Im Himmel ist der Teufel los von Sky- (Apokalypse Reloaded) ================================================================================ Kapitel 30: Dem Kamel sein Nadelöhr ----------------------------------- In dem Augenblick, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel und sie erkannten, wo genau sie sich eigentlich befanden, brach Gabriel augenblicklich in helle Panik aus. Hastig drehte er sich um und versuchte die Tür wieder zu öffnen, doch leider ließ sie sich nicht öffnen und als er mit den Fäusten gegen die Scheibe klopfte und lauthals versuchte, den Chefarzt aufzuhalten, der sie hierhergeschickt hatte, kamen gleich zwei blau gekleidete Pflegerinnen herbei. Die eine war etwas kurz geraten, hatte ein süßes Lächeln und ihr wasserstoffblondes Haar zu einem Knoten gebunden. Ihre Begleiterin war hingegen eine groß gewachsene Senegalesin mit runden Wangen, leuchtenden Augen und pechschwarzem Haar. „Hallo, schön dass Sie hier sind Mister… äh…“ sprach die dunkelhäutige Schönheit und schaute kurz auf ihr Klemmbrett. „Mr. Michael und Mr. Gabriel, richtig? Kommen Sie mit, ich werde Ihnen Ihr Zimmer zeigen.“ Doch die beiden dachten gar nicht daran, eine Sekunde mitzuspielen. „Das ist ein großes Missverständnis“, protestierte Gabriel sofort, während Michael immer noch nicht so ganz geschnallt hatte, was hier überhaupt ablief und wo sie sich jetzt eigentlich befanden. „Wir sind nicht verrückt und wir gehören gar nicht hierher. Man hat uns da völlig falsch verstanden!“ „Mr. Gabriel, bitte beruhigen Sie sich!“ ermahnte die kleine Blondine streng. „Sie können bei der nächsten Visite mit dem Chefarzt Dr. Hammond reden, aber jetzt kommen Sie bitte erst mal mit.“ Doch der zweite Erzengel dachte gar nicht daran. Der Tag war ohnehin schon mehr als katastrophal verlaufen und es hatte sein Nervenkostüm ziemlich überstrapaziert. Die vielen Streitereien, die nervenaufreibenden Meetings, der vermeintliche Mord, Michaels Inhaftierung, ihre Flucht aus dem Himmel… und nun waren sie beide als Geisteskranke in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert worden. Irgendwo war dann ja wohl auch mal Schluss. „Ich werde nicht bis zur nächsten Visite warten, sondern ich verlange jetzt sofort unsere Freilassung! Sie haben nicht das Recht, uns hier einzusperren.“ „Hey Gabi, was ist los?“ fragte Michael irritiert und versuchte nachzuvollziehen, warum sein Begleiter so aufgebracht war und was das hier überhaupt für ein Ort war. „Was los ist?“ platzte es aus dem aufgebrachten Erzengel heraus. „Das hier ist eine Anstalt, in der Geisteskranke eingesperrt werden! Man hält uns für verrückt, verdammt! Aber nicht mit mir. Ich hab dich nicht aus einem Gefängnis rausgeholt, nur um dann selber in ein anderes Gefängnis eingesperrt zu werden!“ Damit stieß er die kleine Blondine beiseite, begann erst am Griff der Eingangstür zu zerren und als das nichts brachte, versuchte er sie stattdessen aufzudrücken und warf sich mit seinem gesamten Gewicht dagegen. Er fluchte laut und schlug mit den Fäusten gegen das Glas, bis schließlich drei weitere Pfleger hinzukamen, ihn packten und in eine gepolsterte Zelle brachten und ihn dort einschlossen. Zuerst dachte der erste Erzengel daran, einzugreifen und Gabriel zu helfen, allerdings konnte er die Lage nicht genau einschätzen und wollte die Sache lieber etwas vorsichtiger angehen. Wenn er jetzt genauso durchdrehte wie sein Kollege, würde sie das beide auch nicht weiterbringen. Also wandte er sich an die Senegalesin und las auf ihrem Namensschild „Harriet Mordasini“. „Was genau ist das hier für ein Ort und warum sind wir hier?