Im Himmel ist der Teufel los von Sky- (Apokalypse Reloaded) ================================================================================ Kapitel 17: Engel und Pharisäer ------------------------------- Nazirs Augen waren groß vor Staunen und Ehrfurcht als er die unendlichen Weiten des himmlischen Königreichs erblickte. Er fühlte sich wie im Traum als er zusammen mit Malachiel und Metatron durch das goldene Tor schritt, welches noch viel gewaltiger war als er es sich vorgestellt hatte. Es war so riesig, dass er nicht einmal mit dem bloßen Auge erkennen konnte, wo es eigentlich aufhörte. Und auch das Innere des Himmels war noch prachtvoller als er es sich zu träumen gewagt hätte. Alles strahlte einem so hellen Glanz, dass er fast geblendet wurde. Vollkommen überwältigt von diesem Anblick fiel es ihm schwer, mit den anderen Schritt zu halten. Um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, hielt er sich möglichst hinter seinem Mentor versteckt und versuchte dicht bei ihm zu bleiben. Um möglichst unerkannt zu bleiben, trug er eine Sonnenbrille, die seine Dämonenaugen versteckte und ihm wurde auch eingeschärft, seine Flügel möglichst verborgen zu halten, damit keine Massenpanik ausbrach. Auch wenn Metatron eine Ausnahme für ihn gemacht hatte und ihm einen Besuch im Himmel gestattete, bedeutete es noch lange nicht, dass auch alle Engel dabei mitspielten. Die meisten von ihnen würden vollkommen durchdrehen, wenn sie einen Dämon sahen und der Himmelsregent hatte nicht wirklich Lust darauf, wieder eine Massenpanik mitzuerleben wie schon bei Luzifers Rückkehr. Außerdem gab es durchaus ein paar Kriegsengel, die frei nach der Devise „Erst schießen, dann Fragen stellen“ lebten. Ihr Anführer waren immerhin Michael und der himmlische General Anahel und beide waren nicht unbedingt für diplomatisches Geschick bekannt. Also hieß es, äußerste Vorsicht walten lassen und möglichst unerkannt bleiben. Trotz dieses großen Risikos war Nazir euphorisch bei dem Gedanken, als erster höllengeborener Dämon den Himmel zu erblicken. Er konnte sich an diesem prächtigen Anblick gar nicht satt sehen und sah sich mit großem Staunen den wundervollen Garten mit dem Springbrunnen, aus dem Weihwasser floss. In diesen dichten Wolken, die höher reichten als das Auge zu erfassen vermochte, befanden sich prunkvolle Paläste und Schlösser. Es war wie ein wahr gewordener Traum und Nazir konnte sich sein überglückliches Grinsen kaum verkneifen. Immerhin war ihm als ersten Dämon der Hölle die einmalige Ehre zuteil geworden, diesen Anblick erleben zu dürfen. „Wow, hätte nicht gedacht, dass der Himmel noch nicht in Flammen aufgegangen ist“, kommentierte Malachiel und stieß Metatron neckisch in die Seite. „Hast sie ja richtig gut dressiert bekommen.“ „Schön wär’s“, seufzte der göttliche Botschafter und war nicht unbedingt begeistert von dem, was ihm noch blühen würde. „Aber so wie ich meine Schäfchen kenne, wird es erst richtig knallen, wenn das Meeting losgeht. Ich schlage vor, ihr beide geht besser schon mal in den Versammlungssaal im ersten Himmel, damit euch das Sicherheitspersonal nicht bemerkt. Wenn die Kriegsengel nämlich Wind bekommen, dass ein Dämon hier oben ist, gibt das nur wieder haufenweise Kollateralschäden und lästigen Papierkram. Ich gehe schon mal die anderen Engel rufen.