Im Himmel ist der Teufel los von Sky- (Apokalypse Reloaded) ================================================================================ Kapitel 4: Ein gordisches Knoten-Dilemma ---------------------------------------- Metatron, dem das Herz gehörig in die Hose gerutscht war, war fluchtartig aus der Halle verschwunden, ohne sich überhaupt zu bemühen, Luzifer wieder vor die Himmelspforte zu leiten. Um ehrlich zu sein konnte dieser Kerl ihm im Moment herzlich egal sein, denn er hatte weitaus größere Probleme am Hals. Zwar hatte er es durch eine geschickte Verzögerungstaktik geschafft, etwas mehr Zeit zu schinden, aber er stand nach wie vor unter enormem Zugzwang. Das alles hätte nicht passieren müssen, wenn er nicht diese dämliche Abstimmung gehalten hätte. Wer um alles in der Welt war auch auf die bescheuerte Idee gekommen, Demokratie in eine Jahrtausende lang andauernde Diktatur zu bringen? Manch einer mochte zwar behaupten, dass der Himmel keine Diktatur war, aber bei genauerer Betrachtung gab es keine andere Schlussfolgerung. Freie Meinungsäußerung wurde als Rebellion und Blasphemie verpönt, Gott durfte niemals angezweifelt werden und jede Art von Widerstand wurde mit grausamer Härte bestraft. Im Grunde genommen unterschied sich der Himmel nicht allzu viel von einer gewöhnlichen Diktatur, die von Menschen geführt wurde. Sie war halt nur etwas hübscher verpackt. Es war natürlich ziemlich bequem, wenn jemand anderes alle Entscheidungen traf und man selber keine Verantwortung tragen musste. Solange man nur nichts Falsches sagte, konnte nichts passieren und alles ging seinen gemütlichen Gang weiter. Nur leider hatte sich das in den letzten Jahren rapide geändert und nun musste Metatron als höchster Engel alles alleine ausbaden. Alles war so einfach gewesen, als die Dinge noch ihren gewohnten Gang gingen und noch nicht komplett den Bach runterliefen. Seine einzige Aufgabe hatte stets darin bestanden, einfach das zu wiederholen, was Gott ihm vortrug. Mehr wurde von ihm nicht erwartet. Der Job war so verdammt simpel und anspruchslos, dass sein Bruder Sandalphon sogar mal scherzhaft gemeint hatte, dass man ihn genauso gut durch ein Telefon ersetzen könnte, wenn der Himmel wenigstens Elektrizität oder Internet hätte. Aber nun musste er sich mit einer solch gewaltigen Verantwortung herumschlagen und er hatte keine Ahnung, was er noch tun sollte. Den ganzen Himmel im Alleingang bewältigen hatte definitiv nicht in der Jobbeschreibung gestanden. Das war auch eigentlich nicht seine Aufgabe. Aber die Dinge hatten sich nun mal geändert und warum das so war, konnte selbst Metatron, der sonst alle Geheimnisse kannte, nicht ergründen. Es gab nämlich etwas, das er vor den Engeln geheim hielt um keine Panik auszulösen: er konnte Gottes Stimme nicht mehr hören. Schon seit längerer Zeit hatte er nichts mehr von ihm gehört und immer wieder versucht, auf jede erdenkliche Art und Weise Kontakt aufzunehmen. Anfangs noch durch Gebete und Reinigungsritualen, dann im Anschluss mittels Rauchzeichen, Fahnensprache und durch Morsen. Als das auch nicht die gewünschte Wirkung erzielt hatte, war er zu Meditationen und Yoga übergegangen. Nachdem ihm so langsam die Alternativen ausgegangen waren, hatte er zu guter Letzt Gebärdensprache, Ausdruckstanz und sogar Pantomime versucht. Das einzige, was dabei herauskam, waren ein verdrehter Knöchel und ein Hexenschuss weil Metatron nicht tanzen konnte. Als alle erdenklichen Möglichkeiten ausgeschöpft worden waren, hatte