Notwendigkeit von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Es ist schon wieder eines der Hühner verschwunden.“ Lesley stellte den Korb mit den Eiern auf die Küchenspüle und sah aus dem Fenster. „Ich weiß wirklich nicht, wie das passieren konnte.“ „Vielleicht hat es sich irgendwo im Garten verlaufen. Wird schon wieder auftauchen“, brummte Tom vom Frühstückstisch aus und nahm einen Schluck Tee. „Immerhin gibt es da draußen genug Verstecke.“ Lesley stemmte die Hand in die Hüfte und warf ihm einen dieser Blicke zu. „Ich habe die Hühner gestern Abend alle in den Stall getrieben und gezählt. Es waren zwölf. Und heute Morgen saßen nur noch elf im Stall.“ „Mhm“, machte Tom. „Das wievielte ist das jetzt?“ „Das vierte.“ „Ich sehe mir nachher mal den Stall an. Vielleicht hat sich irgendwo ein Fuchs oder Marder eingeschlichen.“ Lesley wirkte vorerst besänftigt. Sie drehte sich herum und begann, die gesammelten Eier mit einem feuchten Tuch zu säubern. „Vielleicht fragst du Jonathan, ob er dir hilft? Er kennt sich bestimmt mit so was aus.“   Toms Augenbrauen zogen sich unwillkürlich ein Stück zusammen. Er mochte den großen, schweigsamen Mann, der ungeachtet der Witterung irgendwie immer in Gummistiefel und Öljacke gekleidet zu sein schien. Als sie eingezogen waren, hatte er plötzlich vor der Tür gestanden und ihnen geholfen, ihre wenigen Habseligkeiten in das kleine Cottage zu tragen. Viel Platz war ohnehin nicht gewesen, da in den meisten Räumen noch die Möbel des Vorbesitzers standen. Der hatte sich laut Jonathan zu einem Work and Travel nach Peru aufgemacht und wurde so bald nicht zurück erwartet. „Jemand muss sich um die Hühner kümmern“, hatte Jonathan gebrummt. „Deswegen wird das Haus vermietet, so lange er nicht da ist. Wenn ihr was braucht, sagt einfach Bescheid.“   Danach war er in seinen Land Rover gestiegen und zu seiner Farm gefahren, die sich auf der anderen Seite des Waldes befand. Seit dem hatten sie ihren nächsten Nachbarn schon ein paar Mal um Hilfe bitten müssen. Zum Beispiel als es nach drei Wochen Dauerregen plötzlich angefangen hatte, durchs Dach zu tropfen. Oder als Tom bei dem Versuch, den Apfelbaum zu beschneiden, mit der langen Leiter eines der Fenster eingeschlagen hatte. Oder als der Abfluss des Cottages so verstopft gewesen war, dass sie erst aus dem übernächsten Dorf eine Pumpe hatten organisieren müssen. Seit dem zögerte Tom ein wenig, zum Telefon zu greifen und die bekannte Nummer zu wählen. „Ich gucke erst mal, ob ich was finde“, sagte er in beiläufigem Ton. „Kein Grund, Jonathan schon wieder von der Arbeit abzuhalten. Er hat mit seinen Tieren bestimmt genug zu tun. Kühe machen mehr Arbeit als Hühner.“ „Wie du meinst.“ Lesley griff nach einem Handtuch, um ihre Hände abzutrocknen. „Aber mach es gleich. Ich will nachher noch Wäsche waschen und du musst mir die Wäschpfähle aufstellen. Das letzte Mal musste ich alles noch einmal waschen, weil die Laken zu lange gelegen haben.“ Tom unterdrückte ein Augenrollen. „Ist gut, Schatz, ich geh ja schon.“   Er leerte seine Tasse in einem Zug, legte die Zeitung beiseite und machte sich auf den Weg in den Garten. Die Sonne empfing ihn mit unnachgiebiger Helligkeit, die ihn nach der heimeligen Atmosphäre der Küche für einen Augenblick blendete. Es war noch früh, das Gras unter seinen Füßen war feucht, aber in der Luft lag bereits der Geruch eines heißen Sommertages. Tom atmete tief durch und machte sich auf dem Weg zum Hühnerstall, der am anderen Ende des ziemlich verwilderten Gartens lag.   Tom betrat das kleine, nachlässig gekalkte Gebäude und wurde von einem unmissverständlichen Ammoniakgeruch empfangen. Es wurde mal wieder Zeit, den Stall zu säubern. Zunächst einmal wollte er aber die Wände in Augenschein nehmen. Gewissenhaft suchte er jeden Winkel ab, konnte aber kein Schlupfloch finden. Seine Hose hatte inzwischen dunkle Flecken an den Knien und der Geruch des Hühnermists hing ihm penetrant in der Nase. Er wollte sich gerade wieder erheben, als ein Schatten die Türöffnung verdunkelte. Tom kniff die Augen zusammen, um die Gestalt im Gegenlicht zu identifizieren, als sie sich schon zu erkennen gab. „Was gefunden?“, fragte Jonathan. Er trat ein und es wurde augenblicklich wieder heller. „Nein, nichts“, entgegnete Tom und kam ächzend in den Stand. Er klopfte sich die Hände ab und sah sich noch einmal um. „Ich habe alle Wände kontrolliert und auch nach Löchern in der Tür geschaut, aber da war nichts. Zumindest nichts, wo ein Fuchs hereingekommen sein könnte.