Solution X von Karo_del_Green (Zwischen Schatten und Licht) ================================================================================ Kapitel 5: Superdupernatural - 1 -------------------------------- Folge 2 ~Teil 1 - Superdupernatural ~ POV Luis Pastor Ich… Kann nicht… Atmen. Schlamm verklebt meine Lippen, füllt meinen Mund und verstopft mir die Lunge. Er ist überall. Kalt. Beißend. Bitter. Meine Brust ist steinhart und brechend schwer als ich versuche, die lebensnotwendige Luft einzusaugen. Doch es funktioniert nicht. Mein Körper scheint mir nicht mehr zu gehorchen. Meine Hände beginnen zu zittern, während meine Gedanken vibrieren. Es wird mehr und mehr zum undurchsichtigen Nebel, der vor meinen inneren Augen aufzieht, meine Sicht trübt und mein Gehirn lahmlegt. Es fühlt sich an, als ob kein bisschen des notwendigen Sauerstoffs meine Synapsen erreicht. Ich kann einfach nicht atmen, kann mich nicht bewegen. Alles wird dunkler und ich spüre, wie die Welt um mich herum verschwindet. „NEIN!", stoße ich laut aus und schlage die Augen auf. Der Widerhall meiner eigenen Stimme fegt durch den Raum und durch meinen Kopf. Jedoch er ist nichts gegen die Stärke meines Herzschlags, des Bebens meiner Brust, welche die Nachwirkungen des Traums mit sich bringen. Ich spüre beides bis in meine Fingerspitzen hinein pulsieren und in meinem kleinen Zeh verweilen. Ein Traum. Einatmen. Nur ein Traum. Ich atme aus. Für eine Sekunde empfängt mich die Erleichterung. Doch sie schwindet schnell, weil die Erkenntnis einsetzt. Es war zu real. Es fühlte sich echt an. Greifbar. Erlebt. Selbst der Geschmack des Schlamms hängt in meinem Mund und ist bitter und kalt. Das alte löchrige T-Shirt klebt mir feucht auf der Haut, als ich die Bettdecke zur Seite schiebe, weil ich mit einmal merke, wie es mich einzwängt. Ich brauche mehr Raum. Mit einer hektischen Bewegung zerre ich das Textil über den Kopf und werfe es zu Boden. Ich atme gelindert aus, bemerke mit Genugtuung, wie sich meine Lungenflügel mit Sauerstoff füllen und wie ein kühler Hauch auf meine erhitzte Haut trifft. Es hilft. Ich lebe. Wäre ich doch niemals in dieses Kellerbüro gegangen und hätte diesen verrückten Kerl angesprochen. Hätte ich doch nur auf seine ersten Vorschläge gehört und es sich darauf beruhen lassen. Hätte ich doch nur seine erste Ablehnung hingenommen. Besessenheit. Golem. Einhörner! Was für ein verdammter Albtraum. Ein Albtraum schlimmster Sorte. Aber… „Fuck, fuck, fuck“, brabbele ich, ehe sich die Gedankenfäden in meinem Kopf langsam entknäulen. Doch zu fluchen reicht nicht. Erst nach weiteren Minuten und dem sorgfältigen Ertasten all meiner Gliedmaßen greife ich zur Seite und schalte die Nachttischlampe ein. Das dezente Licht erdet mich, zieht mich in die Wahrhaftigkeit und ebnet mir die Realität. Ich streiche mir mit beiden Händen über das Gesicht und feiere still die Tatsache, dass all meine Körperteile noch dort sind, wo sie hingehören. Beim Versuch, meine verschwitzten Haare zu bändigen, ertasten meine Finger eine raue Stelle hinter dem linken Ohr. Ich reibe darüber und erkenne die Rückstände von getrocknetem Schlamm auf meiner Fingerspitze, als ich sie danach betrachte. Der braune Staub lässt mich schaudern. Es war kein Traum. Es ist wirklich passiert. All der Schlamm. Die feuchte Kälte. Das Grölen und die umherfliegenden Dinge. Das Ungetüm aus Erde und Fels, welches über mir zusammenbrach und mich vollständig unter sich begrub. Nichts davon habe ich mir eingebildet. Oder vielleicht doch? Der Geschmack von Staub liegt schwer auf meiner Zunge, während ich ruhelos mit den Händen über mein Gesicht reibe und danach tief ein- und wieder ausatme. Die Panik erfasst mich in Wellen und ich schwöre, einige davon sind mörderisch. Ich konzentriere mich lieber noch etwas länger darauf, am Leben zu sein. Einatmen. Ausatmen. Meinen Herzschlag spüren. Es wird besser, je mehr Luft ich einsauge. Je mehr das feine Kitzeln auf der Haut versiegt. Einst schwor ich mir, an alles ohne Vorurteil heranzugehen, ohne es von vornherein als unmöglich abzutun, denn für jeden kann Realität etwas anderes sein. Die Wahrheit kann in einer anderen Nuance existieren und dennoch nicht weniger richtig sein. Bisher hat es mir stets geholfen, mich den Dingen nicht zu verschließen, die um mich herum passieren. In meinem Beruf als Polizist half es mir des Öfteren, die Tür zum Vertrauen von Zeugen zu öffnen oder die Verdächtigen dazu zu bringen, sich mir zu offenbaren. Jeder Mensch handelt nach seinem eigenen Verständnis. Doch diesmal ist der Hader stärker als gewöhnlich, das Zaudern tiefsitzend, sodass ich, sobald ich auch nur daran denke, meinen Körper kaum unter Kontrolle halte. Etwas in mir schreit förmlich danach, dass es nicht real gewesen kann, wünscht und bittet. Fleht. Und trotzdem sehe ich ununterbrochen Izan vor mir. Der eigenartige Ausdruck in seinen Augen, der von weiter Ferne sprach und doch die unmittelbare Umgebung verbrannte. Es wirkte so surreal und auch jetzt in meinen Erinnerungen noch. Es muss eine Erklärung dafür geben, fernab derer, die mir Detective Vikar Damast gab. „Ein Totengeist“, spreche ich laut aus. In meinen Ohren klingt es wie die alleinige Erscheinung eines Horrorfilms. Ein B-Movie bei der Scary-Sunday-Movie-Night im Nachbarschaftskino. Damasts Erklärung ist ein imaginäres Trauerspiel meiner Realität. Ich wiederhole es. Leise. Laut. Zynisch. Ernst. Jedes Mal anders, bis es lediglich als ein schnaufendes Lachen über meine Lippen rattert, wie Trommelfeuer. Es bleibt mir alsbald im Halse stecken, sodass einzig ein gequältes Wimmern ertönt. Dann falle ich zurück ins Kissen und starre an die Decke. Ein Totengeist. Das kann nicht wahr sein. Oder doch? Es existiert sowas wirklich? Kann nicht sein. Es gibt keine Totengeister und keinen Golem. Für einen Sekundenbruchteil bin ich überzeugt. Vielleicht waren es drogeninduzierte Halluzinationen. Vielleicht bin ich eingeschlafen, wurde hypnotisiert oder k.o.