er es aufgegeben und musste wohl oder übel den Tatsachen ins Auge blicken: Gott war einfach verstummt und es gab offenbar keine Möglichkeiten mehr, mit ihm zu sprechen. Selbst er hatte den Kontakt zu ihm verloren. Metatron hatte daraufhin das Einzige getan, was ihm als richtig erschien und niemandem ein Sterbenswort davon erzählt. All diese Engel im Himmel waren so sehr daran gewöhnt, willenlose Drohnen ohne eigene Meinung zu sein, dass allein der Gedanke daran, auf sich selbst gestellt zu sein, für sie einem Weltuntergang nahe gekommen wäre. Wenn man Jahrtausende lang immer nur stumpf Befehle ausführte ohne sein Hirn einzuschalten, konnte man nicht erwarten, dass man von jetzt auf gleich eigenständig denken konnte. Ganz zu schweigen davon, dass die Hölle komplett Amok laufen würde, wenn den Dämonen irgendetwas zu Ohren kam. Das galt es unbedingt zu verhindern und so hatte er die Illusion aufrechterhalten, dass Gott nach wie vor noch da war und zu ihnen sprach. Da sich kaum irgendwelche Besonderheiten ereigneten, hatte alles mehr oder weniger gut geklappt, aber nun hatte er es mit einer ernsthaften Krise zu tun und wusste nicht, wie er sie lösen konnte. Als König der Engel und Beschützer des Himmels konnte er veranlassen, dass das Regelwerk geändert und sämtliche Sünder amnestiert wurden. Aber was war, wenn Gott Wind davon bekam und plötzlich wieder von sich hören ließ? Er wusste ja nicht mal ob das Kommunikationsproblem nicht vielleicht an ihm selbst lag. Womöglich hatte er einfach nur seine Fähigkeit verloren, die Stimme des Herrn zu hören und wenn er eigenmächtig irgendwelche uralten Gesetze abänderte, würde er mit Sicherheit dessen Zorn auf sich ziehen. Dann durfte er den Rest der Ewigkeit als Dämon in der Hölle fristen und ihm grauste bei diesem Gedanken. Zwar war nichts dergleichen passiert, als er damit begonnen hatte, die Engel zu etwas mehr eigenständigem Denken zu erziehen, aber er wollte sein Glück auch nicht zu sehr ausreizen. Nervös lief er eine ganze Weile auf und ab und dachte angestrengt darüber nach, was er tun konnte. Eine eigenmächtige Gesetzesabänderung unter dem Risiko, dass er Gottes Zorn auf sich zog, schied aus. Aber alles so zu belassen wie es war, stand ebenfalls außer Frage, weil er sonst eine Horde von wütenden Demonstranten aus der Hölle vor der Tür haben würde. Und jeder wusste wie unberechenbar und zerstörungswütig die sein konnten. In jedem Fall hatte er so ziemlich die Arschkarte gezogen und den Konflikt auf eine Art und Weise zu lösen, die nicht in einem Weltuntergang resultieren würde, erschien so gut wie unmöglich. Dazu musste man irgendein Schlupfloch in diesem Paragraphen-Urwald finden und leider hatte das himmlische Personal auch keine geschulten Rechtsanwälte. Stattdessen hatten sie Michael und den konnte man gleich vergessen. Doch dann kam ihm eine Idee, die ihm als letzte Rettung erschien. Er erinnerte sich an die Beinahe-Apokalypse, die sich vor einiger Zeit zugetragen hatte und als das wohl bedeutendste Ereignis seit der Geburt von Jesus gewesen war: während des 14. Jahrhunderts, als sich der Konflikt zwischen Himmel und Hölle zugespitzt hatte und die Pest in Europa wütete, hatten alle Zeichen darauf hingedeutet, dass die Apokalypse beginnen würde. Beide Seiten hatten sich zum Krieg gerüstet, der die Welt vollständig vernichten würde und waren nur zu erpicht darauf, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Doch Gott wollte es nicht so enden lassen und hatte ihnen einen