O genki desu ka? von QueenLuna ================================================================================ Kapitel 2: 2 ------------ Kapitel 2 Mitte Februar Mit rasendem Herzen schreckte ich hoch. Im ersten Moment wusste ich nicht, was mich geweckt hatte. Das Trommeln des Regens hallte unnatürlich laut durch den Raum, der Wind drängte gegen die Scheiben. Desorientiert starrte ich in die Dunkelheit, versuchte meine Gedanken zu ordnen, als es klingelte. Erneut schoss mein Puls in die Höhe. Ein rascher Blick zum Wecker verriet mir, dass es mitten in der Nacht war. Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, einfach liegen zu bleiben und darauf zu hoffen, dass wer auch immer vor meiner Tür stand, wieder gehen würde, wenn ich nicht reagierte. Gleichzeitig ergriff mich eine innere Unruhe, die mich schlussendlich doch aus dem Bett trieb. Ein vorwurfsvolles Miauen kommentierte mein Aufstehen, aber gerade konnte ich mich nicht darum kümmern, dass meine Katzendame ebenfalls um ihren Schönheitsschlaf gebracht wurde und sich beleidigt ins benachbarte Arbeitszimmer verzog. Ich bekam nicht allzu oft Besuch und ganz sicher nicht unangekündigt des Nachts und bei diesem Wetter. Schlaftrunken wankte ich durch meine Wohnung, scheute mich davor, Licht zu machen, denn das hätte ich nach dieser Weckaktion definitiv nicht auch noch ertragen. Das diffuse Licht von draußen musste ausreichen um schadenfrei, ohne gestoßene Zehen, bis zur Tür zu gelangen. Umso ekliger war das Gefühl, als ich sie öffnete und mir der grelle Schein der Hausbeleuchtung unvermittelt in die Augen stach. Geblendet kniff ich die Lider zusammen und musste mich kurz abwenden. Es dauerte einige Sekunden bis ich wieder aufblicken konnte. Und hätte die Helligkeit nicht schon den restlichen Schlaf aus meinem übernächtigten Hirn getrieben, spätestens beim Anblick der Person, die an der gegenüberliegenden Wand lehnte, wäre ich hellwach gewesen. „Toshiya!“ Wie unter einem Schlag zuckte er zusammen. Erschrocken sah ich ihn an. Allerdings nicht erschrocken, weil er plötzlich hier aufgetaucht war, sondern vielmehr wegen der Art wie er verloren in meinem Treppenhaus stand – die kinnlangen, schwarzen Haare hingen ihm nass ins Gesicht, selbst das dunkle Hemd klebte an seinem Körper. Er wirkte kleiner als sonst, in sich zusammengesunken und mied meinen Blick. So kannte ich ihn gar nicht. Ein harter Klumpen bildete sich in meinem Magen, während ich ihn sekundenlang nur wie eine Erscheinung anstarrte. Seit seinem Interview mit Joe vor fast zwei Wochen hatte ich ihm einige Male geschrieben. Zugegeben, eigentlich alle zwei Tage, denn im Moment sahen wir uns kaum, anders als noch im Januar. Inzwischen war das erste der Talk-Events deutlich näher gerückt, übermorgen durfte ich mich mit Kyo in den Zug nach Yokohama setzen, um dort gemeinsam mit ihm die Konzertfilm- und Interview-Reihe zu eröffnen. Ich freute mich darauf, endlich Abwechslung. Außerdem hatte Kyo an diesem Tag Geburtstag und ich hoffte insgeheim darauf, eventuell anschließend mit ihm noch irgendwo anstoßen zu können, auch wenn er in den letzten Jahren ein ziemlicher Geburtstagsmuffel geworden war. Aber vielleicht könnten wir auch einfach nur auf unser Wiedersehen anstoßen, schließlich hatten wir in den letzten Wochen kaum gearbeitet, da Kaoru den endgültigen Feinschliff zur neuen Single am liebsten alleine vollendete. Und das hieß eben jede Menge freie Tage für uns. Ein Grund mehr für mich nun öfter zum Handy zu greifen. Es war wie ein innerer Zwang, aber ich wollte einfach wissen, wie es Toshiya ging. Ich kam mir zwar ein bisschen blöd dabei vor, so oft nachzufragen, doch er beschwerte sich nie, sondern antwortete sogar auf jede meiner Nachrichten – manchmal nur kurz, aber immerhin. Falls ihn meine neue Mitteilsamkeit irritierte, ließ er sich nichts anmerken. Ich hatte sogar das Gefühl bekommen, dass er nach und nach offener geworden war und mich nicht mehr nur mit der Standardfloskel „Mir geht's gut. Danke der Nachfrage.