-geschlagen. Ich hatte mir kurz zuvor den Kopf gestoßen, als mich beinahe der Müllcontainer zerquetschte. Exakt der Müllcontainer, der von einem 50 Kilo schweren Jugendlichen weggeschleudert wurde. Weggeschleudert, ohne, dass er ihn berühren musste. Ich presse die Lippen fest aufeinander und die Erkenntnis trifft mich mit einem Paukenschlag. Es ist alles genauso passiert und daran gibt es nichts zu rütteln. Nicht das kleinste Quäntchen. „Es ist alles wahr…“, plappere ich hektisch atmend vor mich her und merke, dass ich langsam hin und her wippe. Ich muss atmen. Ein und aus. Ganz einfach. Ein und aus. „Ganz leicht. Aus und ein.“, beruhige ich mich. Die Tatsache, die gesamte Nacht keinen erholsamen Schlaf gefunden zu haben, liegt mir wie eine juckende Schicht unter der Haut. In stetigen Intervallen kriecht sie über meine Glieder und überzieht mich mit Schauer und Beben. Es sendet Zweifel und Argwohn. Es kann einfach nicht wahr sein. Oder doch? Ein Wechselspiel, das all meine Skepsis bündelt und mich durchschwimmt. Aber wie könnte es nicht wahr sein? Immerhin habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Als ich es schaffe, meine Beine aus dem Bett zu schwingen, ist es draußen hell. Vögel zwitschern in der Weide neben meinem Fenster. Der wolkenverhangene Himmel bricht auf und es sieht nach einen guten Tag aus. Doch auch das ändert nichts daran, dass die vergangenen Geschehnisse schwer auf meinen Knochen lasten. Es ändert auch nichts daran, dass sich mein gesamter Torso taub anfühlt und der Unwillen in meinem Kopf laut gegen jede Wahrscheinlichkeit protestiert. Ich halte in meiner Vorwärtsbewegung inne, als mein Blick auf mehrere sauber zusammengelegte Wäschequadrate fällt, die vor dem Fußende meines Bettes abgelegt sind. Es ist eine akkurate Sortierung nach T-Shirts, Pullover und Unterwäsche. Der Kitzel der fehlenden Erinnerung fühlt sich an, als würde er in einer puddingartigen Masse nach Steinen bohren und erfasst mich mit einnehmender Verwunderung. Ich setze meinen Weg fort, vorbei an den Wäschequader, suche das Bad auf und lande letztendlich in die Küche. Wie jeden Morgen wandert mein Blick beim Vorübergehen durch das Wohnzimmer. Obwohl ich seit mehreren Monaten in dieser Stadt, in dieser Straße und Wohnung lebe, stehen weiterhin unzählige Kartons herum. In vielerlei Hinsicht entspreche ich vollends dem Klischee eines ruhelosen Polizisten, dessen Arbeit an erster Stelle steht und damit alles andere keine ausreichende Berechtigung findet. Ich habe kaum die Zeit, um mich mit diesen Nichtigkeiten zu befassen und selten Muße. Obendrein erliege ich mehr und mehr dem Glauben, dass ich den Inhalt auch nicht benötige, wenn ich ihn bisher nicht aus den Karton hervorholen musste. Mittlerweile habe ich bereits vergessen, was sich in einigen der Kartons befindet. Vielleicht sollte ich sie einfach entsorgen. Oder mich schlicht zusammenreißen und sie auspacken. Es sind schwere Entscheidungen, nach denen mir aktuell nicht der Kopf steht. Ich habe es bisher nicht geschafft, den Kabelanschluss zu aktivieren. In der Küche wiege ich weiterhin das Für und Wider von öffentlichem Fernsehen ab und komme wie schon die letzten Male zu keinem nützlichen Ergebnis. Im Grunde habe ich keine Zeit für Fernsehen. Es wäre aber eine beruhigende Vorstellung, die Möglichkeit zu haben. Ich drehe mich argumentativ im Kreis und fülle währenddessen neues Wasser in die Kaffeemaschine. Ich schaue zweimal in den Kühlschrank, während der dunkle Wachmacher röchelnd in die Tasse rinnt. Ausnahmsweise höre ich auf meinen Magen, der mir zuflüstert, dass er nichts Aufwendiges verdauen will. Demnach setze ich mich lediglich mit dem Kaffee und einem geviertelten Apfel an den Laptop. Ich tippe Totengeist in das Suchfeld ein und nehme mir einen ersten Apfelschnitz, den ich langsam zerkaue, während ich motiviert die Ergebnisse absuche. Ich erhalte vor allem Links zu Hilfsseiten für Kreuzworträtsel. Totengeist mit sechs Buchstaben scheint ein besonders häufig auftretendes Feld zu sein. Ich finde auch Verweise zu ostasiatischen Inhalten. Oder römischen Totengeistern. Der Begriff, den Damast gestern benutzte, begegnet mir nicht und er will mir auch nicht mehr einfallen. Während ich die restlichen Suchergebnisse nacheinander durchklicke, knabbere ich den Apfel weg und fühle mich durch die Suche kaum erleuchtet. Das Gleiche mache ich mit dem Begriff Golem und abermals stoße ich auf eine Unmenge an lexikalischen Ausschnitten und etliche Film- und Buchverweise. Die Befriedigung hält sich in Grenzen und macht erneut den unwirschen Gedanken Platz. Meine Augäpfel jucken und ich widerstehe schwer dem Drang, mir ununterbrochen das Gesicht zu reiben. Gerade als ich noch die Zusätze ´Real`, ‚Echt‘ und ‚Wirklichwirklich‘ im Suchverlauf ergänzen möchte, höre ich das Handy neben mir klingeln. Ich gehe ran, ohne vorher aufs Display zu sehen. „Pastor. Hallo?“, frage ich beiläufig und klicke einen weiteren der Links an. Ich höre ein Knacken und dann meinen Vornamen, der fast im Rauschen der Leitung untergeht. Irritiert sehe ich auf das Display. Eine unbekannte Nummer, aber mit einer Vorwahl dieses Distrikts. „Hallo? Können Sie das bitte wiederholen?“, erkundige ich mich mit ernster, aber ruhiger Stimme. Wieder nur ein Rauschen und dann Bruchstücke von Worten, die durch die schlechte Qualität seltsam blechern klingen. „…uel…“, ertönt es erneut. Unwillkürlich schüttele ich das Telefon in den irrwitzigen Annahmen, dass das irgendwas an der schlechten Leitung ändert. Wie erwartet vergeblich. „Hallo? Ich kann Sie nicht verstehen. Die Leitung ist scheinbar gestört oder der Empfang schlecht. Können Sie sich zu einem anderen Zeitpunkt erneut melden?“ „…nuel Ev… hil…“, höre ich, als ich das Gerät wieder ans Ohr drücke und mich nach einem Stift umsehe. Ich hebe einige der Akten an und entdecke einen Bleistift, der einem Stummel gleicht. „Manuel Evans?