“ „Geht klar“, bestätigte Malachiel und winkte ihm zum Abschied. Damit trennten sich vorerst ihre Wege und Nazir folgte seinem Mentor den Weg am Garten vorbei durch einen riesigen Torbogen, an dem eine gewaltige Statue des heiligen Petrus stand und mit seinen leeren Augen und mit erhobener Hand auf all jene herabschaute, die durch das Tor schritten. Staunend schaute sich der Dämon weiterhin neugierig um und versuchte so viel wie möglich von all dem zu erfassen, was sich vor seinen Augen erstreckte. Dabei kam ihm auch sogleich eine Frage auf. „Meister, was meinte Metatron eigentlich mit dem ersten Himmel? Ist das so wie mit den zehn Kreisen der Hölle?“ „Im Prinzip ja“, bestätigte der Halb-Engel während sie an einer Reihe von Elfenbeinsäulen vorbei durch den langen Korridor schritten. Eine große Schar Engel niederen Ranges war dort auch anzutreffen. Manche standen in Gruppen da und redeten miteinander, andere waren auf den Weg zum Haupttor und andere wiederum folgten der Beschilderung, die den Weg in die oberen Himmelsetagen wies. „Insgesamt gibt es sieben an der Zahl: Shamayim, Raquina, Shehaqim, Machonon, Mathey, Zebul und Araboth. Shamayim ist der Wohnsitz der vier Erzengel und der Wächter der Naturgesetze. Raquina ist mehr oder weniger ein Gefängnis für gefallene Engel, die das Sexleben mit den Menschen etwas zu locker genommen haben. Shehaqim ist sozusagen der himmlische Zoo, weil dort der Garten Eden liegt. Außerdem ist dort auch das Hauptquartier der Wachen stationiert, die auf alles feuern, was nicht wie ein Engel aussieht. Machonon ist die heilige Partymeile des himmlischen Königreichs, wo man mal so richtig die Sau rauslassen kann. Die Menschen nennen es auch das himmlische Jerusalem, aber wenn du mich fragst, ist es eher eine christliche Version von Las Vegas und dort treibt auch Metatrons Bruder Sandy sein Unwesen. Mathey ist bloß ein weiteres Gefängnis für gefallene Engel, die allerdings nicht verdorben genug für die Hölle sind. Also werden sie resozialisiert, was also heißt, dass man ihnen eine Gehirnwäsche verpasst und wieder zur Drohne macht. In Zebul sammelt man alle Infos zur Erde und dort werden auch die Schulungen für sämtliche Engel abgehalten, die zur Erde hinabsteigen müssen. Araboth ist das Bonzenviertel des Himmels, wo die höchste Elite lebt. Und dort haust auch Gott wie ein agoraphobischer Eigenbrötler in seiner Kammer. Grob gesagt heißt es also: je höher der jeweilige Himmel, desto luxuriöser lebt man. Und wo genau du leben wirst, hängt allein von deinem Rang ab.“ Das waren ziemlich viele Informationen auf einmal und Nazir hätte nicht gedacht, dass der Himmel derart strukturiert war und über solch ein Klassensystem verfügte. Zumindest hörte sich das Ganze wesentlich übersichtlicher als der Aufbau in der Hölle an, wo kein halbwegs vernünftiges Klassensystem herrschte. Stattdessen mischten sich gewöhnliche Dämonen mit dem höllischen Adel und das machte es umso schwerer, überhaupt nachzuvollziehen, wer jetzt genau lebte. Vielleicht hatte sich dieses Chaos aus der Tatsache ergeben, dass die Gründerdämonen allesamt gefallene Engel waren und vielleicht eine Abneigung gegen das himmlische Klassensystem hatten. Während sie den Korridor entlangschritten, schauten immer wieder ein paar Engel erschrocken zu ihnen herüber und begannen aufgeregt miteinander zu reden. Dabei lag es weniger an Nazir, sondern viel eher an Malachiel, der aufgrund seiner Rolle in der Beinahe-Apokalypse recht prominent war. Naja… berüchtigt traf es eigentlich eher weil er ziemlich grob mit denen umgegangen war, die den Waffenstillstandspakt nicht akzeptieren wollten. Dabei hatte er auch einige sehr hochrangige Cherubim und Seraphim aufs Übelste verdroschen und das hatte natürlich für einiges an Gesprächsstoff gesorgt. Ganz zu schweigen davon, dass sich Malachiel so einige eher