“ „Das hier ist die Station 14 des St. Raphael Psychiatric Hospitals. Laut Dr. Hammonds Anamnese halten Sie und Ihr Kollege sich für Engel und haben den Pfarrer der St. Michael Church Hall belästigt.“ Belästigt? Michael konnte sich gar nicht daran erinnern, auch nur irgendwen belästigt zu haben. Alles was er und Gabriel getan hatten war bloß, den Pfarrer um Hilfe zu bitten, das war alles. Seit wann war das denn bitteschön verboten? „Äh, ich glaube da hat man uns etwas falsch verstanden. Wir wollten ihn lediglich um Hilfe bitten, unseren Kollegen zu finden.“ „Ah, Sie meinen sicher Azrael, nicht?“ rief Harriet sofort und grinste schelmisch, wobei ihre strahlend weißen Zähne hell aufblitzten. „Verstehe schon. Und Sie sind also Michael, richtig? Wo haben Sie denn Israfil gelassen?“ „Nein, die anderen heißen Gabriel, Raphael und Uriel“, korrigierte er sie höflich. „Mit den muslimischen Kollegen habe ich leider nicht sonderlich oft zu tun.“ Die Senegalesin war ihm gleich sympathisch. Auch wenn er nicht bemerkte, dass sie ihm nicht glaubte und lediglich dachte, seine Wahnvorstellungen wären unterhaltsam, hielt er sie für weitaus zuverlässiger als den Pfarrer von vorhin. Wenigstens hörte sie ihm zu und schien zu verstehen, wovon er da sprach. Es war schon bitter genug, dass er sich nicht mal mehr auf die Hilfe der Katholiken verlassen konnte, jetzt musste er auch noch Leute um Hilfe bitten, die nicht mal zu seiner primären Zielgruppe gehörten. Wenn die Lage nicht so verdammt ernst wäre und Gabriel nicht schon weggebracht worden wäre, hätte er auch längst die Nerven verloren. Aber wenn er jetzt durchdrehte und ebenfalls weggeschlossen wurde, hatten sie vermutlich gar keine Chance mehr, hier rauszukommen. Jetzt, da sie nicht einmal mehr ihre Kräfte benutzen konnten, war umso mehr Vorsicht geboten. Gabriel hatte ihn aus der Untersuchungshaft befreit um ihn vor der Todesstrafe zu retten, also lag es jetzt an ihm, einen Weg aus dieser Psychiatrie rauszufinden. Und da schien es wohl hilfreich zu sein, sich möglichst ruhig und kooperativ zu verhalten. Harriet führte ihn den Gang entlang und zeigte ihm sein Zimmer, welches ein ziemlich kärglich eingerichteter Raum mit vergitterten Fenstern war. Insgesamt vier Betten waren in diesen viel zu kleinen Raum gequetscht worden und es gab nicht einmal einen Schrank, in dem man seine Klamotten hätte verstauen können. Doch da weder Michael noch Gabriel irgendwelche Habseligkeiten mit sich trugen, war das eh zweitrangig. Jetzt erst einmal galt es, jemanden zu finden, der ihnen raushelfen konnte und das am besten bevor die himmlischen Behörden sie aufspürten. Und solange Gabriel weggesperrt war und ihm nicht helfen konnte, musste er sich einen Plan zurechtlegen, um auf möglichst unkomplizierte Art und Weise zum Ziel zu gelangen. Er hatte schon in weitaus kniffligeren Situationen gesteckt und war jedes Mal rausgekommen. Andererseits war es aber jedes Mal Gabriel gewesen, der ihm aus der Patsche geholfen hatte. „Gibt es irgendeine Chance, dass ich mit jemandem reden kann, der uns hier wieder rausholt?