“, setze ich vermutend zusammen, als ein weiteres Mal nur Bruchteile bei mir ankommen und mir dennoch sofort das Bild des ehemaligen Klassenkameraden in den Kopf schießt. Groß. Rasierter Kopf und immer ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. Wir haben im Geschichtsunterricht nebeneinandergesessen und gemeinsam für das Matheexamen gebüffelt. Ich höre, wie Manuel am anderen Ende erleichtert aufatmet und mir ein aufgeregtes Ja entgegen schreit, welches vollständig bei mir ankommt. Ich notiere Manuels Namen auf einen Block. Der stumpfe Bleistiftstummel macht daraus mehr ein flächiges Gekrakel und ich bin mir sicher, dass es verwischt, sobald ich nur flüchtig darüberstreiche. „Luis! ... brauche Hilfe… ich … in Untersuchungshaft…“ Wieder sind es nur Bruchstücke und ich drücke das Handy dichter ans Ohr. Dadurch wird auch das stetige Knacken lauter. „Untersuchungshaft? Du bist in Untersuchungshaft?“, wiederhole ich, um sicher zu gehen. „Ja!“ Trotz des schlechten Empfangs höre ich die Erleichterung, die mit diesem einzelnen Wort mitschwingt. Wieso ist er in Untersuchungshaft? „Warum und wo?“ „Bezirks...nis Geigerdi… sie sagen, ich... mand getötet.“ Erneut habe ich nicht alles verstanden, doch für das Wesentliche hat es gereicht und es lässt mich erschrocken ausatmen. Er hat jemand getötet oder wird zu mindestens dessen verdächtigt. Das ist nicht gut. „...deine Hilfe ...“ Sein Ausruf zwingt zur erneuten Aufmerksamkeit. „Hast du einen Anwalt kontaktiert? Manuel?“ Ein Knacken. Ein kurzer Piep. Ich hege schon die Befürchtung, dass der Anruf unterbrochen ist, doch dann höre ich ein undeutliches Ja und durchgängiges Rauschen. „Ich werde sehen, was ich machen kann, Manuel, hörst du mich? Ich versuche etwas herauszufinden“, versichere ich ihm, doch die Leitung ist bereits unterbrochen und ich weiß nicht, was er gehört hat. Verdammt. Das muss ein Irrtum sein. Manuel Evans, ehemaliger Schulkamerad und aufrichtiger Lehrer seit sechs Jahren soll jemanden getötet haben? Der Mann, den ich in Erinnerung habe, war kein gefährlicher Typ. Nur etwas verrückt. Das Gespräch lässt einen Haufen gemischter Gefühle zurück und triggert den Gerechtigkeitssinn in mir. Was ist nun geschehen? Ist es wirklich möglich, dass Manuel etwas Derartiges getan hat? Es gibt einfach zu viele Faktoren, die Menschen Entscheidungen treffen lassen, die man ihnen zuvor niemals zugetraut hätte. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Mit steigenden Unbehagen im Bauch stoppe ich meine vorangegangene Recherche und schließe den Laptop. Trotz oder eher wegen meines inneren Zwiespalts brauche ich länger, bis ich angezogen und fertiggemacht bin. Als ich die Tür öffne, fällt mein Blick sofort auf ein einfach gefaltetes Blatt Papier, welches an die Tür geklebt ist. Ich werfe einen Blick in den Gang. Nach links und rechts, dann ziehe ich das Blatt ab. Ich raune genervt auf, als der Klebestreife an der Tür haften bleibt und ein Stück vom unbeschriebenen Rand des Papiers abreißt. Es ist eine handschriftliche Notiz von Detective Vikar Damast. Prompt frage ich mich, wann er sie hier befestigt hat. Er ist gestern Abend nicht mit mir nach oben gekommen, soweit ich mich erinnere. Oder doch? Alles nach unserem Eintreffen in der Synagoge ist verschwommen und unwirsch. Ich lief auf Autopilot. Wieder fällt mein Blick in den Flur. Doch auch das hilft mir nicht, mich daran zu erinnern. Die Reste des gestrigen Abends bleiben graue Wolken, die durch meinen Kopf schweben und die Erinnerung verdunkeln. Es ist ein reiner Schutzmechanismus, der mir im Laufe meiner Polizeikarriere schon öfter zur Hilfe gekommen ist. Hin und wieder ist es ganz nützlich. Doch meistens hinterlässt es eher einen bitteren Beigeschmack. Ich muss definitiv in der Nacht noch duschen gewesen sein und ich habe Wäsche zusammengelegt, was die feinsäuberlich sortierten Häufchen am Boden meines Schlafzimmers bewiesen. Vielleicht war der andere Detective doch mit oben gewesen? Ernüchtert widme ich mich der Notiz. -Minjan arbeitet noch. Junge hält durch. Melde mich. Da...- Der Rest seines Namens ist unlesbar. Minjan. Dafür brauche ich etwas länger. Ist Minjan der Exorzismus? Nein, damit war die Gruppe der Betenden gemeint, glaube ich, aber ich bin mir nicht sicher. Es ist auch egal, denn allein der zweite Teil der Auflistung zählt für mich. Izan ist stark. Er hält durch. Dieser Funken Hoffnung lässt das Kribbeln in meinen Fingerspitzen anschwellen. Ich hoffe inständig, dass es dem Jungen gut geht und eigentlich wünsche ich mir, dass er danach nichts mehr von den Dingen weiß, die in den vergangenen Tagen passiert sind. Wirklich gar nichts davon. Weder de Lucia, noch Bakow oder Pablo. Der Hund ist ein weiteres Opfer in der Liste. Ich nehme mir vor, den armen Vierbeiner suchen zu gehen und ihm wenigstens ein anständiges Begräbnis zukommen zu lassen. Ich falte die Nachricht zusammen, bis sie in meine Hosentasche passt und fahre ins Revier. An meinem Schreibtisch begrüßt mich ein wachsender Stapel neuer Fälle und die abgelegte Akte von Nicolá de Lucia. Die Originalakte, nicht die Kopie, die ich Damast gegeben habe. Ihr Anblick lässt meinen Atem kurz stocken und mein Herzschlag explodiert ungehindert. Das beginnende Schwitzen meiner Hände ist ein weiterer Indikator für die Überbleibsel des Schocks, die sich in meiner Brust einnisten und dort hausieren. Es wird ein offener Fall bleiben. Genauso wie der von Alexander Bakows. Sie werden sich einreihen in eine Riege von Fällen, bei denen die Ursachen gewiss sind und doch die richtigen Beweise fehlen. Davon haben wir einige in den Archiven liegen. In den wenigsten Fällen ist es etwas Übernatürliches, sondern vielmehr die innere Gewissheit, den Täter nicht überführen zu können, da konkrete Spuren fehlen oder das Opfer selbst. Es ist frustrierend, aber ein Teil des Ganzen. Ich habe keine Ahnung, mit welcher Begründung ich die beiden Fälle schließen soll, ob ich es überhaupt kann. Ich schiebe sie zusammen mit anderen Unterlagen in die Schublade des Rollcontainers und atme erst wieder auf, als ich sie nach dem Schließen nicht mehr sehe. Ein kühler