Im Himmel ist der Teufel los von Sky- (Apokalypse Reloaded) ================================================================================ Kapitel 13: Viel Weihrauch um nichts ------------------------------------ Da die Pflicht rief und Metatron die Krisenlösung aus Angst vor einer Eskalation mit dem höllischen Personal schnell vorantreiben wollte, hatte er Malachiel zur Arbeit gedrängt. Der arbeitsscheue Halb-Engel war nicht sonderlich motiviert und hätte lieber einfach nur gefaulenzt oder mehr entspannte Zeit mit seinem Liebsten verbracht. Aber keiner konnte wirklich sagen, wie lange es dauern würde, bis man dieses gordische Knotendilemma gelöst hatte und deshalb wollte der König der Engel auch nicht allzu lange warten. Sichtlich verstimmt über die Eile willigte der Mediator ein, nachdem er kurz darüber gejammert hatte, wie nervig und anstrengend das Ganze war. Aber wenn ihn ausgerechnet Metatron um Hilfe bat, konnte er ja wohl schlecht Nein sagen. Um das Ganze auch möglichst effektiv zu nutzen und vermutlich auch weil er keine Lust auf spätere Extraarbeit hatte, nutzte er die Gelegenheit, um seinen Schüler dazu zu holen. Wenn er die Aufarbeitung des Regelwerks einfach als zusätzliche Unterrichtsstunde nutzte, lohnte sich der ganze Aufwand wenigstens. Also rief er kurzerhand Nazir herbei und gemeinsam setzten sie sich an den Tisch im Wohnzimmer. Metatron holte das himmlische Regelwerk hervor, welches Michael bislang genutzt hatte und welches vorerst konfisziert worden war. Nazir brachte die Bibel mit, die er zu Studienzwecken ausgeliehen bekommen hatte. Mehr war eigentlich nicht notwendig. Nun saßen alle drei um den Tisch herum und starrten auf die dicken Wälzer. Sie zu lesen würde vermutlich lange Zeit in Anspruch nehmen und viel Arbeit und Geduld in Anspruch nehmen. Vor allem aber auch viel Konzentration und Gehirnschmalz. Nazir war der Erste, der sich zu Wort meldete und seine Bedenken äußerte. „Wie sollen wir das alles eigentlich schaffen? Müssen wir jetzt alles durchlesen?“ „Nicht unbedingt“, meinte Malachiel, dem es auch nicht so ganz bei dem Gedanken behagte, stundenlang diese alten Schinken durchzuwälzen und einzelne Paragraphen abzugleichen. Nein, das war ihm viel zu aufwändig und er konnte sich weitaus Schöneres vorstellen, als die ganze Zeit damit zu verbringen, die Bibel zu lesen. Seiner Meinung nach war das Buch eh vollkommen überholt und überbewertet. Als jemand, der für gewöhnlich im Hier und Jetzt lebte, widerstrebte es ihm, sich nach irgendwelchen Lehren und Praktiken irgendwelcher Leute zu richten, die vor tausenden Jahren gelebt hatten und an die sich schon längst niemand mehr erinnern konnte. Und selbst wenn, dann waren die tatsächlichen Geschichten um sie garantiert bei weitem nicht so spektakulär wie die Bibel weismachen wollte. „Glücklicherweise sind die Menschen in Sachen Struktur und Organisation wesentlich besser als Himmel und Hölle zusammen. Heißt also: wenn wir wissen, welche Bücher und Schriften für das Regelwerk genutzt werden, können wir das Ganze einigermaßen eingrenzen. Und um das Ganze abzukürzen, habe ich noch einen kleinen Trick im Ärmel, mit dem wir Gesetze und Ausführungen in wenigen Minuten finden können.“ „Und wie?