Mediator geschickt, der den Konflikt auf eine mehr oder weniger gewaltlose Weise lösen sollte: Malachiel, ein Wesen welches halb Engel und halb Dämon war. Als solcher stand er zwischen den Fronten und war absolut unparteiisch. Ihm war es gelungen, einen Waffenstillstand zwischen den beiden streitenden Urfeinden zu vereinbaren und obendrein als Bedingung festzulegen, dass die Erde nicht zum Schauplatz eines apokalyptischen Krieges werden würde. Seine Methoden waren ein wenig unkonventionell, aber er hatte es tatsächlich geschafft, das Ende der Welt zu verhindern und den Streit zwischen Himmel und Hölle beizulegen. Auch sonst war er eine große Hilfe und Stütze gewesen. In den Momenten, wo Metatron gewankt und an sich gezweifelt hatte, war Malachiel an seiner Seite gewesen und hatte ihm geholfen, die Welt vor dem Untergang zu retten. Trotz seinem Hang zu kleineren Gotteslästerungen und einer vorlauten Klappe war er ein absolut anständiger Kerl, dem die Gerechtigkeit wichtig war. Seine Willensstärke und auch sein Mut und die schonungslose Ignoranz bezüglich der Meinung anderer hatte Metatron sehr bewundernswert an ihm gefunden. Für ihn war Malachiel die mehr oder weniger unmoralische Version der Idealvorstellung, wie er selbst gerne sein würde. Er bewunderte ihn aufrichtig dafür, dass er sich nicht um die Meinung anderer scherte und einfach das tat, woran er glaubte und was er für richtig hielt. Deshalb hatte es auch nicht allzu lange gedauert, bis es zwischen ihnen beiden gewaltig gefunkt hatte und Metatron zum ersten Mal in seinem langen Leben so richtig verliebt gewesen war. Allein als er an ihre gemeinsamen Momente dachte, die sie trotz der Entfernung hin und wieder teilten, wurde ihm warm ums Herz und er geriet ins Schwärmen wie ein frisch verliebtes Schulmädchen. Allerdings hatten sie sich schon seit längerem nicht mehr gesehen. Da Malachiel weder im Himmel noch in der Hölle seinen Platz fand, zog er es vor, auf der Erde unter den Menschen zu leben. Zwar hatte er mehrmals angeboten, dass sie beide gemeinsam ein Leben dort unten führen konnten, aber Metatron hatte es als seine heilige Pflicht angesehen, im Himmel zu bleiben. Die Entscheidung war ihm nicht leicht gefallen, vor allem weil Fernbeziehungen nur schwer zu halten waren. Aber er hatte es auch nicht verantworten können, all diese geistlosen Drohnen von Engeln ganz ohne Aufsicht zu lassen. Nicht auszudenken, wenn jemand wie Samael oder einer von den Erzengeln auf den Trichter gekommen wäre, das Kommando zu übernehmen. Dann wäre vom Himmel nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Es klopfte vorsichtig an der Tür und herein trat Sandalphon, seines Zeichens Cherub und Zwillingsbruder von Metatron. Im Gegensatz zu dem eher schüchternen, bieder gekleideten und nervösen Himmelsregenten war der jüngere Bruder ein etwas sonderbarer Zeitgenosse, der so ziemlich das genaue Gegenteil von ihm verkörperte. Und das sah man schon aus hundert Meilen Entfernung. Sandalphon regierte über den vierten Himmel und sollte eigentlich Weisheit und Besonnenheit lehren, aber seine Faszination für die Menschenkulturen hatte ihn in einer etwas merkwürdigen Art beeinflusst. Um es etwas bildlicher zu beschreiben: wenn man einen Kongress voller biederer und vornehmer Anzugträger mit ernster Miene besuchte und dann plötzlich einen knallbunten Transvestiten in Plateauschuhen sah, der den Anschein erwirkte, als wäre er aus einer Freakshow ausgebrochen, traf das genau auf Sandalphon zu. Während