“ „Vielleicht waren es auch Ratten“, meinte Jonathan und lehnte seine Schrotflinte gegen die Wand. Ohne diese Waffe hatte Tom ihn bisher selten gesehen. Er nahm an, dass Jonathan auch so etwas wie der örtliche Wildhüter war, hatte aber nie wirklich danach gefragt. „Ratten?“, wiederholte er. „Fressen die denn Hühner?“ „Die fressen alles.“   Tom stellte sich vor, wie nachts eine Flut von grauen Körpern mit nackten Schwänzen aus irgendwelchen Löchern kroch, und schauderte. Ungeachtet der Tatsache, dass der Hühnerstall ohnehin nicht der sauberste aller Orte war, machte sich bei dem Gedanken an Ratten ein unbestimmtes Unwohlsein in ihm breit. Ratten … das klang nach Krankheit, Schmutz und Tod. „Woher die wohl kommen?“, fragte er und sah sich suchend um. Automatisch wanderte sein Blick nach unten zu der metallenen Bodenplatte, die in der Mitte des Stalls eingelassen war. Jonathan hatte gemeint, dass dort unten wohl ein veralteter Teil der Kanalisation lag. Wo, wenn nicht dort, sollten die Ratten wohl hergekommen sein. Automatisch trat er näher und betrachtete den eisernen Gullideckel, dessen Profil im Laufe der Jahre von vielen Füßen glatt geschliffen worden war. Irgendwann hatte wohl einmal eine Inschrift das Metall verziert, aber inzwischen war nur noch ein leichtes Relief davon sichtbar.   „Ich kann euch Gift besorgen“, bot Jonathan an. Tom schüttelte sofort den Kopf. „Kommt nicht in Frage. Nachher fressen das noch die Hühner oder das Zeug kommt irgendwie an die Eier. Es muss da doch eine bessere Lösung geben. Fallen vielleicht? Wir könnten sie ja irgendwo wieder freilassen.“ Jonathan sah ihn mit dieser speziellen Mischung aus Belustigung und Mitleid an, von der Tom das Gefühl hatte, dass sie nur für ihn reserviert war. „Für Fallen sind Ratten viel zu schlau. Wenn eine Ratte mal eine andere in einer Falle gesehen hat, fängst du mit der nicht noch eine.“ Er machte eine kurze Pause. „Du kannst natürlich versuchen, das Nest zu finden und auszuräuchern. Ist aber nicht ganz ungefährlich. Wenn man die Biester in die Enge treibt, werden sie aggressiv.“   Tom sah noch einmal zu dem Kanaldeckel. Bei dem Gedanken, dort hinunterzumüssen, zog sich sein Magen zusammen. Andererseits war ihm auch nicht wohl dabei, die Ratten hier oben zu wissen. Er räusperte sich. „Ich werde mich mal mit Lesley beraten. Vielleicht fällt ihr ja noch was ein.“ Jonathan antwortete nicht und griff nach seinem Gewehr. Tom fühlte ungewollten Ärger in sich aufsteigen. Mochte ja sein, dass die Leute hier sich alle für Tarzan hielten, aber er war ein moderner Mann, der mit seiner Frau eine gleichberechtigte Partnerschaft führte. Sich mit ihr zu beratschlagen, hieß schließlich nicht, dass er deswegen weniger Haare auf der Brust hatte. Außerdem war er Schriftsteller, kein Kammerjäger.   „Ich rufe dich an, wenn wir noch was brauchen“, sagt er zu Jonathan, der das mit einem Nicken zur Kenntnis nahm und wieder nach draußen stapfte. Als er weg war, atmete Tom noch einmal tief durch. Es wurde wirklich Zeit, den Stall sauber zu machen. Und die Wäschepfähle aufzustellen.       „Kommt überhaupt nicht in Frage!“ Lesleys Augen blitzten zornig. „Du wirst dich nicht selbst darum kümmern. Wir holen uns einen Experten.“ „Aber dafür haben wir kein Geld.“ Tom ließ die Gabel sinken. „Außerdem wissen wir doch noch gar nicht, ob es überhaupt Ratten sind.“ „Dann bitte Jonathan, dass er dir hilft. Lass ihn eine Falle besorgen, dann sehen wir weiter.“ Tom kniff die Lippen zusammen und schob seinen Stuhl zurück. Ihm war der Appetit vergangen. „Ich gehe schlafen“, sagte er und versuchte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Lesley schob eine Haarsträhne wieder zurück hinter ihr Ohr. „Tu das“, antwortete sie und klang dabei ebenso gezwungen ruhig wie er. Sie sah ihn an und ihr Blick wurde weicher. Sie öffnete den Mund, zögerte. „Ich will doch nur, dass dir nichts passiert“, sagte sie schließlich. „Ich liebe dich.“ „Ich dich auch.“ Die Worte verließen seinen Mund automatisch. Er kam sich vor wie ein Heuchler.   Ein wenig unschlüssig stand Tom in der Tür, die Hand an den Türrahmen geklammert. Lesley hatte begonnen, den Abendbrottisch abzuräumen. Er hätte zurückgehen und ihr helfen können. Hätte sie in die Arme schließen und sich entschuldigen können, aber etwas hielt ihn zurück. Es mochte Stolz sein oder aber die trotzige Gewissheit, dass er im Grunde nichts Falsches getan hatte. Immerhin hatte er nicht vorgeschlagen, sich mit Mistgabel und Fackel auf die Jagd nach einem Monster zu machen. Er wollte lediglich ein Rattennest suchen. Mit einem entschiedenen Ruck drehte er sich herum und stampfte die Treppe nach oben in Richtung Schlafzimmer.       