“ fragte Metatron interessiert, denn von einem derartigen Verfahren hatte er noch nie gehört. Hier holte Malachiel ein kleines eckiges Gerät hervor, das wie eine Art ausgeschalteter Minibildschirm aussah. Verwirrt runzelte er die Stirn als er es sah und auf seine Reaktion erklärte Malachiel in leicht sarkastischem Ton „Ganz einfach: wir benutzen die allwissende Macht von Google.“ „Dieses Ding soll uns wirklich weiterhelfen können?“ fragte der Seraph skeptisch, denn er hatte noch nie etwas von diesem „Google“ gehört. „Ist das so eine Art Orakel?“ „Ja so ungefähr“, meinte Malachiel und legte sein Smartphone beiseite. „Nur mit dem Unterschied, dass du meist Antworten auf Fragen bekommst, die du nie gestellt hast und du niemals deine Symptome online recherchieren solltest. Und meist hast du immer richtig lästige Erotik-Ads mit drin.“ Das machte die ganze Sache nicht unbedingt verständlicher für Metatron, der nicht einmal wusste, was in Gottes Namen eigentlich Ads waren. Zwar hatte er die Schulungen zu den wichtigsten Fortschritten der Menschheitsgeschichte besucht, aber meist waren die Inhalte sehr oberflächlich gehalten und nicht unbedingt auf dem aktuellsten Stand. Bei so vielen Veränderungen in so kurzer Zeit kam der Himmel nicht unbedingt mit all diesen Innovationen mit. Also beschränkte man sich eher auf grobe Fakten. Es genügte zu wissen, dass es Autos, Flugzeuge, Raumschiffe, Telefone und Internet gab. Aber die meisten Engel kannten keine Details. Hätte man sie über Benzin, Erdöl, Stromerzeugnisse, Smartphones oder Apps gefragt, dann hätten sie damit rein gar nichts anzufangen gewusst und vermutlich sogar noch gedacht, das wäre so eine Art neue Fremdsprache oder geheime Codewörter. Da Metatron außerdem als König der Engel stets einen vollen Terminkalender hatte und sich um unzählige andere Dinge kümmern musste, hatte er kaum Zeit und Gelegenheit, überhaupt die Schulungen zu besuchen. Das kam halt davon, wenn man sich die ganze Zeit außerhalb der Erde aufhielt und nichts von all dem mitbekam, was da unten so von statten ging. Jemand wie Malachiel, der seit seiner Erschaffung auf der Erde unter Menschen lebte, war bestens über diese Dinge informiert. Vor allem wenn sie die Arbeitsläufe bequemer gestalteten. Nazir selbst konnte nur darüber schmunzeln und meinte „Ist schon witzig, dass es bei euch Engeln fast genauso ist wie in der Hölle. Dort unten haben die meisten von uns auch Schwierigkeiten, mit dem ganzen technologischen Kram hinterherzukommen.“ „Überrascht mich kein bisschen“, meinte Malachiel trocken und begann das Regelwerk durchzublättern. „Der Großteil von denen sind ja gefallene Engel. Da bringt man automatisch sämtliche Probleme aus dem Himmel nach unten. Meist sind es die jüngeren Dämonengenerationen, die deutlich besser angepasst sind. Andererseits ist es bei den Menschen ja auch nicht anders…“ Metatron schaute Nazir forschend an und begann zu überlegen, ob er ihn vielleicht von früher noch kannte. Ganz gleich wie viele Engel auch vom Glauben abgefallen und in die Hölle verbannt worden waren, er kannte all ihre Gesichter. Aber dieser Dämon erschien ihm nicht allzu vertraut. „Sag mal, du bist kein gefallener Engel, oder?“ fragte er ihn deshalb. „Du bist eines von Liliths Kindern, oder nicht? Was bewegt einen reinblütigen Dämon dazu, ein Engel zu werden?