“ abspeiste, sondern auch mal durchblicken ließ, wenn es ihm nicht gut ging. Was meist an unseren freien Tagen war und eben diese überwogen gerade. „Toshiya, was machst du hier?“ Im ersten Moment bekam ich keine Antwort. Den Kopf abgewandt, atmete er tief ein und aus. Mit jeder verstrichenen Sekunde wurde ich unruhiger. Er tauchte doch nicht einfach ohne Grund hier auf und ganz sicher nicht in dieser Aufmachung. Generell kam es selten vor, dass wir uns gegenseitig besuchten. Wir arbeiteten zwar zusammen, waren auf eine spezielle, für andere schwer nachvollziehbare, Art und Weise befreundet, aber das hieß nicht, dass wir gewöhnlich auch noch unsere Freizeit miteinander teilten. Plötzlich hob er den Kopf, in seinem Mundwinkel saß so etwas wie ein Lächeln, nur wirkte es seltsam verschwommen, geradezu zittrig. „Entschuldige… dass ich dich geweckt habe. Ich war grad… irgendwie in der Nähe.“ Fahrig strich er sich die Haare aus dem Gesicht und rieb sich flüchtig mit einer Hand über den Nacken, ehe er sich von der Wand abstieß. „War ne blöde Idee herzukommen. Ich sollte gehen.“ Ich handelte schneller, als ich denken konnte. Mit wenigen Schritten war ich bei ihm und griff nach seinem Arm. Sein dünnes Hemd war völlig durchnässt. Verdammt, es war Mitte Februar! Er holte sich noch den Tod! „Nein, warte!“ Als hätte ihn meine Berührung unter Strom gesetzt, zuckte er erneut zusammen und sah mich aus aufgerissenen Augen an. Der Geruch von Regen und Bier stieg mir in die Nase. „Toshiya, was soll das? Du stehst hier mitten in der Nacht vor meiner Tür, durchfroren, und doch nicht nur, weil du gerade zufällig in der Nähe warst. Das kannst du mir nicht erzählen!“ Mein Tonfall klang härter, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte, doch meine Sorge um ihn war gerade übermächtig geworden. Ich erkannte ihn nicht wieder. In den über zwanzig Jahren, in denen wir in einer Band spielten, hatte ich ihn noch nie so fertig erlebt. Und dass er hier vor mir stand… Mein Griff wurde fester. „Gehen lasse ich dich definitiv nicht.“ Ehe er sich wehren konnte, hatte ich ihn bereits in meine Wohnung gezerrt, geradewegs ins Wohnzimmer. Meine Gedanken rasten, während ich ihn kurz neben dem Sofa stehen ließ, um ins Bad zu flitzen, auf der Suche nach einem großen Handtuch. Shit, warum war er hier? Ich war immer noch völlig aufgewühlt, als ich zurückkehrte und Toshiya genau an derselben Stelle vorfand, an der ich ihn zurückgelassen hatte. „Hier.“ Ich reichte ihm das Handtuch, das er wie in Zeitlupe annahm. „Vielleicht solltest du kurz unter die Dusche steigen. Nicht, dass du krank wirst.“ Ein undefinierbarer Blick traf mich, als er begann sich langsam abzutrocknen. Dröhnende Stille legte sich über uns, nur unterbrochen von dem leisen Rascheln des Handtuchs. Ich hatte so viele Fragen, doch ich wagte es nicht, auch nur eine davon zu stellen. Da war dieses Gefühl im Glashaus zu sitzen. Ein falsches Wort konnte zu dem Stein werden, der alles zum Einsturz brachte. So wartete ich mit klopfendem Herzen. Bis ich es nicht mehr aushielt. „Wieso hast du keine Jacke mitgenommen oder mindestens einen Schirm? Es ist Winter!“ Er wandte den Blick ab und ließ das Handtuch sinken. „Weiß nicht.“ Auf weitere Erklärungen brauchte ich wohl nicht zu hoffen. Er machte nicht den Anschein, weiterreden zu wollen. Lautlos seufzend nahm ich ihm das Handtuch ab. „Willst du nicht doch duschen?“ „Nein… danke. Ich… sollte gehen.“ Die Worte kamen derart genuschelt, dass ich mich fragte, wie viel er wirklich getrunken hatte. Er roch zwar leicht nach Bier, aber richtig betrunken schien er nicht zu sein. Dennoch – allmählich reichte es mir. Da tauchte er nach all den Wochen hier auf, komplett neben der Spur, schien sogar Hilfe zu wollen – denn anders konnte ich mir sein Auftauchen bei mir nicht erklären – nur um sofort wieder einen Rückzieher zu machen. „Toshiya, was redest du? Du bleibst heute Nacht hier! Keine Widerrede.