unrühmliche Titel verdient hatte. Aus diesem Grund war sein Beliebtheitsgrad auch nicht sonderlich hoch und viele sahen ihn eher als Bedrohung an. Schließlich blieben sie vor einer großen goldenen Tür stehen, auf der „Versammlungssaal 1 – Reserviert“ stand. Malachiel öffnete sie und ging hindurch. Nazir folgte ihm eilig und fand sich in einem riesigen Raum mit weißen Wänden, goldenen Ornamenten und prunkvollen Gemälden im Renaissance-Stil wieder. An einem großen ovalen Tisch waren mehrere Stühle aufgestellt und Nazir wunderte sich, ob es eine bestimmte Sitzordnung gab. „Meister, gibt es irgendetwas, das ich beachten sollte?“ Einen kurzen Augenblick überlegte der Halb-Engel und kratzte sich bedächtig am Hals, setzte sich dann aber auf einem der Stühle und wies seinen Schüler mit einer Handbewegung, sich ebenfalls zu setzen. „Metatron sitzt immer am Kopfende des Tisches und neben ihm die nächsten in der Rangfolge. Also ich und Samael. Der Rest ist gewissermaßen optional, weil sich die vier Erzengel sowieso ständig um die Rangfolge in ihren Reihen zanken. Es gibt Regeln, wer sich zuerst setzen darf, wer als Erster das Wort hat und so weiter und so fort. Da ich aber nicht fürs Einhalten der Etikette bezahlt werde und sowieso nicht für diesen Laden arbeite, ist mir das alles völlig schnurz.“ „Wow“, murmelte Nazir und nahm nun ebenfalls Platz. Er war immer noch vollkommen überwältigt von alledem und brauchte eine Weile, um das überhaupt erst mal zu verarbeiten. „Ich hätte nicht gedacht, dass es hier so viele Regeln gibt.“ „Willkommen im Himmel!“ rief Malachiel mit sarkastisch-theatralischem Ton, verschränkte dann die Arme auf dem Tisch und bettete mit einem lauten Stöhnen seinen Kopf darauf, als wolle er ein Nickerchen abhalten. „Das hier ist das Paradies der Gebote und Vorschriften. Hier ist alles durch irgendein Gesetz geregelt weil die Engel es lieben, ständig neue Regeln zu erfinden. Wenn du mich fragst, ist das hier die reinste Paragraphenhölle! Und trotzdem klappt hier rein gar nichts, weil die Bürokratie ein Witz ist und keiner wirklich weiß, welche Regeln noch aktuell sind.“ „Immer noch besser als das anarchistische Chaos in der Hölle“, meinte Nazir und ließ sich von der negativen Stimmung seines Mentors nicht beeinflussen. Bis jetzt war es noch gar nicht so schlimm wie er befürchtet hatte. Aber vielleicht würde es erst so richtig zur Sache gehen, wenn erst die anderen Engel eingetroffen waren. Aufgeregt wie ein Kind am ersten Schultag saß der junge Dämon auf seinem Platz und rutschte unruhig hin und her, während Malachiel bereits leise vor sich hin schnarchte. Der schien auch keine anderen Sorgen zu haben… Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufging und Metatron hereintrat. Ihm folgte eine Schar Engel und Luzifer persönlich. Bevor sich Nazir darüber wundern konnte, was der Prinz der Hölle hier zu suchen hatte, kam auch schon der erste Aufschrei von Michael, als er die beiden zusätzlichen Gäste sah. Ohne vorher nachzufragen, was das Ganze überhaupt zu bedeuten hatte, preschte er auf Nazir zu und erschrocken sprang der dämonische Haushälter von seinem Platz auf. „Na warte du Dämon!“ rief der Kriegsengel wütend, beschwor eine silberne Hellebarde herauf und machte sich zum Angriff bereit. „Warte Michael!“ rief Metatron und wollte ihn aufhalten, doch der erste Erzengel hörte gar nicht zu und hätte den armen Nazir schlimmstenfalls aufgespießt, wenn Malachiel nicht rechtzeitig reagiert und den Griff der Waffe festgehalten und den Angriff somit abgebremst hätte. Mürrisch und verschlafen schielte er zu dem hitzköpfigen Kriegsengel hoch und grummelte „Pass mit dem Ding da auf, sonst stichst du jemandem noch ein Auge aus.