Als Tom erwachte, war es dunkel um ihn herum. Kein Geräusch war zu hören bis auf das leise Atmen in seinem Rücken. Er drehte sich halb herum und sah Lesleys Umrisse, die sich unter der Bettdecke abzeichneten. Für einen Augenblick war er versucht, seinen ursprünglichen Plan doch noch in die Tat umzusetzen, aber dann fiel sein Blick auf die Zeiger des Weckers, die neben dem Bett schwach leuchteten. Es war kurz nach halb eins. Kein guter Zeitpunkt um irgendetwas zu tun. Zumal Lesley wahrscheinlich gerade erst eingeschlafen war. Er beschloss, sie nicht zu wecken, und schlüpfte aus dem Bett, um sich etwas zu trinken zu holen.   Er schlich im Dunkeln die Treppe hinunter und achtete darauf, sich nicht an dem vorstehenden Balken den Kopf zu stoßen, wie es ihm schon ein paar Mal passiert war. Unwillkürlich fragte er sich, wie es Jonathan wohl schaffte, unbeschadet durchs Leben zu kommen. Der Mann war einen guten Kopf größer als er und nicht gerade schmal gebaut. In Häusern wie diesem musste er sich vorkommen, wie eine Ratte im Käfig.   Die Assoziation ließ Tom von seinem Glas Wasser auf- und zum Küchenfenster hinausblicken. Er konnte von hier aus den Hühnerstall sehen. Die hellen Wände zeichneten sich deutlich gegen die dunkle Silhouette des Waldes ab. Der Rest des Gartens lag still und unbeweglich da, als hätte das Mondlicht alles in Silber gegossen. Tom wollte das Glas schon in die Spüle zurück stellen, als er plötzlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Nun, nicht wirklich eine Bewegung. Eher ein kurzes Flackern, ein huschender Schatten, der ebenso gut eine Täuschung hätte sein können. Er blickte noch einmal zum Hühnerstall hinaus. Nichts schien sich verändert zu haben, aber das Gefühl, dass dort draußen irgendetwas war, erhärtete sich mit jedem Augenblick, den das Ticken der Küchenuhr herunterzählte. Ob das die Ratten waren?, dachte er bei sich. Vielleicht war das jetzt die Gelegenheit, die pelzigen Unholde auf frischer Tat zu ertappen. Auf jeden Fall konnte es nicht schaden, einmal bei den Hühnern nach dem Rechten zu sehen.   Kurzentschlossen griff Tom nach seiner Jacke, zog sie über seinen Pyjama und schlüpfte mit bloßen Füßen in seine Schuhe. Das Leder fühlte sich kalt und leicht feucht an. Er fröstelte. Vorsichtig, um kein unnötiges Geräusch zu verursachen, griff er nach dem Hausschlüssel und schob sich durch die Eingangstür. Draußen zog er die Tür leise ins Schloss und ließ den Atem entweichen, von dem er gar nicht gemerkt hatte, dass er ihn angehalten hatte.   Im Garten herrschte vollkommene Stille. Er hatte erwartet, dass irgendwelche Tiere zu hören waren. Nachtvögel oder was auch immer man sonst im Fernsehen vernahm, wenn der Held durch die dunkle Nacht schlich. Er hingegen konnte nur seine eigenen Schritte auf dem feinen Kies des Gartenwegs hören. An der Tür des Hühnerstalls angekommen, zögerte er für einen Augenblick. Was, wenn dort drinnen jetzt Dutzende von Ratten hockten, die nur darauf warteten, ihre Zähne in sein Fleisch zu schlagen? Er konnte quasi die tückisch funkelnden Augen und die gebleckten, gelben Nagezähne sehen, die sich ihm aus einer Masse von grauen Leibern mit nackten Schwänzen entgegen reckten. Seine Hand, die bereits auf der alten, gusseisernen Klinke lag, begann leicht zu schwitzen.   Unsinn, schalt er sich selbst. Selbst wenn dort drinnen Ratten waren, würden sie kaum so zahlreich sein und bei seinem Anblick vermutlich eher fliehen, als sich auf ihn zu stürzen. Er schüttelte den Kopf, drückte die Klinke herunter und zog die Tür mit einem entschlossenen Ruck zu sich heran. Kühle, leicht muffige Luft schlug im entgegen. Der Geruch nach Stall war unverkennbar, doch es war noch etwas anderes darunter. Dunkler, erdiger. Er ließ die Tür mit leichtem Zögern los und trat näher. An der Schwelle blieb er stehen und versuchte, im Inneren etwas zu erkennen. Das wenige Licht, das durch die Fenster fiel, reichte nicht aus, um irgendwelche Konturen auszumachen. Auch drang kein Laut aus dem Inneren des Stalls. Vor seinem inneren Auge breitete sich ein Blutbad aus. Alle Hühner dahin gerafft von einer überschäumenden Rattenflut.   