“ Er sah mich aus diesen großen, dunklen Augen an und wirkte dabei so unglaublich verletzlich, dass ich ihn diesmal sanfter am Arm nahm und behutsam Richtung Schlafzimmer dirigierte. Als Toshiya bemerkte, wo ich hinwollte, versteifte er sich in meinem Griff. „Nein, Die, das geht doch nicht. Ich kann -“ Ich blieb kurz in der Tür stehen, um Licht zu machen. „Hör mal, Totchi.“ Bewusst wählte ich seinen früheren Spitznamen. „Was auch immer passiert ist, du bleibst hier. Mein Bett ist groß genug für drei Leute und ich fang nicht an, jetzt noch mein Sofa vorzubereiten. Wie gesagt: keine Widerrede.“ Die Sekunden verstrichen, nichts passierte. Dann spürte ich, wie der Widerstand in ihm schwand. Er nickte. * Ich brauchte lange zum Einschlafen. Mit gespitzten Ohren lag ich da und lauschte auf Toshiyas leise Atemzüge, während ich mir gleichzeitig das Hirn zermarterte. Es wollte nicht begreifen, dass diese völlig fertige Gestalt vor meiner Tür genau dieselbe gewesen war wie unser energiegeladener Bassist, der meist ein Schmunzeln oder lautes Lachen auf den Lippen trug. So konnte es doch nicht weitergehen. Natürlich schaffte die aktuelle, weltweite Situation, die uns so lange Zeit zur Untätigkeit verdammte, jeden von uns. Aber das konnte doch nicht alles sein. Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal aufwachte, war es bereits hell. Wenn ich befürchtet hatte, dass Toshiya weg wäre oder ich den nächtlichen Besuch nur geträumt hatte, so hatte ich mich getäuscht. Da lag er, gerade einmal eine Armlänge entfernt, die Decke wie einen Kokon um sich geschlungen, die Augen zusammengepresst, mit einer tiefen Falte zwischen den Brauen. Kurz war ich versucht, sie glatt zu streichen, ließ es aber. Jetzt im Tageslicht wurde sein Zustand noch deutlicher. In meiner Brust zwickte es, als ich ihn betrachtete. Er war ohne Zweifel immer noch ein gutaussehender und attraktiver Mann und dennoch ein Schatten seiner Selbst. Ich wollte ihm helfen – musste ihm helfen, nur wie? „Die?“ Die leise Stimme ließ mich blinzeln und ich brauchte einige Sekunden, um aus meinen Grübeleien herauszufinden. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er aufgewacht war. Aus kleinen, müden Augen sah er mich an und unterdrückte nur mit Mühe ein Gähnen. Himmel, so wie er aussah, konnte er definitiv noch einige Stunden Schlaf vertragen. „Guten Morgen“, antwortete ich ihm ebenso leise und zauberte mir sogar ein halbes Lächeln auf die Lippen. Wieder herrschte Stille, nur begleitet vom leichten Rauschen des immer noch währenden Regens. Statt etwas zu sagen, erwiderte Toshiya stumm meinen Blick. Er schien irgendetwas in ihm zu suchen oder eine bestimmte Reaktion zu erwarten. Schließlich seufzte er, löste die Decke um seine Schultern etwas, um sich mit einer Hand über das Gesicht zu fahren, ehe er erneut meinen Blick suchte. „Es tut mir leid, Die.“ Ich runzelte verwirrt die Stirn. „Was tut dir leid?“ Abermals seufzte er und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Dass ich heute Nacht so reingeplatzt bin. Ich weiß nicht, was mich getrieben hat, hierher zu kommen. Vielleicht… ich hatte was getrunken, aber ich wollte dich nicht stören und –“ „Du störst nicht, Totchi.“ Wieder einmal war mein Mund schneller als mein Hirn, als ich ihn unterbrach, aber ich meinte es genauso. Wie kam er darauf, dass er mich störte? Er hatte mich in all den Jahren noch nie mit seiner Anwesenheit gestört. Natürlich waren wir auch mal genervt voneinander, aber wirklich stören? Nein. Verwundert sah er mich an, ein Schatten huschte über sein Gesicht, den ich nicht zu deuten wusste. Sein gemurmeltes „Okay.