“ Michael versuchte vergeblich, seine Waffe von Malachiels Griff loszureißen, doch dieser war wesentlich stärker als er. Und als Metatron ihn mit einem deutlich strengeren Ton ermahnte „Nimm die Waffe weg. Dieser Dämon ist kein Feind, sondern Malachiels Schüler!“ waren nun auch die anderen Anwesenden verwirrt. „Schüler?“ echote der erste Erzengel irritiert und verstand nun gar nichts mehr. Da ihm aber sein Pflichtbewusstsein gebot, dem Himmelsregenten zu gehorchen, ließ er seine Waffe wieder verschwinden und ballte aufgebracht die Hände zu Fäusten. Wütend wandte er sich Metatron zu und war kurz davor zu explodieren. „Ein Schüler? Das ist immer noch ein Dämon. Wie kann eine derart niederträchtige und verlogene Kreatur der Schüler von irgendjemandem sein? Das ist ein absoluter Skandal! Ich weigere mich, in einem Raum mit einer solchen Ausgeburt der Verderbtheit zu bleiben und verlange, dass er auf der Stelle in das Loch zurückgeschickt wird, aus welchem er gekrochen kam.“ Diese Worte trafen Nazir hart. Auch wenn er gewusst hatte, dass er nicht mit offenen Armen empfangen werden und man ihn anfeinden würde, war diese Beleidigung mehr als grausam. Er hatte es sich doch nicht ausgesucht, als Dämon geboren zu werden. Warum also machte man ihm so etwas jetzt zum Vorwurf? Gerade als die anderen Engel auch etwas dazu sagen wollten, unterbrach sie ein sarkastisches Klatschen von Malachiel und sofort wurde alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Mit einem herablassenden Blick verzog er die Mundwinkel zu einem lustlosen und unehrlichen Lächeln und meinte nur „Bravo. Wirklich beeindruckende Performance. Aber an der Aussprache musst du noch etwas feilen, mein Lieber. Ansonsten wirkt es nicht authentisch genug.“ „Wovon redest du bitteschön?“ fragte der Kriegsengel irritiert und verstand nicht, worauf der Mediator anspielte. Dieser hob mit gespieltem Erstaunen die Augenbrauen und meinte mit geheuchelter Verwunderung „Na deine Hitler-Darstellung. Die war so überzeugend, dass ich sie dir echt abgekauft habe. Wirklich eine Meisterleistung. Ich hätte echt schwören können, ich hätte das Original vor mir stehen!“ Ein leises Prusten war von Gabriel zu hören, der die Blamage seines Kollegen viel zu sehr genoss, als dass er sich über die Anwesenheit eines Dämons ärgerte. Auch Raphael und Uriel konnten sich eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen. Samael und Luzifer wirkten eher weniger begeistert über den zusätzlichen Besuch und versuchten sich diskret im Hintergrund zu halten. Metatron war hingegen deutlich anzusehen, dass er stolz darauf war, Malachiel an seiner Seite zu haben und auf ihn zählen zu können. Seine Stellung als König der Engel verbot es ihm zwar, sich derlei Gefühle anmerken zu lassen, aber eine kleine Schwäche war ja verzeihbar. Malachiel, der sich dieses selbstgerechte Gefasel nicht mehr anhören konnte, strafte Michael mit einem verächtlichen Blick. „Mein Schüler hat wesentlich mehr Qualitäten als Engel als ihr traurigen Gestalten. Und an deiner Stelle würde ich mal ganz kleine Brötchen backen, Michi. Immerhin war Nazir nicht derjenige, der diese Krise verzapft hat.“ „Der Himmel verkommt aber auch immer mehr zur Lachnummer“, kommentierte Samael spöttisch und setzte sich auf seinen Platz. „Wenn hier jetzt schon Dämonen ein- und ausgehen können wie ihnen gerade lieb ist, wird es ja nicht mehr lange dauern, bis unser Reich zu einem zweiten Sodom und Gomorrha verkommt. Und wie schon damals hast du eine unverschämte große Klappe, Malachiel. Sag mal, wie geht es denn eigentlich deiner Narbe, die ich dir vor 700 Jahren bei unserem Kampf verpasst habe? Tut sie immer noch weh?