“ Dass ein gefallener Engel versuchte, in den Himmel zurückzukehren und all seine Laster wieder abzulegen, war ja noch halbwegs verständlich. Immerhin war ein Leben in der Hölle nicht unbedingt das angenehmste. Aber es war für den Himmelsregenten absolut unverständlich, dass jemand, der in der Hölle geboren und aufgewachsen war, nicht dort bleiben wollte. Immerhin waren sie die Ausgeburt von Sünde und Verderben. Hinzu kam auch noch, dass reinblütige Dämonen an sich eine Seltenheit waren. Das alles war auf den Zeitraum nach dem siebentägigen Schöpfungsakt geschehen, als Lilith sich zur Emanze erklärte und Adam eiskalt abservierte, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Nachdem sie das Paradies verlassen hatte, wollte Gott dieses Desaster in Ordnung bringen und die beiden wieder miteinander versöhnen. Also schickte er zwei Engel los, um Lilith aufzusuchen und sie dazu zu bewegen, ins Paradies zurückzukehren, damit man vernünftig über alles reden könnte. Leider scheiterte das Ganze an der miserablen Kommunikation, denn dieses bürokratische Stille-Post-Spiel hatte schon damals existiert und auch in die andere Richtung funktioniert. Das Ergebnis war gewesen, dass die beiden Engel Lilith verfolgt und sie dann genötigt hatten, augenblicklich zurückzukehren. Andernfalls würde sie bitter für ihren Ungehorsam zahlen. Doch Lilith hatte keine Lust, das brave Hausfrauchen für einen sexistischen und selbstsüchtigen Kerl wie Adam zu spielen. Selbst wenn er tatsächlich der einzige Mann auf der Welt war. Also hatten die Engel eigenmächtig einen heiligen Fluch ausgesprochen, um sie für ihre Sturheit zu bestrafen. Dieser Fluch bestand darin, dass jeden Tag 1000 ihrer Kinder, die sie gebären würde, sterben mussten. Das hatte nicht unbedingt dafür gesorgt, dass sich Liliths Verhältnis zu Gott und Adam in irgendeiner Art und Weise besserte. Wie es eine Frau überhaupt schaffen konnte, täglich 1000 Babys in die Welt zu setzen, mochte nicht einmal der Allmächtige selbst nachzuvollziehen. Und vermutlich hatten die beiden Engel auch nicht unbedingt Ahnung von der menschlichen Anatomie. Jedenfalls waren Liliths Kinder aufgrund des Fluchs allesamt Fehlgeburten. Um überhaupt lebende Kinder in die Welt zu setzen, musste sie also in der Lage sein, mehr als 1000 an einem Tag zu gebären. Das schaffte sie nur, indem sie zu einem Dämon wurde und sich entsprechend von diesen schwängern ließ. Da der Fluch sie also zu einer extremen hohen Kindersterberate verdammte und Lilith so ziemlich die einzige gebärfähige Dämonin war, gab es nur äußerst wenige direkte Nachkommen von ihr. Diese sogenannten „Vollblütigen“ waren geborene Dämonen, die nie in ihrem Leben irgendetwas Himmlisches in sich gehabt hatten. Aus diesem Grund galten sie als besonders mächtig und genossen besonderes Ansehen in der Hölle. Ein solcher Dämon war auch Nazir und da er nie mit irgendetwas Himmlischem in Berührung gekommen war, klang es umso verrückter, dass jemand wie er auf den Gedanken kam, ein Engel zu werden. Vor allem jemand wie Metatron tat sich schwer, so etwas überhaupt nachzuvollziehen. Malachiel hingegen hatte sich nie großartig darum geschert. Für ihn zählte es, dass er einen Haushälter hatte, der ihm den Großteil der lästigen Arbeiten abnahm. Alles andere war für ihn zweitrangig gewesen. Nazir schaute den König der Engel mit seinen rot glühenden Augen an und stellte mit Erstaunen fest, dass sein Gegenüber nicht mehr so abgeneigt gegen dieses Projekt zu sein schien wie vor ein paar Stunden. Stattdessen