“ ging im Regengeräusch beinahe unter, dennoch verstand ich ihn. Ich wollte weiter nachbohren, wollte endlich wissen, was los war und schluckte doch alle Fragen unausgesprochen hinunter. Ich konnte nicht – nicht, wenn er so zerbrechlich wirkte wie in diesem Moment. So lagen wir noch eine Weile da, sahen uns an und gleichzeitig wieder nicht. Jeder hing seinen Gedanken nach. Von außen betrachtet, mochte es ziemlich seltsam wirken, wie zwei erwachsene Männer gemeinsam im Bett lagen und sich gedankenverloren anstarrten, aber in diesem Moment empfand ich das nicht so. Es war okay. * Die Stunden vergingen wie im Flug. Nachdem wir zum späteren Vormittag aufgestanden waren, hatten wir gemeinsam gefrühstückt. In der gesamten Zeit hatte ich Toshiya kein einziges Mal gefragt, wie es ihm ging oder was los war. Nicht, weil ich seinen Zustand ignorierte, sondern weil ich befürchtete, er würde mir schlussendlich wieder einmal mit einem „Gut“ antworten und dann wüsste ich nicht, wie ich darauf reagierte. Ich hatte genug von Halbwahrheiten und Ausreden, ich wollte eine ehrliche Antwort und am besten sollte sie freiwillig von ihm kommen. Denn zu etwas drängen wollte ich ihn trotz allem nicht. Nicht, dass ich irgendwelche weiteren Wunden in ihm aufriss, sollte ich zu sehr nachfragen. Ich konnte seinen Zustand nicht ignorieren, gleichzeitig verunsicherte mich die Situation komplett. Auf seine leise Frage nach dem Frühstück, ob er noch etwas bleiben dürfte, konnte ich natürlich mit nichts anderem als einem Ja antworten. Es ehrte mich insgeheim, dass er sich anscheinend in meiner Wohnung wohl genug fühlte, um nicht sofort die Flucht zu ergreifen. Er blieb zwar für seine Verhältnisse recht schweigsam, aber schien nicht mehr so stark durch den Wind zu sein wie in der Nacht, was mich ein wenig beruhigte. Um trotzdem nicht in völliges Schweigen zu verfallen und ihn etwas abzulenken, drückte ich ihm irgendwann einen meiner Controller in die Hand und startete die Playstation. „Ähm, Die?“ „Ja?“ Kritisch beäugte ich mein Regal, auf der Suche nach einem passenden Spiel für uns beide. Vielleicht das hier? Oder ein Shooter? „Ich hoffe, du weißt, dass ich in sowas miserabel bin.“ Überrascht drehte ich mich zu ihm um, zwei Spielhüllen in der Hand. Anscheinend sah ich etwas schockiert aus, weshalb er schnell hinzufügte: „Ich besitze doch keinen Fernseher mehr und eine Konsole noch weniger.“ Jetzt war ich wirklich schockiert, was Toshiya zum Schmunzeln brachte. „Aber… jeder hat einen Fernseher“, war das Erste, was ich hervorbrachte, nachdem ich umsonst darauf gewartet hatte, dass er seine Worte als Scherz abtat. Ein amüsiertes Schnauben antwortete mir. „Ich habe schon seit Jahren keinen mehr. Hab ihn einfach nicht gebraucht. Wenn ich einen Film schauen will, nutze ich den Laptop und sonst… es geht auch ohne.“ Oh Mann. Einen Moment lang starrte ich ihn noch verdattert an, bis ich seine Offenbarung verdaut hatte. Warum hatte ich das nicht gewusst? Kannte ich meine Kollegen überhaupt oder war das wirklich so ein unwichtiges Thema für Toshiya, das er es nie erwähnt hatte? Langsam ging ich zurück zum Sofa und während mein Hirn weiter vor sich hin arbeitete und versuchte die neue Information irgendwo einzuordnen, entschied ich mich kurzerhand für das simplere der beiden Spiele. Autorennen konnte jeder. * Es stellte sich heraus, dass Toshiya besser war, als er wohl selbst von sich erwartet hatte. Wie gesagt: Autorennen konnte jeder. Inzwischen war es später Nachmittag geworden. Hatte Toshiya am Morgen noch relativ in sich gekehrt gewirkt, so war er über die letzten Stunden sichtlich aufgetaut und hatte sogar fast zu seiner alten Form zurückgefunden. Das hatte mich überrascht – besonders zu spüren, wie sehr ich sein Lachen vermisst hatte. Doch nun, je mehr die Zeit voranschritt und es allmählich draußen zu dämmern begann, desto schweigsamer und gleichzeitig aufgekratzter wurde er wieder. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich war innerlich zerrissen – ich wollte ihn nicht zwingen und konnte doch nicht länger ertragen, ihn so zu sehen. Mit Schwung setzte ich mich neben ihn auf das Sofa, stellte die beiden Flaschen Bier und Wasser, die ich gerade aus dem Kühlschrank geholt hatte, mit einem leisen Klonk auf dem Tisch ab, ehe ich mich zu ihm wandte. Er schien unter meinem Blick kleiner zu werden. „Toshiya, was ist los?“ Beinahe erwartete ich, dass er schweigen würde. Sein Blick haftete an den beiden Flaschen auf dem Tisch, ehe er sich eine griff. Die mit dem Wasser. „Die, ich glaube, ich weiß, was du von mir denkst.“ Meine linke Augenbraue zuckte nach oben, während ich ihn weiter von der Seite musterte. „Okay… dabei weiß ich das meist selbst nicht.“ Seufzend lehnte er sich zurück, legte den Kopf auf die Lehne und sah mich aus den Augenwinkeln an. „Ich habe kein Problem damit.“ Mit dem Kinn deutete er auf die einsame Bierflasche, die auf dem Tisch stand. „Jedenfalls kein direktes.“ Abwartend saß ich da, hoffte darauf, dass er weitersprach. Als er es schließlich tat, brachte er mich etwas aus dem Konzept. „Kann ich heute Nacht hier bleiben? Ich geh morgen. Du fährst ja mittags sowieso mit Kyo nach Yokohama, oder?“ Irritiert blinzelte ich, musste den abrupten Themenwechsel erst einmal einordnen. „Toshiya, was soll das?“ Ich richtete mich ein Stück weit auf und sah ihm fest in die Augen. „Wieso lenkst du ab? Ich reiß dir doch nicht den Kopf ab, egal, was es ist.“ Er fühlte sich sichtlich unwohl unter meinem Blick. Dennoch hielt er ihm stand. Da war etwas in seinen Augen, das mich erweichte, seiner Bitte nachzugeben. „Du kannst bleiben, aber Toshiya… ich will endlich wissen, was los ist. Und wenn du auf die Frage, wie es dir geht, mit ‚Gut‘ antwortest, werf ich dich raus.“ Natürlich brächte ich das nie übers Herz, aber ich war es leid, in Unwissenheit und der ständigen Sorge um meinen Freund zu sein. Ich wollte ihm helfen, aber dazu musste er mit mir reden. Es dauerte, bis er schließlich nickte, dennoch fühlte es sich wie ein kleiner Schritt in die richtige Richtung an. Er warf mir einen zweifelnden Blick zu, ehe er die Flasche ungeöffnet zurückgestellt und sich etwas seitlicher zu mir drehte. Das rechte Bein zog er an den Körper, um es mit den Armen zu umschlingen und den Kopf auf das Knie zu betten. Er mied meinen Blick, seine Augen wanderten ziellos umher und blieben schlussendlich erneut an den beiden Flaschen auf dem Tisch hängen. „Ich halte es zuhause kaum mehr aus. Es erdrückt mich alles.“ Seine Augen richteten sich erneut auf mich. „Es tut mir wirklich leid, dass ich gestern reingeplatzt bin, aber ich konnte nicht mehr. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, wenn ich dort geblieben wäre. Und mir ist niemand anders eingefallen, zu dem ich gehen konnte außer dir. Du hast immer gefragt, wie es mir ging, deshalb… ich weiß nicht.“ Gegen Ende war er immer leiser geworden, bis er schließlich abbrach und sein Gesicht in den Armen verbarg. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Er hatte das Gefühl zu Hause zu ersticken? „Wie –“ Ich setzte an, ohne zu wissen, was ich fragen wollte. Da war so vieles, das ich nicht verstand. „Hast du das öfter?“ Er sah nicht auf, als er antwortete. „In letzter Zeit häufiger. Immer dann, wenn ich allein bin.“ „Wie lange geht das insgesamt schon?“ So wie er klang, konnte das nicht erst im Dezember angefangen haben. Sein Zögern ließ mich ein „Sei ehrlich.“ hinzufügen. Was auch immer er hatte antworten wollen, er ließ es und seufzte stattdessen. „Seit etwa zehn, zwölf Jahren. Schau nicht so schockiert, Die. Es ist so.“ Seine dunklen Augen lagen auf mir, ein schmales Lächeln umspielte die Lippen. „Ich hatte es die meiste Zeit ganz gut im Griff, sodass diese Panikattacken nur sehr selten oder bei längeren Pausen auftraten. Aber seit einem Jahr sind sie wieder mehr geworden.