“ fragte er die dunkelhäutige Schönheit schließlich, nachdem er zu seinem Bedauern feststellen musste, dass eine Flucht durchs Fenster ausgeschlossen war. Harriet überlegte kurz und antwortete etwas unsicher „Naja… Die nächste Visite ist erst in drei Tagen. Vorher wird es wohl leider nicht funktionieren.“ „Das gibt es ja wohl nicht“, seufzte er und schlug sich die Hand vor die Stirn. Unter normalen Umständen würden drei Tage nicht allzu dramatisch sein, weil Zeit für Engel sowieso keine große Rolle spielte. Aber das Ganze sah schon etwas anders aus, wenn man auf der Flucht vor dem Gesetz Gottes war. „Himmel noch eins, es muss aber auch wirklich alles schief gehen. Gibt es denn gar nichts, was Sie tun können, Harriet? Bitte, als Gläubige müssen Sie mir helfen! Es muss doch eine Möglichkeit geben, dass ich mit jemandem sprechen kann, der mir in irgendeiner Form weiterhilft!“ „Sorry, aber ich kann da leider nichts machen“, erwiderte die Pflegerin skeptisch. „Dr. Hammond und Dr. Johnson sind die Chefärzte und alleine die beiden entscheiden, ob und wann Sie in die offene Station verlegt werden. Aber soweit ich weiß kommt Dr. Johnson gleich zur Therapiestunde. Da können Sie ihn gerne ansprechen und nach einem persönlichen Gesprächstermin fragen. Vielleicht haben Sie da Glück.“ „Vielen Dank, Sie sind wirklich eine große Hilfe“, bedankte sich der erste Erzengel erleichtert. Er wusste zwar nicht, wer dieser Dr. Johnson war, aber vielleicht war dieser ja ein vernünftiger Mensch, der ihn nicht bei der nächsten Gelegenheit wegsperrte nur weil sich jemand als Erzengel offenbarte. „Und was ist eigentlich mit Gabriel? Ist er in Einzelhaft oder wie?“ „Nein, er ist in der Weichzelle und darf wieder rauskommen, sobald er sich wieder beruhigt hat“, winkte die Muslimin sofort ab. Na das kann ja noch eine ganze Weile dauern, dachte sich Michael, der das Temperament seines Kollegen nur zu gut kannte. Das hieß also, es hing nun alles von ihm ab. „Tja, dann werde ich gleich mal mit diesem Dr. Johnson sprechen. Nochmals vielen Dank für Ihre Unterstützung. Sobald wir hier rauskommen, unseren Kollegen gefunden und alles geklärt haben, werde ich da oben ein gutes Wort für Sie einlegen.“ „Oh danke, das ist aber nett“, meinte Harriet schmunzelnd, ohne wirklich zu glauben, dass das tatsächlich geschehen würde. Damit verabschiedete sie sich und ließ Michael alleine. Kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, nahm dieser das Zimmer genauer unter die Lupe in der Hoffnung, vielleicht irgendeinen Schwachpunkt zu finden, der ihm zur Flucht verhalf. Doch die Gitter an den Fenstern waren extrem robust und auch sonst gab es nichts, was sich vielleicht als nützlich erwiesen hätte. Also ging er wieder raus auf den Flur, um sich ein wenig umzusehen. Dabei traf er auf ein paar andere Patienten, die zum größten Teil gar nicht ansprechbar waren und teilweise unter ziemlich starkem Medikamenteneinfluss standen. Leider sah es nicht wirklich danach aus, als gäbe es eine vernünftige Fluchtmöglichkeit. Sämtliche Fenster waren vergittert und der einzige Weg hinaus führte durch die Tür, durch sie reingekommen waren. Und die ließ sich offenbar nicht so ohne weiteres öffnen. Vermutlich war diese Tür durch eine besondere Verrieglung gesichert, was also bedeutete, dass rohe Gewalt nichts half. Gabriel hatte sich ja bereits die Zähne