Schauer erfasst mich dennoch. Mit Gänsehaut am gesamten Körper stehe ich wieder auf, besorge mir aus der Gemeinschaftsküche einen Kaffee und setze mich erst nach der Hälfte der Tasse zurück an den Schreibtisch. Ich werde Damast fragen müssen, wie in solchen Fällen verfahren wird. Er müsste es wissen. Als nächstes tippe ich den Namen meines alten Freundes in das Suchfeld der Datenbank und merke sofort, wie ich die Luft anhalte, während das Übersichtsfenster mit den allgemeinen Informationen zur Person aufploppt. Drei Einträge zu diesem Namen. Ich checke das Geburtsdatum, um sicherzugehen, dass es der Richtige ist. Vermerkt sind Mahnungen wegen unbezahlten Strafzettel und die Verdächtigung des Mordes. Es ist noch keine vollständige Anklage. Ein ziemlich heftiger und eher ungewöhnlicher Eskalationssprung. Ich finde zusätzlich eine Verwarnung wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Es ging um einen Streit, der jedoch geschlichtet wurde. Eine weitere Strafverfolgung ist nicht entschieden. Also widme ich mich dem Tötungsdelikt. Aktenzeichen AKPR89-040019-23/03. Ich bestätige die Fallnummer des Mordes und die Akte öffnet sich. Der ermittelnde Beamte ist Colton W. Barres, Detective des 17. Reviers. Das Siebzehnte. Schon wieder. Seufzend lehne ich mich zurück und reibe mir mit beiden Händen über das Gesicht. Ist nicht normalerweise die Dreizehn eine Unglückszahl? Ausnahmen bestätigen die Regel, sage ich mir als ich nach der Jacke greife und mich auf den Weg mache. Am Empfang frage ich, ob Detective Barres am Platz ist und eine nette uniformierte Kollegin gibt mir eine ungefähre Richtung vor. Sie erkennt mich noch vom letzten Mal und lächelt verschwörerisch, was ich bestmöglich versuche zu ignorieren. Ich lasse meinen Blick schweifen, suche den richtigen Namen auf den Aufstellern, die die Tische der Detectives ausweisen. Ich werde fündig und gehe auf den Arbeitsplatz zu. Der Typ, der sich im nächsten Moment an den Schreibtisch setzt, ist muskulös gebaut, adrett frisiert und auffällig gut gekleidet für einen einfachen Detective. Der hellgraue Anzug schmeichelt seinem dunklen Teint. Ich erkenne ihn und bin mir sicher, dass ich ihn vor ein paar Tagen schon mal in einem ähnlich teuren Anzug gesehen habe. Nur dunkler. Er wirkt wie der Stereotyp des ambitioniert, dennoch ignorant karriereorientierten Special Agents einer Bundesbehörde. Er passt hier nicht rein, er ist besser und alle sollen es wissen. „Verzeihung, sind Sie Detective Colton Barres?“, erkundige ich mich und sehe, wie der große Kerl im schicken Hemd seine gerade zum Mund geführte Tasse Kaffee wieder absetzt. Er mustert mich offen und ungeniert. Ich fühle mich unter seinem Blick gleich herabgesetzt und straffe automatisch meine Schultern, um so größer zu wirken. „Der bin ich, was kann ich für Sie tun?“ „Detective Luis Pastor, Mordkommission 12. Revier“, stelle ich mich vor und tippe gegen meinen Dienstausweis, der an meinem Gürtel befestigt ist. „Neuling?“ „Vor vier Monaten versetzt. Davor war ich fünf Jahre bei der Jugendkriminalität in der 6. Direktion“, lasse ich ihn ohne Umschweife wissen. Ich bin kein Anfänger, da soll er bloß nicht auf falsche Gedanken kommen. Mein Gegenüber mustert mich prüfend, streicht sich über das frischrasierte Kinn und deutet mir an, mich zu setzen. Es ist mir nicht neu, dass die Leute derart auf mich reagieren, denn ich habe einige dieser erst im höheren Alter wertgeschätzten juvenilen äußeren Attribute, die mich jünger erscheinen lassen, als ich bin. „Undercover?“, fragt er amüsiert. Ich antworte nicht, sondern sehe ihn nur abwartend an. „Was kann ich für Sie tun, Detective Pastor?“ „Ich hätte gern Informationen zu einem Fall, der in Ihrer Zuständigkeit liegt.“ „Um welchen geht es?“, fragt er und klingt freundlich, doch in seiner Körperspannung kann ich erkennen, dass es ihm nicht gefällt, dass ich Fragen stelle. Er wendet sich seinem Rechner zu und öffnet die Suchfunktion der der Informationsdatenbank. „Aktenzeichen AKPR89-040019-23/10. André C. Dotton. Gangname C-Dots“, gebe ich aus dem Gedächtnis wieder und sehe, wie Barres nach der Hälfte der Zahlen aufhört zu tippen. „Das ist ein laufender Fall...“ „Ja, das ist mir bewusst.“ „Und warum wollen Sie Informationen zu diesem laufenden Fall, der nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegt?“, fragt er fast mechanisch und lehnt sich im Stuhl zurück. Die vorige Anspannung weicht einer offensiven Grundhaltung, die einer klischeehaften Polizeitradition dient. Kollegen habe sich nicht in die Fälle anderer einzumischen. Egal, welche Absichten sie hegen oder welcher Intention sie folgen. Meine sind dazu noch berechnend und in gewisser Weise persönlich, daher zögere ich, sie offenzulegen. „Ich möchte mich nicht einmischen, ich möchte nur den Stand erfahren.“ „Weil Sie was damit bezwecken?“ „Ich habe nur ein paar Fragen.“ „Weil Sie denken, wir machen unsere Arbeit nicht korrekt“, entgegnet er harsch. Sein Blick ist scharf, fast stierend. Er beobachtet mich ganz genau. Barres öffnet die oberste Schublade und zieht eine gutgefüllte Akte hervor. Er lässt seine Hand genau über der notierten Aktennummer liegen, als er sie auf die Tischkante zwischen uns ablegt. „Wir wissen beide, dass nicht alles sofort Eingang in die digitale Akte findet. Ich möchte Ihre Eindrücke hören, ihre Gedanken und Vermutungen zum Tathergang.“ „Meine Vermutungen? Nun ja, der Fall ist eindeutig. Wir haben die DNA des Verdächtigen am Fundort der Leiche gefunden. Es gibt Augenzeugen, die einen Mann gesehen haben, der sich unmittelbaren vom Tatort entfernt hat und diese konnten ihn ausgesprochen gut beschreiben“, berichtet er mit selbstgefälliger Sicherheit. „Wie kamen Sie auf den Verdächtigen? Welches Motiv liegt vor oder nehmen Sie an?