“ Die neue Situation hatte unser aller Leben verändert, aber dass es so schlimm für ihn war, hatte ich nicht erwartet. Warum hatte er nie etwas gesagt? Und warum hatte ich erst Ende letzten Jahres bewusst gemerkt, dass etwas nicht stimmte? „Es ist nicht so, dass ich es zu Hause gar nicht aushalte. Prinzipiell mag ich meine Wohnung. Solange ich arbeiten kann, mit euch zusammen bin und dadurch abgelenkt werde oder etwas habe, auf das ich mich freuen kann, ist alles gut. Doch jetzt erscheint alles so… sinnlos.“ Das verstand ich. Das Gefühl der Perspektivlosigkeit hatte mich letztes Jahr ebenso kurzzeitig ergriffen, doch ich hatte mich schnell wieder davon lösen können, hatte mir neue Ziele gesucht, mich in den Sport gestürzt. Aber Toshiya war anders als ich – schon immer gewesen. Seit ich ihn kannte, war er der Emotionalste aus der Band, auch wenn er es in den letzten Jahren besser versteckt hatte. Er nahm sich Dinge immer mehr zu Herzen als andere. Und zehn, zwölf Jahre, wie er sagte… Ein harter Kloß bildete sich in meinem Hals, als mir bewusst wurde, wann es angefangen hatte, dass es Toshiya schlechter ging. Eine Zeit, an die keiner aus der Band gerne zurückdachte, in der es mehr Konflikte und Streits gegeben hatte als normale Treffen und zu der es sogar fraglich gewesen war, ob wir als Dir en grey weitermachen konnten oder es beendeten. Glücklicherweise waren wir aus unserer persönlich schwersten Krise gestärkt hervorgegangen, deshalb hatte ich nicht erwartet, dass sie Toshiya anscheinend so stark mitgenommen hatte, dass er auch heute noch indirekt darunter litt. War es die Angst, plötzlich komplett allein dazustehen? „Die?“ Fragend sah er mich an und erst jetzt bemerkte ich, wie lange ich geschwiegen hatte. Unwirsch fuhr ich mir mit einer Hand durch die langen Haare, einfach um noch etwas Zeit zu schinden und meine Gedanken zu ordnen. „Ich… es tut mir leid. Dass -“ Ich brach ab, wusste nicht, was ich sagen wollte. Diesmal war es Toshiya, der mich verwirrt anblickte. „Wofür entschuldigst du dich? Dass ich mich nicht im Griff habe und anscheinend nicht mit mir selbst klarkomme? Das muss dir nicht leidtun, denn es ist mein Problem.“ „Nein… dass ich nicht eher etwas bemerkt und gefragt habe.“ Einen Moment lang erwiderte er stirnrunzelnd meinen Blick, ehe er sich aufrichtete und bequemer hinsetzte. „Vielleicht solltet ihr einfach nichts merken. Schon mal daran gedacht?“ „Ja. Dennoch.“ „Ach, Die.“ Da war es wieder. Dieses kleine, matte Lächeln, das sein Gesicht erhellte. „Es ist einfach, wie es ist. Ich will es nicht jedem auf die Nase binden, von daher…. Es reicht schon, dass mein Vater hartnäckig der Meinung ist, dass ich den falschen Lebensweg eingeschlagen habe und geradewegs versage und mir das gerne jede Woche unter die Nase reibt. Besonders momentan. Das ist wenig hilfreich dabei, sich nicht runterziehen zu lassen. Aber wie gesagt, meistens komme ich klar. Wäre das letzte Jahr nicht gewesen, hätte ich sicher auch keinen Rückfall bekommen.“ „Hm.“ Es waren so viele Informationen, die ich verarbeiten musste. Mir schwirrte der Kopf, ein ungewohnter Druck machte sich hinter meiner Stirn breit. Wie sollte ich ihm helfen? Er wirkte so abgeklärt, war sich seines Problems definitiv bewusst und konnte trotzdem nicht dagegen ankommen. Was sollte ich da tun? Ich, der gerade erst begriff, wogegen Toshiya seit Jahren ankämpfte. Mein Blick fiel auf die Bierflasche auf dem Tisch, die nach wie vor unberührt ihr Dasein fristete. „Trinkst du?“ Er schwieg lange, starrte ebenfalls auf die Flasche, als würde sie für ihn antworten. „Manchmal. Öfter als gut für mich ist, oder?“ Den Blick, mit dem er mich bedachte, konnte ich nicht deuten, so antwortete ich nur mit einem „Hm, scheint so.“ und bekam ein Schnauben dafür. „Es ist nicht so, dass ich süchtig bin oder unbedingt Alkohol brauche. Er macht nur alles weniger schlimm, wenn ich allein bin, und damit erträglicher. Manchmal kann ich damit besser einschlafen.