daran ausgebissen und er war nicht gerade ein Schwächling. Er verstand sowieso nicht, warum sie hier eingesperrt worden waren, obwohl sie niemanden verletzt und auch sonst nichts verschuldet hatten. Es war schon traurig, dass man nicht einmal mehr auf die Hilfe der Menschen vertrauen konnte, ohne gleich als verrückt abgestempelt und in ein Haus voller geistig verwirrter Menschen gesperrt zu werden. Vermutlich wäre das alles nicht passiert, wenn Gott nicht damals entschieden hätte, sich lieber aus menschlichen Angelegenheiten rauszuhalten. Vor knapp 2000 Jahren wäre so etwas garantiert nicht passiert! Fairerweise musste man auch dagegenhalten, dass es damals auch noch keine Einrichtung für Verrückte gegeben hatte. Diese hatten damals nicht unbedingt eine hohe Lebensspanne gehabt, was nicht zuletzt daran gelegen hatte, dass diese Leute als Besessene hingerichtet worden waren. Etwas drastisch, aber leider waren die Menschen ein recht paranoides Völkchen und hatten quasi überall Hexen und Dämonen gesehen. Anscheinend hatten sie diesen Verfolgungswahn inzwischen abgelegt und glaubten stattdessen nicht mehr an die Präsenz von Engeln. Nein, heutzutage sperrte man Gottes Diener zusammen mit den Geisteskranken ein, weil sie den Unterschied nicht sahen. Schließlich fand er eher durch Zufall die Tür zu der Zelle, in welche Gabriel eingeschlossen worden war. Durch ein kleines Sichtfenster konnte er sehen, dass der ganze Raum gepolstert war und sein Freund damit beschäftigt war, um sich zu schlagen und zu versuchen, durch rohe Gewalt die Polsterung zu zerstören um gewaltsam aus dem Raum zu entkommen. Michael sah sich verstohlen um und flüsterte ihm durch das kleine Sichtfenster zu: „Hey Gabriel!“ Der zweite Erzengel hielt inne und wandte den Blick zur Tür. Michael winkte ihn zu sich und erklärte ihm in kurzen und knappen Worten von seinem Plan, den zweiten Chefarzt zu sprechen und zu versuchen, auf diese Weise ihre Flucht aus der geschlossenen Psychiatrie zu ermöglichen. „Wenn du dich wieder einigermaßen eingekriegt hast, lassen sie dich wieder raus“, fügte der erste Erzengel noch an. „Anscheinend hat man hier mehr Freiheiten, wenn man sich ruhig verhält und keinen Ärger macht.“ „Und du meinst, du kriegst das ganz alleine hin?“ fragte Gabriel skeptisch. „Du kennst dich in der modernen Welt doch überhaupt nicht aus.“ „Was anderes bleibt uns ja wohl gerade nicht übrig“, erwiderte Michael und dem konnte der Gummizellen-Patient nun wirklich nicht widersprechen. Also musste dieser sich wohl oder übel auf Hilfe von außerhalb seiner Zelle verlassen. „Reg dich erst mal in Ruhe ab und halte dich bereit. Ich werde mir diesen Chefarzt vorknöpfen und versuchen, ihn zu überzeugen, dass wir keine Verrückten sind.“ „Dann wäre es wohl sinnvoll, wenn wir aufhören zu erzählen, dass wir Erzengel sind“, kam der Vorschlag von der anderen Seite der Tür her. „Solange wir keine Kräfte haben, werden die Menschen uns sowieso kein Wort glauben und denken, wir hätten einen an der Waffel.