Die Preußen Akten von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Der ungelöste Fall ----------------------------- Was ich hier niederschreibe, ist bereits vor vielen Jahren geschehen. Doch die Umstände zwangen mich, diese Niederschriften erst jetzt anzufertigen und zu veröffentlichen. Es wäre einfach zu ungeheuerlich gewesen und hätte nicht nur für Empörung gesorgt, sondern den einen oder anderen Menschen in Misskredit oder gar an den Galgen gebracht. Definitiv wäre die ein oder andere Karriere zerstört worden. Hierunter sind durchaus Personen, denen ich diesen Knick im Lebenslauf vergönnt hätte, doch weit mehr gute und anständige Personen wären dieser Entscheidung zum Opfer gefallen. Jetzt, wo die meisten Betroffenen tot sind und meine Mutter ihrem Ende entgegensieht, haben wir uns dazu entschlossen, all die unglaublichen Erlebnisse niederzuschreiben und zu publizieren. Ich selbst war noch ein Knabe, als die Geschehnisse ihren Anfang nahmen. Mit gerade einmal acht Jahren erfasste ich die Vorkommnisse nicht in ihrer gesamten Tragweite. Es ist einem Kind auch nur schwer begreiflich zu machen, dass der Vater niemals wiederkommen würde. Das Heim, kein Heim mehr war. Und dass die Mutter nicht mehr die Mutter war. „Dein Bruder schreibt er käme Mittwoch mit der Postkutsche an.“, mit prüfendem Blick über ihre Schulter, schaute Luise von Liebeherr ihren Gatten an. „Natürlich holen wir ihn von der Poststation ab.“ Geistesabwesend strich sich Friedrich eine flüchtige Strähne unter den Ansatz der unumstößlichen Perücke. Nach einem langen Augenblick, der jeden anderen Gesprächspartner hätte vermuten lassen, nicht gehört worden zu sein, antwortete er: „Es erscheint mir seltsam, dass er nicht mit seiner eigenen Berline kommt.“ „Seine Reisekutsche ist derzeit beim Anstreicher und danach bekommt sie noch neues Interieur.“ Friedrich signalisierte brummend, dass er verstanden hatte. „Gut, dann werden wir ihn abholen.“ Er vertiefte sich in einen Stapel Papiere, der säuberlich sortiert auf seinem Schreibtisch darauf wartete, gelesen und bearbeitet zu werden. Einige Minuten lang war es sehr still im Raum. Luise saß an ihrem kleinen Sekretär und setzte sorgsam ein Wort nach dem anderen auf das Papier. Gelegentlich streute sie eine kleine Menge Schreibsand auf die noch feuchte Tinte, nur um diese wieder zurück in den Streuer zu kippen, sobald der Sand seine Arbeit getan hatte. Kritisch las sie das Antwortschreiben noch einmal durch, faltete es zusammen, versiegelte und adressierte es. Friedrich war dagegen in diverse Gesetzestexte vertieft, deren Ausarbeitung und Korrektur ihm oblag. Wann immer er sich bei einer Formulierung nicht sicher war, sprach er sie stumm vor sich hin und wog die Worte in seinem Kopf noch einmal ab. Je nachdem wie sein Urteil ausfiel fuhr er mit dem Lesen des Textes fort oder das leise Kratzen und Schaben der Feder auf Papier schlich sich in die Stille. Luise spitzte die Ohren und ein verschmitztes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie legte den Brief beiseite, drehte sich auf dem Stuhl in Richtung Tür und lauschte wie das Gepolter lauter wurde. Auch Friedrich blickte zur Supraporta. Nur einen Moment später wurde die Tür aufgeworfen und ein Junge mit dunklen Locken wehte herein. „Papa! Papa!“, rief er aufgeregt und rannte an der Chaise vorbei zu seinem Vater, dem er wie aus dem Gesicht geschnitten war. Nur die Nase, das musste Luise zugeben, sah aus wie ihre. Klein und stupsig. Eifrig hielt Leo seinem Vater ein braunes Päckchen hin. „Hier Papa! Das ist gerade abgegeben worden.“ „Vielen Dank Leopold. Aber wäre es dir möglich etwas weniger…“, Friedrich suchte nach einem geeigneten Wort, „enthusiastisch den Postmann zu spielen?“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen schaute Leo seinen Vater ernst an. Dann fragte er: „Was heißt enthusastisch?“ Mit ebenso ernster Miene antwortete Friedrich: „Enthusiastisch. Es bedeutet euphorisch oder auch lebhaft, stürmisch.“ Leo dachte einen Moment über die Antwort nach. Dann nickte er entschieden. „Wenn es dein Wunsch ist Papa, dann werde ich ruhiger spielen. Auch wenn enthusiastisch spielen viel mehr Spaß macht.“ Die Eheleute sahen einander an wie sie versuchten sich das Lachen zu verkneifen. Wie immer in solchen Fällen, blieb es bei dem Versuch. Zeitgleich brachen sie in herzliches Gelächter aus und der Anblick ihres irritiert dreinblickenden Sohnes, der so gar nicht verstehen konnte, was so lustig war, trieb ihnen die Tränen in die Augen. Mit kindlicher Empörung fragte Leo: „Wieso lacht ihr über mich?“ „Weil du ein wunderbares Kind bist.“ Friedrich beugte sich vor und nahm seinen widerstrebenden Sohn in die Arme. Luise kam zu ihnen und strich Leo zärtlich über das Haar, während ihr Mann das Päckchen nahm und inspizierte. Er begann zu strahlen. „Lissi Schatz, dass hier für dich.“ Friedrich überreichte der verdutzten Luise die Sendung. „Der Absender ist unleserlich.“, kommentierte sie und betrachtete die grobe Handschrift. „Es wundert mich, dass es den richtigen Empfänger erreicht hat.“, Luise deutete auf ihre, ebenfalls kaum entzifferbare, Adresse. Von Friedrichs erwartungsvollen Blicken verfolgt, riss Luise das Packpapier auf. Ein Buch kam zum Vorschein und neugierig klappte sie den Einband auf, um den Titel zu studieren. „Oh Liebling!“, rief sie aus und mit einem Strahlen umarmte sie ihn. Wobei Leo fast den Ausmaßen ihres Kleides zum Opfer fiel. „Es ist mir ein Rätsel, wie sich eine Dame über ein so grausiges Buch freuen kann.“, lachte Friedrich und erfreute sich an dem begeisterten Gesichtsausdruck, mit dem Luise zum Inhaltsverzeichnis blätterte und es überflog. „Was für ein Buch ist das Mama?“, ungeduldig hüpfte der Junge von einem Bein auf das andere. Luise schlug wieder den Titel auf und las: „‘Unterricht von den tödlichen Wunden des ganzen menschlichen Leibes‘ von Johann Jakob Woyt.“ Mit dem Finger zwischen den Seiten klappte sie das Buch zu. „Also nichts was für deine jungen Ohren bestimmt ist.“ „Mir macht das nichts aus.“, kommentierte der Knabe selbstbewusst. Friedrich und Luise hoben synchron eine Augenbraue. „Hast du wieder heimlich in Mamas Büchern gestöbert?“ Schuldbewusst scharrte Leo mit dem Fuß über den farbenfrohen Teppich. „Nur ein bisschen.“, gab er kleinlaut zu. Luise seufzte und an ihren Mann gewandt sagte sie: „Ich werde die Bücher über Medizin auf ein höheres Regal stellen müssen.“ „Ich denke du solltest die Texte über Mordverhandlungen ebenfalls dazustellen.“ Er sagte es in strengem Ton, doch Luise sah seine Mundwinkel zucken. Natürlich war es nicht lustig, wenn ihr achtjähriger Sohn über Mord, Totschlag und chirurgische Eingriffe las. Doch er verkaufte seine kindliche Neugier so frech und niedlich zugleich, dass sie ihm nicht böse sein konnten. Es klopfte. „Herein!“, rief Friedrich und die Aufmerksamkeit wandte sich dem Eintretenden zu. „Gottlieb! Wie ich sehe trägst du die neue Livreé. Gefällt sie dir?“ Luise trat zu dem Mann mittleren Alters heran, betrachtete den beigen Stoff der Jacke und inspizierte die goldenen Stickereien auf der Weste. „Die Livreé gefällt mir sehr gut Herrin. Der Stoff fasst sich angenehm. Meine Frau ist hin und weg.“, sagte er mit ein wenig Stolz in der Stimme. „Sie sagte, was für einen schmucken Mann sie doch habe.“ „Das höre ich gern.“, gab Luise freundlich zurück. Friedrich räusperte sich: „Was gibt es Gottlieb?“ Die vormalige Begeisterung verschwand und der Diener setzte ein ernstes Gesicht auf. „Herr, mir sind Neuigkeiten zu Ohren gekommen, die Sie interessieren werden.“ Alle im Raum warteten, dass Gottlieb weitersprach. „Nun, letzte Nacht ist Ihr werter Freund und Kollege der Herr Adrien von Brandt verstorben.“ „Wie?!“, brach Friedrich heraus und Luise legte im Schrecken die Hand über den Mund. „Wie genau das geschehen ist, vermag ich nicht zu sagen. Die Mädchen im Dorf erzählen sich die unterschiedlichsten Geschichten. Nur das es ein Unfall war, da sind sich alle einig.“ Friedrich war aufgestanden und lief nachdenklich im Raum umher. „Was weißt du noch?“ „Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen, aber er soll in seinem Büro zu Tode gekommen sein.“ Die Hand auf Leos Schulter gelegt fragte Luise: „Ist er noch dort?“ „Nein Herrin. Der Stadtphysikus war bereits dort und sein Leichnam wurde zum Aufbahren zu seiner Witwe gebracht.“ „Liebling…?“, Friedrich verstand, dass hinter diesem Wort eine ganze Frage steckte. Ein wenig bleich sagte er zu Gottlieb: „Lass das Kabriolett spannen und sag dem Kutscher Bescheid. Schick außerdem Nachricht an das Oberappellationsgericht, dass ich später erscheinen werde.“ „Ich werde alles veranlassen.“, mit einer leichten Verbeugung verließ der Diener Gottlieb den Salon. „Hoffentlich wirkt ein so früher Kondolenzbesuch nicht zu aufdringlich.“, bemerkte Friedrich. Luise widersprach: „Adrien war dein bester Freund seit Kindertagen und Josefine und ich sind seit unserer Hochzeit befreundet. Es wäre unhöflich, nicht zu erscheinen.“ Friedrich nickte. Dann fiel sein Blick auf Leo. „Es wird Zeit zum Unterricht zu gehen.“ „Ist Onkel Adrien wirklich tot?“, fragte der Junge leise. Luise und Friedrich verstanden, dass die Neuigkeit ihren Sohn mitnahm. Er hatte immer eine gute Beziehung zu seinem Patenonkel gehabt. Luise kniete sich vor Leo, hielt seine kleine Hand in ihren und drückte sie zärtlich. „Es scheint so mein Kind. Dein Vater und ich werden Josefine einen Besuch abstatten, sie wird Trost benötigen. Und wenn ich nachher wieder nach Hause komme, schreiben wir zusammen die Kondolenzkarte und zünden eine Kerze für Adrien an.