Sein Herz begann schneller zu schlagen. Mit zitternden Fingern tastete er nach dem Lichtschalter und hätte beinahe aufgeschrien, als er ihn endlich fand. Er betätige den Schalter und helles Licht flutete den kleinen Raum. Es gab kein Blut, keine verstreuten Federn, keine Kadaver. Die Hühner saßen alle auf den Holzbrettern, die zum Schlafen an der Wand angebracht waren. Was ihn im ersten Moment beruhigte, ließ ihn im nächsten schauern. Die Tiere waren vollkommen erstarrt. Wie kleine, braune Statuen hockten sie dort und sahen ihn an. Er hätte erwartet, dass zumindest ein Teil von ihnen die Augen geschlossen hatte und aneinander gekuschelt in einem gemütlichen Haufen vor sich hin döste. Die Hühner hingegen waren wach und jedes von ihnen hatte seinen Blick auf Tom gerichtet. Unbeweglich starrten sie ihn aus weit aufgerissenen Augen an und ihre Pupillen wirkten, als hätte jemand kleine, schwarze Löcher in die Realität geschnitten. Er fühlte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichteten.   Tom trat noch ein Stück näher und hoffte fast, die Hühner so aus ihrer Reglosigkeit zu wecken. Ganz automatisch wanderte sein Blick dabei zu Boden. Er schrak zusammen und unterdrückte erneut einen Aufschrei. Die Metallplatte in der Mitte des Stalls, war beiseite geschoben worden. Wo sie vorher gelegen hatte, gähnte jetzt ein dunkles, mannsbreites Loch. Der Anblick war so surreal, das Tom ein paar Mal blinzelte, um sich davon zu überzeugen, dass er nicht träumte. Doch das Loch blieb und stierte ihm schwarz und bedrohlich entgegen.   Ein Teil von ihm wollte sich weiter vorwagen und einen Blick in die Tiefe werfen. Ein sehr viel größerer schrie ihm zu, so schnell er konnte, die Beine in die Hand zu nehmen und zu laufen. Sich im Haus oder sonst irgendwo zu verstecken und abzuwarten, bis der Spuk der Nacht vorbei war. Fast konnte er schon sehen, wie sich krallenbewehrte Hände über den Rand des Schachts schoben, gefolgt von einem hässlichen Kopf mit großen Reißzähnen und...   Tom unterbrach sich und seine Fantasie entschieden. Sein Herz wummerte gegen seinen Brustkorb und sein Mund war ungeachtet des Wassers, das er gerade noch getrunken hatte, staubtrocken. Er leckte sich über die Lippen. Er musste das hier logisch angehen. Sicherlich war es ungewöhnlich, dass der Kanaldeckel geöffnet worden war, aber vermutlich gab es dafür eine ganz einfache Erklärung. Vielleicht hatte sich jemand hier eingeschlichen, um ihre Hühner zu stehlen. Jugendliche aus dem Dorf zum Beispiel, die ihnen eins auswischen wollten oder eine Mutprobe veranstaltet hatten. Irgendwo im Wald gab es vielleicht einen Einlass zu der alten Kanalisation. Die Jungen hatten ihn entdeckt und waren den Gängen bis hierher gefolgt. Und jetzt schlichen sie nachts immer mal hierher, um die Hühner zu klauen. Genauso musste es sein,   Tom wischte sich über die feuchte Stirn und lachte laut auf. Der Laut klang seltsam hohl in der Stille der Nacht. Er trat zum Rand des Schachts und spähte nach unten. Dort war nichts zu erkennen außer vollkommener Schwärze. Dumpfe, feuchte Luft wehte von unten herauf und für einen Augenblick meinte er etwas wie ein Atmen zu hören. Augen auf sich zu fühlen, die ihn hungrig anstarrten. Er schreckte zurück und schalt sich selbst einen Dummkopf. Sein Blick wanderte zu dem schweren Deckel. Er musste dringend das Loch verschließen. Sonst würde Lesley sich morgen früh womöglich verletzen oder gar eines der Hühner hineinfallen.   Er packte den Deckel und wollte ihn über das Loch schieben. Er keuchte auf, als er merkte, wie schwer das Ding war. Es musste mindestens eine Tonne wiegen. Der gerade getrocknete Schweiß brach ihm wieder aus, während er das widerspenstige Teil Stück für Stück über den Stallboden schob und schließlich mehr schlecht als recht in die Öffnung bugsierte. Es verkantete sich und Tom fluchte vor sich hin, während er mit Tritten versuchte, das Metall an seinen ursprünglichen Platz zu schieben. Endlich gab sich der Kanaldeckel geschlagen und rutschte an den richtigen Platz. In dem Moment, wo er in die Öffnung einrastete, begannen die Hühner leise zu glucken. Der Hahn hob den Kopf mit dem roten Kamm und schlug ein paar Mal mit den Flügeln.   „Ach, jetzt traust du dich auf einmal“, spottete Tom und zeigte dem Vogel einen Vogel. Er hatte dem ein wenig schmalbrüstigen Anführer der Hühnerschar schon immer einiges an Sympathie entgegengebracht – schon allein deswegen weil dieser sich mit dem morgendlichen Krähen sehr zurückhielt – aber der mutigste seiner Art war er definitiv nicht. Wobei Tom zugeben musste, dass er selbst erleichtert war, dass der Deckel wieder an Ort und Stelle war. Er sah noch einmal zu dem abgeschliffenen Metall und beschloss, dass er der Sache dringend auf den Grund gehen musste. Allerdings nicht mitten in der Nacht und noch dazu zur Geisterstunde.   