Metatron ein Witz war, den keiner verstand, war sein jüngerer Zwillingsbruder ein Witz, der lediglich Fremdscham auslöste (was obendrein auch daran lag, dass Engel allgemein keinen Sinn für Humor hatten). Sandalphon war schon immer ein schräger Vogel gewesen, der unter tausenden Engeln deutlich herausstach und einfach nicht zu übersehen war. Das lag nicht nur daran, dass er in seiner Körpergröße sogar die Seraphim überragte, sondern auch weil er es liebte, sich wie eine Diva aufzutakeln, die sich in eine Clownsschule verirrt hatte. Und Gott alleine wusste, wie viele Pfauen und Paradiesvögel ihre Federn für seine Garderobe opfern mussten. Keiner im Himmel hatte je verstanden, was der Sinn und Zweck hinter seiner Aufmachung war. Denn Engel waren bekanntlich geschlechtlos und konnten einfach ihr äußeres Erscheinungsbild ihren persönlichen Vorlieben anpassen. Wenn Sandalphon also unbedingt in schillernden Frauenkleidern herumlaufen wollte, warum machte er sich dann nicht die Mühe, seinen Körper gleich mit anzupassen? Diese Frage war ihm tatsächlich schon einige Male gestellt worden und die Antwort „Das macht das Ganze doch viel authentischer!“ hatte nicht sonderlich dazu beigetragen, dass irgendjemand den Sinn und Zweck dahinter verstand. Also hatte man einfach beschlossen, es dabei zu belassen und gar nicht weiter darüber zu reden. Alles andere hätte nur für mehr Verwirrung gesorgt. „Hey Brüderchen“, grüßte Sandalphon ihn mit einer tiefen Baritonstimme, die zwar feminin zu klingen versuchte, aber der Versuch wollte nicht wirklich gelingen. „Alles in Ordnung bei dir? Du wirkst so blass um die Nase. Gab es Ärger mit Luzifer? Ich habe schon gehört, dass er wieder aufgetaucht ist.“ „A-alles gut, Sandy, alles gut“, versicherte Metatron und versuchte sich seine Unruhe nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Seit sein Bruder auf die Idee gekommen war, sich wie ein Farbenblinder mit Geschmacksverirrung zu kleiden und zum lebenden Kunstwerk zu erklären, hatte er darauf bestanden, von seinen Freunden und seinem Bruder nur noch „Sandy“ genannt zu werden. Ansonsten würde das „die Authentizität zerstören“, so wie er es nannte. Metatron hatte lange gebraucht, um sich an den Lebenswandel seines Bruders zu gewöhnen und hatte jedes Mal Sorge, dass es ihm irgendwann mal Schwierigkeiten bereiten könnte. Er als König der Engel hatte eine enorme Verantwortung und konnte es sich nicht leisten, dass sein Ansehen durch Sandalphons Eskapaden Schaden nahm. Dass ihn die meisten Engel aber sowieso schon nicht respektierten, ging jedes Mal komplett an ihm vorbei. Zum Glück hatte die himmlische Bevölkerung ziemlich gelassen auf seinen Bruder reagiert, was aber auch daran liegen mochte weil die beiden Brüder ziemlich hohe Tiere waren. Da konnte man sich die eine oder andere Freiheit herausnehmen und ein wenig aus der Reihe tanzen. „Es gibt da so einige Probleme in der Hölle, um die ich mich kümmern muss“, erklärte Metatron und räusperte sich kurz um seine Kehle zu reinigen. „Deshalb stehe ich ein klein wenig unter Stress.“ „Seit wann kümmerst du dich denn bitteschön um die Hölle?