“ Stumm nickte Leo, dann drückte er kurz die Hand seiner Mutter und wandte sich zum Gehen. „Richte deinem Lehrer aus, er möge heute nachsichtig sein.“, ergänzte Luise und sah ihrem Sohn nach. Dann drehte sie sich wieder ihrem Mann zu. „Liebling, sagtest du nicht, du hättest dich gestern nach der Arbeit von Adrien verabschiedet?“ „Ja.“, bestätigte Friedrich und schritt nachdenklich durch den Raum. „Ich muss neben Adrien einer der letzten gewesen sein, die Gestern das Gericht verlassen haben. Ich sah ihn noch an seinem Schreibtisch sitzen und wünschte ihm einen angenehmen Feierabend. Daraufhin meinte er, er würde auch gleich gehen.“ Luise schlängelte sich durch die Sitzgelegenheiten und Tischchen und trat an ihren Gatten heran. „Hat er gesagt, was er so spät noch für Arbeit hatte?“ „Nein.“ Friedrich sah Luise traurig an. „Ich habe nicht gefragt. Aber wenn ich so darüber nachdenke…“ Friedrich schaute an Luise vorbei und hinaus in den Garten. „Er wirkte in letzter Zeit etwas niedergeschlagen.“ Er rieb sich über den Mund und stieß hervor: „Oh mein Gott. Hoffentlich hat er nicht…“ Luise erschrak als sie den Gedankengang ihres Gatten erkannte: „Du glaubst doch nicht -. Liebling, das wäre ungeheuerlich!“ „Aber was, wenn es so wäre. Du weißt von Adriens Problemen. Was, wenn sie ihm über den Kopf wuchsen?“ Entschieden schüttelte Luise den Kopf: „Selbst, wenn er Hand an sich gelegt hätte, er hätte es nicht auf der Arbeit getan!“ „Wo sonst? Niemals hätte er zugelassen, dass Josefine ihn auffindet.“, gab ihr Mann zu bedenken. Luise klammerte sich an einen anderen Gedanken. „Es war ein Unfall!“ Friedrich ging nicht auf dieses Argument ein. Und Luise wusste weshalb: Selbst, wenn Adrien sich eigenhändig vom Leben zum Tod gebracht hatte, würden sie es niemals erfahren. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. „Herrin! Die Eheleute von Liebeherr.“, kündigte der etwas verschwitzte und gestresst wirkende Lakai die Neuankömmlinge an. Josefine von Brandt, eine etwas füllige Frau mit großen, jetzt verquollenen Augen, stand bleich vor einer blauen Couch im Salon. „Danke Edwin.“ Sie wartete bis der Diener die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Friedrich! Luise!“ Mehr brachte sie nicht hervor. Dicke Tränen liefen ihre Wangen hinab und erstickten ihre Stimme. Erschöpft ließ Josefine sich auf die Couch fallen. Während Friedrich sich in einen Sessel setzte, trat Luise an ihre Freundin heran, rückte sanft das opulente Kleid beiseite und nahm den frei gewordenen Platz neben ihr ein. Tröstend legte sie den Arm um die langjährige Freundin. „Josefine, es tut uns so leid. Gibt es irgendetwas was wir für dich tun können?“ Luise fragte das mit etwas lauterer Stimme als geplant, um durch die leisen Schluchzer hindurch gehört zu werden. Auch ihr Mann fühlte sich verpflichtet Hilfe anzubieten: „Wenn du irgendetwas benötigst, lass es uns wissen. Du weißt, du kannst uns um alles bitten.“ Mit belegter Stimme sagte Josefine: „Das ist sehr freundlich von euch, aber ich kann nicht darauf zurückkommen. Außerdem ist alles Nötige bereits veranlasst.“ „Teure Freundin, ich will nicht indiskret sein, aber wir haben bisher nur Gerüchte gehört, was geschehen sein soll.“, regte Luise an. Josefine trocknete sich die Tränen mit einem bestickten Taschentuch. „Es gibt nicht sonderlich viel zu erzählen.“, begann sie und wieder traten ihr Tränen in die Augen. „Adrien war noch weit nach Feierabend im Büro. Er hatte wohl noch Arbeit zu erledigen. Er ist aufgestanden und muss gestolpert sein. Er fiel mit dem Kopf auf die Ecke seines Schreibtisches.“ Josefine brach die Stimme und sie tat sich schwer weiterzusprechen. „Er wurde erst heute früh von einem der Dienstmädchen gefunden. Ich habe ihn nicht vermisst. Ihr wisst, er kam des Öfteren erst spät nach Hause und legte sich dann in einem der Gästezimmer schlafen, um mich nicht zu wecken. Es wurde umgehend nach dem Stadtphysikus geschickt und der Amtmann Bredow mit den Untersuchungen beauftragt.“ Vorsichtig fragte Luise: „Ist er hier?“ Die Witwe nickte heftig und presste hervor: „Nebenan. Im blauen Salon.“ „Ich nehme an er ist noch nicht fertig hergerichtet?“ „Mhm.“, verneinte Josefine und drückte sich ihr Taschentuch an den bebenden Mund. „Seine Garderobe wird erst heute Nachmittag geliefert. Feinste Stoffe und Zierrat. Und Blumen. Massenhaft Blumen und Bänder.“ Luise nickte verständnisvoll. Sie selbst hatte keinerlei Freude an derlei Pomp und dem daraus folgenden bizarren Interesse der Schaulustigen, die sich unter dem Vorwand der Mitleidsbekundung an der Staffage und dem Prunk des aufgebahrten Toten weiden würden. Es war nun einmal Brauch. „Dürften Friedrich und ich trotzdem schon zu ihm? Wir würden uns gerne in Ruhe und fernab uns fremder Menschen von ihm verabschieden.“, tastete Luise sich vor. „Selbstverständlich werden wir auch zur offiziellen Aufbahrung kommen.“, ergänzte Friedrich, um jeglicher missverstandenen Unhöflichkeit zuvorzukommen. Josefine sah die beiden abwechselnd an. „Ihr seid wunderbare Freunde. Ich danke Gott, dass Adrien so einen guten Freund in dir hat, selbst nach seinem Tode.“ Ein Hicksen entfuhr ihr und sie fügte hinzu: „Geht! Geht nur! Ich bleibe hier.“ „Das ist sehr freundlich von dir.“, dankten beide und betraten andächtig den angrenzenden Salon. Er war viel größer als der, den sich hinter sich ließen. Und wie der Name vermuten ließ, dominierte hier die Farbe Blau. Abgesetzt mit allgegenwärtigen, goldverzierten Rokalien war die Farbe im Mobiliar, dem Teppich und den Wänden zu finden. Selbst die landschaftlichen Darstellungen der Wände, strahlten in diesem Kolorit. In einem Bereich des Raumes war eine freie Fläche geschaffen und ein schlichter, offener Sarg aufgestellt worden. Er würde noch gegen einen prunkvollen ausgetauscht werden. Friedrich und Luise betrachteten das eingefallene Gesicht ihres Freundes. Er war noch nicht umgezogen und trug noch die Kleidung vom Vortag. Friedrich stellte sich hinter seine Frau und rieb ihr sanft die Oberarme. „Es ist immer wieder erschütternd zu sehen, was der Tod aus einem geliebten Menschen macht.“, flüsterte er und schloss für einen Moment die Augen. Luise hörte ihn, noch leiser, ein Gebet sprechen. Luise dagegen, war mit etwas anderem beschäftigt. Sie konnte nicht genau sagen was, aber an der Aufmachung von Adrien störte sie etwas. Dann fiel es ihr auf. An der Schulter war der Ärmel fast vollständig aufgetrennt. Luise beugte sich vor, um besser sehen zu können. Friedrich griff instinktiv fester zu und hielt sie erschrocken zurück. „Was ist? Ich dachte du fällst in Ohnmacht.“, entschuldigte er sich als er Luises empörten Ausruf vernahm. „Ich falle doch nicht in Ohnmacht!“, zischelte sie leise. „Ich kann nur nicht sehen, was ich sehen will.“, gab sie kryptisch von sich und beugte sich, vom Griff ihres Mannes befreit, nach vorne. Friedrich beobachtete verwundert, wie seine Frau die Naht des nachtblauen Ärmels inspizierte. „Der Faden ist nahezu Ton in Ton.“, murmelte Luise. „Der Ärmel ist eindeutig abgerissen worden. Siehst du, wie die Naht an mehreren Stellen gerissen ist?“ Friedrich kam der Aufforderung etwas verhalten nach. Es kam ihm pietätlos vor, einem Toten seine derangierte Kleidung vorzuhalten. „Ja, du hast recht. Sicherlich wird das beim Transport passiert sein.“ „Möglich.“ Luises Blick fuhr zur Stirn. „Auf jeden Fall hat er eine Kopfwunde.“ „Was genau möchtest du andeuten?“, leise Ungeduld schlich sich in Friedrichs Stimme. Nervös blickte er sich zu den Türen in seinem Rücken um. „Bisher nichts.“ Luise betrachtete die Hände von Adrien. Die Fingernägel seiner geballten rechten Hand waren teilweise gerissen. Zumindest die drei, die sie sehen konnte. Die anderen waren in die Handfläche gegraben. Ohne einen Gedanken an die Bediensteten oder die Witwe im Nebenzimmer zu verschwenden griff Luise in den Sarg und wollte die Hand öffnen. „Was machst du da?“, rief Friedrich nach Luft schnappend. „Ich will seine Hand besser sehen.“, erklärte Luise, als wäre es das natürlichste auf der Welt, die Hand eines Toten zu begutachten. „Warum?“, das Entsetzen in Friedrichs Stimme war nicht zu überhören. „Schhhh!“, befahl Luise und mühte sich bei dem Versuch den Arm zu heben ab. „Ich glaube, er hat etwas in der Hand. Hilf mir mal bitte! Er ist bereits vollkommen steif.“ Jetzt war es an Friedrich zu zischeln: „Ich werde nicht die Ruhe eines Toten, erst recht nicht eines toten Freundes stören!“ „Zier dich nicht! Ich will nur wissen, was er da hat!“ „Nein!“ „Friedrich bitte!“, flehend sah sie ihren Mann an. „Irgendetwas stimmt hier nicht. Und ich will wissen, was!“ Friedrich presste die Lippen aufeinander und erkannte die Entschlossenheit seiner Frau. Resigniert seufzte er. „Ich werde so etwas aber niemals wieder in meinem Leben machen!“ „Ich verspreche, dich nie wieder um einen derartigen Gefallen zu bitten.“, versicherte Luise ihm und gemeinsam stemmten sie die Finger auf. Ein fürchterliches Knacken war zu vernehmen und beiden durchfuhr ein Schauer. Doch sie hatten es geschafft. Zwar war nur einer der Finger aus dem Weg, doch dieser reichte. „Du hattest recht.“, gab Friedrich zu und fischte einen kleinen Gegenstand aus der Adriens Hand. Beide starrten auf den Knopf, der sich unschuldig auf Friedrichs Handfläche zeigte. „Er passt nicht zu den Messingknöpfen an Adriens Weste.“ Es war überflüssig das zu sagen. Die mit Blumenmuster verzierten Messingknöpfe an der Kleidung des Toten ähnelten in keiner Weise dem gläsernen, messingumrahmten Knopf mit der zierlichen Malerei darauf. „Von wem ist er dann?“ „Interessiert es dich denn gar nicht, ob Adrien bei einem Unfall ums Leben kam oder ermordet wurde?“, der Vorwurf war deutlich zu vernehmen und mit schmalen Lippen stand Luise vor ihrem Mann. „Es würde nichts ändern. Adrien bliebe trotzdem tot!