“ Das haben manche von uns so oder so, dachte sich Michael, sprach es aber lieber nicht laut aus. Ansonsten ging das nächste Theater los. Aber Gabriels Vorschlag machte durchaus Sinn. Solange die Himmelspforte verschlossen war und sie keinerlei Möglichkeiten hatten, ihre wahre Gestalt zu offenbaren, waren sie in den Augen der Unwissenden und Ignoranten nur gewöhnliche Menschen. Also mussten sie sich auch als solche verhalten. Als Schritte näherkamen, verabschiedete sich Michael und verschwand eiligst wieder. Er wollte lieber keinen unnötigen Ärger riskieren. Da er sonst nicht wusste, wo er hin sollte und keinen Grund sah, in sein Zimmer zurückzukehren, begann er nach dem Raum zu suchen, wo die Therapiestunde abgehalten werden sollte. Zum Glück fand er Harriet und diese führte ihn in einen großen Gemeinschaftsraum mit mehreren Tischen, wo die kurz geratene Blondine, die auf den Namen Connie hörte, Stifte und Papiere verteilte. Es sah so aus als bestünde die Therapie darin, Muster auszumalen und Zahlen in Kästchen einzutragen. Ein wenig geistlos wie er persönlich fand, aber er verstand ja auch nicht sonderlich viel von Therapie als solches. Um die Zeit irgendwie rumzukriegen, half er mit den Vorbereitungen und suchte sich im Anschluss einen Platz aus, auf dem er es sich bequem machte. Aus reiner Neugier nahm er sich einen Zettel mit den Kästchen und Zahlen, bekam erklärt dass es ein „Sudoku“ war und konnte überhaupt nichts damit anfangen. Aber es sah zumindest anspruchsvoller aus als ein Ausmalbild. Während Connie und Harriet gingen um noch ein paar andere Dinge zu erledigen, studierte der erste Erzengel weiterhin das Blatt mit den Kästchen und versuchte den Sinn und Zweck dahinter zu verstehen. Als er glaubte, die Regeln so ungefähr verstanden zu haben, nahm er sich einen Stift und versuchte sich an dem ungewöhnlichen Zahlenpuzzle. Dabei bemerkte er erst gar nicht, wie jemand den Raum betrat und leise vor sich hin summte. Als das Summen aber seine Ohren erreichte und er es als eine ziemlich vertraute Melodie aus seinem alten Himmelschor wiedererkannte, hob er neugierig den Kopf um zu sehen, wer die Quelle dieser vertrauten Melodie war. Das Summen verstummte sofort, als seine Anwesenheit registriert wurde. Der Mann, der da gerade eben noch ein Liedchen gestimmt hatte, war ein brünetter schlanker Kerl um die 30 Jahre, hatte schulterlanges Haar, einen sehr markanten Bart und einen dunklen Hautteint. Zuerst hielt Michael es bloß für eine rein zufällige Ähnlichkeit, in die er zu viel reininterpretierte. Doch der Mann, dessen Arztkittel überhaupt nicht zu seinem Aussehen passte, erkannte ihn sofort und ihm klappte augenblicklich die Kinnlade runter. „Michael?“ platzte es aus dem Mann raus und seine Augen weiteten sich vor Fassungslosigkeit. „Was in Vaters Namen machst du denn hier?“ Die Stimme und auch die Art zu reden ließen keinen Zweifel zu. Es war wirklich er. Zuerst war er nur verwirrt und konnte es erst nicht einordnen. Doch angesichts all der Strapazen und Probleme, die er in dieser kurzen Zeitspanne gehabt hatte, wurde diese kurzweilige Verwirrung von Wut verdrängt und er kam sich nun wirklich vor wie im Irrenhaus. „Das Gleiche könnte ich dich auch fragen, Jesus! Wieso zum Geier bist du hier und wo warst du die ganze Zeit?!