Entschieden löschte er das Licht und beeilte sich dann, die Stalltür zu schließen. Er redete sich ein, dass er nicht wollte, dass noch eines der Hühner in die Nacht entkam. Aber die kleine Stimme in seinem Hinterkopf nannte ihn einen Lügner und lachte, während er mit den Schlüsseln herumfummelte, die ihn nicht schnell genug in die vermeintliche Sicherheit des Hauses einließen. Mit einer schnellen Bewegung schloss er auch die Haustür hinter sich und lehnte sich von innen dagegen. Das, so schwor er sich, würde er Lesley mit Sicherheit nicht erzählen. Sie würde ihn vermutlich mit einem mitleidigen Kopfschütteln bedenken und dann sagen, dass er Jonathan anrufen sollte, um sich darum zu kümmern. Aber das würde er nicht tun. Das hier war sein Abenteuer.       „Ich gehe nachher einkaufen. Brauchst du noch etwas?“ Lesley sah nicht auf, während sie die Liste schrieb, wie sie es zum Einkaufen immer tat. Einmal im Monat fuhr sie mit dem Auto in die nächste, größere Stadt und kaufte dort alles, was der kleine Dorfladen nicht hatte. Toms bevorzugte Schokolade zum Beispiel oder den Wein, den sie selbst gerne trank. Oder eine Zeitschrift, die sich nicht um das Einkochen von Marmelade und die neuesten Strickmuster drehte. Er wusste, dass sie diese Ausflüge dazu nutzte, sich einfach mal wieder unter Menschen zu begeben und vielleicht sogar eine Zigarette zu rauchen; ein Laster, das sie eigentlich schon lange aufgegeben hatte. Ihr fehlte die Stadt, auch wenn sie es nicht offen zugab. „Nein, mir fällt grad nichts ein“, gab er zurück und zwang sich zu einem Lächeln.   Er war bereits den ganzen Morgen bemüht, sich nichts von seinem nächtlichen Ausflug anmerken zu lassen. Sein Schlaf war durchbrochen gewesen von dunklen Träumen, die sich beim Weckerklingeln nur zähflüssig wie klebriger Sirup aus seinem Kopf zurückgezogen und den sauren Geschmack von Furcht und nassgeschwitzten Laken zurückgelassen hatten. Zu seinem Glück hatte Lesley davon nichts bemerkt und ihnen Frühstück gemacht wie jeden Tag. Nach einer heißen Dusche waren seine Lebensgeister wieder ein wenig zurückgekehrt, nur um dann einer unbestimmten Unruhe Platz zu machen. Einer Unruhe, die mit jeder Minute, die Lesley brauchte, um sich für ihren Trip fertig zu machen, schlimmer wurde. Noch nie hatte sie so lange gebraucht, um sich ein passendes Outfit zusammenzustellen oder sich zu schminken und ihre Haare zu machen. Mit geballten Fäusten stand er im Wohnzimmer und widerstand dem Drang, seine Frau sanft aber bestimmt hinauszuwerfen. Manchmal hatte er dieses Gefühl, wenn er es nicht erwarten konnte, sich an den Schreibtisch zu setzen, doch heute war es etwas anderes. Heute wartete ein echtes Abenteuer auf ihn.   „Ich fahre jetzt“, rief Lesley von der Tür und Tom versuchte gar nicht erst, seine Erleichterung zu verbergen. Sie sah ihn an und lächelte. „Hast mal wieder eine Idee, was?“, scherzte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Vergiss nicht, etwas zu essen. Ich werde mir Zeit lassen.“ „Du kennst mich zu gut“, antwortete Tom mit einem Lächeln, das fast echt aussah, wie er im Flurspiegel erkennen konnte. „Fahr vorsichtig.“   Er wartete mit einem wachsenden Kribbeln in seinem Bauch, bis die Autotür klappte, der Motor angelassen wurde und ihr kleines, rotes Auto vom Hof rollte. Kaum war der Wagen um die nächste Ecke verschwunden, stürzte er zu dem Schrank, in dem sie ihr Werkzeug aufbewahrten. Oder besser gesagt, das des eigentlichen Besitzers. Er griff nach der großen Taschenlampe und dem Brecheisen. Irgendwie musste er den schweren Kanaldeckel schließlich wieder aus seiner Verankerung heben. Er ließ den Blick über die Unordnung streifen. Irgendwann musste er hier dringend mal aufräumen. Aber nicht jetzt. Jetzt galt es, die Hühnerdiebe dingfest zu machen.     Den Deckel wieder anzuheben, war fast noch schwerer, als ihn zu schließen. Tom war bereits wieder in Schweiß geraten, als sich das Metall endlich bewegte und dann Stück für Stück zur Seite schieben ließ. Er schnaufte und ließ sich neben dem Loch zu Boden sinken. Im hellen Tageslicht hätte der Schacht eigentlich etwas von seinem Schrecken verlieren sollen. Als er allerdings die dunkle Leere neben seinen Schuhspitzen betrachtete, kamen Tom mit einem Mal Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee war, dort ganz alleine hinunterzusteigen. Ob er vielleicht doch Jonathan... Nein! Er würde das ganz alleine schaffen!   Immerhin schien draußen die Sonne, die Vögel sangen, die Hühner scharrten im Garten...die Hühner! Von einer eigenartigen Vorahnung getrieben, stand Tom auf und trat vor den Hühnerstall. Dort standen die Hühner. Es wäre übertrieben gewesen zu behaupten, dass sie sich in einem Halbkreis versammelt hatten. Aber alle verharrten bewegungslos an ihrem Platz und keines von ihnen blinzelte auch nur. Sie schienen auf etwas zu warten. Einer plötzlichen Eingebung folgend, zählte Tom sie durch und ballte die Hand zur Faust. Es waren nur noch zehn.   „Haben die Schweine also schon wieder einen von euch mitgenommen?“, fragte er laut, fast zu laut, als würde der Klang seiner eigenen Stimme ihm Sicherheit gegen. „Na die können sich auf was gefasst machen.“   Er stopfte die Taschenlampe in eine der rückseitigen Hosentaschen und wandte sich dem Schacht zu. Von unten wehte kühle, feuchte Luft herauf. Er ignorierte den Schauer, den das über seinen Rücken jagte, und begann an den rostigen Trittstufen, die in die Seite des Schachts eingelassen waren, in die Tiefe zu steigen. Kurz bevor sein Oberkörper ganz verschwand, fiel sein Blick auf die Brechstange, die neben dem Schacht auf dem Stallboden lag. Einem plötzlichen Impuls folgend griff er danach und warf sie an sich vorbei hinab in die Tiefe. Es dauerte eine ganze Weile, bis er von unten das metallene Klirren ihres Aufpralls hörte. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend setzte er seinen Abstieg fort.     Die Welt über ihm rückte mehr und mehr in weite Ferne, je tiefer er kletterte. Immer kleiner wurde der helle Lichtkreis über ihm, der Sicherheit und Wärme versprach. Hier unten war es verdammt kalt und Tom begann zu frieren. Er überlegte, ob er noch einmal zurückgehen sollte, um sich eine Jacke zu holen, entschied sich aber dagegen. Er war sich nicht sicher, ob er noch einmal den Mut aufbringen würde, sich in den engen, dunklen Schacht zu begeben.   Mit einem Mal endeten die Stufen und Toms Fuß trat ins Leere. Fast wäre er in die Tiefe gestürzt. Mit einem Keuchen klammerte er sich an den metallenen Ösen fest und griff nach der Taschenlampe. Er fingerte an dem Knopf herum und war erleichtert, als endlich das helle, weiße Licht aufflammte. Nicht auszudenken, wenn die Batterie leer gewesen wäre. Er leuchtete an seinen Füßen vorbei nach unten und musste feststellen, dass der Boden noch ein gutes Stück entfernt war. Wenn er dort hinunter sprang, würde er die unteren Stufen der Leiter gerade noch erreichen können.   'Was die Kids können, kann ich schon lange', dachte er grimmig, ging in die Hocke, atmete tief durch und ließ los. Das kurze Stück freier Fall endete auf einem harten Steinboden, der von einer glitschigen Schicht überzogen war. Tom verlor den Halt, rutschte aus und landete unsanft auf dem Hinterteil. Die Taschenlampe kullerte davon und blieb ein Stück von ihm entfernt auf dem Boden liegen. Ihr Strahl beleuchtete einen etwa zwei Meter hohen Tunnel, dessen graue Wände in erstaunlich gutem Zustand waren.   Ächzend erhob sich Tom und wischte sich die Hände an der ohnehin schon ruinierten Hose ab. Lesley würde ihm die Hölle heiß machen, wenn sie sie sah. Wahrscheinlich war es besser, wenn er sie im Anschluss an diesen Ausflug schlichtweg entsorgte. Immerhin roch das Ganze nur nach Moder und Schlamm und nicht noch nach schlimmeren Dingen, die sich in Kanalisationen sicherlich finden ließen. Er griff nach der Lampe und ließ den Strahl durch die dumpfe Dunkelheit wandern. Der Tunnel verlief schnurgeradeaus und sein Ende verlor sich irgendwo in der Finsternis, die auch die starke Taschenlampe nicht mehr zu durchdringen wusste. Er sah noch einmal zu dem hellen Lichtpunkt über seinen Kopf empor und seufzte, bevor er sich daran machte, die Brechstange zu suchen. Mit der improvisierten Waffe in der Hand begann er schließlich, weiter in den Tunnel vorzudringen.   Mit jedem Schritt schien die Dunkelheit um ihn herum dichter zu werden. Er wusste, dass das eigentlich nicht möglich war und kontrollierte mehrmals die Taschenlampe. Ihr Schein war ebenso hell wie am Anfang. Und doch kam es Tom so vor, als würde sich der Tunnel mehr und mehr um ihn zusammenziehen, je weiter er ging. Seine Schritte hallten knirschend und überlaut von den Wänden wieder. Die Luft war kalt und abgestanden und ein leicht fauliger Geruch durchzog jeden Atemzug. Seine Abenteuerlust sank mit jedem weiteren Schritt und hatte schon bald einen Tiefpunkt erreicht. Der unterirdische Gang hingegen wollte einfach kein Ende nehmen. Inzwischen musste er schon irgendwo mitten unter dem Wald sein.   Tom blieb stehen, um zu lauschen. Da war nichts, außer dem Geräusch seines Atems und dem Klopfen seines Herzens, das einige Takte schneller als normal gegen seine Brust schlug. Der Schein der Taschenlampe geisterte über Wände und Fußboden des Tunnels, die ihm ein immer gleiches Bild boten. Einmal hatte er gedacht, er hätte so etwas wie eine Fußspur gesehen, aber der Abdruck hatte die falsche Form gehabt, sodass es sich wohl doch um etwas anderes gehandelt haben musste.   