“ Luise wusste vor Empörung zunächst nicht was sie sagen sollte. Als sie es wusste und zum Reden ansetzen wollte, klopfte es und eines der Dienstmädchen kam herein, um die Vorhänge im Salon zu schließen. Zornig funkelte Luise ihren Mann an. Dieser zog seinen grünen Banyan zurecht und ließ Luise ihren eigenen Hausmantel überprüfen. Irgendwie musste man die erdrückende Stille überstehen. Luise wartete geduldig ab, bis das Mädchen die Vorhänge zugezogen, das Feuer noch einmal kontrolliert und die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Es würde alles ändern! Es würde bedeuten, dass dort draußen jemand ist, der Menschen tötet. Und niemand kann sagen, ob Adrien sein letztes Opfer war.“, fauchte Luise und verringerte die Distanz zwischen ihnen. „Und Josefine? Was, wenn er wegen seiner Spielschulden ermordet wurde? Wollen wir ihr das zumuten?“, er wandte sich ab, ging um die Couch herum und stützte sich auf die goldverzierte Rückenlehne. „Und was, wenn nicht? Wenn das nicht der Grund war?“ Sie umrundete das Möbel und stellte sich neben ihren Mann, den sie in diesem Augenblick so gar nicht zu kennen glaubte. Auf dem Rollwagen schenkte sich Friedrich einen frisch importierten Schnaps ein und kippte den Inhalt des Glases in einem Zug in seinen Mund. Das Brennen im Hals war eine willkommene Ausrede, die Antwort noch etwas hinauszögern zu können. „Friedrich. Liebling. Heute Morgen, mit dem Knopf in der Hand, hast du mir versichert, dass du nicht eher ruhen würdest, bis der Schuldige gefunden ist. Du hast mir versichert du würdest dich umhören. Was hat sich in den letzten Stunden verändert?“ Verzweiflung rang in ihrer Stimme mit, während sie den Hinterkopf ihres Gatten fokussierte. Friedrich goss sich noch ein zweites Gläschen ein und ließ es ebenso zügig verschwinden, wie das erste. „Es hat sich nichts geändert, außer meinen Ansichten.“ Energisch stellte er das Glas auf den Tisch, wagte es aber noch immer nicht, sich zu Luise umzudrehen. „Wenn es ein Unfall war, würden wir nur unnötig Staub aufwirbeln. War es Mord, würden wir schlimmstenfalls nur in die Schusslinie geraten. Luise, dass hier ist keines deiner Bücher! Das hier ist die Realität und keine deiner abstrusen Eskapismen.“ Luise schnappte nach Luft und stemmte die Hände in die Hüften. „Welcher Teufel dich auch immer reitet Friedrich, es ist keine Begründung für deine unangemessenen Äußerungen! Wir sind immer respektvoll miteinander umgegangen und ich will wissen, was uns den Respekt gekostet hat!“ Sie schnaubte und wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Friedrich die hochroten Ohren seiner geliebten Frau reizend gefunden. „Raus mit der Sprache! Was. Ist. Los?“ Friedrich seufzte. Er hatte sich zwar zu ihr umgedreht, doch er traute sich nicht Luise anzusehen. „Warum musst du immer so stur sein? So verdammt neugierig und stur? Kannst du nicht wenigstens ein Mal akzeptieren, dass etwas einfach so ist, wie es ist? Das ich eine Entscheidung getroffen habe, die zum Wohle unserer Familie ist?“ Langsam hob Friedrich den Blick und flehte Luise stumm an, es dabei zu belassen. Doch der Ausdruck in den Augen seiner Frau sagte ihm, dass all sein Flehen umsonst war. Erschöpft rieb er sich über das Gesicht und dachte nach, wie er es am sichersten erklärte. „Nachdem wir heute die Indizien auf einen Mord gefunden hatten, habe ich mich auf der Arbeit umgehört. Ich bin dabei sehr subtil vorgegangen und sonderlich viel habe ich nicht erfahren.“ Er schwieg einen Moment. „Das ist doch ein Anfang.“, versuchte Luise die Fortführung des Gespräches anzuregen. „Als ich meinte, dass es zum Wohle unserer Familie ist, hier aufzuhören, war das mein voller ernst.“, Friedrich schluckte. „Bereits kurz nach dem Mittag ließ mich Ferdinand von Bohlen in sein Büro zitieren.“ „Dein Vorgesetzter?“, warf Luise dazwischen und Friedrich nickte. „Zunächst sprach er mit mir über einige Akten und Vorgänge, dann lenkte er das Gespräch auf meine berufliche Zukunft und streute dabei meine offensichtliche Neugier an Geschehnissen ein, die mich eigentlich nicht zu interessieren bräuchten. Luise, er wollte, dass ich die Nachforschungen umgehend einstelle, da sonst meine Karriere in Gefahr sei.“ Ein Schnauben entfuhr Luise: „Es wäre also beruflicher Selbstmord, Adriens Todesumstände zu klären? Das ist alles? Unser Vermögen ist nicht auf dein Einkommen angewiesen.“ „Dir mag unser Ruf nicht sonderlich wichtig sein, mir ist er das aber. Schon allein wegen unseres Sohnes. Außerdem…“, begann er, stoppte sich aber selbst. „Außerdem?“, forderte Luise und sah ihn scharf an. Friedrich gab sich einen Ruck. „Außerdem hat er eine verdeckte Drohung ausgesprochen. Unfälle wie der von Adrien seien tragisch, kämen aber leider immer wieder vor.“ Er war wieder bleich geworden und auch Luise verlor eine Spur ihrer erregten Röte. „Glaubst du…“, Luise brach ab und schaute ihren Mann lange an. „Ob ich glaube, dass er den Mord in Auftrag gegeben hat?“ Luise nickte. „Ich schließe es nicht aus, wobei mich dann der Knopf wundert. Er stammt von jemandem, der weit wohlhabender ist, als es Ferdinand von Bohlen je sein wird. Und weshalb sollte jemand so angesehenes und hochgestelltes eigenhändig einen Mord begehen? Das passt nicht.“, fuhr er in Gedanken versunken fort, dann schüttelte er den Kopf. „Tatsache ist, dass es Ferdinand von Bohlen nicht recht ist und seinem Ruf nach ist die Drohung ernst zu nehmen.“ Luise nickte erneut. „Aber denkst du wirklich, dass es das Risiko nicht wert wäre? Was, wenn der Täter wirklich noch einen Mord begeht? Ich weiß nicht, ob ich in dem Wissen weiterleben könnte, das Leben eines anderen Menschen verschuldet zu haben.“ „Du würdest es vermutlich nie erfahren.“, kam der hilflose Versuch von Friedrich. „Das macht es noch schlimmer. Es nicht zu wissen. Denn dann könnten es auch mehrere Morde sein, die hätten verhindert werden können.“ Luise legte beschwichtigend eine Hand auf den Arm ihres Gatten. „Ich verstehe dich. Du sorgst dich um unser Wohlergehen. Aber bedeutet dir die Freundschaft mit Adrien so wenig? Ich kenne dich Friedrich, wenn du diese Fragen offenlässt, wirst du dich ewig damit grämen.“ Friedrich ließ sich auf die Couch fallen und legte das Gesicht in seine Hände. „Du hast ja recht. Aber ihr seid mir wichtiger, als es Adrien war.“ „Und was, wenn ich mich umhöre? Wenn ich die Umstände versuche zu klären?“ „Du bist eine Dame Luise! Du kannst dich nicht in behördliche Belange einmischen und wer weiß mit was für einem Gesindel du es zu tun bekämst.“ „Du kennst mich! Ich bin keines dieser schreckhaften kleinen Weibchen, dass sich bereits echauffiert, wenn der Saum ihres Rockes beschmutzt wird. Mal ganz abgesehen davon, dass die Behörden ihre Untersuchungen bereits eingestellt haben. Und so wie die Dinge bisher liegen, komme ich wohl kaum mit Bettlern und Dieben in Berührung. Friedrich bitte, es kann nicht sein, dass ein feiger Mörder dort draußen herumläuft. Du kannst nicht leugnen, dass die Indizien einen Unfall ausschließen.“ Luise hatte sich neben ihren Mann gesetzt und seine Hand in die ihre genommen. Sie war erstaunlich kalt gewesen und hatte ihr nochmal gezeigt, wie beunruhigt Friedrich war. „Und was, wenn der Mörder in den adeligen Häusern zu finden ist? Es wäre unvernünftig jemanden in solch einer machtvollen Position in die Quere zu kommen.“ Aus dunkel umrahmten Augen sah Friedrich seine Frau müde an. Ihm gegenüber saß ein Mensch, dem es nicht an Entschlossenheit mangelte und er wusste, dass er diesen Kampf verloren hatte. „Ich bin mir der Risiken im Klaren. Ich werde vorsichtig sein und wenn es zu gefährlich wird, werde ich mich zum Wohle unserer Familie zurückziehen. Aber lass es mich wenigstens versuchen.“ Friedrich zog Luise an sich. „Du bist ein unverbesserlicher Sturkopf.“ Zärtlich drückte er ihr einen Kuss auf das Haupt. „Wir sollten uns schlafen legen.“, nuschelte Luise an seine Brust. „Sag bloß du möchtest morgen Früh nicht zu spät in die Kirche kommen.“ Ein leichtes, schelmisches Grinsen legte sich auf Friedrichs Züge. Gespielt empört sagte Luise leise: „Scherz nicht. Wäre die gesellschaftliche Norm eine andere, würde ich mir die Sonntage anders vertreiben.“ „Dein mangelnder Glaube an Gott ist fast schon lästerlich meine Liebe. Du liest eindeutig zu viel Helvétius.“ Seine Worte untermalte Friedrich mit einem lächelnden Kopfschütteln. Gemeinsam standen sie auf und betraten das Vesitbül, von dem aus sie in den zweiten Stock gelangten. „Wenn König Friedrich es für angemessen hält sich mit Voltaire auszutauschen, dann sind die Schriften Helvétius‘ und anderer ein angemessener Zeitvertreib für mich. Und ich kann mich ihren Ansichten nicht verwehren. Sie sind durch und durch logisch. Und die Fragen…“ „…Und die Fragen, die sie stellen sind klug. Und sie sind alle unserer Zeit voraus und in einhundert Jahren werden die restriktiven Ansichten unserer Gesellschaft obsolet sein.“ Friedrich schmunzelte. „Diese Diskussion führten wir schon des Öfteren. Und wie du weißt, stimme ich dir in einzelnen Punkten auch zu. Trotzdem werden die Glocken morgen zum Gottesdienst rufen und wir werden, den derzeit geltenden gesellschaftlichen Normen folgend, dort erscheinen.“ Luise verdrehte die Augen, sagte aber nichts mehr. „Liebling, wer von den Herren hier frönt dem Glückspiel?“, flüsterte Luise ihrem Mann zu, während sie dem letzten Gebet des Gottesdienstes lauschten. „Ich ahne, was du vorhast und ich halte es für keine gute Idee.“, kam es raunend von Friedrich zurück. Mit Nachdruck flüsterte Luise: „Friedrich!“ Den Blick demütig auf die gefalteten Hände gelegt. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Leo sie vorwurfsvoll anschaute. Zurecht, wie Luise zugeben musste. Er wurde dafür gerügt, wenn er beim Gebet sprach oder zappelte. „Amen.“, schallte es durch die Kirche und ein allgemeines Rascheln zog sich durch die Bänke. Nur neben sich vernahm Luise ein Seufzen. Friedrich beugte sich zu seiner Frau herunter und sagte leise: „Von Herzberg, der Markgraf, der jüngere Troschke und der Oberamtmann Pitz.“ Luise nahm jeden genannten kurz in Augenschein. „Ach ja, und der Generalmajor von Conring.“ „Der alte Gustav?“, überrascht sah Luise hoch. „Ja, auch der alte Gustav.“ „Das hast du nie erwähnt.“, ein leiser Vorwurf schwang in Luises Stimme mit. „Es war auch nie von Bedeutung.“ Suchend überflog Luise die Menschen in der sich leerenden Kirche. „Du brauchst nicht zu suchen, er ist nicht da. Er besucht seine Nichte bei Köln.“, informierte Friedrich und sie schlossen sich der Schlange nach draußen an. Immer noch flüsternd, aber etwas lauter als vorher, da sie jetzt vor ihm ging, fragte Luise: „Glaubst du, er ist darin verwickelt?“ Zur Antwort schüttelte Friedrich den Kopf. „Was tuschelt ihr die ganze Zeit?“, fragte es vor Luise. „Nichts, was für dich von Interesse wäre.“, lächelte Luise ihren Sohn an und bemerkte die Schnute, die er zog. Vor der Kirche hatte sich die Gesellschaft versammelt und kleinere Grüppchen gebildet. Andere stiegen bereits in ihre Kutschen. Einige von ihnen würden den gleichen Weg haben, da sie einander regelmäßig nach dem sonntäglichen Gottesdienst zum Tee einluden, doch Luise und Friedrich würden direkt nach Hause fahren. Ihr Kutscher wartete bereits mit dem Kabriolett auf sie. Dem schönen Wetter entsprechend, hatte er das Verdeck geöffnet und das dunkle Leder war von der Sonne angenehm erwärmt. Gemächlich fuhren sie die mit Steinen gepflasterten, großzügigen Straßen entlang. Fachwerkhäuser wechselten sich mit Bauten aus vollem Stein ab und Bäume lockerten das Bild auf. Ruckelnd bewegte sich das Gefährt fort und Luise war froh, die Sitzpolster nachträglich durch dickere ersetzt zu haben. Sie näherten sich der Spree und Luise konnte auf der anderen Seite eine kleine Ansammlung hölzerner Buden erkennen. Morgen würde dort einige Geschäftigkeit herrschen. Jetzt aber, waren sie verwaist und wirkten trostlos. Ihr kam ein Gedanke. „Liebling.“, sagte sie in einem zuckersüßen Ton, der Friedrich aufhorchen ließ. Skeptisch zog er die Augenbraue hoch. Auch Leo spitzte die Ohren und sah seine Eltern erwartungsvoll an. „Wenn ich mich recht erinnere ist der Tokajer letzte Woche eingetroffen. Wie viele Flaschen haben wir von dem Wein erhalten?“ Friedrich wusste zunächst nicht, was diese Frage für einen Sinn hatte. Dann sah er den schelmischen Ausdruck in Luises Augen und verstand. „Genug, für dein Vorhaben.“ „Ich werde Magda anweisen jedem von ihnen eine Flasche zu überbringen, das sollte Vorwand genug sein, dass sie sich bei den Hausangestellten umhören kann.“ Zufrieden mit diesem Plan lehnte sie sich zurück. „Meine Liebe, vor dir scheint kein Geheimnis sicher.“ Luise hörte die leichte Besorgnis in der Stimme ihres Mannes nicht heraus und auch der unsichere Blick zum Wasser der Spree, an dem sie gerade entlangfuhren, entging ihr. Kapitel 2: Tanz in den Tod -------------------------- Der Beginn unserer Reise entsprach eher einer Flucht. Die ersten Tage hielt Johann die Pferde zu Höchstleistungen an und wir erreichten des Öfteren eine Geschwindigkeit von mehr als einer preußischen Meile in der Stunde, wodurch wir bereits am Nachmittag in Bernau ankamen. Am vierten Tag war meine Mutter endlich bereit einen ganzen Tag Rast zu machen und wir kehrten in ein gemütliches Wirtshaus ein. Trotz der einfachen Ausstattung mit Strohbetten schliefen meine Mutter und ich bis in den Mittag des nächsten Morgens hinein und am Nachmittag genossen wir bei einem Spaziergang das warme Maiwetter. Der sechste Tag spielte sich wieder auf den Wegen und Straßen in Richtung Danzig ab. Unser Ziel war jedoch nicht Danzig, sondern Konitz. Hier wollten wir unseren ersten längeren Aufenthalt verbringen. Mama wollte sich dort passende Garderobe schneidern lassen und ein wenig zur Ruhe kommen. Das uns dort unser erster Fall erwartete, wäre uns nicht im Traum eingefallen. „Guten Morgen Johann.“, begrüßten Luise und Leo den Kutscher, der bereits an einer dicken Scheibe Brot, Speck und dünnem Wein saß. Eilig schluckte er den Bissen hinunter und antwortet: „Guten Morgen, Herr.“ Die Wirtin, eine ältere, hagere Frau mit schütterem Haar, kam zu Leo und Luise an den Tisch. Sie trug bereits zwei Becher verdünnten Wein mit sich und stellte sie sorgsam vor die beiden. „Guten Morgen die Herren. Darf es ebenfalls Brot und Speck sein?“ Luise und Leo nickten. „Wenn sie haben, nehmen wir noch Eier dazu.“ „Kommt sofort.“, nickte die Frau und eilte in den hinteren Teil des Raumes. Nicht lange und sie kam mit dem Gewünschten wieder nach vorne. „Bitte sehr.“ „Vielen Dank, Doris.“, sagte Leo höflich und Luise schloss sich dem an. „Gern geschehen. Der junge Herr muss ordentlich essen, damit er mal ein strammer Bursche wird.“, grinste Doris und verschwand wieder hinter der Theke. Luise hörte Johann mit der Wirtin reden. „Gibt es die nächsten Tage eine Veranstaltung? Irgendein Ereignis, auf dem man ein nettes Mädchen kennenlernen könnte?“ „Da kommste zu spät.“ Mit einem Lappen in der Hand wischte die Wirtin Krümel von der Arbeitsfläche. „Vor einigen Tagen, da war hier unser monatlicher Tanzabend. Aber wenn du was Nettes suchst, bist du hier falsch. Die Netten sind alle vergeben oder viel zu jung für dich, Blondchen.“, feixte Doris und Johann verzog grinsend den Mund. Er wollte gerade darauf antworten als die Tür des Gastraumes aufgestoßen wurde und zwei Männer eintraten. Beide trugen sie die gleiche Perücke, die Luise immer an den Komponisten Bach erinnerte. Einer von ihnen war mit einer Handfeuerwaffe und einem Schwert ausgestattet und wirkte eher etwas grobschlächtig. Die schlaffe Haltung und biedere Ausstrahlung verrieten den anderen Mann als Beamten. Der Beamte sah sich im Raum um. Neben Luise, Leo, Johann und der Wirtin, saß in einer Ecke ein weiterer Übernachtungsgast und beäugte die eintretenden Herren. Als der Amtmann die Wirtin sah sprach er sie an: „Sind sie Doris Keller? Wirtin des Hauses?“ „Die bin ich.“ Sie warf sich den Lappen über die Schulter und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Sie werden hiermit des Mordes an Gudrun Klein bezichtigt. Dieser Mann,“ er deutete auf seinen bewaffneten Begleiter, „wird sie in Verwahrung nehmen.“ Alles Blut wich aus dem Gesicht der Frau und das Tuch fiel ihr von der Schulter. „Ich habe niemanden ermordet!“, rief sie in einem kehligen Ton. „Das habe ich nicht! Ich schwöre es! Auf die Bibel! Auf Jesus Christus! Bei Gott, ich habe niemandem ein Leid getan!“ „Das wird der Richter entscheiden. Mehrere Personen haben uns bestätigt, dass sie mit der Ermordeten im Streit lagen und eindeutige Drohungen ihrerseits ausgesprochen wurden.“, leierte der Amtmann. Die Wirtin kreischte fast, als sie sagte: „Aber die Klein hat mir doch ebenfalls gedroht! Hat mir gedroht, mich und meine Gäste zu vergiften! Sie war es, die meine Gäste vergrault hat!“ Der Beamte kniff eines seiner Augen zusammen und betrachtete die Frau aus dem offenen umso intensiver. „Damit hätten wir auch schon das Motiv. Rache für ihre finanziellen Einbußen. Arretieren Sie sie!“ Mit wenigen Schritten durchquerte der Begleiter die Gaststube, zog dabei einen Strick aus der Tasche und fesselte die zu Tode geängstigte Frau. „Ich war es nicht! Ich war es nicht!“, bekundete sie immer wieder und unter Tränen wurde sie aus dem Gasthaus geführt. Stumm hatten die Anwesenden das Schauspiel verfolgt. Dann sprang Luise auf und lief ihnen hinterher. „Verzeihen Sie!“, rief sie dem Amtmann nach, welcher sich auf den Zuruf umdrehte. Luise blieb vor dem faden Beamten stehen: „Bitte entschuldigen Sie die Störung mein Name ist Ludwig von Leutsch.“ Der Mann betrachtete Luise und versuchte sie einzuordnen, kam aber zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. „Sehr erfreut.“, sagte der Amtmann, wenig erfreut. „Amtmann Huber mein Name, was kann ich für Euch tun?“ „Ich gebe zu, es sollte mich nichts angehen,“ der Blick des Amtmanns Huber bestätigte die Wahrheit dieser Floskel, „aber könnten Sie mir sagen, wer die Frau Klein war, die ermordet wurde?“ Mit einem Gesicht, als ob dieser Tag mit Luise noch eine Spur schlimmer wurde, deutete er auf das Nachbargebäude des Gasthauses. „Die Frau Klein wohnte nebenan. Sie wurde heute in der Früh gegen 6 erstochen.“ „Darf ich fragen, woher sie die Uhrzeit so genau wissen?“ Huber seufzte: „Ein Arbeiter fand die alte Klein. Sie hat von innen gegen die Haustür geklopft und damit einen Angestellten auf dem Weg zur Arbeit auf sich aufmerksam gemacht“ „Hat sie denn etwas sagen können?“, hakte Luise nach. „Nein.“, kam es genervt von Amtmann Huber. „Neben einigen Stichverletzungen wurde ihr auch die Kehle aufgeschnitten. Es konnte nicht lange her sein, zwischen der Tat und dem Auffinden der Frau.“ Sie nickte. „Das klingt einleuchtend. Haben Sie vielen Dank Herr Amtmann Huber.“ „Bitte!“, rief Doris und schaute dabei Luise an. „Könnten Sie meiner Schwester davon erzählen? Sie ist gerade auf dem Markt! Bitte!“ „Das werde ich.“, versprach Luise und das Dreiergespann stieg in eine einfache, geschlossene Kutsche. Nachdenklich ging Luise wieder in das Gebäude. „Onkel.“ Luise zuckte zusammen. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt. „Hm?“, machte sie und sah Leo fragend an. „Was ist mit der Wirtin?