50 Jahre später von Futuhiro ================================================================================ Kapitel 1: ----------- ‚The Troubles‘, dachte Aeryn verständnislos, während sie den Blick ein letztes Mal über die Lichter von Kilkenny schweifen ließ. ‚Die Wirren‘, so nannte man die aktuelle Lage in Irland und Nordirland. Aeryn merkte nichts davon. In Nordirland herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände, sagte man. Die Demonstrationen und Protestmärsche der katholischen Nationalisten hatten wohl schon über tausend Todesopfer und zehntausend Verletzte gefordert. Dieser Konflikt tobte dort bereits seit 5 Jahren. Und ihr Meister ging davon aus, dass er noch etliche Jahre weitergehen würde. Hier in Kilkenny spürte man nichts von irgendwelchen Wirren. Die Stadt lag tief im Landesinneren. Nordirland schien weit weg. Kilkenny war ein mittelalterlicher, friedlicher Landstrich, geprägt von alten Klöstern und Töpfer-Handwerk. Aeryn konnte sich gar nicht vorstellen, dass hier jemals Krieg ausbrechen könnte. Überhaupt konnte sie sich Krieg nicht vorstellen. Sie war ihr Leben lang zu Frieden und Harmonie erzogen worden. „Müssen wir denn wirklich fort?“, versuchte sie ihren Meister ein letztes Mal umzustimmen und warf sich ihr Bündel über die Schulter. „Das müssen wir, Kind. Es geht nicht anders. Wenn ‚die Wirren‘ auf ganz Irland übergreifen wie ein Lauffeuer, dann wäre es weise, nicht mehr hier zu sein.“ Das Mädchen verengte leicht die Augen. Sie war schon 13 Jahre alt und hasste es, von ihrem Meister als Kind bezeichnet zu werden. „Aber wer sagt denn, dass es dazu kommen wird? Die ‚Troubles‘ toben dort schon seit fünf Jahren. Wieso sollten sie uns jetzt noch erreichen?“ „Ein großer Wahrsager unseres Ordens hat es so vorausgesehen“, meinte der alte Druide nur knapp angebunden, und ging forschen Schrittes voraus. Er war in Eile, als stünde Kilkenny bereits in Flammen. „Aber …“ „Willst du etwa die Visionen eines unserer angesehensten Meister anzweifeln?“ „Nein. Aber müssen wir denn wirklich SO WEIT weg? Wenn wir ein Schiff besteigen und in die Neue Welt segeln, sehen wir unsere Heimat wohl nie wieder!“ Keine Antwort. „Ich bin hier verwurzelt. Wir alle sind hier verwurzelt. All unsere schamanischen Praktiken sind untrennbar mit der Geschichte dieses uralten Landes verbunden! Wir beziehen unsere Kräfte aus diesen Landen.“ Wieder keine Antwort. „Meister Kilian!“ „Du bist noch zu jung, um das zu verstehen“, winkte der Meister nur mürrisch ab. Er war noch nie sehr geduldig gewesen, und er hatte jetzt sichtlich keine Lust, mit seiner Novizin über längst Beschlossenes zu verhandeln. Sie würden Irland verlassen, ohne Wenn und Aber. Sie mussten ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in Sicherheit bringen. Irland war zu gefährlich für den keltischen Schamanismus geworden. Er war nicht der einzige Druide, der so dachte. Einige andere Meister waren schon vor ihm aufgebrochen, und nicht wenige äußerten bereits ähnliche Pläne. Überhaupt waren derzeit viele Iren mit der Umsiedlung in die Neue Welt befasst. Sie blieb stehen und verschränkte die Arme. „Und wie steht es um meine Prüfung nächstes Jahr!? Ich sollte in den Stand einer Druidin erhoben werden, wenn ich sie bestehe! Soll sie nun einfach ausfallen?