Er schüttelte den Kopf und wollte schon weitergehen, als er plötzlich etwas hörte. Es war ein eigenartiges Geräusch, das er nicht so recht einordnen konnte. Er hörte sich an wie ein Kratzen, als würde irgendwo vor ihm etwas über den Stein schaben. Es musste dünn sein und nicht aus Metall. Eher aus Holz oder...Horn. Wie Krallen oder Stacheln. Instinktiv hob er die Brechstange und starrte in die ihn umgebende Schwärze.   Du bist ein Angsthase, Tom, sagte er zu sich selbst, wagte aber nicht, die Worte laut auszusprechen. Das Geräusch vor ihm wiederholte sich und wurde lauter. Er schluckte und bildete sich ein, dass sich etwa wie ein Schnüffeln darunter mischte, sowie das Tappen großer Füße oder Pfoten.   Da ist nichts, dachte Tom verzweifelt, während ihm der Schweiß ausbrach und sein Herz noch einen Zahn zulegte. Nur eine Einbildung.   Die Einbildung hingegen kam näher und näher und schien keinesfalls gewillt, sich wieder in die Welt der Fantasie zurückzuziehen. Plötzlich musste er daran denken, dass sich vielleicht ein Bär in den Tunnel verirrt haben könnte. Fraß ein Bär Hühner? Immerhin konnten Bären gut klettern. Vielleicht hatte einer von ihnen den Schacht gefunden, die Hühner gewittert und war dann in den Stall eingedrungen. War das möglich? Konnte ein einfaches Tier so etwas tun?   Das Kratzen und Scharren vor ihm wurde lauter und die Assoziation, die sein Gehirn dazu hatte, gefiel Tom gar nicht. Er sah handlange Krallen vor sich, gelbe Augen, die in der Dunkelheit tückisch leuchteten, messerscharfe Zähne von denen der Geifer tropfte. Ein tiefes Grollen, das Tom bis in den Magen fuhr, mischte sich in die kratzenden und tappenden Geräusche. Noch immer stand er bewegungslos mitten im Tunnel, die Hände so fest um die Brechstange geklammert, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Die panische Stimme in seinem Hinterkopf schrie ihm zu, dass er hier weg musste. Dass er sich endlich in Bewegung setzen und so schnell er konnte zurück zum Schacht laufen sollte. Doch er tat es nicht. Er blieb, wo er war und sah dem näherkommenden Grauen entgegen.   Wie hypnotisiert starrte er in die Dunkelheit, aus der jetzt ein Schmatzen und Schlürfen drang, das sich wie eine Schlinge um Toms Hals legte und unerbittlich zudrückte. Er konnte nicht atmen, er konnte sich nicht bewegen. Er wollte die Taschenlampe heben und das Ding, das sich auf ihn zubewegte, endlich sehen. Aber seine Hände zitterten und die Lampe entglitt seinen schweißnassen Fingern. Sie fiel zu Boden und rollte ein Stück in den Gang hinein, wo sie schließlich liegenblieb und nur noch ein helles Oval gegen die Wände des Tunnels warf. Wände, an denen Tom jetzt Spuren eben jener Krallen sehen konnte, die er sich bereits die ganze Zeit eingebildet hatte.   Als wäre das das Signal zu Angriff gewesen, blieb sein Gegner für einen kurzen Augenblick stehen und begann dann plötzlich zu laufen. Im gleichen Moment warf Tom die Brechstange von sich, wirbelte herum und stürzte in die Dunkelheit. Er rannte und rannte, seine Füße schienen kaum den Boden zu berühren. Als sie es doch taten, glitt er aus, stürzte. Er prellte sich den Arm, ein gleißender Schmerz raste durch seinen Ellenbogen. Seine Stirn schrammte über den rauen Stein. Er fühlte ein Brennen und roch das metallenen Aroma des Bluts, noch bevor er es auf sein Gesicht tropfen fühlte. Die Bestie hinter ihm heulte auf und galoppierte nur umso schneller den Gang entlang.   Toms Hände und Füße glitten auf dem glitschigen Boden ab und er fiel noch einmal. Sein Knie machte unsanfte Bekanntschaft mit dem harten Boden, etwas knirschte und ein heißer Blitz fuhr in seinen Knöchel. Als er versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, knickte die nutzlos gewordene Gliedmaße unter ihm weg und er landete erneut im Schlamm. Nur wenige Meter vor ihm sah er das schwache Licht des Schachts, das einen matten Lichtkreis auf den Boden malte. Trügerische Sicherheit, die er nie erreichen würde. In seinem Zustand war es unmöglich, die Sprossenleiter zu erklimmen, geschweige denn überhaupt zu erreichen.   Er fühlte, wie sich die Dunkelheit hinter ihm aufrichtete. Ein letzter Schrei verließ seine Kehle und hallte von den Wänden nieder, bis er zu einem Gurgeln wurde und schließlich ganz verstummte. Ein zufriedenes Brummen grollte durch die modrige Finsternis und kurz darauf war ein Geräusch zu hören, wie von einem Körper, der über den Boden geschleift wurde. Langsam verschwand es in der Tiefe des Tunnels.       „Ich bin wieder da!