“, wollte ihr Sohn wissen. „Doris soll einer Nachbarin heute früh Gewalt angetan haben.“ „Heute früh?“, nachdenklich runzelte Leo die Stirn. „Aber ich habe sie gar nicht weggehen sehen.“ Luise horchte auf. „Wann bist du denn heute aufgestanden?“ Obwohl sie sich ein Zimmer teilten, hatte Luise nicht mitbekommen, wann ihr Sohn nach unten gegangen war. „Es hat halb sechs geschlagen.“, schuldbewusst betrachtete Leo seine Füße. „Ich konnte nicht mehr schlafen und musste austreten. Da bin ich gleich wachgeblieben und habe mich mit meinem Kreisel leise an den Tisch dort gesetzt.“ Er zeigte auf einen Tisch, der halb von einem Balken verdeckt war. „Doris hat mich nicht gesehen. Ich war ganz leise, weil ich sie nicht stören wollte.“ „Hast du die Wirtin die ganze Zeit gesehen?“, fragte Luise aufgeregt. „Nein.“ Enttäuschung machte sich in Luise breit und sie setzte sich matt hin. „Aber sie war zu hören.“ „Zu hören?“, wollte Luise genauer wissen und sah Leo wieder aufmerksam an. „Ja, zu hören. Sie hat gesungen. Ziemlich falsch. Aber sie hat nicht ein einziges Mal aufgehört.“ Mit kindlichen Augen sah Leo hoch. „Ist alles in Ordnung?“ „Könnte sein.“ Es war ein gedankenversunkenes Flüstern. Luise stand abrupt auf, durchquerte den Raum, ging zur Küche und sah sich darin um. Dann kam sie wieder nach vorne. „Hinten gibt es keinen weiteren Ausgang.“ Eine raue Stimme drang durch den Raum: „Gibt es hier noch was zu trinken?“ Es war der Mann in der Ecke, den die Geschehnisse offenbar nicht im Geringsten interessierten. Luise rollte mit den Augen und selbst der kleine Leo stemmte die Fäuste in die Seiten und schnaubte. „Herr?“, wandte sich Johann an Luise und deutete mit den Augen zur Theke. „Meinetwegen.“, sagte sie ergeben und setzte sich wieder an den Tisch, um das restliche Frühstück einzunehmen. Johann verschwand hinter der Theke und kam mit einem Krug wieder. Er schenkte dem Fremden ein, der als Dank ein Brummen vernehmen ließ und ging dann zum Tisch von Luise und Leo. „Für Euch auch?“ Luise hielt ihren Becher hin und ließ sich nachschenken. „Sobald die Schwester da ist machen wir uns auf den Weg zum Amtmann Huber.“, sagte sie an Johann gewandt. „Ich werde die Kutsche umgehend bereitmachen, sobald Dagmar hier ist.“, versicherte Johann. „Weshalb wollen wir zu dem Amtmann?“, wollte Leo wissen, der wieder seinen Kreisel herausgeholt hatte und ihn über die Tischplatte rotieren ließ. Luise setzte den Becher ab. „Wir werden dem Amtmann deine Beobachtungen schildern.“ „Verzeiht Herr, aber glaubt Ihr, man wird der Aussage eines Knaben Beachtung schenken?“ „Ich hoffe es Johann.“, seufzte Luise. „Es wäre bereits ein Erfolg, wenn der Amtmann wenigstens seine Untersuchungen ausweitet.“ „Und was machen wir, wenn er das nicht macht?“, meldete sich wieder Leo. Ein besänftigendes Lächeln erschien auf Luises Gesicht. „Nun, hoffen wir einfach, dass Herr Huber ein intelligenter Mann ist. Einige seiner Schlüsse klangen recht plausibel.“ „Aber was ist denn hier los?!“, kam es entrüstet von der Tür her und alle drehten sich zu ihr um. „RAUS AUS DER KÜCHE!“ Es war Dagmar, die Schwester der Wirtin. Bevor einer der Anwesenden etwas erklären konnte, befand sich Dagmar hinter der Theke und hatte Johann am Schlafittchen gepackt. Unsanft zog sie ihn in die Mitte des Raumes, bevor Luise und Leo endlich die Aufmerksamkeit der Walküre hatten. „Ihre Schwester ist im Zuchthaus!“, drang Luise endlich zu ihr vor. Dagmar hielt in der Bewegung inne. Der nicht gerade kleine Johann stand auf seinen Zehenspitzen und hielt sich die Perücke auf dem Kopf, während er in seiner Kleidung hing. Langsam ließ ihn Dagmar runter. „Die Nachbarin Klein ist heute in der Früh ermordet worden und man glaubt es sei Ihre Schwester gewesen. Sie wurde vorhin abgeholt. Johann hat uns lediglich Getränke ausgeschenkt. Wir wussten nicht, wann Sie wiederkommen Dagmar.“ Während sie das sagte nahm Luise Johann in Empfang und richtete ihm seine Garderobe. Heiser flüsterte Dagmar: „Das würde sie doch niemals tun. Bei aller Schlechtigkeit dieser Frau, Doris würde niemals…“ Kraftlos fiel Dagmar auf einen Stuhl und starrte ins Leere. „Wir glauben das auch nicht.“ Luise deutete auf ihren Sohn. „Leo kann bezeugen, dass Ihre Schwester zu der angegebenen Zeit ein Alibi hat. Wir werden uns gleich auf den Weg machen und es dem Amtmann zu Protokoll geben.“ Dagmar warf einen Blick auf Leo, der bekräftigend nickte. „Danke.“, sagte sie und eine Mischung aus Hoffnung und Zweifel schwangen dabei mit. Dann schaute sie sich suchend um. „Wo ist denn der junge Mann hin? Ihr Kutscher, glaube ich.“ Luise grinste. „Sie haben ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt. Er wird vermutlich gerade die Kutsche einspannen, damit wir uns direkt auf den Weg machen können.“ „Das tut mir wirklich leid.“ Tief geknickt erhob Dagmar sich und schlurfte in die Küche. „Herr?“, es war Johann der einen vorsichtigen Blick in den Schankraum warf. „Dagmar ist in der Küche.“, informierte Leo und grinste den Kutscher an. „Hast du Angst vor ihr?“ Johann kratzte sich am Haaransatz. „Du hast ja ein ganz schön großes Mundwerk. Komm du mal in solch eine Situation! Wär‘ sie ein Mann hätte ich weniger Bedenken. Aber ich kann doch keine Prügelei mit einer Frau anfangen.“ „Und dass ist auch richtig so.“, unterbrach Luise die aufkeimende Diskussion der beiden. „Ist die Kutsche bereit?“ „Ist sie.“, bestätigte Johann und hielt den beiden die Tür auf. „Ich habe mich bei dem Knecht auch schon informiert, wo der Amtmann Huber sitzt. Das Verwaltungsgebäude ist nicht weit von hier.“ Wie versprochen stand die Kutsche direkt vor dem Eingang, der Tritt bereits ausgeklappt und die Tür vom Kutscher geöffnet. „Darf ich bei Johann sitzen?“ „Wenn es Johann nichts ausmacht.“, gab Luise die eingeschränkte Erlaubnis. Mit großen Augen schaute er zu Johann hoch. Johann stemmte die Hände in die Hüften: „Nachdem du mich als Feigling tituliert hast, möchtest du mit mir auf dem Kutschbock sitzen?“ Sein Ausdruck war bitterernst. „Biiitteeeee.“, flehte der Junge und echte Sorge, dass er es sich mit dem Kutscher verscherzt hatte, trat in sein Gesicht. „Es tut mir leid, ich wollte dich doch nur ärgern.“ Ein Grinsen schlich sich um den Mund des Kutschers: „Na dann mal rauf mit dir du Frechdachs.“ Mit Leichtigkeit hob er den Jungen hoch, der sich sogleich auf den Bock zog und wie die Sonne strahlte. Luise hatte das Schauspiel aus der Kabine heraus beobachtet. Johann war nett, arbeitsam und zuverlässig. Das schlechte Gewissen regte sich in ihr. Die ersten Tage hatte sie es an Freundlichkeit arg mangeln lassen. Das Gebäude, in dem der Amtmann seine Stube hatte, war wirklich nicht weit. Keine zehn Minuten später hielt die Berline und Johann rief: „Wir sind da Herr!“ Luise sah Leo bereits herunterklettern und auch Johann schwang sich herunter und machte sich daran Luise die Tür zu öffnen. „Ich werde wenden und dort auf Euch warten.“ Johann zeigte auf eine Stelle, nur wenige Meter entfernt. „Gut.“ Luise betrachtete die Putti, die links und rechts oberhalb der Eichentür eine Art Pokal flankierten. Eine schöne, wenn auch schlichte Stuckarbeit. Als Luise und Leo den Eingangsbereich betraten, erhob sich ein alter Mann von einem Stuhl. Tiefe Furchen durchzogen sein Gesicht und die einst weiße Perücke war fleckig grau. „Guten Tag werte Herren. Was ist Ihr Anliegen?“, fragte er griesgrämig, aber routiniert und studierte sie beide eingehend. „Wir sind Ludwig und Leopold von Leutsch. Wir erhoffen uns Amtmann Huber sprechen zu können.“, antwortete Luise selbstbewusst. Der Mann schnalzte mit der Zunge, als wäre er sich nicht sicher, ob diese Hoffnung gerechtfertigt war. In ihrer verdrießlichen Art ähnelten sich dieser Mann und Herr Huber. „Ich werde fragen. Warten Sie hier!“ Der Mann bog in einen Gang und sie hörten ein Klopfen, dann ein Getuschel und ein wesentlich lauteres Seufzen. Als der Mann wieder vor ihnen stand forderte er sie auf mitzukommen und führte sie bis vor das Zimmer von Amtmann Huber. „Herr Amtmann. Die Herren von Leutsch.“ Ohne ein weiteres Wort kehrte er ihnen den Rücken zu und ging. „Wie überraschend Euch so schnell wiederzusehen.“, begrüßte der Amtmann sie mit einem falschen Lächeln. Das Zimmer war schlicht eingerichtet. Praktisch, funktionell. Ein Schreibtisch, insgesamt drei Stühle darum und zwei weitere an der Wand. Ein einziges, mit Akten und Büchern, gefülltes Regal stand an der Wand. Der einzige Schmuck war ein Ölgemälde, dass dem Raum ein wenig Farbe verlieh. Luise räusperte sich: „Amtmann Huber. Ja, wir waren auch sehr überrascht, als wir feststellten, dass ein Besuch notwendig ist.“ „Was genau verschafft mir denn die Ehre?“, er betonte das letzte Wort mit solchem Sarkasmus, dass es Luise fast den Atem verschlug. „Wir hatten leider nicht die Gelegenheit uns intensiver über die Geschehnisse des Morgens zu unterhalten. Mein Neffe und ich haben dies indes getan und festgestellt, dass die Beschuldigte Frau Doris Keller, zeitlich nicht in der Lage gewesen wäre, die Tat zu verüben.“ Ein böses Funkeln huschte über das Gesicht des Amtmannes. „Und wie kommt Ihr Neffe darauf?“ Luise stupste Leo sanft mit der Hand an. Leise und schüchtern begann er zu erzählen, wobei er mit jedem Wort sicherer wurde. „Ich bin heute ganz früh aufgestanden. Die Uhr schlug gerademal halb sechs. Ich ging in die Gaststube, wo Doris bereits in der Küche war. Sie sah mich nicht, da ich mich leise an einen hinteren Tisch setzte und dort mit meinem Kreisel spielte. Ich wollte sie nicht stören.“, Leo holte Luft und fuhr fort: „Ich habe die Wirtin zwar nicht die ganze Zeit gesehen, aber sie war die ganze Zeit in der Küche und hat gesungen.“ Luise nickte. „Ich habe in der Küche nachgesehen. Es gibt dort keinen weiteren Ausgang.