Sursum Corda von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Staub liegt in der Luft. Jahrhunderte alter, alles erstickender, in den Lungen kratzender, nach Weihrauch, Kerzenruß und konservierter Langeweile schmeckender Staub. Staub, der in allen Ecken und Erkern liegt, auf allen Fensterbänken und Kandelabern. Staub, der die Intarsien und Standbilder benetzt wie schleichendes Gift. Staub, der in die Poren derjenigen kriecht, die das Heiligtum betreten, dem er innewohnt. Staub, der im bunten Licht der Fenster tanzt und endlos zu Boden rieselt.   Zwischen dem Staub herrscht die Stille, geboren aus Demut, Ehrfurcht und Angst. Die Stille, die alles umfließt und jedes Geräusch im Keim erstickt. Kein Flüstern darf sie durchbrechen, kein unbedachter Laut sie stören. Sie wohnt zwischen den verzierten Säulen, den marmornen Böden, den hölzernen Bänken. Nur das Echo vergangener Psalmen und Choräle hallt leise nach wie das Flüstern eines toten Geistes. Die Stille füllt die Luft wie Wasser. Wasser, in das jetzt jemand kleine Steine wirft. Sie zittert, bebt und wankt. Jemand kommt den Mittelgang hinab. Stört die ewige Ruhe aus Andacht, Stille und Staub.   Harte, schnelle Schritte macht sie, die da kommt. Ein Kniefall, ein Kreuzzeichen, eine rettende Bank, an der sie sich festklammert wie an einem Floß auf hoher See. Eine Rose in ihren Händen, an den Mund gepresst, um die Tränen zurückzuhalten. Geflüsterte Worte aus atemlosem Mund. Salziges Wasser, das hernieder tropft mitten auf die Blütenblätter der Rose. Weiße Fingerknöchel auf dunklem Holz. Ein Schluchzen. Ein Affront, den es hier nicht geben darf. Erschrocken legt sie die Hand an den Mund, spricht leiser, eindringlicher, bittet um Vergebung. Bittet um ein Zeichen. Einen Ausweg aus ihrer Not. Bittet um so vieles, ohne zu danken. Ihr Leid sickert tief in die ausgetretenen Pfade, die durchgesessenen Bänke, die verblichenen Polster, aus denen schon die Füllung herausquillt.   Noch jemand bewegt sich. Gleitet über den roten Samt, den der Staub bereits zerfressen hat. Kein Laut ist zu hören. Sie, die da kommt, hat Übung in dem, was sie tut. Jeder kennt sie, jeder weiß, niemand sieht. Ihre faltige Hand trifft die junge und ein erschrockener Blick ihr Gesicht. Rotgeweinte Augen und eine Rose in der Hand. Rot ist auch sie. Rot wie Blut. Wie die Liebe, von der sie spricht. Die Liebe, die eine Lüge ist. Die eine Lüge werden wird, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. „Mein Kind“, sagt eine Stimme, alt wie der Staub, der in den Ritzen der Bänke kauert. „Was bedrückt dich?“ Sie fragt, doch sie weiß es schon. Es ist immer wieder die gleiche Geschichte. Die Geschichte junger Frauen mit vollen Herzen. Mit Herzen, die übersprudeln vor Glück. Mit Herzen, die weinen vor Verzweiflung. Mit Herzen, die brechen vor Trauer. Sie erheben die Herzen zum Herrn und erwarten Antwort. Eine Antwort, die niemals kommt. Nicht von dort. „Das Kind ist nicht das Problem. Für ein Kind findet sich immer ein Platz“, sagt sie schließlich und meint, was sie sagt. „Das Problem ist der Vater.“ Ein Schweigen entfaltet sich. Lässt die Stille neu entstehen. Eine Stille wie Wasser, in die ein Stein gefallen ist. Ringe breiten sich aus und ziehen ihre Kreise. Weite Kreise. Eine lange, geduldige Stille. Glatt und eben liegt sie da und wartet. Unbewegt und alt wie ein Stein.   „Haben Sie Kinder?“, fragt die junge Frau plötzlich. Ein zahnloses Lachen antwortet ihr. „Viele. Alberto war der erste. Danach folgten noch etliche nach. Ich habe mich um alle gekümmert.“   Das Atmen neben ihr wird ruhiger. Die Tränen versiegen. Sie gibt, was der Herr nicht geben kann. Ihre Hand gleitet in ihre Tasche, sucht herum. Streicht über einen glatten Gegenstand. Sie lächelt kurz. Etwas klirrt und sie zieht ein Fläschchen hervor. Sie drückt der jungen Frau das gläserne Ding in die Hand. „Das Problem ist nicht das Kind“, wiederholt sie leise. „Das Problem ist der Vater.“ Mehr sagt sie nicht, beugt das alte Knie zum Gebet. Die Perlen zwischen ihren Händen klicken und klackern. Ihre Lippen bewegen sich lautlos. Ave Maria, voll der Gnade.   Neben ihr raschelt Stoff und sie ist allein. Schritte entfernen sich. Langsame, bedächtige Schritte. Schritte, die etwas Kostbares tragen. Auf der Kirchenbank liegt die Rose. Welk und schlapp. Kraftlos wie die Liebe, für die sie steht.   Alte, faltige Finger greifen nach dem Stiel. Sie reißen ihn ab und lassen ihn achtlos fallen. Wichtig ist nur die Blüte. Sie, die die Frucht hervorbringt und die Welt mit Duft und Schönheit erfüllt. Vorsichtig lässt sie die fragile Fracht in ihre Tasche gleiten zu dem glatten Ding, das sie immer bei sich trägt. Alle kennen sie, jeder weiß, niemand sieht. Die hohlen Augenlöcher schauen sie an, der bleiche Mund ein ewiges Lächeln. Ein Totenschädel. Winzig und weiß. Wie von einem Kind. Sie nickt und streichelt dem Schädel über den Kopf. „Nicht wahr, Alberto. Die Kinder sind nicht das Problem. Das Problem sind die Väter. Ihre groben Körper sind so schwer zu verstecken. Man muss sie hacken und stückeln, zerteilen und schleppen. Es dauert so lange, bis sie nicht mehr sind. Aber die Kinder, die kleinen, zarten Kinder … die Kinder sind niemals ein Problem. Für ein Kind findet sich immer ein Platz.“ Sie lächelt, schließt die Tasche, greift wieder nach dem Rosenkranz. Die Perlen in ihren Händen klicken und klackern. Nur die kleinen. Die großen lässt sie aus. Das Problem sind nicht die Kinder. Das Problem sind die Väter. Ave Maria Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)