“ Wobei das mit Einschlafen wohl wirklich nur manchmal funktionierte, wenn ich mich an seine Dauermüdigkeit erinnerte. „Die.“ Seine Stimme war leise. „Was denkst du jetzt von mir?“ Hatte er in den vergangenen Minuten recht abgeklärt und selbstreflektiert gewirkt, so war jetzt die Unsicherheit zurück. Unruhig kaute er auf seiner Unterlippe, während er auf eine Reaktion wartete. „Ich… Ich verurteile dich für nichts, was du tust, falls du das glaubst. Du bleibst immer noch derselbe.“ Seine Schultern sackten ein wenig nach unten, als wäre ihnen eine Last abgenommen worden, doch vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. „Ich muss das erst einmal verdauen. Aber ich bin sehr froh darüber, dass du so ehrlich zu mir warst.“ Ein kleines Lächeln wanderte über meine Lippen und wurde von Toshiya augenblicklich erwidert. „Wie gesagt, du kannst gerne hierbleiben. Ich fahr vermutlich erst übermorgen wieder zurück, außer natürlich Kyo weigert sich, auf seinen Geburtstag anzustoßen. Mal sehen. Nur damit du Bescheid weißt, falls du länger bleiben möchtest.“ * Mitte März Mit einem leisen Schnauben ließ ich mich in das weiche Polster fallen und atmete tief durch. Im selben Moment setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Das war knapp gewesen. Und es hatte eindeutig nicht an mir gelegen, dass der Zug beinahe ohne uns nach Sendai abgefahren wäre. Mit einem missbilligenden Blick schielte ich zu meinem Sitznachbarn, der die Ruhe selbst zu sein schien und sich gerade aus seiner Jacke schälte. Es war nicht das erste Mal, dass Toshiya fast irgendwohin zu spät gekommen war, doch eine Minute vor Abfahrt auf dem Bahnsteig zu erscheinen, war selbst für ihn ein neuer Rekord. Fujieda hatten deutlich die Schweißperlen auf der Stirn gestanden und selbst jetzt schien er sich nicht sicher zu sein, ob er sauer sein sollte oder einfach froh, dass es sein Schützling doch noch pünktlich geschafft hatte und ihm nicht neue Arbeit eingebracht hatte, weil er die Fahrt umbuchen musste. Allmählich spürte ich, wie ich ebenfalls ruhiger wurde. Mit einem lauten Seufzen streckte ich die Beine von mir, ehe ich das Basecap abnahm und die Jacke auszog. Im Abteil war es angenehm warm, die Sitze bequem – vielleicht könnte ich sogar auf der dreistündigen Fahrt ein wenig schlafen, denn der Tag würde anstrengend werden. Laut Fujiedas Planung trafen wir gegen Mittag in Sendai ein und hatten dann noch etwa zweieinhalb Stunden, um uns auf das Konzertfilm-Screening-Event und die anschließende Gesprächsrunde vorzubereiten. Ich freute mich darauf, denn bisher waren alle Auftritte, die ich mit den anderen absolviert hatte, super gelaufen und die Fans waren begeistert von den Konzertfilmen gewesen, die wir im Laufe der letzten Monate aufgezeichnet hatten. Klar, war es etwas anderes, direkt vor Publikum zu spielen oder nur einen Film zu zeigen, der wie ein langer Videoclip wirkte, aber immerhin war es eine Möglichkeit trotz allem unsere Musik nach außen transportieren und teilen zu können. Und war ich vor dem ersten Member-Talk noch skeptisch gewesen, so war die Skepsis schnell der Überraschung gewichen. Irgendwie hatte ich erwartet gehabt, immer die gleichen Fragen nach den Aufnahmen, Songwriting, Freizeitbeschäftigung und so weiter gestellt zu bekommen. Doch die Fragen, die die Fans stellen durften und die unser Management vorbereitet hatte, waren angenehm neuer Natur gewesen. Bisher hatten wir über viel Privates geredet, ohne allerdings dabei zu sehr ins Detail zu gehen oder hatten in Erinnerungen geschwelgt. Eine wirklich gute Mischung. Umso gespannter war ich, was uns heute erwartete. Es war erst Toshiyas zweites Talk-Event – das erste mit Kyo vor zwei Tagen schien ihm gefallen zu haben, jedenfalls laut seiner Nachricht, die er mir anschließend geschickt hatte. Ich war neugierig darauf, wie es heute für ihn war. Das letzte Mal, dass ich ihn in so einer Situation