“ fragte Sandalphon irritiert und verschränkte die Arme, wobei seine überlangen knallbunten und mit Glitter lackierten Fingernägel hell glitzerten. So ziemlich alles an ihm war am Glitzern. Angefangen von dem knallpinken Pailletten-Kleid, den mit Strasssteinen besetzten Absatzschuhen und dem billigen Schmuck, den er trug. Sein wasserstoffblondes Haar (welches eigentlich eine Perücke war), hatte er zu einem Kunstwerk aufgetürmt, welches selbst Marie Antoinettes Schiffsfrisur wie einen Witz aussehen ließ. Dieses ganze Erscheinungsbild war wie ein Verkehrsunfall: man wollte nicht hinsehen, aber man konnte nicht anders. „Es gab einige falsche Urteile und jetzt wissen die Dämonen nicht mehr wohin mit all den Seelen“, antwortete Metatron, der diesen Anblick schon so zur Genüge kannte, dass ihn die peinlichen Modeausfälle seines Bruders schon gar nicht mehr juckten. Was das anbetraf, war er schon vollkommen abgestumpft. „Ich werde für eine Weile zur Erde hinabgehen und Malachiel um Unterstützung bitten. Wärst du bitte so nett und würdest mich in der Zwischenzeit vertreten?“ Normalerweise wäre Sandalphon aufgrund seiner mehr als skurrilen Erscheinung und seines exzentrischen Charakters nicht unbedingt der erste Kandidat gewesen. Man mochte sich allein nur vorstellen wie das wohl aussehen mochte, wenn er für länger als zehn Jahre im Amt wäre und seinen Posten auszunutzen wusste. Der Himmel hätte dann ausgesehen wie das unheilige Kind von The Rocky Horror Picture Show und JoJo’s Bizarre Adventure. Doch obwohl Sandalphon nicht unbedingt ein Vorzeigekönig war, durfte man nicht vergessen, dass er nach wie vor zu den größten und mächtigsten Engeln zählte. Außerdem war die Auswahl an Alternativen ziemlich mager. Normalerweise wäre Samael als offizieller Vizeregent seine direkte Vertretung gewesen, doch Metatron war nicht ganz wohl bei diesem Gedanken. Insbesondere weil er dessen Abneigung gegen die Menschen kannte. Da war sein Bruder das weitaus kleinere Übel. Ein durchgeknallter Paradiesvogel wie Sandalphon bedeutete weitaus weniger Papierkram als einer von Samaels weiteren Versuchen, der Menschheit mit Seuchen und Naturkatastrophen den Garaus zu machen. „Meinst du, du kommst auch zurecht?“ fragte Sandalphon besorgt nach. „Du bist so selten auf der Erde und hast kaum die Schulungen besucht. Weißt du überhaupt, was dich da unten alles erwartet? Die Menschen leben nicht mehr im 14. Jahrhundert, mein Lieber. Es hat sich viel verändert seit damals.“ „Ich weiß, ich weiß“, seufzte Metatron und es war ihm ein bisschen peinlich, von seinem jüngeren Bruder derart bevormundet zu werden. „Es ist ja nicht so, als wäre ich seit der Beinahe-Apokalypse kein einziges Mal unten gewesen. Außerdem lebt Malachiel in einem kleinen abgelegenen Dorf mitten auf dem Lande, was sollte schon schief gehen?“ „Na wenn du meinst“, meinte der grell geschminkte Cherub mit einem leichten Schulterzucken und gab sich mit dieser Antwort zufrieden. „Und was treibt dich dazu, ausgerechnet ihn um Hilfe zu bitten? Hat Gott dir diesen Auftrag erteilt oder hat dich bloß die Sehnsucht gepackt?“ Hier biss sich Metatron auf die Unterlippe und überlegte, was er am besten antworten konnte. Es widerstrebte ihm zutiefst, seinen Bruder anzulügen. In seinem ganzen Leben hatte er nur in den äußersten Notfällen gelogen und ansonsten stets die Wahrheit erzählt. Nun ja… vielleicht nicht immer die ganze Wahrheit. Aber war sich sicher, dass Gott eine Halbwahrheit eher verzeihen würde als eine Lüge. Und er hatte auch nicht vor, mit dem Lügen anzufangen. „Der Herr hat uns Malachiel extra für solche Fälle geschickt“, antwortete er deshalb und hoffte, dass es schwammig genug klang, dass Sandalphon zu der erhofften Schlussfolgerung kam. „Ich werde aber nicht allzu lange wegbleiben. Würdest du bitte eine kurze Mitteilung an die Erzengel und an Samael rausgeben, dass ich baldmöglichst mit Malachiel hier sein werde?