Von Hoffnung und Verrat von _Micawber_ ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Eivor schreckte schweißgebadet hoch. Das helle Licht der Morgensonne brannte in ihren Augen, während sie realisierte, dass sie nur geträumt hatte. Mit müden Augen musterte sie den Kerzenleuchter an der Decke, versuchte, ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es fiel ihr noch schwer, sich an den Traum zu erinnern. Das alles war so real und doch so unwirklich, dass sie einige Zeit brauchte, um ihre Gedanken zu sortieren. Seit sie vor einigen Monaten in Hræfnathorp angekommen waren, hatte sie wenige Träume wie diesen gehabt. Eivor richtete sich auf, setzte sich auf den Bettrand und rieb sich die Augen. Sie fühlte sich ungewöhnlich müde und erschöpft. So in ihre Gedanken vertieft, bemerkte sie nicht, wie es leise anklopfte. „Eivor, darf ich reinkommen?“ „Randvi... sicher. Was... ist los?“ Eivor schüttelte den Kopf und mit ihm die Gedanken fort und sah zu Randvi hoch, die nun vor ihrem Bett stand. „Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte diese besorgt. Die Bindung zwischen Eivor und ihr war noch stärker geworden, seit sie hier in England angekommen waren. Sie hatten immer ein offenes Ohr füreinander und bemerkten schnell, wenn es der anderen nicht gut ging. „Darf ich mich setzen?“ Eivor antwortete ihr bloß mit einem Nicken und blickte dann wieder Richtung Boden. Randvi setzte sich. Das Schweigen, das zwischen den beiden lag, gefiel ihr nicht. Es musste etwas Ernstes sein, wenn Eivor so in sich gekehrt war. „Was ist passiert? Hast du wieder geträumt?“ Eivor nickte still. Randvi hatte bereits genug um die Ohren, sie wollte sie nicht auch noch mit ihren Träumen belasten. Doch konnte sie es ihr auch nicht vorenthalten. Früher oder später musste sie darüber reden. Auch, wenn sie befürchtete, dass dies kein guter Zeitpunkt war. Randvi kam nie so früh in ihre Schlafkammer, wenn nicht etwas gewesen wäre. „Ich will dich nicht drängen, aber du kannst es mir sagen, Eivor.“ Einen Moment lang schwieg Eivor. Doch dann konnte sie dem nicht länger standhalten. „Ich... sah Vater. Er stand einfach so da. Mit seiner Axt. Er starrte mich an, als wäre... als wäre ich es gewesen, die Mutter erschlagen hat.“ Eivor versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern. „Es war so viel Hass und Kälte in seinem Blick. Ich rief nach ihm... doch er stand einfach nur da und sagte nichts. Ich ging auf ihn zu... streckte meine Hand nach ihm aus... «Du hast uns alle verraten!!» hat er mir entgegen gebrüllt und erhob seine Axt gegen mich... dann wachte ich auf.“ Eivor schluckte hörbar. Es war wieder einer dieser Momente, in dem sie sich so schwach und hilflos fühlte. Sie wusste diesen Traum nicht zu deuten. Ihr Vater selbst war es doch, der Kjötvi so bereitwillig sein Leben anbot. Und er selbst trug doch die Schuld daran, dass ihre Mutter und der gesamte Clan aufs Abscheulichste abgeschlachtet wurden. Wäre Sigurd nicht gewesen, wäre sie mit ihnen gestorben. War es das, was ihr Vater wollte? War es das Schicksal, das ihr eigentlich vorbestimmt war? Der Gedanke daran brachte ihren Kampfgeist zurück. „Das klingt furchtbar... Ich schlage vor, du solltest mit Valka darüber sprechen. Sie weiß sicher Rat.“ Randvi legte beschwichtigend ihre Hand auf Eivors Schulter. Sie wusste, dass sie in diesem Moment nicht mehr tun konnte, als Eivor zu beruhigen. „Ich werde euch niemals verraten, falls es das ist, was er mir sagen wollte. Ich bin nicht wie er!