versuchte dieser einfach nur zu verstehen, was jemanden von solch verdorbener Herkunft zu solch einer Entscheidung bewegen konnte. Also beschloss er, auf ihn zuzugehen und erklärte „Ich mag zwar ein Kind von Lilith sein, aber ich war noch nie ein sonderlich guter Dämon. Es war mir immer zuwider, Menschen zu quälen oder Chaos anzurichten und ich war deswegen ständig der Prügelknabe für alle. Ich wollte „gut“ sein und Gutes tun, wusste aber nicht wie ich das anstellen sollte. Es gibt Dämonen in der Hölle, die mitfühlend sind und ein Gewissen haben. Manche von ihnen sind es auch leid, dort unten zu leben und sie haben Sympathie für die Menschen. Aber sie glauben alle, dass es aussichtslos ist, sich zu bessern. Ich dachte mir, man kann erst wissen, ob es wirklich aussichtslos ist, wenn man es wenigstens versucht. Also habe ich als Erster diesen Schritt gewagt, damit ich nicht nur selbst einen Ort für mich finden kann, wo ich wirklich hinpasse. Ich will auch meinen Brüdern und Schwestern in der Hölle zeigen, dass es selbst für uns Hoffnung gibt.“ Metatron schwieg, war aber sehr bewegt von diesen einfachen, aber klaren Worten. Zwar hatte er selbst noch große Skepsis an diesem Plan und glaubte nicht wirklich daran, dass es tatsächlich funktionieren würde, aber Wunder geschahen ja immer wieder. Und vielleicht wurde er ja sogar eines Besseren belehrt. Unschlüssig darüber, was er dazu noch großartig sagen konnte, räumte er mit einem kurzen Räuspern ein: „Nun, wenn den Menschen die Erbsünde dank des Opfers Jesu Christi vergeben werden konnte, spricht vermutlich nicht allzu viel dagegen, dass auch den Dämonen ihre Sünden irgendwann vergeben werden können.“ Es war ein bewegender und zugleich historischer Moment, dass ein so hochrangiger Engel einem Dämon derartige Zugeständnisse machte. Vor allem wenn dieser auch noch Gottes Sprachrohr war. Doch dieser Augenblick wurde sogleich von Malachiels bissiger Bemerkung zerstört. „Ach hör mir bloß mit dem Erbsündenquatsch auf!“ rief er genervt und machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Den ganzen Ärger hätte die Welt gar nicht erst gehabt, wenn Gott seine Schöpfung nicht als billigen Melodrama-Ersatz missbraucht hätte.“ Augenblicklich wich sämtliche Farbe aus Metatrons Gesicht und entsetzt schaute er den mürrischen Mediator an, als ihm diese gottlose Blasphemie zu Ohren kam. Zugegeben, dieser Apfel-Vorfall war damals selbst im Himmel etwas kontrovers gewesen, aber man hatte halt nie darüber gesprochen. Mit Gott ließ sich ja ohnehin schwer diskutieren und nachdem dieser so empfindlich auf Adams und Evas Vergehen reagiert hatte, wollte niemand ihn noch mehr provozieren. „Der Sündenfall war das Verschulden der Menschen weil sie ungehorsam waren!“ protestierte er sofort aus reinem Reflex heraus. „Sie haben gegen Gottes Gebot verstoßen und damit seinen Zorn auf sich gezogen!“ „Selber schuld, wenn er den Baum direkt vor deren Nase pflanzen musste“, gab Malachiel unbeeindruckt zurück und begann sich gelangweilt an der Nase zu kratzen. „Wenn du ein Kleinkind davor bewahren willst, Rohrreiniger zu schlucken, dann lässt du die Flasche ja auch nicht offen und in greifbarer Nähe herumstehen. Entweder war Gott einfach nur schlampig, er hatte eine extrem schlechte Menschenkenntnis oder es war pure Absicht. Und sein Sohnemann durfte die Scheiße für ihn wieder ausbügeln, indem er sich eine Dornenkrone aufsetzen und dann ans Kreuz nageln lassen musste. Ist doch kein Wunder, dass der arme Kerl danach sauer auf ihn war. Also erzähl mir bloß nichts von Erbsünde. Die einzige Sünde, die ich in der ganzen Anekdote sehe, ist derjenige, der dieses Apfeldilemma erst ins Rollen gebracht hat!