“, frage ich und nutze die dargebotene Chance, seine inkonsequente Abwehr niederzuringen. „Na gut, spielen wir ihr Spiel, Detective“, erwidert Barres nach einer Pause, schlägt die langen, muskulösen Beine übereinander und bedenkt mich mit einem eindringlichen Starren. Ich werde nicht zuerst blinzeln. „Es gab Hinweise durch die Anwohner, dass es in den vergangenen Wochen zu mehrmaligen Streitigkeiten zwischen der dort wirkenden Gang und den Anti-Drogen-Initiativen des Distrikts kam. Naheliegend war demnach, dass wir die Akteure der Initiative in den Verdächtigenkreis aufnehmen. Hier kommt der Hauptverdächtige ins Spiel. Er frequentierte nachweislich vormalig den Tatort und traf laut Aussage mehrerer Zeugen wiederholt auf das Opfer. Es gab Diskussionen und Streits, die auch durch herbeigerufene Beamte dokumentiert sind. Somit herrschte dringender Tatverdacht“, endet er die partielle Indizienausführung. Naheliegend. So bezeichnet er es. Der Detective hat nicht unrecht. „Aus welchem konkreten Grund heraus sollte er ihn umbringen?“, gebe ich zu bedenken. „Sie haben eine eindeutige Vorgeschichte miteinander. Dealer und Drogengegner. So unerwartet ist es nicht. Er arbeitet für eine Anti-Drogenorganisation und ist nach Aussage der Verantwortlichen dort durch seine sehr restriktive und klare Einstellung zu Drogen aufgefallen. Er wollte am liebsten jeden einzelnen Drogendealer einsperren und den Schlüssel wegwerfen.“ Hörensagen. Sicher ist es nichts weiter als die Widergabe einer der Aussagen. „Einsperren, nicht umbringen“, merke ich an, verweise auf den deutlichen Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien. „Ihm ist sicherlich durchaus bewusst, dass das Töten eines Dealers den Drogenhandel nicht stoppt, sondern lediglich die Position neubesetzt wird. Welchen Nutzen hätte es also, zu töten? Es hätte keinerlei Nutzwert oder Einfluss auf die Drogenflut selbst.“ „Detective, hören Sie, Motiv hin oder her, die Beweise sind eindeutig. DNA lügt nicht und die Zeugenaussagen identifizieren ihn hinreichend. Noch dazu hat er kein nachweisbares Alibi, was durch seine Frau bestätigt ist.“ „Schmauchspuren?“ „Nicht eindeutig. Es lagen mehrere Tage zwischen Tat und Festnahme und damit mehrfaches Händewaschen.“ „Auch nicht an der Kleidung?“ „Sie wurde gewaschen.“ „Überwachungsaufnahmen?“ „Keine Brauchbaren, weder am Tatort noch am angegebenen Ort des Alibis oder des Hinwegs.“ Barres tippt mit allen fünf Fingern seiner rechten Hand auf die Oberfläche der braunen Akte. Dabei krümmen sich die vorderen Glieder auffällig nach oben, so als wären die Gelenke dort überstreckt. Er wirkt ungeduldig und ich kann sehen, wie der Wille, weiter mit mir darüber zu sprechen, schwindet. Am Tisch taucht ein älterer Detective auf, der einen Teller mit geviertelten Gurkenschnitzen und genauso vielen Walnusskeksen in den Händen hält. Er drängt sich in die dicke Wolke des Ungemachs, die zwischen mir und Barres herrscht. „Eine klare Sache, also was auch immer Ihre Beweggründe sind, vergessen Sie es“, murmelt der Neuankömmling nach einem Blick auf die Akte, auf der nach wie vor Barres große Hand liegt. Er nickt mir kurz zu, nimmt sich erst ein Stück Gurke. Auf halbem Weg und in einem weiteren Sekundenbruchteil entscheidet er sich um und schnappt sich stattdessen einen Keks. Er steckt ihn sich vollständig in den Mund, ehe er mir die Hand zur Begrüßung hinhält. Ich ergreife sie und bin gespannt darauf, wie er es schaffen will, mir mit vollem Mund seinen Namen zu nennen. Zu meiner Überraschung übernimmt das Barres. „Detectives James Marks, mein Partner.“ Marks lächelt bestätigend zwischen seinen Kaubewegungen. Jedem anderen wäre der Keks wieder aus dem Mund gebröselt, er meistert diese Multitaskingaufgabe bravourös. „Pastor. Richtig?“, fragt Barres, obwohl er es genau weiß, „Mir ist vollkommen egal, warum Sie Informationen zu dem Fall wollen. Er ist wasserdicht.“ Mit diesen Worten steht er auf, glättet seinen Anzug und greift nach einem schwarzen Mantel, der über einem nahestehenden Drucker abgelegt ist und ungeheuer teuer aussieht. Vermutlich ein Kaschmirmix. Ich sehe dabei zu, wie er ihn sich überstreift und die Akte zurück in die Schublade legt. „Evans wird Ende der Woche angeklagt. Finden Sie sich damit ab.“ Das kann ich nicht. Barres verschwindet zum Treppenaufgang, während Marks samt Snacks und Kekse zu seinem Schreibtisch tippelt, wie ein falsch proportionierter Boxer. Ich bleibe an Ort und Stelle sitzen, da mir die Anlaufpunkte ausgegangen sind. So viele Indizien und Beweise. Damit habe ich nicht gerechnet. Dennoch bringe ich die Informationen nicht mit den Erinnerungen in Einklang, die ich an dem heutigen Lehrer habe. Er war immer expressiv, aber nie aggressiv. Er war stets lösungsorientiert und nie übergriffig. Ich verstehe es nicht. Allerdings ist unser letztes Treffen vier Jahre her. Es war ein improvisiertes Klassentreffen mit den Ehemaligen, die in der Gegend geblieben sind. Nichts weiter als ein lauter Abend mit gutem Essen und ein paar Drinks, die Manuel nicht angefasst hat. Mein Blick wandert über den aufgeräumten Schreibtisch und zu der Schublade, in der die Akte liegt. Ich könnte sie mitnehmen. Niemand würde es merken, aber Barres wüsste, dass ich es gewesen bin. Zu auffällig. Allerdings bezweifele ich, dass etwas anderes darinsteht als das, was ich nicht schon weiß. Sie haben DNA gefunden. Einen genetischen Fingerabdruck. Alles andere scheint irrelevant. Damit ist es für die Mehrheit so gut wie wasserdicht. Die Worte des Detectives hängen schwer in der Luft und in dem Fragezeichendunst meines Gehirns. Jeder Fall wirft in irgendeiner Form Blasen. Wasserdicht ist eher relativ meiner Meinung nach und Manuels Fall wird keine Ausnahme sein. Dringender Tatverdacht. Mord ist kein Bagatelldelikt, daher stand die Anordnung von Untersuchungshaft außer Frage. Ich muss wissen, was sie noch gegen Manuel in der Hand haben. „Scheiße“, murmele ich, greife über den Schreibtisch zum Festnetztelefon und wähle die Nummer des zuständigen Bezirksgefängnisses. Ohne direkte Verbindung zum Fall sollte ich Manuel lediglich als Freund besuchen, doch das würde mir nicht gestattet werden. Also nutze ich eine kleine Schwindelei zu meiner wahrhaftigen