengeln, doch sein Mangel an Maskulinität war schon seit Jahrtausenden Stoff für Hänseleien und Gespött gewesen. Gabriel war viel zierlicher als die anderen Erzengel und sein Gesicht war so fein geschnitten, sodass keiner wirklich auf dem ersten Blick sagen konnte, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte. Streng genommen waren Engel geschlechtslose Wesen und konnten durchaus weibliche Gestalt annehmen wenn sie wollten. Doch sie wollten es nicht, weil die Welt seit der Erschaffung Evas ausschließlich patriarchisch geprägt war und die Emanzipation der Frau noch nicht im Trend gewesen war. Also hielten die Engel weiterhin an ihrer männlichen Gestalt fest und Gabriel, dem ein solches Aussehen partout nicht gelingen wollte, fiel da komplett aus der Rolle. Im Laufe der Zeit hatte er deswegen massive Komplexe entwickelt. Provoziert durch diese Stichelei schoss er einen Lichtblitz in Luzifers Richtung, doch dieser konnte sich rechtzeitig zur Seite ducken und wurde knapp verfehlt. Er kassierte diese Reaktion mit einem amüsierten Grinsen und freute sich sichtlich über diese Genugtuung. Metatron hingegen seufzte wehleidig und ahnte, dass sich die Verhandlungen in die Länge ziehen würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)