“ „Da ist schon was dran“, stimmte Nazir nach kurzer Überlegung zu. Metatron wollte darauf etwas erwidern, doch seine einzigen Gegenargumente waren bloß der unergründliche Plan und die eventuelle Möglichkeit, dass Gott die Menschen einfach nur testen wollte. Doch selbst in diesem Fall hatte er kaum eine Chance, dieses angeknackste Image wieder zu retten. Außerdem hatte er weitaus wichtigere Prioritäten als diese Apfeldebatte. Also konzentrierte er sich wieder auf die Gesetzestexte und wartete gespannt darauf, was Malachiel für ein Urteil fällen würde. Nachdem Malachiel das Regelwerk durchgelesen hatte, schlug er es geräuschvoll zu und schnaufte kurz. Man sah ihm deutlich an, dass er ziemlich verstimmt über den Inhalt war und am liebsten gehörig losgewettert hätte. Wahrscheinlich wären noch so einige andere Blasphemien über seine Lippen gekommen, doch zur Abwechslung war er derart fassungslos und verärgert, dass ihm schlichtweg die Worte fehlten. Nazir, der bislang nur geduldig neben ihm zu seiner Linken gesessen hatte, fragte nun neugierig „Habt Ihr etwas herausgefunden, Meister?“ Geräuschvoll seufzte der Halb-Engel und hatte sichtlich Mühe, seinen Ärger im Zaum zu halten. „Ihr wollt mich doch wohl alle verscheißen, oder? Sag mir bitte, dass nicht du für die Regelwerke verantwortlich bist, Matt.“ Sofort schüttelte der Himmelsregent den Kopf und versicherte hastig „Nein, dafür ist jemand anderes zuständig. Aber ich kann dir versichern, dass die Reaktionen beim Meeting nicht weniger verstimmt gewesen waren. Es gab eine – nun ja – hitzige Auseinandersetzung darüber. Vor allem weil Michael das Regelwerk wortwörtlich nimmt.“ „Ist ja kein Wunder, dass ihr eine Krise habt, wenn ihr ausgerechnet den Levitikus als Regelwerk nehmt“, meinte Malachiel nur und schüttelte den Kopf. Nazir, der sich bislang nur Teile des Alten Testaments kannte, weil er sich fast ausschließlich mit dem Neuen Testament beschäftigte, runzelte etwas verwirrt die Stirn und fragte unsicher „Was genau steht denn im Levitikus drin?“ „Allerhand Regeln und Vorschriften, die heutzutage keiner mehr braucht“, erklärte Malachiel knapp. „Angefangen davon, welche Tiere man essen sollte, wann man ernten sollte bis hin zu Hygieneregeln, Priesterweihen und wer wann mit wem Sex haben darf. Und fast immer läuft es auf Todesstrafe hinaus. Da steht übrigens auch sehr ausführlich beschrieben, wie man mit Sklaven zu verfahren hat. Nur mal so als Beispiel, wie aktuell die Regeln sind.“ „Oh…“, entfuhr es dem jungen Dämon und er brauchte keine weiteren Ausführungen mehr um zu verstehen, warum sein Mentor so reagierte. Es war ihm auch ziemlich unverständlich, warum die Regeln gar nicht erneuert wurden. In der Hölle hatte man sich zumindest darauf eingestellt, dass die Standards von vor 2000 Jahren nicht mehr so ganz zutrafen und es heutzutage ganz andere Formen von Verbrechen und Sünden gab, die in der Bibel keinerlei Erwähnung fanden. Auch Malachiel konnte es kaum fassen und beschloss, seinem Unmut freien Lauf zu lassen. „Wie zum Henker soll man denn bitte ein Regelwerk ernst nehmen, das Elternbeleidigung, Mord und Totschlag, Wahrsagerei, Sex während der Periode und Homosexualität auf eine Stufe stellt? Mal im Ernst: was sind das denn bitteschön für Prioritäten? Die haben doch ein Rad ab, die Leviten. Vor allem aber spinnt die Himmelsbürokratie, die nicht mal das Neue Testament im Regelwerk hat!