“ Eivor wischte sich verärgert durchs Gesicht. Randvi hatte Recht. Es war wohl das beste, ihre Gedanken mit der Seherin zu teilen. Valka wusste immer Rat, wenn ihre Träume so unklar und falsch erschienen. Sie würde später mit ihr reden. „Eivor... Sunnifa schickt mich. Unten, bei der Flusssperre, wurde ein Mädchen gefunden. Sie kroch im Gebüsch umher und suchte offenbar nach etwas. Sigurd glaubt, dass sie eine Späherin ist, die uns beobachten sollte. Die Männer haben sie zunächst nur beobachtet, aber sie näherte sich Hræfnathorp schnell. Als Dag sie gefangen nahm, schrie sie und trat um sich, als hätte Loki selbst von ihr Besitz ergriffen. Sunnifa bittet darum, dass du sie dir einmal ansiehst. Sigurd ist auch bereits bei ihr. Sie sind unten bei der Anlegestelle.“ „Ich gehe sofort, Randvi.“ Eivor erhob sich und lockerte mit einer gekonnten Kopfbewegung ihre Nackenmuskulatur. Sie rechnete damit, gleich eine wichtige Entscheidung treffen zu müssen, weshalb sie sich nun noch einmal dazu zwang, ihre Gedanken an den Traum vorerst zurück zu stellen. Randvi nickte ihr dankend zu. Eivor griff sich ihren Mantel und ihre Axt und machte sich gemeinsam mit Randvi auf den Weg zur Anlegestelle. Dort angekommen, fand sie Sigurd und einige Krieger lautstark streitend vor. Sie standen im Kreis um etwas herum, das sie von hier aus noch nicht sehen konnte. Einige spuckten darauf, andere traten es. Je näher sie der grölenden Menge kam, desto finsterer wurde ihr Blick. Was ging da vor sich? „Sigurd!“, brüllte sie, während sie die letzten Schritte tat und nun direkt hinter ihrem Bruder stand. „Was ist hier los?!“ „Eivor, da bist du ja. Wir fanden eine Späherin nahe der Flusssperre. Dag will ihr den Schädel spalten. Ich sage, wir schicken sie dahin zurück, wo sie hergekommen ist.“ Eivor schob Sigurd zur Seite. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie erschaudern. Vor ihr lag das Mädchen, das Randvi erwähnt hatte. Sie war voller Blut, ihre Männer hatten sie gefesselt und ihr ein altes Stück Stoff in den Mund gesteckt. Sie hatte panische Angst und weinte, versuchte teilweise zu schreien. Ihre Augen suchten Hilfe bei Eivor, die sie nun wahr nahm. Noch immer traten die Männer sie und spuckten auf sie. Eivor blickte um sich. Sigurd stand einfach da, während sich die Krieger darum stritten, wer als nächstes dran war, das Mädchen zu traktieren. Aus einem Grund, den sie selbst nicht erfinden konnte, machte sie der Anblick rasend. Ihre Männer verhielten sich wie wilde Tiere, die kopflos ihren Instinkten folgten. Eivor brüllte los. „Aufhören! Ihr alle! Sofort!“ Sie zog ihre Axt und stellte sich ihrer Mannschaft gegenüber. Das Mädchen schützend hinter ihr. Einen nach dem anderen traf Eivors wütender Blick, während sie überrascht zurück wichen. „Gut hast du diese Männer im Griff, wenn ich nicht da bin“, presste sie an Sigurd gewandt hervor. Dann viel ihr Blick zurück auf die Mannschaft. „Wer hat euch den Befehl gegeben, ein junges, wehrloses Mädchen dermaßen zu behandeln?!“ Eivor hob die Axt, während sie jeden einzeln ansah. „Dag hat angefangen...“, murmelte Erik, einer von Eivors besten Kriegern. Das dachte sie zumindest. Ihr Blick fiel auf Dag. Sie hob ihre Axt und hielt sie ihm direkt an die Kehle. Das Mädchen hinter ihr wimmerte leise vor sich hin. „Dag. Warum bist es bloß immer du, der die Schuld an solchen Dingen trägt, wenn ich nicht da bin?