“ „Überlass das ruhig mir“, versicherte sein Bruder und zwinkerte ihm neckisch zu. „Hab du mal viel Spaß mit deinem Herzblatt.“ Metatron verzog die Miene und spürte wie seine Wangen zu glühen begannen. Er liebte seinen Bruder, aber manchmal konnte dieser verdammt lästig sein. „Es ist rein geschäftlich, Sandy! Das ist nicht der passende Zeitpunkt für so was.“ „Wie du meinst“, gab Sandalphon unbeeindruckt zurück und wandte sich wieder zum Gehen. „Ist ja nicht so als müsste dir das peinlich sein. Wenn es wirklich unmoralisch und falsch wäre, hätte Gott sich ja schon längst bei dir zu Wort gemeldet. Na dann… ich mach mich dann mal auf den Weg. Und du pass mal gut auf dich auf. Tüdelüüü~“ Mit einem entnervten Seufzer schloss Metatron die Tür. Er liebte seinen Bruder trotz dessen gewöhnungsbedürftiger Art wirklich sehr, aber manchmal raubte dieser ihm den letzten Nerv. Obwohl Sandalphon der jüngere Zwilling war und als Cherub einen niederen Rang innehatte, hielt es ihn nicht davon ab, sich wie der ältere Bruder aufzuführen. Das mochte vor allem daran liegen, weil er vom Charakter her deutlich selbstbewusster und willensstärker war. Und wenn der ältere Zwilling ein unsicherer und inkonsequenter Pazifist war, blieb es offenbar nicht aus, dass er derart bevormundet wurde. Metatron wusste diese Geste zwar durchaus zu schätzen, kam sich aber jedes Mal wie ein hilfloses Kleinkind vor, wenn Sandalphon ihn so behandelte. Er war immer noch der König der Engel und Gottes direkter Stellvertreter, da konnte er sich doch nicht so bemuttern lassen! Trotzdem war er auch dankbar, dass sich sein Bruder so um ihn sorgte und versuchte, ihm auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Das hielt Sandalphon zwar nicht davon ab, ihn immer wieder zu ärgern und ihn entweder in Verlegenheit zu bringen oder zur Weißglut zu treiben. Aber Metatron wusste, dass er sich immer auf ihn verlassen konnte. Egal wie sich Sandalphon schminkte, verkleidete oder im Allgemeinen aufführte, er konnte auch ernst sein wenn es darauf ankam. Selbst in den schlimmsten Krisenzeiten konnte sich Metatron immer darauf verlassen, dass sein Bruder da sein würde um ihn zu unterstützen. Aber manchmal fragte er sich schon, warum um alles in der Welt Gott ihn unter all den Engeln ausgewählt hatte um König der Engel zu sein. Es hieß ja, die Wege des Herrn seien unergründlich, aber man brauchte kein großes Genie zu sein um zu erkennen, dass dieser unergründliche Plan im Grunde genommen eine absolute Schnapsidee war. Entweder war Gott zu Scherzen aufgelegt und wollte sie alle bloß veräppeln, oder das gehörte wieder zu einem seiner verrückten Experimente wie die Dinosaurier und die Affenmenschen. Ganz zu schweigen davon, dass er nicht wirklich den Grund verstand, wieso Gott nicht mehr mit ihm redete. Er hatte sich immer wieder den Kopf darüber zermartert und lange Zeit geglaubt, dass es bloß eine länger andauernde Verbindungsstörung sei. Vielleicht eine Art mentales Funkloch oder so. Aber wenn er es so recht betrachtete, war der Allmächtige auch schon sehr lange nicht mehr aktiv gewesen. Keine Wunder, keine Katastrophen, keine Erscheinungen, rein gar nichts! Hin und wieder war ihm sogar der Gedanke gekommen, dass Gott vielleicht eine Art kreative Blockade hatte und einfach eine längere Auszeit brauchte. Vielleicht brauchte sogar ein Schöpfer mal ab und zu Urlaub von all den Strapazen. Aber dann hätte er doch wenigstens eine Nachricht