Beteiligung. Ich erkundige mich nach dem herkömmlichen Prozedere, den Vorgaben und bekomme keine zufriedenstellenden Auskünfte, außer, dass ich mich gedulden muss, da die aktuelle Überfüllung lange Wartezeiten mit sich bringen wird. Noch während mir die Bearbeiterin am Telefon zusätzliche Auflagen und Umstände beschreibt, die die Wahrscheinlichkeit meines Besuches einschränken, sehe ich, wie eine bekannte Gestalt im Übergang zu den Verhörräumen auftaucht. Detective Superdupernatural. Bei ihm steht noch jemand anderes, doch ich erkenne nur, dass es ein auffällig großer, dunkelhäutiger Mann ist. Das Gesicht sehe ich nur kurz im Profil. Damast sieht der Person mit schwerem Blick nach und schlürft in den Küchenbereich. Er trägt weder Hemd noch Krawatte, sondern schwarze Jeans und einen Pullover, der seinen Oberkörper quasi in eine schwarze und weiße Hälfte teilt. Seltsam ironisch. Das Teil ist ein paar Nummern zu groß, sodass er schlaksiger wirkt, als er ist. Seine Haare sind genauso wie gestern, ungestylt und locken sich an den Enden zu kleinen Kringeln. Unwillkürlich schüttele ich den Kopf und versuche mich an den Wortlaut der Satzung zum Dresscode nicht uniformierter Beamte zu erinnern. Dieses Outfit bekäme ein klares Nein. Doch aus irgendeinem Grund scheint Detectives Vikar Damast an keine dieser herkömmlichen Richtlinien gebunden zu sein und mich interessiert sehr, warum. Ich beobachte, wie Damast mehrere Teelöffel aus der Schublade nimmt und sie einzeln betrachtet. Seinem Gesichtsausdruck nach scheint er mit den Ergebnissen wenig zufrieden, denn mit einem lautlosen Seufzen wirft er sie alle bis auf einen zurück. Das auserwählte Essbesteck dreht er hin und her und lässt es versehentlich fallen. Das Klirren hallt bis zu mir vor und in der nächsten Sekunde ist er verschwunden, weil er hinter dem Tresen abtaucht. Das Wiederfinden scheint schwieriger als erwartet und beim Hochkommen schaut Damast kurz nach links und rechts, aber nicht in meine Richtung. Nach dem Reinigen legt er das Rührbesteck zur Tasse, die neben der Spüle abgestellt ist und ich entscheide mich dafür, dass es Zeit für mich ist, mir ebenfalls einen Kaffee zu gönnen. Vielleicht gibt es Neuigkeiten. Als ich im Küchenbereich ankomme, wird der Wasserkocher bereits lauter. „Hey“, begrüße ich ihn und mache mich damit bemerkbar. Damast schaut von seiner akribischen Arbeit auf, wirkt aber in keiner Weise überrascht, mich zu sehen. Was mich wundert. „Hey“, erwidert er schlicht als Echo meiner eigenen Begrüßung. Durch die Tiefe seiner Stimme klingt es mehr wie das Brummen eines nordamerikanischen Waldbewohners. Allerdings mutiert er mit dem Design seines Pullovers mehr zur asiatischen Kategorie. Beides erklärt den Honig, der neben ihm steht. „Ich habe die Nachricht gefunden.“ Und frage mich noch immer, wieso er keine SMS schickte. „Sind Sie deswegen hier?“, erfragt er mit dieser Stimme, die mir zugegebenermaßen jedes Mal wieder einen Schauer beschert, „Wenn ja, muss ich Sie enttäuschen. Ich weiß nichts Neues.“ Ich blicke zu seiner nun professionell eingeschienten Hand, die einen der Walnusskekse hält, die ich eben schon bei dem anderen Kollegen gesehen habe. Vikar folgt meinem Blick, legt den Keks zur Seite und wackelt dann mit den Fingern. „Besser als ein gebrochenes Genick, nicht wahr?“, sagt mein Kollege scherzend. Mir ist nicht zum Lachen zu Mute, denn ich beginne unweigerlich zu frösteln, als ich daran zurückdenke, dass diese Bruchstelle im Bereich des Möglichen lag. Der Blick des anderen Detectives ist für einen Moment scharf und suchend, doch dann klickt der Wasserkocher und seine Aufmerksamkeit ist verschwunden. Er schiebt die präparierte Tasse über die Küchenzeile dichter zur Spüle. Als er den Tee aufgießt, geht Wasser daneben, welches er prompt mit der Hand wegwischt, ehe ihm einfällt, dass es heiß ist. Ein interessantes Schauspiel, welches erneut die beängstigende Frage aufwirft, wie wir die gestrige Nacht überleben konnten. „Also, du bist sowas wie der Mulder des 17. Reviers?", frage ich flüsternd nach kurzem, bitterem Schweigen und mit all der aufgestauten Absurdität, die seit dem gestrigen Vorfall schwerfällig durch meine Gehirnwindungen rotiert. Ich bin automatisch näher an ihn herangetreten, lehne mich an die Arbeitsplatte und lasse meinen Blick wandern, um sicher zu gehen, dass wir niemandes Aufmerksamkeit erregen. „Und wenn es so wäre, willst du etwa meine Scully sein?", reißt er unbeirrt. Die Art, wie er es sagt, ist fast rauchig und untermalt die Tiefe seiner Stimme perfekt. Ich erkenne das feine neckische Funkeln in den grünen Augen, ehe er sie kunstvoll verdreht. „Seit wann sind wir eigentlich beim Du?“ „Wir haben zusammen ein riesiges Monster gekillt, ist das kein Du wert?“, gebe ich zu bedenken und sehe mich abermals um, um sicher zu gehen, dass keiner in die Küche getreten ist. Auch Damast folgt meinen Blicken und hebt eine Augenbraue, ehe er nach dem Honig und dem Löffel greift. „Wir haben den Golem lediglich überlebt, das ist ein großer Unterschied“, mildert er meinen Enthusiasmus ab. Er lässt etwas der klebrigen Flüssigkeit auf den Löffel und danach in die Tasse fließen und wirkt äußerst unentschlossen, wie viel er davon braucht. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich die Hoffnung, dass er lacht und mich fragt, wovon ich spreche. Ob ich verrückt geworden sei oder spinne. Doch meine letzten Hoffnungen zerbersten an der nonchalanten Realität. Wieso kann er nicht einfach darüber lachen? So, wie es jeder bei einem solchen aberwitzigen Kommentar tun würde? Die tiefe, ruhige Stimme meines Gegenübers gibt dem Ganzen eine zusätzliche ernste Note, die mir erneut die Eingeweide verdreht. Noch dazu kann ich nicht verhindern, dass mein Herz von ganz allein in den Marathonmodus wechselt und dabei fast aus meiner Brust prescht, als ich den Golem erinnere und wie sich die Schwere auf meinem Körper anfühlte. Es war kein Traum, echot es erneut und ich atme schwerer. Damasts augenscheinliche Ruhe bei dieser Thematik macht es besonders widersinnig. Was läuft falsch bei diesem Kerl? Bereits an diesem Abend. Er wirkte gefasst und war kaum überrauscht als dieses Ungetüm auf den Plan trat. Wie konnte er nicht verblüfft sein? Nicht zweifeln? Nochmals erlaube ich mir einen suchenden Blick, erwarte Verstehen und erhalte nichts als weiteres Wundern. Damast inspiziert die verstaubte Quetsche mit Honig als wäre es ein Beweismittel, welches die Morde von Jack the Ripper enttarnt, dann verzieht er das Gesicht, weil seine Finger an dem knittrigen Plastik kleben. Ich bringe es nicht fertig, dieses normale, fast schon trottelige Bild des anderen Mannes mit den gestrigen Geschehnissen in Einklang zu bringen. Dennoch. Deutlich ist mir die Spannung seines Körpers im Gedächtnis geblieben, die ungewöhnliche Konzentration in seinem Gesicht, als er fieberhaft darüber nachdachte, wie er der Situation habhaft werden könnte. Er schien, als wäre er ganz sicher, dass es etwas geben muss. Die Bedrohlichkeit war ihm demnach bewusst gewesen und jede Faser seines Körpers durchströmte sie. Allerdings riss er Witze, was die Absurdität ins Sondergleichen hervorhob. Ich habe gelernt, dass Menschen in ungewohnten und überraschenden Gefahrenlagen normalerweise nur in zwei Arten reagieren, Angriff oder Flucht. Wozu Damasts Reaktion zu zählen ist, ist mir bis jetzt unklar. Sie war weder das eine noch das andere. Nicht wirklich zu mindestens. Der andere Detective greift nach der Tasse, rührt die Flüssigkeit darin erneut um, nimmt einen langsamen, fast bedächtigen Schluck. Noch beim Trinken legt sich seine Stirn in Falten und seine Mundwinkel ziehen sich nach unten. „Du hast nicht mal gezuckt“, stelle ich laut fest, hänge noch immer meinen Gedanken nach. Damast kippt den Tee mit Schwung in den Ausguss und schaut auf, als er die Tasse auf dem Abtropfbereich parkt. „Hm?“, gibt er irritiert von sich, als wüsste er nicht, wovon ich spreche. „Als dieses Ding auftauchte oder als Izan uns ohne jegliche Anstrengung den Container entgegen schleuderte. Du hast nicht gezuckt. Kein Bisschen. Als, wäre… als … es war wirklich real, nicht wahr?“, frage ich stockend und schaffe es nicht, den Hauch des Zweifelns zu unterdrücken, der mitschwimmt, jedes Mal, wenn ich an die Szenerien zurückdenke. Selbst mein Wunsch nach Verleumdung ist so klar, dass er wie glitzerndes Wasser zwischen uns steht. „Wäre es dir lieber, wenn ich sage, dass es ein böser Traum war?“, entgegnet Damast ohne mich anzusehen, „Glaub mir, ich habe gezuckt.“ Mein Kopf will ein Ja auf die erste Frage hören. Aber auch im selben Moment ein Nein. Ich wünschte, dass es ein böser Traum war und doch erahne ich längst, dass ich es nicht so einfach sein wird. Und genaugenommen wäre es nicht das erste Mal, dass ich zweifele, dass ich auf etwas gestoßen bin, was die herkömmliche Realität und das Gewohnte in Frage stellt. Etwas, was trotz aller Gedanken keinen Sinn ergibt, egal, wie sehr ich darüber nachgrüble. Doch diesmal ist die Ausgangssituation viel schwerer zu verdauen. Ich habe es gesehen. Ich war nicht allein. „Was ist da noch? Was…“ „Mehr als du bereit bist zu verstehen“, würgt er mich ohne zu zögern ab und richtet sich auf. Damast greift nach einer Wasserflasche und geht um den Tresen herum, an mir vorbei. Ich rieche den kühlen Hauch von erdigem Grund an ihm und richte meinen Blick auf seine Schuhe. Sie sind voller sandigem Staub. Bevor er die Küche verlässt, stoppt er, ohne sich umzudrehen. „Ach, falls das hilft. Außerirdische sind Mumpitz." Ausgerechnet das Wahrscheinlichste von allen ist nicht wahr. Kann ich ihm das glauben? „Damast, warte! Gibt es wirklich noch keine Neuigkeiten von Izan? Ich meines, es dauert jetzt schon die ganze Nacht. Du musst doch irgendwas gehört haben. Irgendwas?“, frage ich hoffnungsvoll und hole ihn kurz vor dem Fahrstuhl ein. Ich will nur hören, dass es dem Jungen gutgeht. Dass er lebt. Dass er atmet. Mehr nicht. Meine innere Aufregung und Besorgnis versuche ich bestmöglich zu unterdrücken und doch schleicht sich ein leichtes Zittern in meine Stimme, welches er mit Sicherheit vernimmt. „Nein, tut mir leid, aber beim nächsten Mal bitte ich den Rebbe darum, zwischendurch den Stand zu twittern.“ Da er nicht aufsieht, bemerkt er meinen entrückten Gesichtsausdruck nicht, der sich durch die abrupte Ernüchterung einstellt, die seine ungerührte Antwort mit sich bringt. Doch mein darauffolgendes Schweigen interpretiert er vollkommen richtig. Der schlaksige Detective hebt das Haupt und sieht mich direkt an. „Sie wissen, was sie tun. Es ist nicht die erste Austreibung, die dort durchgeführt wird. Die Mitglieder sind vollkommen gefestigt und glaubenstreu. Sie wissen ganz genau, was sie machen“, fährt er fort und klingt wie die schlechte Imitation einer 90er-Jahre Computerfahrstuhlansage. Er deutet mir unpassend dazu eine überschwängliche Geste an, die mich in keiner Weise befriedigt. Das mitfühlende Beschwichtigen sollte er dringend üben. Noch dazu hinterlässt der Gedanke, dass er mir viel erzählen kann und mir nichts anderes übrigbleibt, als ihm zu glauben, nichts als Bitternis. „Wie lange kann sowas gewöhnlich dauern?“, frage ich und entscheide mich dafür, ihn nicht so leicht davonkommen zu lassen. Ich werfe ihm meine gesamte Ungeduld entgegen. Damast seufzt und sieht mich an, ehe wir zum Fahrstuhl gehen. „Es gibt kein gewöhnlich“, verkündet er lapidar, während der Fahrstuhl endlich ankommt. Ich bin kurz davor, ihn niederzuringen oder ihn in den Fahrstuhlschacht zu befördern. „Nicht hilfreich“, brumme ich ihm entgegen und folge ihm in den Fahrstuhl. „Es ist nicht wie im Film. Es werden nicht ununterbrochen Tiere geopfert und das Böse schlägt daraufhin stärker zurück, oder sowas“, fährt er unaufgeregt fort und mit einer Selbstverständlichkeit, die den Wunsch in mir weckt, ihm die Nase zu brechen, „Es braucht Geduld und Ruhe. Auch damit Izan bei Kräften bleibt. Sie beten, singen. Dieses ganze Tamtam.