erlebt hatte, war bei dem Interview mit Joe gewesen, vor über einem Monat. Zwei Wochen später war er bei mir eingezogen. Gut, eingezogen war übertrieben. Aus einem Tag waren zwar drei geworden und schließlich fast ein ganzer Monat, aber irgendwie fühlte es sich nicht so an. Es war nicht so, dass Toshiya meine Wohnung seither gar nicht mehr verlassen hatte. Ab und zu verbrachte er die Nächte bei sich zu Hause, nur überwog die Zeit, die wir gemeinsam verbrachten, deutlich. Ich hatte sogar das Sofa, auf das er in der zweiten Nacht umgezogen war, einfachheitshalber bezugsfertig belassen, sollte er abends wieder vor meiner Tür stehen. Was er auch tat. Mehr als einmal. Meine Wohnung war glücklicherweise groß genug für uns beide, ohne dass wir uns gegenseitig auf die Füße traten. Wenn mich es gestört hätte, hätte ich mich auch in mein Arbeitszimmer verziehen können, aber bisher war das nicht der Fall gewesen – ganz zu meiner eigenen Überraschung. Obwohl ich sonst alleine lebte, störte mich Toshiyas Anwesenheit nicht, geschweige denn, dass mich eingeengt hätte. Es war okay. Und ab und zu erwischte ich mich sogar dabei, dass mir meine Wohnung seltsam leer vorkam, wenn er einmal nicht da war. Ein weiterer, guter Nebeneffekt, dass ich einen neuen Dauergast hatte, war, dass ich jemanden hatte, der sich um meine pelzige Mitbewohnerin kümmern konnte, wenn ich unterwegs war. Ich musste ein wenig schmunzeln, als ich daran dachte, wie entgeistert Toshiya mich angeschaut hatte, als ich sie ihm am ersten Tag offiziell vorgestellt hatte. „Du nennst deine Katze allen Ernstes ‚Neko‘? Was Besseres, als sie nach ihrer Spezies zu benennen, ist dir nicht eingefallen?“ Ich hatte nur gelacht. „Na ja, sie hört eben darauf. Ich wollte sie nicht erst umgewöhnen müssen.“ Wider Erwarten hatte meine Katze sehr schnell einen Narren an ihm gefressen, obwohl sie für gewöhnlich Fremden gegenüber recht eigen war. „Was grinst du so?“ Ich unterdrückte ein ertapptes Zusammenzucken, als ich Toshiyas fragendem Blick begegnete. „Ich musste nur gerade daran denken, wie sehr meine Katze dich anschmachtet.“ Für einen kurzen Augenblick wirkte er verblüfft, dann lachte er laut auf. „Als anschmachten hätte ich das nicht bezeichnet, aber wenn du das so sagst. Ich mag sie auch. Anscheinend war es gegenseitige Liebe auf den ersten Blick.“ „Scheint so“, schnaubte ich amüsiert. „Wer kümmert sich eigentlich um sie, wenn wir erst morgen wieder da sind?“ Mit einem Schmunzeln nahm ich zur Kenntnis, wie selbstverständlich er plante morgen mit zu mir kommen, wenn wir zurück in Osaka waren. „Die ältere Dame aus dem ersten Stock, Frau Yumida. Weiß nicht, ob du sie schon getroffen hast.“ Toshiya gab ein unbestimmtes Schulterzucken von sich und wollte gerade etwas entgegnen, als Fujieda seinen Kopf zwischen unseren Sitzen hindurchsteckte. „Wohnst du gerade bei Die?“ Ich sah in der Art, wie Toshiyas Miene sich verhärtete, dass er wohl die falsche Frage gestellt hatte. Durch die viele Zeit, die wir miteinander verbrachten, konnte ich inzwischen einigermaßen abschätzen, was ihm durch den Kopf ging – wie zur Anfangszeit von Dir en grey, wo wir uns beinahe blind verständigt hatten. Und gerade wirkte er nicht so, als würde er über seine neue Wohnsituation reden wollen. Das hätte garantiert nur weitere Fragen aufgeworfen, so übernahm ich das Antworten. „Sowas in der Art. Momentan kann man ja außerhalb sowieso nicht viel machen, deshalb haben wir angefangen, uns durch meine Spielesammlung zu zocken. Toshiya besitzt ja keine Konsole.“ „Oh, wirklich? Das ist ja super. Was zockt ihr? Ich will vielleicht ein neues Spiel anfangen, denn ich komme gerade bei meinem nicht weiter. Ist das…“ Der Rest von Fujiedas Wortschwall ging in einem leisen Rauschen unter, als ich den dankbaren Blick von Toshiya auffing. Ein sanftes Lächeln lag auf seinen Lippen. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)