“ Doch dieser Einschüchterungsversuch stieß bei dem Halb-Engel auf taube Ohren, denn dieser erwiderte daraufhin mit dem gleichen Maß an Spott und Gehässigkeit: „Nicht so sehr wie dein Stolz, nachdem ich dich dir nach deiner feigen Attacke vor versammelter Mannschaft einen polnischen Fahrradsattel verpasst hatte.“ Damit entgleisten Samaels Gesichtszüge und in seinen blinden Augen loderten Flammen des Hasses auf. Auch wenn Nazir sein Leben in der Hölle verbracht hatte, kannte er Samael und hatte so einige Geschichten über ihn gehört. Und sein Gefühl verriet ihm, dass er sich besser nicht mit ihm anlegen sollte, wenn ihm sein Leben lieb war. Dieser Kerl war ihm mehr als unheimlich und diese Aura, die er ausstrahlte, erinnerte ihn mehr an einen Teufel als an einen Engel. Um endlich zum Punkt zu kommen, räusperte sich Metatron und versuchte die Aufmerksamkeit wieder auf das Wesentliche zu lenken. „Ich war auf der Erde gewesen und habe Malachiel um Hilfe bei der Bewältigung dieser Krise gebeten. Wir haben das Regelwerk analysiert und festgestellt, dass es unvollständig ist, da es noch nicht um das Neue Testament ergänzt wurde. Da wir ausschließlich nach christlichem Recht urteilen, gilt ab heute offiziell das Gesetz Jesu Christi: Die Sünden der Menschen werden von nun an mit ihren guten Taten aufgewogen. Jesus hat festgelegt, dass der Bruch von Regeln nicht als Schuld angelastet werden darf, wenn dadurch Menschen gerettet werden können und es ihrem Wohl dient. Aus diesem Grund wird der Levitikus ab dem heutigen Tag keine Anwendung mehr finden.“ Blicke wurden untereinander ausgetauscht und es gab kurzes Gemurmel. Ein einstimmiges Nicken kam von den Erzengeln, die mit diesem Beschluss sichtlich zufrieden waren. Auch Luzifer schien nichts einzuwenden zu haben und ihm konnte es auch nur recht sein, wenn in Zukunft niemand mehr wegen belangloser Sachen in die Hölle geschickt wurde. Metatron atmete erleichtert durch und war froh, dass diese Reformation positiven Anklang fand. Letzten Endes hatte er diese Neuerung einfach nur gut genug verkaufen müssen und er war froh, dass Malachiel auf dieses Schlupfloch gestoßen war. Letzten Endes bedeutete es zwar, dass die neuen Gesetze wieder auf vagen Interpretationen beruhten, aber wenigstens hatte er dann eine Möglichkeit, sie so zu gestalten, dass möglichst wenige Menschen in die Hölle gehen mussten. In der heutigen Zeit konnte man auch nicht mehr erwarten, dass die Menschen jemanden wegen Elternbeleidigung zu Tode steinigten. Doch dann meldete sich Samael zu Wort, dem das alles überhaupt nicht passte. „Das heißt also, wir sollen Gottes Gebote mit Füßen treten?“ fragte er geradeheraus und faltete die Hände wie ein stereotypischer Cartoon-Bösewicht, der einen finsteren Plan ausheckte. „Wenn wir tatsächlich nach dieser lapidaren Ansichtsweise leben, dann können wir genauso gut das gesamte Regelwerk entsorgen und sagen, dass jeder Mörder und Triebtäter in den Himmel kommt, wenn Gottes Gesetze dann eh keine Bedeutung mehr haben. Bei allem Respekt, aber das ist der größte Humbug, der mir je untergekommen ist.“ „Das ist doch gar nicht der Sinn und Zweck der Sache“, konterte Metatron energisch. „Aber ein Mensch, der jemanden tötet um hundert Menschen zu retten, sollte nicht mit der gleichen Härte bestraft werden wie ein Mörder, der aus reiner Selbstsucht tötet. Wir müssen uns das Gesamtbild vor Augen halten und nicht immer nur aus dem Kontext gerissene Fakten. Wer gehört eurer Meinung nach in den Himmel? Ein Sünder der gestohlen hat um seine Familie vor dem Hungertod zu bewahren, oder ein Dieb der nur sich selbst bereichern wollte?