“ Eivor funkelte ihn wütend an. Es kochte in ihr. Sie war so rasend, dass sie kaum noch klar denken konnte. Schnaubend presste sie ihre Axt noch fester gegen Dags Kehle, sodass dieser kurz nach Luft rang. „Du hast mich oft genug hintergangen. Hast meine Befehle missachtet, weil du dich für schlauer hieltest. Wo Sigurd dir immer wohlgesonnen war, hinterfragte ich deine Taten und Gedanken. Du konntest nie akzeptieren, dass ich dich befehlige. Und nun stehst du hier und schindest ein junges Mädchen?! Deine Alleingänge enden hier.“ Eivor schloss kurz die Augen. So vieles schoss ihr in den Sinn. So vieles, was Dag ihr angetan hatte. Nur zu oft hatte er sie vor der ganzen Mannschaft bloß gestellt, hatte Geschichten verbreitet, die nicht der Wahrheit entsprachen. „Eivor...“, Sigurd hob mahnend die Hand. Er ahnte, was gleich passieren würde. Doch konnte er es nicht mehr abwenden. Eivor trat einen Schritt zurück, riss ihre Axt hoch und trieb sie Dag in den Schädel. Wieder und wieder, und mit jedem Schlag, den sie tat, schrie sie. Blut spritzte ihr ins Gesicht, doch das hielt sie nicht davon ab, noch weiter zuzuschlagen. Randvi stand neben Sigurd, die Hände entgeistert vor ihrem Gesicht. Sigurd selbst stand einfach da, mit geschlossenen Augen und wartete, bis Eivors Rausch sich legte. Er wusste, dass er sie in diesem Zustand nicht halten konnte. Und er wusste auch, wie sehr Eivor auf diesen Tag gewartet hatte. Dag war ein guter Krieger, doch hatte er auch Sigurd gegenüber nicht immer den nötigen Respekt gehabt. Eivors Schläge wurden langsamer, schwächer, bis sie gänzlich aufhörten. Sie atmete schwer, während sie sich das Blut aus dem Gesicht wischte und sich erschöpft auf ihre Axt stützte. Niemand um sie herum wagte es, die Stimme zu erheben. Entsetzen lag in der Luft. Einzig das leise Wimmern des Mädchens war zu hören. Eivor richtete sich auf, blickte noch einmal auf Dags Überreste herab und drehte sich wieder zu dem Mädchen um. Seine panischen Blicke und Laute trafen Eivor. Sie kniete sich zu ihr herunter und konnte sie nun zum ersten Mal richtig sehen. Ihre blonden, langen Haare klebten in ihrem blutverschmierten Gesicht. Sie war schlank, durch ihr zerrissenes Lederoberteil konnte Eivor jedoch einen Muskelansatz erkennen. Ihre Hose, ebenfalls aus Leder, war genauso kaputt, wie der Rest ihrer Kleidung. Sie hatte einen Schuh verloren. Eivor schätzte, dass sie ungefähr in ihrem Alter war. „Ruhig, Kleine. Ich entschuldige mich zutiefst für das, was meine Männer dir angetan haben.“ Eivor redete leise und beruhigend auf sie ein. „Kannst du mich verstehen?“ Das Mädchen schaute sie panisch an, in ihren blauen Augen spiegelte sich die Angst, sie zitterte stark. Ihr Blick wanderte an Eivor vorbei zu den Kriegern, die noch immer schweigend da standen und sie anstarrten, als wäre sie Schlachtvieh. Eivor bemerkte dies und drehte sich zu ihren Männern um. „Geht! Um euch kümmere ich mich später!“, befahl sie harsch. Die Krieger folgten ihrer Anweisung und verschwanden. Einzig Sigurd und Randvi blieben. Eivor wandte sich wieder dem Mädchen zu. Als sie die Hand hob, um ihr den Stoff aus dem Mund zu nehmen, schrie sie wieder panisch auf. „Ganz ruhig, ich will dir bloß das Ding da abnehmen.“ Eivor gelang es, den Stofffetzen zu entfernen. Sie trat einige Schritte zurück, um das Mädchen nicht noch mehr zu verunsichern. „Mein Name ist Eivor. Verrätst du mir deinen?