“ „Ich war dort, bis meine…mein Onkel runterkam.“ „Das war gegen viertelvorsieben.“, ergänzte Luise. Der Amtmann knirschte fast mit den Zähnen. Dann entspannte er sich wieder. „Ja. Nun. Das ist höchst interessant, aber die Aussage eines Kindes wiegt nicht sonderlich schwer. Wie alt bist du Kleiner? Sechs?“ Empört antwortete Leo: „Ich bin acht! Fast neun!“ „Und dennoch nur ein Kind.“, seufzte der Mann, dieses Mal aber erleichtert, statt genervt. Er lehnte sich auf seinem dunkel gebeizten Kiefernholzstuhl zurück und legte die Handflächen flach auf den Tisch, als hätte er damit alle Karten auf den Tisch gelegt. „Die Aussage meines Neffen ist ebenso viel Wert, wie die eines Erwachsenen.“, versuchte es Luise erneut. „Sie sind Fremde. Wenn es so weit ist und die Verhandlung beginnt, sind Sie bereits weitergezogen.“, lächelte Amtmann Huber. Diesen Zahn wollte Luise ihm ziehen. „Wir sind zeitlich nicht sonderlich gebunden und wären höchst erfreut unsere Aussage auch vor Gericht wiederholen zu dürfen.“ „Diese Entscheidung obliegt ganz Ihnen.“, sagte Herr Huber süffisant. „Gibt es sonst noch etwas zu besprechen?“ „Nicht zu diesem Zeitpunkt.“ Gab Luise kalt zurück. „Ich verspreche Ihnen aber, dass wir uns in den nächsten Tagen wiedersehen werden.“ Ohne eine Antwort abzuwarten schob sie Leo aus dem Zimmer. Trotzdem hörte sie ein dumpfes: „Tut, was Ihr nicht lassen könnt.“ Johann sah sie beide aus dem Gebäude kommen und trottete ihnen mit der Kutsche entgegen. „Wie ist es gelaufen?“ „So ein ignoranter, gleichgültiger, törichter, detachierter Esel!“, wetterte Luise beim Einsteigen. „Dann ist es wohl nicht so gut gelaufen?“, war seine rhetorische Frage an Leo, während er die Tür der Kutsche wieder schloss. Leo schaute etwas betroffen drein. „Einem Kind glaubt er nicht.“ Luise wetterte erneut: „Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun! Dieser Hornochse wollte seinen einfachen Fall nicht gegen etwas schwierigeres tauschen! Du könntest auch ein Professor der kaiserlich-königlichen Akademie sein und er würde uns abweisen.“ „Oha. So einer also.“, kam es von Johann, der Leo gerade auf den Kutschbock half. „Aber so nicht!“, schnaubte es aus der Kabine. „Was meinst du Onkel?“, Leo beugte sich zu dem geöffneten Fenster herunter. „Ich meine“, begann Luise und war sich zunächst nicht bewusst, was sie gleich sagen würde, „dass wir ihm den Täter auf einem Silbertablett servieren werden. Wir werden Doris aus dem Zuchthaus holen!“   Kapitel 2 „Herr! Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Wenn man uns erwischt!“ flüsterte Johann und sah sich besorgt in der Dunkelheit um. „Niemand hat Sie gezwungen Johann.“, flüsterte Luise zurück und gab sich große Mühe beim Aufbrechen der Tür. Es klackte und Luise drückte den Hauseingang auf. Johann verzog das Gesicht und folgte Luise mit einer gedimmten Laterne. „Und wer soll dann Schmiere stehen?“ Er reichte Luise die Leuchte und zog die Vorhänge vor die Fenster. An eines stellte er sich und schielte durch den Stoff auf die Straße. „Ich hätte es auch ohne Ihre Hilfe geschafft.“, versicherte Luise und öffnete eine der Blenden an der Laterne, sodass sich ihr Licht in nur eine Richtung ausbreiten konnte. „Entschuldigt Herr, aber manchmal seid Ihr so stur wie ein Weib.“ Johann konnte es nicht sehen, doch Luise zuckte bei dieser Aussage zusammen. „Ich denke nicht, dass ich diese Entschuldigung akzeptieren muss. Und eine solche Frechheit erst recht nicht.“ Sie legte so viel Ernst in diesen Satz, wie sie konnte. „Ihr habt natürlich Recht Herr.“, antwortete Johann seinem Arbeitgeber. Gewissenhaft leuchtete Luise in jede Ecke. Es war der Hauptraum des kleinen Gebäudes, eine Art Wohnküche. Stühle, Geschirr, Zierrat und andere Utensilien lagen verstreut am Boden. Auch eine Kommode lag umgeworfen auf den Dielen. Luise erschauderte. Überall war Blut. Sie folgte ihm mit dem Lichtstrahl. „Herr!“, mahnte Johann zischend. Schnell drehte Luise die Leuchte weg von der Tür, die ebenfalls mit Blut besudelt war. Das Sammelsurium an Objekten war typisch für eine ältere, alleinstehende Dame. Alte Möbel, das Geschirr mit veraltetem Dekor. Vermutlich war es aus der Aussteuer oder von den Eltern geerbt. Luise wusste nicht, ob die Frau Klein jemals verheiratet gewesen war. Ein umgestoßener Korb mit Holzscheiten und noch gefaltete und gebügelte Tischwäsche lagen nebeneinander auf dem unebenen Holzboden. Etwas Buntes fiel Luise ins Auge und sie beugte sich vor. Doch sie wurde sogleich enttäuscht. Es war lediglich eine farbenfrohe Stickerei auf einer der Tischdecken. Sie wollte sich gerade wieder abwenden, als das Licht der Laterne von etwas reflektiert wurde. Luise leuchtete erneut in die Richtung. Zwischen den Holzscheiten funkelte etwas. „Alles noch ruhig Herr.“, informierte Johann über die Geschehnisse vor der Tür. „Ich glaube, ich habe hier etwas.“, gab Luise zur Antwort und Johann wandte sich interessiert um. „Was ist es?“ Luise hielt Johann eine kleine, glänzende Flasche aus Messing entgegen. Dieser nahm das kleine Fläschchen, öffnete den Verschluss und schnüffelte. „Schießpulver.“, sagten beide zugleich. Luise leuchtete noch einmal den Raum ab. Hinten sah sie eine Tür, hinter der sich ein Schlafzimmer verbarg. Der Raum schien unauffällig. Ein schmales, einfaches Bett und eine kleine Truhe für Wäsche waren darin. Hier war kein Blut zu sehen, die Tat beschränkte sich demnach auf das Hauptzimmer. Auf der Truhe lag ein gefaltetes Stück Wäsche. Luise nahm es auseinander. „Eine Schürze.“, flüsterte Luise überrascht. Es war eine außergewöhnliche Schürze. Im Gegensatz zum sonst einfarbigen Stoff in weiß oder creme, war sie rot-weiß gestreift und mit guter Litze besetzt. Luise faltete sie wieder und ging zurück in den Hauptraum. „Wir gehen!“, wies Luise an und nach einem prüfenden Blick auf die menschenleere Straße, huschten sie hinaus und direkt in den nächsten Eingang. In der Gaststube herrschte kaum noch Betrieb. Müde wischte Dagmar Becher aus und warf hier und da einen strafenden Blick auf die etwas zu munteren Gäste. „Dort hin!“ Johann folgte Luise an einen Tisch. Sie bedeutete der Wirtin zwei Krüge zu bringen und setzte sich. Der Kutscher zog ihr Mitbringsel aus der Tasche. „Was macht eine alte Frau mit einem Schießpulverfläschchen?“ Er drehte das Objekt in seiner Hand. „Was macht eine alte Frau mit einem Schießpulverfläschchen, auf dem das Wappen der Armee geprägt ist?“, wiederholte Luise die erweiterte Frage. Nach dem Wappen suchend fragte Johann: „Armee?“ „Hier!“ Beide schreckten hoch. Dagmar stellte zwei volle Krüge Bier vor ihnen ab und lächelte erschöpft. „Geht natürlich aufs Haus.“ Und damit verschwand sie wieder, um weitere Becher abzuspülen. „Danke!“, riefen Luise und Johann hinterher. Dann widmete Johann sich wieder der Suche nach dem Wappen. „Ah, ja. Hier.“ Es war klein, kaum zu sehen. Die Punze zeigte den Adler mit Reichsapfel und Zepter. „Glauben Sie, es gehört einem Angehörigen der Dame?“ „Möglich.“, Luise besah sich das Stück. „Es sieht aber zu neu aus. Keine Patina, keine Delle und der Verschluss funktioniert einwandfrei.“ Johann warf einen Blick zu Dagmar. „Sag einmal Dagmar, war die Nachbarin verheiratet?“ „Sie war jung verwitwet. Keine Kinder, keine anderen Verwandten. Vermutlich war das der Grund für ihre Streitereien mit uns. Sie war einsam und verbittert.“ „Danke!“, sagte Johann zur Wirtin und zu Luise: „Dann könnte das Stück dem Mörder gehören.“ Luise nickte. „Möglich, wir sollten uns aber nicht zu früh festlegen.“ „Und was habt Ihr jetzt vor, Herr?“ „Dagmar, eine Frage noch.“, lenkte Luise die Aufmerksamkeit der Frau auf sich. „Gibt es hier einen militärischen Stützpunkt?“ „Westlich der Stadt. Oberst von Scheel hat dort das Kommando.“ Zu Johann sagte Luise: „Dann werden wir morgen Vormittag Oberst von Scheel einen Besuch abstatten.“ „Was wollen Sie? Und wer sind Sie?“, bellte sie der Mann in blauer Uniform an. Das Innenfutter seiner Jacke setzte sich rot ab und um seine Taille war eine Schärpe aus Seide gebunden. Ein Degen mit kunstvoll verziertem Korb hing an seiner Seite und mehrere Abzeichen und Orden wiesen ihn als Offizier aus. Er stand mit dem Rücken zu seinem Schreibtisch, die Hand auf dem Griff seines Säbels abgelegt. Vor den Kopf gestoßen antwortete Luise scheu: „Verzeihen Sie. Oberst von Scheel?“ „Wer will das wissen?“, polterte der Mann erneut und kam auf sie zu. „Ludwig von Leutsch mein Name. Und das hier.“, Luise deutete auf ihren Sohn, der Anstalten machte sich hinter seiner Mutter zu verstecken, „ist mein Neffe Leopold von Leutsch.“ Argwöhnisch beäugte der Oberst die beiden Neuankömmlinge. Er griff mit den Händen an den Saum seiner weißen Weste und zog sie glatt. Dabei schnaufte er: „Und darf ich Fragen, aus welchem Grund sie hier sind? Das hier ist eine Militärbasis.“ „Dann sind wir hier genau richtig.“, konterte Luise und stemmte eine Hand in die Hüfte. „Wir waren erpicht darauf, Sie zu sehen. Uns ist ein Objekt untergekommen, dessen Eigentümer vermutlich Ihnen unterstellt ist.“ „Ist dem so?“ Seine Art und Weise erinnerte Luise immer mehr an einen alten, bissigen Hund. „Leo, wärst du so freundlich?“, bat Luise und zögernd trat der Junge vor. „Bist nicht gerade einer von der mutigen Sorte, was Knabe?“, donnerte es wieder. Luise biss sich auf die Zunge, ihr wären so einige Adjektive zum Charakter des Oberst eingefallen. Und keine davon war schmeichelhaft. „Hier, das habe ich gefunden.