“ „Keiner von beiden“, antwortete Samael sofort, ohne den anderen überhaupt die Chance auf eine Antwort zu lassen. „Eine Sünde ist und bleibt immer noch eine Sünde. Und Sünder haben im Himmel keinen Platz, ganz gleich wie edelmütig ihre Absichten sein mögen. Wenn wir die Regeln derart auflockern, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir die Tore für den größten Abschaum öffnen und wir nicht besser sind als die Hölle! Der Himmel ist ein Ort der absoluten Reinheit und ich werde alles daran setzen, dass dies auch weiterhin so bleibt!“ Eine hitzige Diskussion begann in welcher jeder seine Meinung in den Raum warf. Nazir verfolgte die ganze Debatte mit großem Interesse und musste zugeben, dass jeder von ihnen gute Argumente auf den Tisch brachte. Selbst Samael, dem es eigentlich nur darum ging, die Menschen komplett aus dem Himmel rauszuhalten, hatte mit seinen Bedenken nicht ganz Unrecht. Eine Sünde war eine Sünde, daran war nicht zu rütteln. Und Sünder durften den Himmel nicht betreten. Aber diese Vergehen waren nicht schwer genug, um sie in die Hölle zu schicken. Es musste eine andere Lösung geben. Etwas, das auch diesen Menschen den Eintritt in den Himmel ermöglichte. Aber wie sollte das gehen? Nazir dachte angestrengt nach und musste wieder an die Worte seines Mentors denken, die dieser ihm vor ihrer Abreise mit auf den Weg gegeben hatte. Dante war ganz unten angekommen und von da an ging es nur noch bergauf… Konnte das etwa eine Anspielung auf die göttliche Komödie sein? Angestrengt versuchte er sich an den genauen Verlauf des Buches zu erinnern, doch es war schon eine Weile her, seit er diese Lektüre gelesen hatte. Malachiel hatte es als Rache-Fanfiction eines griechenhassenden Römer-Patrioten bezeichnet, der die falschen Pilze gefuttert hatte. Es war eine der ersten Lektüren gewesen, die er zu Anfang seiner Ausbildung erhalten hatte, um einen kleinen Einstieg zu bekommen. Da das Buch keine heilige Schrift gewesen war, hatte er es problemlos innerhalb weniger Tage durchgelesen. Er selbst hatte die Lektüre gar nicht so schlecht gefunden, auch wenn er selbst zugeben musste, dass das Buch echt merkwürdig war. Vor allem wenn man bedachte, wie die Hölle selbst dargestellt wurde. Nun begann er den Gedanken weiter auszuführen und fragte sich, ob es diesen Ort tatsächlich gab, der zwischen Himmel und Hölle lag. Er selbst hatte jedenfalls noch nie davon gehört und auch Malachiel selbst hatte nichts Spezifisches dazu verlauten lassen. Aber wenn er ihm einen derartigen Ratschlag gab, dann musste es ihn geben. Stellte sich nur die Frage, warum niemand anderem diese Idee kam. Eigentlich sollten die Engel doch darüber Bescheid wissen, oder etwa nicht? Die Streiterei untereinander wurde immer hitziger und vor allem Metatron und Samael hatten sich in der Wolle weil sie ganz unterschiedliche Ansichten vertraten. Der eine war für Reformen, der andere wollte alles beim Alten lassen. Und der Rest der Versammlung zankte sich untereinander und meist ging es nur um persönliche Anschuldigungen. Als Nazir sich diese Wortfetzen genauer anhörte, konnte er schon verstehen, warum sein Mentor nicht unbedingt begeistert davon gewesen war, am Meeting teilzunehmen. Tatsächlich waren einige der Argumente, die auf den Tisch gebracht wurden, nicht einmal richtige Argumente sondern bloß niveaulose Beleidigungen gegen den unliebsamen Kollegen. Ging das hier etwa immer so zu? Als Metatron diese Zankerei zu bunt wurde, unterbrach er die Streitereien und richtete alle Aufmerksamkeit auf sich. „Okay, wir kürzen das Ganze ab. Wer von euch der Ansicht ist, das Regelwerk solle nach den Grundsätzen im Neuen Testament angepasst werden, erhebe bitte die Hand.