“ Eivor versuchte es mit einem Lächeln und kniete sich wieder hin, sie hielt jedoch weiterhin Distanz zu dem Mädchen. Allmählich schien sie sich etwas zu beruhigen. Ihr Zittern wurde weniger, sie versuchte sogar, sich aufzusetzen, was ihr aufgrund der Fesseln allerdings schwer gelang. Eivor bemerkte dies. „Vielleicht fühlst du dich wohler, wenn ich dir die Fesseln abnehme. Darf ich?..“ „Eivor, hältst du das wirklich für eine gute Idee?“, brachte Randvi unruhig hervor, doch Eivor bedeutete ihr mit einem Zischen, ruhig zu sein. Das Mädchen blickte Eivor noch immer misstrauisch an, hielt ihr dann aber vorsichtig die Hände hin, um sich befreien zu lassen. Ruhig schnitt Eivor mit ihrer Axt das Seil durch und trat dann wieder zurück. Verunsichert rieb sich das Mädchen die Handgelenke. Eivors ruhige Worte schienen sie ein wenig Vertrauen schöpfen zu lassen. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Doch dann sprach sie mit brüchiger Stimme die ersten Worte. „Danke. Ich... ich heiße Eysa. Ich musste aus meiner Heimat fliehen.“ Das Sprechen schien ihr schwer zu fallen. „Eysa. Und woher kommst du?“ Eivor sprach ruhig und gelassen weiter. „Du sagtest, du musstest fliehen. Vor wem?“ „Er hieß... Gorm... Gorm... Kjötvisson. Er hat meine Heimat eingenommen und... und alle unterworfen. Auch meine Eltern... sie schickten mich mit einem Schiff fort. Allein. Zwar bin ich 23 Winter alt, doch ich war noch niemals ohne sie. Was wohl aus ihnen geworden ist...?“ Sie senkte traurig den Blick. „Sagtest du Gorm Kjötvisson?!“, fragte Eivor fassungslos. Eysa nickte. „Wo ist diese Heimat, von der du sprachst?“ „Finnland.“ Eivor schloss erbost die Augen. Finnland. Dorthin war er also gegangen. Ihre Erinnerungen an Gorm und dessen Clan holten sie ein. Wie sie nach langen Jahren des Krieges endlich seinen Vater erschlug und Gorm wie eine feige Ratte einfach davon lief. Wie er versucht hatte, sie in Norwegen vor König Harald der Hinterlist zu bezichtigen. Und wie froh sie war, ihn seit diesen Tagen nicht mehr gesehen zu haben. „Kennst du ihn?“, fragte Eysa, die mittlerweile etwas ruhiger geworden war. Eivor blickte zu Sigurd. Er schüttelte wortlos den Kopf und blickte sie zornig an. Sollte sie Eysa von ihm erzählen? Sie war eine Fremde, die auf äußerst fragwürdige Weise zu ihrem Clan gefunden hatte. Und doch hatte sie auch unter ihm leiden müssen. Sigurd erhob die Stimme. „Ich denke, wir sollten uns drinnen unterhalten, Eivor. Lass dieses Mädchen gehen, wohin sie will. Ich erwarte dich im Langhaus.“ Er warf Eivor einen warnenden Blick zu und verschwand. Randvi folgte ihm. „Was wirst du mit mir tun... Ei-vor?“ Eysa wirkte hilflos. Eivor konnte sie nicht einfach sich selbst überlassen. Nicht nach dem, was sie durchgemacht hatte. Ihre Gedanken bereiteten ihr Kopfschmerzen. Sie hier zu behalten würde Sigurd und dem gesamten Clan erheblich missfallen. Vielleicht würden sie sogar so weit gehen, Eysa in einer unbeobachteten Stunde zu töten. Sie gehen zu lassen, wäre jedoch wohl ebenfalls ihr Todesurteil. Die Diebe und Söldner in dieser Gegend würden sie misshandeln und dann einfach dem Tod überlassen. Konnte sie das zulassen? Damals, in ihrer dunkelsten Stunde, hatte man Eivor auch geholfen. Ohne diese Hilfe wäre sie jetzt nicht mehr am Leben. Sie fasste einen Entschluss. „Komm mit mir Eysa, ich zeige dir, wo du dich waschen und dir neue Kleidung holen kannst. Du kommst vorerst bei mir unter.“ Eivor half Eysa hoch und stützte sie, als sie sich auf den Weg zum Langhaus machten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)