“, Leo hielt das Schießpulverfläschchen hin. Grummelnd nahm Oberst von Scheel es in die Hand und inspizierte es. „In der Tat. Wenn Sie es hier in der Gegend gefunden haben, dürfte es einem meiner Füsiliere gehören. Es ist eine neue Ausführung und noch nicht weit verbreitet. Nur wenige Regimenter haben sie bereits. Ein solch nachlässiges Verhalten mit dem Eigentum der Preußischen Armee ist unverzeihlich. Der Soldat, dem das hier gehört,“ er winkte mit der Flasche, „wird zur Rechenschaft gezogen. Ein derart unpatriotisches Verhalten ist unentschuldbar. Ich werde herausfinden, wer der Missetäter ist. Wissen Sie,“ wandte er sich an Luise, „ich lasse es mir nicht nehmen, alle ausgegebenen Materialien zu kontrollieren. Ebenso überprüfe ich alle anderen Ressourcen wie Lebensmittel und Verbrauchsgegenstände, sowie den Sold.“ Der Oberst kratzte sich genüsslich am Kinn. „Ich kann mit Stolz sagen, dass es unter meiner Aufsicht noch nie zu verdächtigen Ausgaben kam.“ „Ich muss Ihnen zustimmen.“, sagte Luise, obwohl sie mit dem Gesagten nicht übereinkam und ihr der Oberst immer unsympathischer wurde. Aber sie schien einen Nerv getroffen zu haben. „Ein solches Fehlverhalten ist eine Schande. Schließlich sind wir noch nicht einmal im Krieg. Seine Kameraden müssen sich auf ihn und seine Ausrüstung verlassen können.“ „Richtig. Richtig.“, murmelte Oberst von Scheel. „Ich werde umgehend den Eigentümer identifizieren und abstrafen.“ Er wollte das Pulverfläschchen bereits wegstecken, als Luise einbrachte: „Wäre es nicht effektiver, ihn einer gewissen Demütigung auszusetzen und den Gegenstand persönlich bei meinem Neffen und mir abholen zu lassen?“ Der Oberst dachte kurz über diesen Vorschlag nach. „Sie könnten recht haben. Ich habe vor einigen Jahren einen Taugenichts von einem Soldaten in ein Kleid gesteckt, nachdem er es mehrfach nicht schaffte in ordentlicher Uniform zu erscheinen. So durfte er nicht nur Exerzieren, sondern auch seinen Kameraden das Essen ausgeben.“ Er lachte, was sich ebenfalls wie ein Bellen anhörte. „Mann! Das war vielleicht ein Anblick. Er war das Gespött des Tages, den er nie vergessen hat. Der Junge kam nie wieder mit mangelhafter Uniform zum Dienst.“ Ekel stieg in Luise auf, doch ihr Einwand fiel auf fruchtbaren Boden. „Nehmen Sie.“ Von Scheel hielt Luise den Behälter hin. Er ging um den Schreibtisch herum, schob ein, im Weg stehendes, silbernes Schreibset beiseite und holte aus einer Ebenholzkiste eine Zigarre heraus. Geübt zündete er sie an und nahm einen tiefen Zug. „Wir logieren noch einige Tage im Schwarzen Stier.“ „Sehr gut. Ich werde den Delinquenten umgehend zu Ihnen schicken.“, versicherte der Oberst und Luise und Leo verabschiedeten sich erleichtert von dem Mann. „Ich mag ihn nicht.“, flüsterte Leo seiner Mutter zu, nachdem sie das letzte Stück zur Berline hinter sich hatten. „Ich auch nicht.“, gab Luise verschmitzt zurück. Johann öffnete die Kutschentür und klappte den Tritt aus. „Wenn es nicht zu aufdringlich ist, Herr. Darf ich fragen, was Ihr erfahren habt?“ „Später Johann. Später.“ Eilig stiegen sie ein. „Ich habe gleich noch einen Termin beim Schneider.“ Johann nickte und sie fuhren zurück zum Wirtshaus. Dagmar fegte gerade den Schankraum als sie eintraten. Zur Mittagszeit herrschte hier Ruhe, die Gäste würden erst am späten Nachmittag kommen. „Hallo Dagmar!“, begrüßte Johann die Frau. Er hatte ihr das ruppige Verhalten vom Vortag verziehen und setzte sich selbstbewusst an einen Tisch, nahe des Tresens. Seinen Hut legte er vor sich. „Hast du etwas zu Trinken für mich?“ „Kommt sofort!“ Mit dem Besen in der Hand drehte sie sich zu Luise und Leo um. „Ich habe auch nochmal mit dem Amtmann gesprochen. Er ist nicht bereit die Aussage ernst zu nehmen.“ Sie deutete mit dem Kopf auf Leo. Luise seufzte: „Leider, er ist verbohrt und störrisch. Auch wenn es nicht richtig ist, aber ein wenig Verständnis habe ich. Vermutlich hat der Mann bisher nichts Schlimmeres als Trunkenheit und andere Bagatellen bearbeiten müssen.“ „Das gibt ihm aber nicht das Recht meine Schwester dem Henker zu überstellen!“, fuhr Dagmar auf. „Natürlich nicht.“, wehrte Luise ab. „Ich wollte nur sagen, dass er kaum mehr Erfahrung in diesen Dingen hat als ich.“ „Und doch hört Ihr Euch wenigstens an, was die Leute zu sagen haben.“ Dagmar schnaubte, hielt dann aber inne. „Apropos! Bevor ich’s vergesse. Mir ist etwas eingefallen.“ Luise, die gerade ihren Sohn nach oben schickte, um einige Aufgaben aus seinen Büchern zu erledigen, blickte auf. „Vor einigen Tagen, da habe ich gehört, wie auf der anderen Seite der Wand geschrien wurde. Ich konnte es hören, weil es so wie jetzt, sehr ruhig war.“ „Konnten Sie verstehen, was gesagt wurde?“, fragte Luise interessiert. „Nein, leider nicht. Aber es waren mindestens drei Stimmen. Und sie kreischten und brüllten. Es war sehr heftig.“, ereiferte sich Dagmar zu sagen. Luise dachte nach. „Wissen Sie, wann das war?“ Dagmar grübelte. „Dass muss vorgestern gewesen sein. So am frühen Nachmittag, des 05. Mai.“ „Hm.“, machte Luise und verfiel in nachdenkliches Schweigen. „Meinst du noch jemand anders hat das mitbekommen?“, mischte Johann sich an Dagmar gewandt ein. „Vielleicht hat der Schneider auf der anderen Seite jemanden gehen sehen. Er kann von seinem Arbeitsplatz auf die Straße schauen. Oder der Bäcker daneben. Um die Zeit hat Günther nicht viel zu tun und raucht gerne mal ein Pfeifchen mit dem Nachbarn auf der Straße. Die Frau vom Paul erlaubt nicht, dass er im Haus raucht.“, ein Blick auf die Uhr versetzte Dagmar in Eile. „Ach herrje, ich muss noch den Braten für nachher in den Ofen kriegen. Meine Schwester ist normalerweise für all das zuständig.“ Luise und Johann schauten ihr nach, wie sie den Schmutz vom Boden entsorgte und dann in die Küche wuselte. „Herr, ich vermute Ihr werdet die Gelegenheit beim Schneider nutzen, um ihn zu dem Thema zu befragen?“ Luise grinste: „Es wäre nachlässig, es nicht zu tun.“ „Denkt Ihr nicht, Leo würde sich über ein Küchlein freuen?“ Der Schalk in seinem Nacken, war unübersehbar. „Ich denke, Leo wäre sehr erfreut, wenn er nach dem eifrigen Lernen eine Belohnung bekäme.“, Luise konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. Beide nickten übereinkommend und Luise hörte im Rausgehen: „Dagmar! Ich bin mal eben draußen. Denkst du an mein Bier?“ Luise besah sich die gegenüberliegende Straßenseite. Wie Dagmar beschrieben hatte lag direkt gegenüber der Schneider, bei dem Luise gleich einen Termin hatte. Daneben war eine Bäckerei, deren Fenster nur aus einer aufklappbaren Lade bestand. Neben sich bemerkte Luise den Kutscher. „Mal schauen, ob der Bäcker in Plauderlaune ist.“, sagte er und setzte sich in Bewegung. „Und der Schneider.“, kommentierte Luise und überquerte ebenfalls die Straße. Ein Glöckchen klingelte, als Luise das Geschäft betrat. Der Schneider kam aus einem Hinterzimmer, einen Ballen Stoff im Arm. Er trug einen schlichten Rock und auch seine Perücke, war die eines einfachen, arbeitenden Mannes. Mit rosigen Wangen und einer ansteckend, guten Laune begrüßte er Luise: „Guten Tag Herr von Leutsch! Ich war gerade im Stofflager, um eine passende Auswahl für Sie zusammenzustellen.“ „Wenn Sie noch nicht fertig sind kann ich noch warten. Ich logiere gegenüber im Gasthaus und könnte in einigen Minuten wiederkommen.“, bot Luise an. Mit einem Schnauben hievte der Schneider den Ballen auf einen ansehnlichen Stapel. „Nein, nein. Nicht nötig. Das war der letzte. Sie sagten vor einigen Tagen, dass sie Kleidung für diverse Gelegenheiten bräuchten.“ „Richtig. Mein Neffe und ich sind auf Bildungsreise. Es war eigentlich nicht geplant, dass ich ihn begleite, daher hatte ich im Vorfeld keine Gelegenheit mir eine passende Garderobe anfertigen zu lassen.“ Luise folgte den stummen Anweisungen des Mannes, zog seine Jacke aus und stellte sich in die Mitte des Raumes. „Dann gehe ich recht in der Annahme, dass Ihnen vorwiegend praktische Kleidung fehlt?“ „Ich benötige für mich praktische Alltagskleidung, zwei Garnituren für besondere Anlässe und eine, um meine Identität zu wahren.“ Der Schneider schwirrte mit einem Maßband routiniert um Luise herum. „Jaja.“, sagte er. „Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein. Wobei mir einmal ein feiner Herr begegnete, der zwar in seinem äußeren Erscheinungsbild inkognito reiste, dass allerdings in einer Kolonne aus drei Kutschen, wegen seiner ganzen Angestellten. Er selbst natürlich in der prächtigsten.“ Er schüttelte konsterniert den Kopf. „So frei jedweder Intelligenz.“, kommentierte Luise und dachte dankbar an die schlichte Kutsche, mit der sie unterwegs waren. Der Schneider hielt inne und überrascht fragte er: „Darf ich fragen, weshalb Ihre Kleidung nachträglich abgeändert wurde? Es sieht nicht nach einer Schneiderarbeit aus.“ Luise, die mit dieser Frage bereits gerechnet hatte schaute den Mann an und sagte mit rollenden Augen: „Fragen Sie besser nicht.“ Der Mann verstand und fuhr mit dem Maßnehmen fort. „Wir sind fertig mit dem Ausmessen. Darf ich fragen, welche Stoffe Sie wünschen? Wir haben eine großzügige Auswahl, auch an Borten und Knöpfen.“ Er lotste Luise zu dem Stapel an Stoffballen und zog bereits den ersten heraus. Ein blutroter, dicht gewebter Stoff mit eingewebtem Muster aus Silberfäden. Ein wunderbarer Stoff, wie Luise fand. Doch sie sagte: „Ja. Eigentlich ein schönes Stück. Aber nach dem Vorfall gegenüber, ist mir nicht sonderlich nach Stoffen in der Farbe von Blut.“ „Haben Sie gesehen was passiert ist?“, fragte der Mann neugierig. Luise hielt den Faden: „Ich hatte das fragwürdige Glück den besudelten Innenraum zu sehen. Es war kein schöner Anblick. Der Lebenssaft der Dame war überall verteilt.“ „Ja, hm. Ich habe gehört die alte Frau Klein sei übel zugerichtet worden. Die Wirtin muss ganz schön in Rage gewesen sein. Bei all den Drohungen, die sie sich gegen den Kopf geworfen haben, wundert es mich nicht. Die Klein hat der Keller ganz schön das Geschäft vermiest. Das würde mir auch nicht schmecken.