“ Meister Kilian hielt ebenfalls an und schaute seufzend zu ihr zurück. „Und warum müssen wir mitten in der Nacht verschwinden, als befänden wir uns auf der Flucht!?“, diskutierte Aeryn uneinsichtig weiter. „Weil du deine Prüfung noch heute Nacht ablegen wirst“, gab der alte Mann mild zurück. Die Milde ließ er bewusst einfließen, um die aufgeheizte Stimmung nicht noch weiter anzufachen, und um seine Novizin zu beschwichtigen. Er freute sich einen Moment lang über ihr dummes Gesicht. Damit hatte sie nicht gerechnet. Eigentlich hatte es ja auch eine Überraschung sein sollen. Aber seine halbwegs überstürzten Reisepläne machten da vieles zunichte. „Nun komm schon, wenn wir noch pünktlich sein wollen. Zum großen Hafen von Duncannon brauchen wir mit der Kutsche fast 5 Stunden, in der Dunkelheit wahrscheinlich noch länger. Und das Schiff legt im Morgengrauen ab.“ Aeryn strich, geplagt von akutem Lampenfieber, ihr dunkelgrünes, keltisches Kleid glatt, und folgte ihm dann ohne weitere Widerworte. Die Prüfung! Fast ein Jahr früher als gedacht. Hatte überhaupt jemals ein Druiden-Schüler die Prüfung so jung absolviert? War sie denn schon so weit? Sie ärgerte sich, all die Jahre nicht wesentlich fleißiger gelernt zu haben. Sie lebte bei Meister Kilian, seit sie 5 Jahre alt war. Acht lange Jahre hatte er sie in all den schamanischen Künsten und der Lebensweise der Druiden unterwiesen. Aber war das genug? „Welche Aufgabe wollen wir ihr geben?“ „Ihr müsst bedenken, dass sie die Prüfung fast ein Jahr zu früh ablegt. Es darf nichts zu schweres sein.“ „Zaubertränke?“ „Das dauert zu lange. Wir müssen unser Schiff rechtzeitig erreichen, sonst läuft es ohne uns aus“, gab Meister Kilian zurück. Aeryn saß am Rand und verfolgte nervös die Debatte. Sie hatten Duncannon in unnötiger Eile, aber ohne Zwischenfälle, erreicht. Langsam fragte sich Aeryn wirklich, was Meister Kilian so in Panik versetzte. Im Wald nahe des Hafens waren sie auf zwei weitere Druiden getroffen: ein Mann mit Stirnglatze und langem Rauschebart, und einer reifen Frau im weißen Kleid, mit einem Blumenkranz im Haar. Keiner der beiden hatte sich ihr namentlich vorgestellt. Zusammen mit Meister Kilian würden die zwei ihre Prüfung begutachten. Die Frau wandte sich mit einem gütigen Lächeln an Aeryn. „Liebes, in welcher Disziplin würdest du denn gern geprüft werden? Was kannst du besonders gut? Nimm aber zur Kenntnis, dass das Thema deiner Prüfung über dein ganzes, weiteres Wirken entscheiden wird, denn darin wirst du zum Meister erklärt." „Hm~ … Geister anzurufen würde mir gut gefallen“, entschied Aeryn. „Das ist aber schwer.“ „Naja, es ist ja auch eine Prüfung, nicht wahr?“, gab sie zögerlich zurück. „Sie wollen doch testen, wie gut ich bin.“ „Nagut“, entschied der fremde Mann mit dem Vollbart. „Dann lade einen Geist ein, in einen Talisman zu fahren, und euch auf See zu schützen. Das könnt ihr während eurer Überfahrt wahrlich brauchen.“ Aeryn überlegte kurz, wie sie das anstellen könnte, und welche Geister dafür am nützlichsten waren, dann nickte sie. „Ich werde einen Wassergeist anrufen. Dafür brauche ich aber eine Wasserschüssel.“ Die Druidin mit dem Blumenkranz nickte. „Ihr habt wohl in eurem Reisegepäck keine? Du kannst eine von mir haben.