“ Alle Anwesenden mit der Ausnahme von Samael hoben die Hand. Nazir, der offiziell nicht zur Runde dazuzählte, hielt sich dezent zurück. Schließlich wollte Gabriel wissen „Was sagt der Mediator zu der ganzen Sache?“ und alle Blicke wanderten zu Malachiel. Doch der hatte seinen Kopf wieder auf seinen Armen gebettet und schnarchte schon seit einer ganzen Weile vor sich hin. Offenbar war er direkt eingeschlafen, nachdem die ganze Diskussion angefangen hatte. Eines musste Nazir ihm jedenfalls anrechnen: nicht jeder schaffte es, bei einer derart lauten Geräuschkulisse einzuschlafen. Während Metatron mit so etwas schon irgendwie gerechnet hatte und es deswegen relativ gelassen sah, waren die anderen Anwesenden weniger begeistert darüber. Sichtlich beleidigt darüber stieß Michael ihn kräftig an und rief „Hey, wach gefälligst auf!“ Langsam schaute Malachiel auf, gähnte beherzt und sah desinteressiert in die Runde. „Was ist?“ fragte er verschlafen. „Ist es schon vorbei?“ „Nein“, antwortete Gabriel, der genauso ungehalten über dieses Benehmen war. „Wir waren gerade bei der Abstimmung, ob wir das Regelwerk anpassen sollen.“ „Echt jetzt? Und für so was weckt ihr mich auf? Ihr habt doch wohl nicht mehr alle Zacken an der Krone“, gab der Halb-Engel gereizt zurück. „Mal ehrlich… weckt mich bitte erst, wenn was Interessantes passiert. Euer Gelaber kann sich doch keine Sau anhören. Da stirbt ja jeder vor Langeweile.“ „Na dann bring du doch etwas Konstruktiveres vor, wenn du es doch besser weißt als wir alle. Von dir ist bisher noch rein gar nichts gekommen“, rief Michael gereizt und sah aus, als würde er sich jeden Moment auf ihn stürzen um ihm den Hals umzudrehen. Wahrscheinlich hätte er das auch versucht, wenn er wenigstens eine Chance gehabt hätte. „Wozu denn? Damit ihr weiter stundenlang diskutieren und mir meine wertvolle Zeit rauben könnt? Nein danke. Genau das ist nämlich das Problem mit euch Engeln: ihr zankt die ganze Zeit nur rum, weil euch euer eigenes Ego wichtiger ist als das Seelenheil von Milliarden von Menschen, die zu Unrecht in die ewige Verdammnis verbannt wurden und Qualen erleiden müssen. Ihr schimpft euch Engel und benehmt euch allesamt wie die Pharisäer. Sorry, aber so viel Heuchelei und Verlogenheit macht selbst der Hölle Konkurrenz. Ihr haltet euch für das absolute Non-Plus-Ultra, dabei könnt ihr nicht mal so ein simples Problem lösen. Ich wette, dass selbst mein Schüler es schafft, euer Problem ohne Anstrengung zu lösen weil er im Gegensatz zu euch Pappenheimern weitaus mehr von Moral, Nächstenliebe und Verantwortung versteht.“ „Das ist doch lächerlich!“ erwiderte Michael und lachte spöttisch. „Also ob ein dahergelaufener Dämon überhaupt das geistige Fassungsvermögen dazu hätte.“ „Musst du Vollpfosten gerade sagen!“ konterte Malachiel sofort. „Bei dem Kollateralschaden, den du mit deiner Inkompetenz angerichtet hast, hätte man dich besser durch einen Schellenaffen ersetzt und dann wären weitaus weniger Menschen in die Hölle geschickt worden.“ „Du dreckiger Bastard hast dich zum letzten Mal über mich lustig gemacht!