“ Lesley warf den Autoschlüssel auf den kleinen Beistelltisch und sah sich in der Küche um. Es hatte sich seit dem Morgen nichts verändert. Nicht einmal den Frühstückstisch hatte Tom abgeräumt. Sie schüttelte den Kopf und trat in den Flur. „Hilfst du mir mal mit den Einkäufen?“, rief sie nach oben. Sie erhielt keine Antwort. Wahrscheinlich hatte Tom mal wieder die Kopfhörer auf beim Schreiben. Sie erwog, die Einkäufe allein hineinzutragen, aber dann beschloss sie, ihn nicht so leicht davon kommen zu lassen. Schreiberei hin oder her, er konnte wenigstens ein paar Tüten tragen. Immerhin hatte sie schon den ganzen Einkauf alleine erledigt.   Lesley stieg die Stufen hinauf und ging zu dem kleinen Arbeitszimmer am Ende des Flurs. Sie öffnete die Tür und erwartete, ihren Mann völlig versunken am Schreibtisch zu finden. Aber sein Stuhl war leer, das Laptop ausgeschaltet. Es gab nicht einmal eine schmutzige Teetasse, die darauf hindeutete, dass er hier gewesen war. Der Raum wirkte vollkommen verlassen ebenso wie der Rest des Hauses. Ob Tom ausgegangen war?   Lesley runzelte die Stirn. Das sah Tom gar nicht ähnlich. Er war mehr der Typ, der sich im Haus hinter einem Buch oder dem Bildschirm verkroch. Oder ob er wohl endlich ihren Wünschen entsprochen und sich um den Garten gekümmert hatte? Sie lief die Treppe hinunter und ging um das Haus herum. Die Haustür ließ sie offen.   „Tom?“, rief sie und erhielt wiederum keine Antwort. Irgendetwas stimmte hier nicht. Selbst wenn er weggegangen wäre, hätte er einen Zettel hinterlassen. Hinterlassen müssen. Sie fühlte Ärger in sich aufsteigen. Ärger, der sich mit Sorge mischte, als sie die nur angelehnte Tür des Hühnerstalls sah. Er würde doch nichts Dummes angestellt haben?   Sie scheuchte die Hühner aus dem Weg, die ihr vor den Füßen herum standen und öffnete die Tür des Stalls. Sofort fiel ihr Blick auf den geöffneten Schacht in der Mitte des Fußbodens. „Was zum...“ Lesley trat näher und warf einen Blick in die Tiefe. „Tom? Bist du dort unten?“ Irgendwo in der Schwärze bewegte sich etwas. Es klang wie ein Schaben und Schnüffeln. „Tom?“ Lesley ließ sich auf die Knie sinken und beugte sich über den Schacht. Modrige Luft wehte ihr entgegen, in die sich ein eigenartig süßer Geruch mischte. Ein Geruch, den sie kannte, aber nicht benennen konnte. Es wirkte fast, als würde das Loch im Boden atmen. „Das ist nicht witzig, Tom!“, rief sie laut und wollte wieder aufstehen. Ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie konnte den Kopf nicht abwenden von der tiefen Schwärze, die ihr plötzlich lauernd und gierig erschien. Ihre Finger krallten sich an den Rand des Schachts in dem verzweifelten Versuch, wieder Kontrolle über ihren Körper zu erlangen. „Tom...“, flüsterte sie noch einmal, bevor sich etwas durch den Schacht nach oben zu schieben begann. Etwas das sehr, sehr hungrig war.       Jonathan schob den Kanaldeckel wieder an seinen Platz. Er trat noch einmal darauf, um sicherzugehen, dass er an Ort und Stelle war, dann zückte er sein Handy. Er wählte eine Nummer und musste nicht lange warten, bis auf der anderen Seite eine Frauenstimme antwortete. „Lokalblatt, Annoncenabteilung. Was kann ich für Sie tun?“ „Betty, ich bin's“, sagte Jonathan, während er in den sonnenbeschienenen Garten trat. Er sah nach oben, wo sich für denjenigen, der sich auskannte, an den Bäumen trotz des warmen Wetters bereits die ersten Anzeichen des Herbstes erahnen ließen. „Ich will eine Anzeige aufgeben.“ „Jonathan“, rief die Stimme an seinem Ohr. „Du rufst doch wohl nicht wegen des kleinen Cottages am Waldrand an? Sind dir schon wieder die Mieter weggelaufen?“ Jonathan lächelte. „Ach Betty, du kennst doch diese Städter. Den Sommer über genießen sie das Landleben, aber wenn es daran geht, Vorräte für den Winter anzulegen, sind sie plötzlich verschwunden.“ „Wie Recht du hast“, lachte Betty. „Ab wann soll ich die Anzeige schalten und wo?“ Er nannte ihr ein Datum und eine der großen Städte, die er bisher noch nicht ausgesucht hatte. „Vielleicht haben wir ja dieses Mal Glück und die Leute bleiben uns erhalten. Du weißt ja, es muss sich immer jemand um die Hühner kümmern.“ Jonathan beendete das Gespräch und stapfte durch den blühenden Garten zum Haus. Er würde ein wenig ausräumen müssen, um Platz für die neuen Mieter zu schaffen. Spätestens im Frühjahr würde wieder jemand dem Angebot nicht widerstehen können und hier einziehen. Und das war auch gut so, denn schließlich waren da immer noch die Hühner. Die Hühner waren das Allerwichtigste. Es musste sich immer jemand um die Hühner kümmern. 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