“ Aeryn schaute abschätzend zum Mond hinauf. Er stand derzeit im Sternzeichen Waage. Das war ein Sternzeichen des Elementes Luft. Nicht ideal, um einen Wassergeist anzurufen, aber es würde gehen. Solange er nicht in den Feuer-Sternzeichen Widder, Löwe oder Schütze stand, war es kein Hindernis. Die nähe zum Meer würde das wieder ausgleichen. Das Mädchen ließ nochmal den Blick über die Kulisse wandern, um sicherzugehen, dass keine unliebsamen Überraschungen ihr Ritual stören würden. Neben ihr brannte ein Lagerfeuer, das auf der kleinen Waldlichtung für etwas Licht sorgte, denn der Mond allein war nicht hell genug. Aeryn hatte sich die Lichtung selbst ausgesucht. Es war der energetischste Ort, den sie auf die Schnelle hatten finden können. Schade, dass es nicht hell genug war, um die bunten Herbstfarben des Waldes zu sehen. Sie mussten gerade in voller Pracht leuchten. Sie hatte einige Zweige in eine halbwegs ansehnliche Form geflochten, damit man das Konstrukt guten Gewissens als Talisman verwenden konnte, und kniete damit nun vor der großen, randvoll gefüllten Wasserschüssel. In der sollte ein Wassergeist erscheinen, wenn sie ihn rief, damit sie mit ihm über eine Zeit des Schutzes verhandeln konnte. Ein Schutzgeist konnte eine raue See besänftigen und im schlimmsten Fall vielleicht sogar verhindern, dass ihr Schiff unterging. Als Aeryn die uralten, gälischen Zauberformeln anhob, kam Wind auf. Auf der Lichtung waren sie davor recht sicher, aber er griff in die Baumkronen ringsum und schüttelte diese kräftig durch. Hinter den Meistern waren Stimmen zu hören. Da stießen weitere Menschen zu ihnen. Zufällige Passanten wahrscheinlich. Die fremde Druidin stand auf und ging hin, um mit ihnen zu sprechen, damit Aeryns Ritual nicht gestört wurde. „Heiden!“, rief irgendwo jemand. „Haltet sie auf! Nieder mit ihnen!“ Unter den Passanten entbrannte ein Handgemenge. Die Druidin, die mit ihnen gesprochen hatte, schrie schmerzerfüllt. Ihr war eindeutig etwas angetan worden. Die anderen beiden Meister sprangen erschrocken auf. Aeryn rezitierte fieberhaft weiter. Sie war mit der Beschwörung schon zu weit fortgeschritten, um sie jetzt noch gefahrlos abbrechen zu können. Sie musste weitermachen. Und der Wind nahm immer weiter zu, bis er sehr bald zu einem tosenden Heulen angewachsen war. Die zwei Meister warfen beunruhigte Blicke in die Runde. „Der Sturm! Aeryn, hör auf“, bat Meister Kilian. „Das bin ich nicht!“, stellte sie klar. Noch ehe sie weiter debattieren konnten, was hier wohl los war, erschien in Aeryns Wasserschüssel ein kaltblütiges, goldenes Augenpaar, das nichts Menschliches an sich hatte. Irgendetwas war ihrem Ruf gefolgt und erschienen. Sie erschauderte. Was immer das war, ein Schutzgeist war es definitiv nicht. Wohl nicht mal eine Kreatur des Wassers. Und dann brach die Hölle erst so richtig los. Die gewaltbereiten, wahrscheinlich kirchlichen Passanten waren bewaffnet. Ein Pfeil pfiff durch die Luft, pinnte geräuschvoll in Meister Kilians Brustkorb und riss ihn von den Füßen. Im gleichen Moment fuhr das Wesen als gestaltlose Macht aus dem Wasser, wobei das Wasser weiträumig in der Umgebung verspritzt wurde, und mischte sich unter den Wind. Der Orkan wurde nochmals stärker und wirbelte die Umgebung durcheinander. Der Sturm nahm jede Menge trockenes Herbstlauf auf, zog es wirbelnd durch das Lagerfeuer, wo es in Flammen aufging, und trug es in die Bäume ringsum. Schon hatten etliche Bäume um die Lichtung Feuer gefangen und brannten lichterloh. Dass hier übernatürliche Mächte am Werk waren, merkte man schon allein an der rasenden Geschwindigkeit, mit der das Inferno sich ausbreitete. „Halte ein!