“ schrie der Kriegsengel und sein Gesicht lief knallrot wie eine Tomate an. Er war gerade drauf und dran, wieder auf Malachiel loszugehen, doch dieses Mal ging Metatron rechtzeitig dazwischen und ihm war die Geduld nun endgültig ausgegangen. Obwohl er sonst so still und sanftmütig war, wuchs er in diesem Augenblick über sich hinaus und verhielt sich so, wie man es von einem himmlischen König erwarten konnte. Mahnend deutete er auf den angriffslustigen Erzengel und warnte mit seiner donnernden Seraphstimme „Setz dich sofort wieder hin und sei still, Michael. Ich will keinerlei Diskriminierung mehr von dir oder von irgendjemand anderem hören. Nazir steht unter dem heiligen Schutz des Asylrechts, das Malachiel ihm gewährt hat. Solange dieser sich für ihn verbürgt und seine schützende Hand über ihn hält, wird jeder Verstoß schwere Strafen nach sich ziehen. Der nächste, der sich in abfälliger Weise über ihn äußert oder Gewalt gegen ihn anwendet, wird nach Mathey geschickt und kann die nächsten paar Jahrhunderte im Gefängnis verbringen.“ Diese Warnung reichte aus, um die Anwesenden zum Schweigen zu bringen. Selbst Michael wagte es nun nicht mehr, etwas zu sagen und schwieg stattdessen. Nazir war sprachlos und konnte nicht glauben, dass er derart in Schutz genommen wurde. Und es rührte ihn auch sehr, dass sich Metatron so sehr für ihn einsetzte, obwohl er derart große Schwierigkeiten hatte, mit all diesen Engeln einigermaßen fertig zu werden. Dafür, dass er so ängstlich darauf bedacht war, kein Aufsehen zu erregen, setzte er sich ziemlich energisch für einen Dämon ein, den er gerade erst mal einen Tag lang kannte. Und in dem Moment begann Nazir den Grund zu verstehen, warum ein einzelgängerischer Miesepeter wie Malachiel derart hinter ihm stand und ihn unterstützte. Tief in seinem Inneren war Metatron das, was man sich als einen richtigen Engel vorstellte: jemand, dem das Wohl anderer am Herzen lag und der sich nicht von alten Vorurteilen blenden ließ. Stattdessen hatte er erkannt und akzeptiert, dass nicht alle Dämonen gleich waren und tat nun das, was er als richtig ansah. Ganz gleich ob es sich mit den jeweiligen Gesetzen im Himmel vereinbaren ließ oder nicht. Vielleicht hatte er auch bloß den richtigen Motivationsschub gebraucht, um diesen Schritt zu gehen. Nun richtete Malachiel das Wort an die Runde und nickte dabei seinem Liebsten anerkennend zu. „Ihr zankt euch alle die ganze Zeit rum und interessiert euch bloß für euren eigenen Stolz. Bisher hat nicht ein einziger aus dieser Runde einen vernünftigen Vorschlag vorgebracht, will aber vorschreiben, wer hier zu Wort kommen darf und wer nicht. Falls ihr es noch nicht gemerkt habt: die Hölle steht kurz vor einer erneuten Revolte gegen euch und da habt ihr einfach nicht den Luxus, euch eure Problemlöser auszusuchen! Ihr Pappnasen könnt froh und dankbar sein, dass sich überhaupt jemand dazu bereit erklärt, den Scherbenhaufen aufzuräumen den ihr verzapft habt! Wenn ihr also meint, dass euer sinnloses Gelaber wichtiger ist als das, was mein Schüler euch zu sagen hat, dann können wir gleich nach Hause gehen und euch mit eurem Krisenherd allein lassen. Dann braucht ihr mir aber nachher nicht rumjammern, wenn Satans Truppen plötzlich auf der Matte stehen. Ich werde euch dann garantiert nicht mehr helfen!“ Diese Drohung schlug tatsächlich an und keiner wagte mehr etwas zu sagen. Stattdessen wandte sich Metatron nun mit einem würdevollen aber durchaus freundlichen Lächeln an Nazir und nickte ihm zu. „Jeder Lösungsvorschlag ist willkommen, auch deiner. Wenn du uns bei diesem Problem helfen kannst, hören wir deiner Idee herzlich gerne zu.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)