“ Der Schneider schüttelte betrübt den Kopf. „Trotzdem hätte ich Doris das nicht zugetraut. Meine Tochter war auch fassungslos, als sie erfuhr, dass Doris es getan hat.“ „Eine schlimme Sache.“, es gefiel Luise nicht, dass Doris bereits vor dem Verfahren für Schuldig erklärt wurde. „Die Frau Klein soll sich öfters gestritten haben. Nicht nur mit der Wirtin. Vorgestern habe ich selbst gehört, wie laut und ausfallend Frau Klein werden konnte.“, wagte Luise sich vor. „Ja, die alte Klein war nicht zimperlich. Mit Sicherheit gab es einige Menschen, mit denen sie es sich verscherzt hatte.“ Er hielt Luise einen azurblauen Stoff hin. „Der ist schön.“, bestätigte Luise den Vorschlag und der Ballen landete auf einem separaten Tisch. Sie dachte schon, der Schneider hätte damit alles zu dem Thema gesagt, als er sie überraschte. „Ich glaub ich weiß von welchem Streit sie sprechen. Das war so um die Mittagszeit. Vielleicht auch etwas später. Ich saß hier am Tisch.“ Der Tisch, den der Schneider meinte, erlaubte einen perfekten Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber ich habe den Aufruhr am Ende des Streits mitbekommen. Vermutlich war es der letzte Streit in ihrem Leben.“ Er hielt Luise eine Vielfalt an Borten hin, passend zu dem azurblauen Tuch. „Die.“, sagte Luise und der Schneider legte eine Borte zu dem Stoff. „Da waren die Sybilla und ihre Mutter. Sie waren heftig am Streiten. Die alte Klein stand im Türrahmen und hat irgendwas gekeift. War aber nichts davon zu verstehen. Dann drückte sich ein junger Mann an der Klein vorbei und trieb die Streithähne auseinander. Er hat auf die beiden Holsten-Frauen eingeredet. Als die Klein weiter zeterte, hat er sie angeblafft. Dann war Ruhe und er ging mit Sybilla fort. Gerda, die Mutter, schien damit einverstanden.“, beendete er seine Erzählung. In der Zwischenzeit war der Stapel an unterschiedlich koloriertem Tuch gewachsen und auch die Auswahl an passendem Zierrat war dementsprechend groß. „Das klingt ja nach einem ganz schönen Trubel.“ Luise würde sich die Namen der Protagonisten merken und später Erkundigungen zu ihnen einholen. „Das war es, Herr.“ Der Schneider betrachtete die Ballen. „Ich denke, dann haben wir alles. Es sei denn, Sie haben noch einen Wunsch.“ „Tatsächlich benötige ich noch eine neue Garderobe für meinen Neffen. Das Dienstmädchen hat einige Stücke seiner Kleidung vergessen einzupacken, was wir erst einige Tage später bemerkten.“ Der Schneider nickte. „Könnten Sie ihn direkt rüberschicken?“ „Sobald ich hier fertig bin.“, bestätigte Luise. „Außerdem benötige ich noch ein schlichtes Hemd, Hose, Strümpfe und dergleichen für einen einfachen Arbeiter.“ Irritiert schaute der Schneider auf. „Mein Kutscher bat mich darum.“, wehrte Luise ab. „Dann benötigen Sie dafür eine gesonderte Quittung?“, erkundigte er sich. „Das geht von seinem Lohn ab, daher kann es auf dieselbe Rechnung.“ Der Schneider notierte sich die einzelnen Positionen der Bestellung. „Welche Maße soll die Arbeitskleidung haben?“ „Sein Junge hat etwa meine Größe.“, log Luise. „Gut.“ Er überflog die Bestellung und überprüfte, ob er alles berücksichtigt hatte. Dann sagte er: „Das wird mindestens eine Woche dauern. Vielleicht ein oder zwei Tage mehr, je nachdem, was für Ihren Neffen noch dazukommt.“ „Damit habe ich gerechnet.“ „Ich erreiche Sie im Schwarzen Stier?“ „Korrekt. Sobald Sie die Rechnung haben, übersenden Sie sie mir.“ Luise zog die Jacke wieder an und verließ mit einer Verabschiedung das Geschäft. Sie warf einen Blick in die Bäckerei, doch Johann war nicht zu sehen. Daher steuerte Luise den Schwarzen Stier an. Sie sah sich im Gastraum um. Hier war Johann nicht. Luise nahm an, dass er einer anderen Spur nachging. Auf jeden Fall würde er sie informieren, sobald er zurück war. Die Dielen der Treppe ächzten und stöhnten als Luise hinauf zu dem Zimmer ging, dass sie und ihr Sohn derzeit bewohnten. „Oh.“, machte Luise überrascht, als sie nicht nur Leo in dem Zimmer vorfand, sondern auch Johann. Sie beide machten sich gerade über zwei kleine Küchlein her, Leo an seinem Schreibtisch sitzend und Johann an einer Kommode lehnend. „Verzeiht Herr!“, mit einem Mal stand er kerzengrade da. „Ich wollte nicht respektlos sein. Ich…“, versuchte er sich zu verteidigen, doch ihm fiel keine passende Erklärung ein. Natürlich war es respektlos sich als Kutscher ungefragt in den Räumlichkeiten des Arbeitgebers aufzuhalten. Auch wenn der junge Herr anwesend war. Doch Luise wusste, dass Johann und Karl ein fast schon freundschaftliches Verhältnis zueinander hatten und Luise benahm sich sicherlich auch nicht wie eine typische Aristokratin, beziehungsweise aus Johanns Sicht, typischen Aristokraten, der die Standesunterschiede mit der Feinwaage maß. „Lass mir das nur nicht zur Gewohnheit werden!“, mahnte Luise ernst und sah Johann bereits schlucken. Dann schmunzelte sie leicht und Johann verstand. „Leo, wenn du aufgegessen hast, geh bitte rüber zum Schneider und lass Maß nehmen.“ Leo, der die Szenerie stumm beobachtet hatte, stopfte sich den letzten Rest seines Kuchens in den Mund und beeilte sich nach draußen zu kommen. „Deine Rechenaufgaben wirst du weiterbearbeiten, sobald du wieder da bist.“, rief sie ihm die Treppe hinterher. „Hier Herr!“, Johann hielt Luise einen Kuchen entgegen. „Ich war so frei Euch ebenfalls einen zu kaufen. Meinen habe ich selbstverständlich von meinem eigenen Geld bezahlt.“ „Daran hatte ich gar nicht gedacht, sonst hätte ich Sie gleich drei kaufen lassen.“ Luise roch an dem Küchlein. Er versprach Rosinen, Nüsse und Zucker. „Hast du irgendetwas in Erfahrung bringen können?“ „Ich habe sowohl den Bäcker als auch den Nachbarn sprechen können. Der Nachbar wusste nichts zu erzählen. Aber der Bäcker meinte, er hätte gehört, wie sich mehrere Leute stritten. Ein Mädchen und eine Frau mit Nachnamen Holsten. Das Mädchen arbeitet wohl für die Kaufmannsleute Roth hier im Ort, als Dienstmädchen. Außerdem noch ein Mann in Uniform. Der Farbe der Aufschläge nach wohl ein Infanterist. Das würde zu unserem Beweisstück passen. Die Frauen Holsten, Mutter und Tochter, haben sich lauthals gezankt. Die Mutter warf ihrer Tochter vor, sich wie eine Dirne zu benehmen.“ „Nicht gerade ein Kompliment.“, warf Luise ein und steckte sich ein abgebrochenes Stück vom Kuchen in den Mund. Johann fuhr fort: „Stimmt. Die Tote hat wohl die ganze Zeit gegen die Mutter und den Mann gewettert. Sie hat einige Schimpfwörter benutzt, die der Bäcker nicht zu wiederholen wagte. Der Mann habe letztlich die Frauen beruhigt und sei mit dem Mädchen dann davongegangen.“ „Das deckt sich mit der Aussage, die ich erhalten habe.“ „Kam denn dabei noch mehr herum?“, fragte Johann interessiert. „Der Infanterist hat die Klein ziemlich grob zum Schweigen gebracht, als sie nicht aufhörte zu Keifen.“ „Hat er sie etwa grob angefasst?“ Luise schüttelte den Kopf: „Nein, nur verbal.“ Es wurde still im Raum und Luise wurde bewusst, dass sie mit Johann allein auf ihrem Zimmer war und ihr wurde unbehaglich zumute. „Lassen Sie uns hinuntergehen.“ Luise verließ demonstrativ das Zimmer und gemeinsam gingen sie zurück in den Schankraum. „Was habt Ihr als nächstes vor, wenn ich fragen darf, Herr?“ „Es wäre sinnvoll herauszufinden, was die beiden Frauen zu sagen haben. Vor allem Sybilla. Sie scheint mit dem Soldaten gut bekannt zu sein.“ Ein Gedanke kam Johann. „Was, wenn das alles gar nichts mit dem Mord zu tun hat? Ich meine, wenn der Infanterist vor der Tat da war und die Klein danach noch lebte, kann er das Fläschchen dort verloren haben, ohne der Täter zu sein.“ „Das ist möglich. Aber derzeit ist es unsere einzige Spur.“ Luise reckte den Hals. Sie suchte Dagmar. „Dagmar!“, rief sie daher. Keine Antwort. „Sie wird bestimmt im Keller sein.“, meinte Johann und setzte sich auf einen nahegelegenen Hocker. „Was gibt’s denn?“, kam es dumpf und ächzend, wie von Johann vermutet, aus dem Keller. „Warte!“, sagte Johann, sprang von seinem Stuhl auf und ging hinter den Tresen. Im vorderen Bereich der Küche stand die Bodenluke offen und mit vollbepackten Armen stieg Dagmar eine alte Holzleiter hinauf. „Ich nehm dir das ab. Ist da noch mehr?“ „Danke, Johann.“ Sie reichte ihm einen Korb mit Wurzelgemüse hoch. „Hier hab ich noch mehr.“ Eine Kiste gepökeltes Fleisch, Mehl und Kräuter folgten, sowie ein Sack Kartoffeln. Dagmar klopfte sich den Staub von der Kleidung und wischte sich die Hände in einem Tuch ab. „Bist ein Guter!“, lobte sie Johann. „Da haben Sie einen feinen Kutscher.“ „Sieht so aus.“, gab Luise zurück. „Sagen Sie Dagmar, Sie kennen doch sicherlich die Familie Roth hier am Ort?“ „Na aber sicher!“, rief sie aus. „Die haben hier viele Jobs geschaffen. Sind sehr beliebt in der Stadt.“ „Ich habe gehört es handelt sich um Kaufleute. Handeln sie mit etwas Speziellem oder einer breiten Auswahl an Waren?“, Luise setzte sich auf den Hocker, den Johann freigemacht hatte. Zusammen mit Johann wusch Dagmar das Gemüse und rief aus der Küche: „Sie handeln vorwiegend mit Stoffen. Außerdem mit Kurzwaren wie Borten, Garn, Knöpfen und dergleichen. Ihr Haus steht im Westen der Stadt, an der Hauptstraße. Wobei es eher ein Anwesen ist. Die Roths haben in den letzten Jahren gut verdient und mehrfach angebaut.“ Luise wartete, bis Johann in der Küche fertig war. „Johann, könnten Sie einen Termin mit der Familie Roth vereinbaren? Sagen Sie, ich wäre ein Einkäufer und würde mich für ihre Waren interessieren.“ „Ich werde mich sofort darum kümmern.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)