“, schrie Aeryn herrisch in den Wind, und zu dem Wesen, das mit diesem um die Wette tobte. „Dich habe ich nicht gerufen! Wer bist du?“ Als ob das eine Antwort wäre, zeigte sich kurz eine brüllende, geradezu dämonische Fratze in der Feuerwand, die sofort wieder verschwand. Der bärtige Meister packte Aeryn um die Taille und zog sie weg. „Wir müssen verschwinden!“, rief er über das Getöse hinweg. „Nein! Noch nicht!“ Das Mädchen zappelte und wehrte sich. „Das Ritual muss beendet werden!“ „Das schaffst du nicht mehr! Du wirst sterben!“ Wieder pfiffen ihnen Pfeile um die Ohren, aber diesmal trafen sie zum Glück nicht. Erschrocken zog Aeryn den Kopf ein. „Ich muss diesen Geist dahin zurückschicken, wo er hergekommen ist, sonst …“ „Das ist kein Geist! Komm jetzt!“ Der fremde Meister hob sie hoch, warf sie sich regelrecht über die Schulter und rannte. „Du musst dein Schiff erreichen! Wenn die Leute dich nicht töten, dann tut es das Feuer!“ Das Mädchen gab den Widerstand auf, als sie sah, wie groß der Mob tatsächlich war, der sie verfolgte. Soweit sie die Anzahl der Fackeln vom ohnehin brennenden Wald unterscheiden konnte, mussten es dutzende sein. Wo kamen all diese Menschen her? Und was hatten sie gegen Druiden? „Lass mich runter! Wenn ich selber laufe, sind wir schneller!“, entschied Aeryn und strampelte sich frei. Sie und der fremde Meister rannten ein ganzes Stück weit Hand in Hand. Sie rannten weit. Aeryns Lungen brannten wie nach einem Marathon, und sie war bei Gott nicht unsportlich. Dann verloren sich die beiden plötzlich in der Dunkelheit des Baumbestandes. Aeryn war unvermittelt allein. Panisch und getrieben von dem Pulk rannte Aeryn deshalb allein weiter. Immer in die Richtung, die sie vom tobenden Waldbrand wegbrachte. Unvermutet brach sie aus dem Unterholz und hatte das Meer vor sich. Über dem Wasser wurde der Himmel bereits dämmrig hellgrau. Ein neuer Morgen. Der Hafen war etwas weiter links zu finden. Es lag nur ein einziges, großes Schiff an den Docks. Aus dem Schornstein quoll bereits dicker, schwarzer Rauch. Die Auswahl, welches ihr Schiff in die Neue Welt war, war also denkbar gering. Aeryn unternahm eine letzte Kraftanstrengung und rannte. Die Taue waren schon gelöst und die Planke wurde bereits eingezogen, als sie das Dock erreichte, aber die Matrosen waren so freundlich, auf sie zu warten und ihr helfend die Hände über den größer werdenden Spalt zwischen Schiff und Steg entgegenzustrecken. Sie zogen Aeryn an Bord. An Deck brach das Mädchen erschöpft zusammen und wischte sich mit einem Ärmel über die verrußten Wangen. „Meine Güte, Kind, was ist da im Wald los?“, wollte einer der Matrosen wissen und deutete auf das sich entfernende Festland hinaus. Aeryn kämpfte sich wieder auf die Füße und schaute zurück. Vom Deck aus sah sie, dass bereits der halbe Wald in Flammen stand und sich das Feuer in sichtbarer Geschwindigkeit weiter ausbreitete. Sie schlang fröstelnd die Arme um sich. Sie hatte nicht ein einziges Gepäckstück retten können. Sie war nur mit ihrem nackten Leben und den Kleidern, die sie am Leibe trug, an Bord gekommen. Sie hatte gar nichts mehr. Das würde eine harte Überfahrt werden. Hosted by Animexx e.V. 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