“ Stille kehrte ein. Metatron hatte etwas peinlich berührt den Blick gesenkt und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er hatte ja bis vor kurzem selbst nicht gewusst, wie rückständig die Gesetze eigentlich waren und was für einen Rattenschwanz das alles nach sich gezogen hatte. Als oberster Engel musste er dafür trotzdem geradestehen und sich diese Tirade anhören. Malachiel hatte ja nicht Unrecht. Diese ganzen alten Regeln stießen ihm genauso sauer auf. Aber einfach so aushebeln konnte man sie leider auch nicht. Das wäre erstens nicht in Gottes Sinne und zweitens würde das nur zu Chaos und Anarchie führen. Dann würde plötzlich jeder anfangen, Gottes heilige Gesetze zu missachten und sich darauf zu berufen, dass diese nicht mehr zeitgemäß waren. Genau deshalb war es ja so eine delikate Angelegenheit. „Ich gebe zu, wir hinken etwas hinterher, weil unsere Verwaltungsabläufe etwas ausbaufähig sind“, räumte er verlegen ein. „Aber hast du vielleicht schon eine Idee, wie wir das Problem auf möglichst diplomatische Art lösen können?“ „Ganz ehrlich?“ fragte Malachiel unverblümt. „Die einzige diplomatische Lösung, die ich hier sehe ist, das Buch auf den nächsten Scheiterhaufen zu werfen und dazu noch am besten Michael und den Typ, der für diese Regelwerke zuständig ist. Naja… für mich ist die Sache recht eindeutig und eigentlich hättet ihr alle längst von selbst darauf kommen können, wenn ihr euer eigenes Buch besser kennen würdet.“ Da aber sowohl Nazir als auch Metatron nicht wirklich verstanden, worauf der Pseudo-Pfarrer ansprechen wollte, gab dieser ihnen einen kleinen Denkanstoß: „Was glaubt ihr wohl, wann es die ersten Christen gab, hm?“ Allmählich begannen die Zahnräder im Getriebe ihrer Gedanken zu arbeiten und sie dröselten nach und nach das Ganze auf. Während Nazir selbst noch etwas auf der Stelle tappte, da er das Alte Testament noch nicht gut genug kannte, ging Metatron ein Licht auf und er verstand nun endlich Malachiels Andeutung. „Aber ja doch!“ rief er als er den rettenden Geistesblitz hatte. „Die ersten Christen waren Anhänger von Jesus.“ „Ganz genau“, stimmte Malachiel nickend zu und erklärte es noch mal ausführlicher, damit ihm sein Schüler folgen konnte. „Alle Personen im Alten Testament einschließlich Jesus waren allesamt Juden. Das heißt, dass alles, was bis zu Jesus‘ großem Auftritt gepredigt wurde, somit jüdisches Gesetz ist. Und da Jesus‘ Anhänger die ersten Christen waren, gelten somit Jesus‘ Worte und Gebote als eigentliches Regelwerk für das Christentum. Heißt also einfach ausgedrückt: Christen sollten nicht nach jüdischem Gesetz gerichtet werden, weil sie sich selbst klar abgegrenzt haben.“ „Ah verstehe“, murmelte Nazir und nickte nachdenklich. „Aber was genau hat denn Jesus eigentlich an Gesetzen festgelegt?