“ Geduld und Ruhe. Ich verabscheue, dass er das sagt. Zumal ich mir unter keinen Umständen vorstellen kann, was genau mit dem armen Jungen passiert. Ich kenne Geschichten. Ich weiß von Erzählungen und ich weiß auch, was die Bibel dazu schreibt. Doch das, was ich mir ausmale, ist nichts Gutes. Ich halte meine angestaute Energie und die leicht schwelende Aggressivität im Zaum und ziehe zur Entspannung ruhig die Luft ein. Ich brauche einen Moment, um meinen inneren Sturm und die Wut abflauen zu lassen. Der Fahrstuhl kommt endlich im Keller an. „Die Mehrzahl der Tode, die bei Exorzismen zu verzeichnen sind, werden durch aggressive und langanhaltende Sitzung herbeigeführt. Die Besessenen sterben an Erschöpfung und Mangelernährung. Pausen und Zurückhaltung sind das A und O. Für alle Parteien.“, erklärt er auf dem Weg vom Fahrstuhl zu seinem Büro und wirft, als wir ankommen, seine Jacke über den Stuhl, auf dem ich sitzen könnte. Er umrundet seinen Schreibtisch, um den größtmöglichen Abstand zwischen uns zu bringen. Auch ich kenne die von Zeit zu Zeit auftauchenden Berichterstattungen von schiefgelaufenen Exorzismen, die große Wellen schlagen und für einen Aufschrei bei der glaubensfernen Gemeinschaft führen. Doch mit der nächsten unerwarteten Promischwangerschaft verschwindet es zurück ins Vergessene. Oberflächlich gesehen helfen mir weder seine Worte, noch seine Versicherungen und doch hat die ruchlose Impertinenz, mit der er mir antwortet, etwas Beschwichtigendes. „Ich will ihn sehen“, fordere ich und lehne mich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch ab. „Es wird ihm gut gehen“, sagt er erneut, ohne auf mein Anliegen einzugehen. Die Sorge bleibt. „Das ist keine befriedigende Antwort“, dränge ich weiter. Aber auch das zeigt keine Wirkung, also schlage ich mit beiden Händen auf die Holzplatte. Der laute Hall funktioniert. „Ich habe keine. Und nun?“, bekennt er foppend. „Wie ‚Und nun?‘? Gib mir mehr Information, um in der Lage zu sein, davon irgendwas begreifen zu können, verstehst du das nicht? Was passiert jetzt weiter? Was geschieht danach mit Izan? Wird es wieder passieren? Ist er in Gefahr? Sind wir es? Was? Du stellst mich absichtlich vor ein riesiges Nichts“, meckere ich ungehalten. „Was willst du von mir hören? Ich untersuche noch die Hintergründe und kläre Dinge ab.“ „Okay, was genau bedeutet das? Was machst du üblicherweise in solchen Situationen? Was sind die nächsten Schritte um… „Dinge“ abzuklären?“, grabe ich weiter. Damast seufzt und lässt mir einen beeindruckend genervten Blick zu kommen. „Ganz einfach, ich beschwöre mit der Hilfe einer Glaskugel und Voodoopuppen meine Ahnen und schwuppdiewupp… Bevor du fragst, Ouija-Bretter sind bei Befragungen eher ineffektiv. Nicht zu vergessen, das alles funktioniert am besten mitternachts mit einem Überfluss an Menschenblut.“ Aalglatt. In seinem Gesicht ist keine verräterische Regung des Amüsements zu erkennen, dennoch weiß ich, dass es nur ein Scherz sein kann. Ich hoffe es zu mindestens. „Beeindruckend. Voodoo gibt es also wirklich?“, mucke ich zurück. „Das war… Dir ist schon klar, dass die Yoruba-Tradition eine anerkannte westafrikanische Religionsform darstellt, die von mehr 60 Millionen Anhängern weltweit praktiziert wird? Das ist keine Erfindung Hollywoods. Also ja, Voodoo gibt es wirklich.“ „Ja, das weiß ich natürlich“, entgegne ich mit Selbstverständlichkeit, „Ich meinte auch eher im Sinne der… du weißt schon… dieser… naja… ähm…“ Ich hadere abermals mit der Verwendung der korrekten Begrifflichkeiten und statt wild zu spekulieren, beginnen meine Hände einen Tanz, der von den grünen Augen des Kollegen skeptisch beobachtet wird. Ich mache ein paar Kreise, male ein Dreieck und eine Spirale. „… besonderen Umstände“, vollende ich meine unkontrollierte Wortanhäufung und seufze. „Ist dir bewusst, dass sowas in einer anderen Kultur eine Beleidigung sein könnte?“ „Verarsch mich nicht. Ich meine diese ‚Monster- existieren- wirklich‘- Geschichte.“ „Ist das denn so?“, gibt er Retour und lehnt sich zurück. In meinem Magen beginnen saure Eruptionen und sie kommen nicht von zu viel Kaffee. „Detective!“, knurre ich frustriert und es fällt mir schwer, das rumorende Gefühl der Unzufriedenheit weiter zurückzuhalten. Ich habe genug von den Unklarheiten und dieser Unsicherheit. Ich brauche etwas, woran ich mich festhalten kann, etwas, dass ich verstehen kann. Auch, wenn es nur ein Ja von ihm ist. Es würde mir erst einmal reichen. „Pastor, versteh mich nicht falsch und…“, beginnt er lächelnd, „Normalerweise bin ich der Letzte, der das fragt, aber solltest du nicht selbst an irgendwas arbeiten? Oder geh Pudding essen. Lenk dich ab. “ „Mach ich doch. Ich ermittle offiziell noch im Bakow-Fall. Schon vergessen?“ Was soll ich mit Pudding? „Oh hooo“, gibt er mit einem merkwürdigen Singsang von sich und starrt mich an. Erst Damasts Telefon durchbricht die kribbelnde Stimmung mit rhythmischen Vibrationen. Er wirft einen Blick auf das Display, kräuselt die Brauen und schiebt das Telefon zurück in die Hosentasche, ohne darauf zu antworten. „Okay! Bevor du mir weiter auf die Nerven gehst, begleite mich.“ „Wohin?“ Sein Mund öffnet sich und ich kann in seinem Gesicht erkenne, dass er mir etwas Verrücktes entgegnen will. Doch stattdessen greift er nach seiner Jacke und deutet aus seinem Büro heraus. „Wir ermitteln weiter im Bakow-Fall, was sonst“, sagt er mit einem erstaunlich ehrlichen und offenen Gesichtsausdruck, den ich ihm nicht zugetraut hätte. „Wirklich?“, erfrage ich skeptisch und verspüre keinerlei Bedürfnis. abermals in eine Situation wie am vorangegangenen Abend zu geraten. Wer weiß, welche gefährlichen Ungetüme er sonst noch aus der Tasche zieht. Ich weiß nicht, was es ist, aber irgendwas an Damast sorgt dafür, dass sich mir die Nackenhaare aufstellen. Mehr als jemals und bei jedem anderen zuvor. Warum bleibt mir gegenwärtig noch ein Rätsel, aber ich werde dem auf den Grund gehen. ~Fortsetzung folgt~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)