“ „Psst, nicht so laut“, ermahnte ihn der verschollene Gottessohn mit gedämpfter Stimme und signalisierte ihm, leise zu sein. Dann eilte er schnellstens zur Tür und schloss sie ab, damit sie nicht gestört wurden. Der Tag war schon verrückt genug gewesen und glich einer wilden Achterbahnfahrt. Erst der Mord, dann die Flucht, dann landeten sie im Irrenhaus und jetzt tauchte auch noch Jesus auf. Es gab wirklich Tage, an dem man am liebsten im Bett geblieben wäre und so ungefähr ging es nun Michael. Das war viel zu viel für ihn und er fürchtete nun tatsächlich den Verstand zu verlieren. „Das gibt’s ja wohl nicht… du bist es wirklich…“, brachte der erste Erzengel fassungslos hervor und verfiel in ein fast schon hysterisches Lachen. „Was kommt denn bitteschön als nächstes? Ist deine Mutter etwa auch hier oder was? Was machst du überhaupt hier? Ist dir eigentlich klar, dass da oben die Hölle los ist?“ Mit schuldbewusster Miene senkte der vermisste Messias den Blick und kratzte sich etwas unsicher am Hinterkopf. Ein kleines Namensschild blitzte an seinem weißen Kittel und darauf stand „Dr. C. Johnson“. Nun dämmerte es Michael allmählich: Jesus arbeitete unter falschem Namen als Chefarzt in dieser Klinik. Stellte sich nur die Frage wie lange das Ganze schon lief. „Es ist ein klein wenig kompliziert“, murmelte Jesus und setzte sich zu Michael um in Ruhe mit ihm zu sprechen. Es hatte ja eh keinen Sinn, irgendetwas zu leugnen oder zu verheimlichen, da konnte er genauso gut mit der Wahrheit rausrücken. „Weißt du, die Sache ist die… Seit meiner Geburt war ich immer nur Gottes Sohn gewesen und hatte nie die Chance, mein Leben selbst zu bestimmen. Alles war schon lange vor meiner Geburt geplant gewesen und ich hatte nie wirklich ein Mitspracherecht gehabt. Du weißt ja wie bestimmend mein Vater sein kann.“ „Da ist was dran“, gab der erste Erzengel nach kurzem Zögern zu. Er kannte Gottes Temperament ja zu Genüge, vor allem wie dieser reagierte wenn etwas nicht so lief wie er wollte. Jesus, der sichtlich nervös war und offenbar Angst hatte, in Schwierigkeiten zu geraten, fuhr mit seiner Erklärung fort. „Kannst du dir vorstellen wie es ist, aufzuwachsen und Träume zu haben aber nie die Chance zu haben, wirklich du selbst zu sein? Ich hätte als Zimmermann arbeiten können oder eine Vinothek in Bethlehem eröffnen können. Stattdessen hat mein Vater mich immer wieder dazu gedrängt, seine Worte zu verbreiten und hat mich erst kurz vor dem letzten Abendmahl wissen lassen, dass ich sterben muss. Ich hatte ja wenigstens gehofft, dass es kurz und schmerzlos geht. Aber dass die eine ganze Foltershow draus machen, hat mir keiner gesagt! Stattdessen hat Vater mich einfach auflaufen lassen und erwartete allen Ernstes noch, dass ich ihn dafür lobpreise!“ Von dieser Geschichte hatte Michael bereits gehört, immerhin war es eines der wildesten Gerüchte im Himmel gewesen. Vor allem hatte wirklich jeder Engel darüber gelästert, dass das klärende Gespräch nach Jesus‘ Rückkehr in den Himmel nicht unbedingt erfolgreich gewesen war und die Sache in einem ziemlich heftigen Familienstreit eskalierte. „Ich war es satt, immer nur eine Schachfigur in Vaters Spiel zu sein, also beschloss ich auf die Erde zurückzukehren und mich selbst zu finden“, fuhr Jesus mit seiner Erzählung fort. „Ich habe hier und dort als Weinhändler gearbeitet, war auch zwischendurch Arzt gewesen oder hab als Zimmermann ausgeholfen wenn das Geld knapp war. Irgendwann war ich dann als Globetrotter unterwegs, hab Buddha kennen gelernt, dank ihm schließlich meine innere Mitte gefunden und wir sind dann beste Freunde geworden. Wir haben sogar eine gemeinsame Urlaubsreise nach Japan gemacht. Dann war ich während des Börsencrashs 1929 Telefonseelsorger, bin dann Mitglied der Hippie-Bewegung gewesen, hab auf Woodstock-Konzerten abgehangen, in den 80ern eine Rockband gegründet und arbeite nun als Chefarzt in dieser Klinik.