hinterlassen können. „Das alles wäre nicht passiert, wenn wir wenigstens eine kurze Info gekriegt hätten“, grummelte Metatron leise vor sich hin während er alles für seine Abreise zur Erde vorbereitete. „Wäre ein drittes Testament oder zumindest eine prophetische Botschaft zu viel gewesen? Selbst die Mormonen haben ein zusätzliches Testament gekriegt, aber wir haben keines gekriegt weil die Verwaltung nichts auf die Reihe bekommt. Eine schöne Bescherung ist das…“ Das Geheimnis um den großen und unergründlichen Plan Gottes kursierte schon seit langer Zeit durch die Welt. Man mochte glauben, dass es der Herr selbst gewesen war, der damit angekommen war. So ganz stimmte das aber nicht. Man konnte es mit einer Art urbanen Legende wie dem Monster von Loch Ness oder den UFOs in Area 51 vergleichen. Da Gott allmächtig war, gingen die Menschen automatisch auch davon aus, er sei gleichzeitig auch allwissend und unfehlbar. Das eine hatte mit dem anderen zwar nicht unbedingt viel zu tun, aber wenn man meist nur ausweichende oder schwammige Antworten auf die großen Fragen bekam, schloss man sich so einiges aus dem Kontext. Aus heutiger Sicht würde man das Ganze damit erklären, dass sich ein paar Menschen hingesetzt und einfach ihre eigenen Fanfictions zu ihrem Schöpfer und ihren Vorvätern geschrieben hatten um ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Diese Geschichten hatten sich gut genug verkauft, dass sie einen enormen Bekanntheitsstatus erlangten und weitergereicht wurden. Und nachdem genug Zeit ins Land gezogen war und alle Zeitzeugen längst tot waren, konnte man nicht mehr nachweisen ob es sich wirklich zugetragen hatte. Also hakte man diese Fanfictions als wahre Begebenheit ab und glaubte aus voller Überzeugung, dass sie sich wirklich zugetragen hatten. Da sich Gottes widersprüchliche Handlungen und teilweise auch unlogische Entscheidungen mit seinem Status als perfektes Schöpferwesen nicht vereinbaren konnten, mussten sich die Menschen irgendeine Erklärung einfallen lassen, um nicht auch noch selbst in Zweifel zu geraten. Also war die Legende vom „großen unergründlichen Plan“ entstanden. Und dieser Mythos hatte sich bis in die heutige Zeit weiter fortgesetzt, sodass selbst die Engel angefangen hatten zu glauben, dass es diesen unergründlichen Plan tatsächlich gab. Diese Erklärung für all die widersprüchlichen Dinge in der Bibel und im realen Leben war so oberflächlich und schwammig gehalten, dass es nicht wirklich viel Spielraum für Gegenargumente gab. Dieses Phänomen ähnelte nicht ohne Grund der „Ein Zauberer war’s“-Trope, in der jeglicher Kontinuitätsfehler und alle Arten von unbeantworteten Fragen und Logiklücken einfach mit Magie erklärt werden konnten. Und da nicht einmal die Engel im Himmel einen Gegenbeweis liefern konnten, waren selbst die höchsten Seraphim irgendwann zu der Schlussfolgerung gekommen, dass Gott irgendeinen Plan verfolgte. Ob dem nun wirklich so war oder ob die Welt einfach nur die Generalprobe zu einer Theaterführung war, die niemals stattfinden würde, konnte nicht einmal Metatron sagen. Doch so langsam begann auch er zu denken, dass die Logiklücken dieses vermeintlich existierenden Plans inzwischen die Größe des Grand Canyons angenommen hatten. Und nun stand er vor vollendeten Tatsachen und ohne Ahnung, was in aller Welt sich Gott dabei gedacht hatte, einfach mittendrin zu verschwinden und ihn mit diesem schier unlösbaren Problem zurückzulassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)