“ „Naja… als Jude hat er sich eigentlich an die Gesetze aus dem Alten Testament gehalten“, antwortete Metatron, war aber etwas unschlüssig darüber. Auch wenn Gottes Sohnemann die Gebote hoch in Ehren gehalten hatte, war er auch berüchtigt für seine rebellischen Ausfälle. Ganz zu schweigen davon, wie oft er sich mit den Schriftgelehrten in den Haaren gelegen hatte, weil er sie als Paragraphenreiter und Erbsenzähler bezeichnet hatte. „Andererseits… er war auch nicht unbedingt dafür bekannt, dass er alles blind befolgt hat. Er war der Überzeugung gewesen, dass es okay war, die Regeln zu brechen, wenn es dem Wohl anderer Menschen gedient hat. Allein wenn man sein Vorstrafenregister bedenkt, weil er illegal am Sabbat gearbeitet hat, wäre er schon längst in der Hölle gelandet. Wenn ich es so recht bedenke, hat ihn bloß Vetternwirtschaft vor solch einer Strafe bewahrt.“ „Das ist der springende Punkt“, führte Malachiel weiter aus. „Das Leben und Wohl anderer Menschen hatte für ihn mehr Priorität als irgendwelche Vorschriften. Heutzutage sind die Menschen selbst so weit, dass sie die Bibel nicht mehr wortwörtlich befolgen, sondern nur nach ihrem Sinn leben um Gutes zu tun und anständige Menschen zu sein. Und da Jesus der Ursprung des Christentums ist, greift somit seine lasche Interpretation.“ Metatron war sprachlos über diese Offenbarung und konnte kaum glauben, dass die Lösung so simpel war und die ganze Zeit vor seiner Nase gelegen hatte. Es war so verdammt offensichtlich gewesen und trotzdem hatte er den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen. Er hätte sich wirklich dafür ohrfeigen können, dass er nicht von selbst darauf gekommen war. Aber nun hatte er endlich die Lösung in den Händen und musste dafür nicht einmal die alten Gesetze umschreiben. „Das heißt also: wenn wir alle Regeln raussuchen, die Jesus aufgestellt hat, dann können wir…“ „Falscher Ansatz“, unterbrach Malachiel ihn und begann nun ein knallbuntes Puzzle-Spiel auf seinem Smartphone zu spielen, da ihm ein wenig langweilig wurde. Jetzt, da er die Bücher nicht mehr zu lesen brauchte, konnte er sich genauso gut mit irgendetwas anderem beschäftigen. „Klar können wir die zehn Gebote immer noch als geltende Grundregeln nehmen, aber das ist totaler Nonsens. Kein Mensch schafft es, ausnahmslos alle Gebote einzuhalten. Das ist schlichtweg unmöglich.“ „Ja aber wenn es doch unmöglich ist, gibt es doch keine Chance für sie, in den Himmel zu kommen“, wandte Nazir ein, der die Konversation aufmerksam verfolgte. „Wenn die Ansprüche unmöglich hoch sind, kann man doch gleich sagen, dass jeder nach seinem Tod in die Hölle kommt.“ „Meine Fresse… alle sind immer so von Regeln und Vorschriften besessen, dass man glatt meinen könnte, die Bibel wäre von Deutschen geschrieben worden“, stöhnte der Halb-Engel genervt und verlor so langsam aber sicher die Geduld. Vielleicht hatte er aber auch einfach keine Lust mehr, auf alles eine passende Antwort zu finden. „Warum predige ich den Leuten dann überhaupt, dass es darauf ankommt, einfach nur ein guter Mensch zu sein, wenn’s am Ende eh keine Sau im Himmel interessiert? Dann hätte ich doch gleich sagen können, dass es scheißegal ist, was sie machen, weil sie eh keiner da oben haben will.