“ „Das klingt ja schön und gut aber… ist dir denn nie in den Sinn gekommen, wieder nach Hause in den Himmel zu kommen? Wir haben dich dort oben wirklich gebraucht!“ Für einen Moment zeichnete sich Unsicherheit auf der Miene des Israeliten ab und er grübelte kurz darüber nach. Doch dann fand er seine Entschlossenheit wieder und an seinem Blick war deutlich zu erkennen, dass er nach all der langen Zeit immer noch sauer auf Gott war. „Alles was ihr braucht ist nur den Sohn Gottes und mehr nicht“, erwiderte er in einem kühlen Ton. „Keiner von euch hat mich jemals gefragt, was ich eigentlich will und es hat meinen Vater genauso wenig interessiert. Also habe ich halt das gemacht, was ich am besten kann: für das zu kämpfen, wofür ich stehe, selbst wenn ich dafür die Regeln brechen und Autoritätspersonen auf den Sack gehen muss. Auf der Erde kann ich sein wer ich will und ich sehe nicht ein, warum ich in mein altes Leben zurückkehren soll, wo ich immer nur gezwungen werde, jemand zu sein der ich nie sein wollte.“ „Ja aber…“, begann Michael und wusste nicht so wirklich, was er darauf erwidern sollte. Auf der einen Seite wäre es seine Pflicht, Jesus davon zu überzeugen, in den Himmel zurückzukehren. Immerhin hatte er als Sohn Gottes eine ziemlich hohe Position und konnte vielleicht das ganze Durcheinander da oben wieder in Ordnung bringen. Aber andererseits klang es auch nicht danach, als wäre das wirklich die richtige Entscheidung. So wie sich das anhörte, schien er nicht sonderlich glücklich mit seinem Ruhm als Messias zu sein und wollte stattdessen ein einfaches Leben als Mensch genießen. Wäre es dann wirklich die richtige Entscheidung, ihn gegen seinen Willen zurückzubringen? In dieser Frage wusste er leider nicht weiter und ihm fiel auch sonst nichts ein, was er dazu sagen konnte. Aber Jesus war noch nicht ganz mit ihm fertig. „Sag mal, was machst du denn eigentlich hier, Michael? Ich dachte, Raphael hätte dafür gesorgt, dass niemand weiß, dass ich hier arbeite.“ Hier wurde der erste Erzengel hellhörig. „Wie bitte? Du hast Kontakt mit Raphael?“ „Na klar“, meinte Jesus wie selbstverständlich und zuckte mit den Schultern. „Was glaubst du wohl, wem dieses Krankenhaus gehört?“ Auch das machte irgendwie Sinn. Gabriel hatte ja erwähnt, dass diese Stadt Raphaels angeblicher Lieblingsort auf der Erde war und das Krankenhaus war nach ihm benannt worden. Da klang es schon irgendwie logisch, dass er sich vermutlich irgendeine Scheinidentität zugelegt hatte und sich hier etwas aufgebaut hatte. Das passte auch einfach zu perfekt zu seiner himmlischen Aufgabe als Heiler. „Wo wir gerade von Raphael sprechen…“, fuhr Jesus fort und legte mit leicht besorgter Miene die Stirn in Falten. „Du meintest gerade, im Himmel herrsche Unordnung. Hat es vielleicht etwas mit ihm zu tun?“ „Das kannst du wohl laut sagen. Jemand hat ihn erschlagen und mir einen Mord angehängt. Gott will mich nun allen Ernstes auslöschen und deshalb hat mich Gabriel aus Mathey befreit und wir haben uns dann auf die Suche nach Raphael gemacht. Aber leider ist die Himmelspforte verschlossen worden und wir können unsere Kräfte nicht mehr nutzen. Die Leute halten uns deshalb für verrückt und haben uns hier eingeliefert.