“ „Verstehe“, murmelte Metatron und nickte bedächtig. „Also sollten wir nach moralischen Grundwerten urteilen und nicht nach dem reinen Gesetz. Etwas sehr gewagt und progressiv, aber ich denke, dass ich das durchgesetzt kriege. Aber dann stehen wir vor dem Dilemma, dass sich die Zeiten ändern. Ehebruch ist nach wie vor ein absolutes Tabu aber heutzutage halten die Ehen kaum noch. Ganz zu schweigen davon, dass die Familienkonstellationen schon längst nicht mehr den Vorstellungen von vor 2000 Jahren entsprechen…“ „Solange niemand ernsthaft zu Schaden kommt, sollte es kein großes Drama sein“, beschloss Malachiel ohne großartig nachzudenken. „Da hast du deine Antwort. Problem gelöst, ich habe fertig, ich habe keine Lust mehr und wichtiger noch: ich habe endlich Feierabend!“ Damit legte er sein Handy beiseite und legte mit einem missmutigen Grummeln den Kopf zurück und schloss die Augen, als wolle er in dieser mehr als unbequemen Position einschlafen. Zumindest Nazir hätte es nicht sonderlich verwundert, denn sein Mentor war schon in weitaus merkwürdigeren Situationen einfach eingeschlafen. Naja, es schien zumindest alles dafür zu sprechen, dass das Problem beseitigt war und die Krise somit abgewendet war. Auch wenn Malachiel sich nicht mal großartig verausgaben musste um das Problem zu lösen, wollte der junge Dämon ihm seine Ruhe vorerst gönnen. Es grenzte ja schon an ein Wunder, dass Malachiel nicht einmal versucht hatte, sich mit irgendwelchen fadenscheinigen Ausreden aus der Affäre zu ziehen. Er hatte sich nicht einmal allzu viel darüber beschwert, dass er an seinem freien Tag arbeiten musste. Dieser Metatron musste ihm wirklich einiges bedeuten, wenn er für ihn über seinen Schatten sprang. Doch beide hatten die Rechnung nicht mit dem Himmelsregenten gemacht, der zwar sichtlich erleichtert über die schnelle und schlüssige Lösung für das Regelwerk war, aber trotzdem sein wichtigstes Anliegen noch nicht gelöst hatte. „Ich fürchte, es ist noch zu früh um über Feierabend nachzudenken“, gab er zu bedenken. „Wir haben zwar das Regelwerkproblem geklärt, aber da gibt es noch eine Baustelle, an der wir arbeiten müssen.“ „Och nee… bitte nicht“, jammerte Malachiel wehleidig und zog eine verzweifelte Miene. „Komm schon, Matt. Was soll ich denn noch alles machen? Den Rest kriegst du doch auch ohne meine Hilfe hin.“ „Wenn dem so wäre, dann säße ich doch nicht hier“, konterte Metatron, senkte aber schuldbewusst die Miene. „Die Hölle ist immer noch völlig überlaufen, weil wir zu viele Seelen zu Unrecht nach unten geschickt haben. Zwar wissen wir jetzt, wie wir es in Zukunft besser machen können, aber wir haben nicht die entsprechenden Ressourcen, um alle Verurteilungen noch mal neu aufzuarbeiten. Ganz zu schweigen davon, dass Verdammte nicht einfach so in den Himmel geschickt werden können.“ Ein genervtes Stöhnen kam von Malachiel, der eindeutig keine Lust darauf hatte, sich auch noch mit diesem Thema zu beschäftigen. Vor allem das vermutlich eine längere Diskussion nach sich ziehen würde und darauf konnte er wirklich verzichten. Nazir ahnte, dass es vielleicht noch etwas dauern könnte und beschloss, noch einen Kaffee zu machen um seinen Mentor wenigstens ein bisschen zu motivieren. Inzwischen wurde es auch langsam spät und das Wetter wurde auch immer schlechter. Ein dichter Nebel zog draußen auf und er merkte, wie seine Konzentration langsam nachließ. Etwas benommen rieb er sich seine Augen und wunderte sich, dass er müde wurde. So etwas war ihm schon seit längerem nicht passiert. Vielleicht hatte er sich bei seinen heutigen Studien aber auch viel zu sehr verausgabt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)