“ Diese Story musste selbst Jesus erst mal verdauen. Geräuschvoll atmete er aus und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, während er alles sacken ließ. Er hatte ja zumindest damit gerechnet, dass die Organisation da oben so chaotisch wie eh und je war, aber dass die Dinge dermaßen eskaliert waren, hätte selbst er nicht gedacht. Andererseits… „Das erklärt zumindest, warum Raphael plötzlich direkt vor mir erschienen ist“, kommentierte er. „Er war schon fast nicht mehr unter den Lebenden gewesen und ziemlich schwer verletzt. Glücklicherweise konnte ich seine Verletzungen behandeln, aber er ist bislang noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Er liegt zurzeit auf der Intensivstation, aber sein Zustand ist soweit wieder stabil. Aber wer würde ihn denn umbringen wollen?“ „Würde ich auch gerne wissen… vor allem wer mir das anhängen will. Das Schlimmste ist, dass Gabriel jetzt in dieser gepolsterten Zelle festsitzt und wir aus eigener Kraft nicht mehr hier rauskommen. Wir können jetzt nicht mal mehr in den Himmel zurück um meine Unschuld zu beweisen!“ Wütend knüllte Michael das Papier mit dem Sudoku-Rätsel zusammen und warf die Papierkugel quer durch den Raum. Es war ja schön und gut, dass er jetzt wenigstens wusste wo Raphael war. Aber das nützte leider auch nichts, wenn er nicht einmal mehr in den Himmel zurückkehren konnte. Keiner konnte sagen, wie lange die Himmelspforte geschlossen bleiben würde und bis dahin war er völlig machtlos. Und es sah auch nicht wirklich danach aus als würde Jesus helfen wollen. Der hatte verständlicherweise genug von dem ganzen Theater da oben und ihn gegen seinen Willen zurückzubringen wäre auch falsch. Er hatte lange genug strikt die Regeln befolgt und es hatte sie alle in die Scheiße geritten, da brauchte er jetzt nicht schon wieder damit anfangen. Jetzt hatte er endgültig die Schnauze voll davon. Eine Weile saßen sie schweigend da und es herrschte eine ziemlich unangenehme Atmosphäre. Doch dann gab Jesus einen leisen Seufzer von sich und meinte „Ich fürchte, da bleibt uns wohl keine andere Wahl. Ich werde euch helfen, hier rauszukommen und werde sehen, wie die Lage im Himmel ist.“ „Wirklich?“ fragte der erste Erzengel mehr als überrascht. „Aber hast du nicht gesagt…“ „Ich werde definitiv nicht dauerhaft zurückkehren“, unterbrach ihn der pensionierte Messias sofort. „Aber ich kann auch nicht tatenlos dasitzen wenn sich ein Unheil zusammenbraut und Vater nichts dagegen tut. Glücklicherweise kann ich im Gegensatz zu euch noch Wunder bewirken, wenn auch nicht mehr so wirkungsvoll wie vor 2000 Jahren. Ich fürchte allerdings, dass ich allerhöchstens nur einen von euch mit nach oben nehmen kann.“ Doch für den Fall hatte Michael bereits eine Lösung. Da Raphael den Ring noch bei sich hatte und dieser ihm das Leben gerettet hatte, sollte es eigentlich möglich sein, Jesus einen kleinen Kräfteschub zu geben und alle zurück in den Himmel zu bringen. Dazu mussten sie nur erst mal aus der geschlossenen Psychiatrie raus. Aber das sollte auch kein großes Problem sein. Nach der Therapiestunde würden sie den Fluchtplan in die Tat umsetzen und schnellstmöglich wieder nach Hause zurückkehren bevor es noch mehr Probleme gab, die sie auf der Erde festhalten konnten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)