Musik 4Y von mikifou (Diese eine Person, die...) ================================================================================ Kapitel 1: Ein Schritt nach vorne --------------------------------- Kapitel 1: Nach Hause zu kommen und zu sagen „Bin zuhause“, die Tasche und Schuhe in eine Ecke zu feuern und sich auf die Couch zu werfen, klang für mich immer absurd. Was war so toll daran „nach Hause“ zu kommen? Wann sollte mich das Gefühl des Heimgekehrt seins erfassen? Wenn ich durch die Tür schritt oder wenn ich mich auf die Couch warf? Als Teenager hatte ich darüber nachgedacht, ehe ich dieses unerklärliche Phänomen einfach fallen ließ. „Die Türen in den Wohnheimen werden alle durch Schlüsselkarten geöffnet. Früher gab es PIN-Codes an der Tür, aber das wurde vor einigen Jahren umgestellt. Stell also sicher, dass du deine Karte immer bei dir hast. Ich selbst habe eine Ersatzkarte bei einem Freund hinterlegt. Das Sek hat eine Universalkarte, aber wenn die Spitz kriegen, dass du deine Verloren hast, wird’s teuer. Sie tauschen das gesamte Schloss aus. Das hatten sie bei einer aus dem dritten Semester darstellende Kunst gemacht. Glaube sie musste fünfhundert für alles zusammen blechen.“ Ich trat hinter meinem geschwätzigen Kommilitonen ein, welcher mir vor gut einer Stunde vom Sekretariat zugewiesen worden war. Was er alles leistete und wo er alles Mitglied war, hatte ich bereits vergessen. Eine Stunde lang kaute er mir bereits ein Ohr ab. Zuerst gingen wir ewig lang über das Unigelände und hatten dabei nur die Pflichtsäle abgeklappert. Die fachspezifischen Räume waren weiter verstreut. Es gab sogar Proberäume in der Stadt. Als es endlich in Richtung Wohnheime ging, hätten meine Füße vor Freude aufschreien können. Sah man auf die Karte mit allen Unigebäuden und Nebengebäuden, befanden sich die Wohnheime rechts vom zentral gelegenen Hauptgebäude. In zehn bis fünfzehn Minuten zu Fuß war man bei den wichtigsten Vorlesungen. Man musste nur einen kleinen Grünstreifen passieren, der das Hauptgebäude rechtsseitig wie eine Mondsichel umgab. An der dicksten Stelle dieser Sichel und damit noch ziemlich zentral gelegen, befanden sich besagte Wohnheime. „Die Zimmer sind fast gleich aufgebaut“, berichtete mein Reiseführer gelangweilt. „Wie du siehst hast du hier Wohnraum und Küche in einem. Es wirkt zwar stylisch, weil der Raum rundgehalten wurde, aber es ist total unpraktisch, um Möbel hinzustellen. Ne Abzugshaube gibt’s auch nicht“, erzählte er weiter und betrat die noch leere, aber offene Küche. Sie bestand aus einer freistehenden Arbeitszeile zum Wohnraum hin und einer Kochzeile mit Kühlschrank dahinter. „Wenn du also kochst, mach’s Fenster auf, sonst wird’s hier schnell blau drin und die Rauchmelder sind empfindlich. Was dir an Kochgeschirr fehlt musst du selbst kaufen.“ Der Wohnbereich vor der Küchenzeile wirkte wie ein schwarzes Loch. Der Raum war rund gehalten und um diesem noch mehr Ausdruck zu verleihen, war die Mitte des Raumes in den Boden eingelassen worden. Eine kleine Stufe führte zu einer tiefergesetzten Couch mit Couchtisch und einem Sitzsack. Der Fernseher war gegenüber an der Wand postiert worden. Die vorhandenen Möbel standen unglücklich an der leicht runden Wand. Es sah nach nichts aus, ungewollt und halbkreativ. „Die Türen links und rechts führen zu den Schlafzimmern. Jedes Schlafzimmer hat ein internes Bad. Nichts Großes. Klo, Dusche, Waschbecken. Wenn du der Badetyp bist, musst du wohl ins Öffentliche gehen. Daran sind wir vorhin vorbeigegangen. Ein Gebäude hinter dem Waschsalon.“ Mein Kommilitone, sein Name war Niklas, stimmt, Niklas Irgendwas… Niklas ging in das Zimmer zu meiner Linken. Ich folgte ihm durch die offene Tür. Das Zimmer war groß für einen Alleine. Bedachte man, dass man hier schlafen und studieren musste, war es fast schon wieder klein, je nach Studienfach. „Sehen beide gleich aus. Bis auf die Möbel vielleicht“, kommentierte Niklas. „Mikael war dein Name?“ „Ja, aber nenn mich ruhig wie du magst“, war meine prompte Antwort. „Okay… ähm… Such dir ein Zimmer aus. Du wirst dieses Semester wohl alleine wohnen.“ „Okay.“ „Das ist ziemlich cool, muss ich gestehen. Dass du alleine wohnst. Ich teile mir mein Wohnzimmer mit noch drei anderen. Es ist cool, aber manchmal ist es echt zu eng.“ „Glaub ich gerne. Ist eure WG anders aufgeteilt?“, fragte ich rein aus Interesse. „Total anders. Keine Ahnung, ob du irgendwelche Stippen gezogen hast oder einfach nur Glück hattest, aber das hier ist eine der neueren WG’s. Hier“, er zückte den Geländeplan und deutete auf den Wohnheimbereich. Das meiste waren natürlich WG’s. Es gab nur sehr, sehr wenige Einzelwohnungen. „Hier sind wir. Das wurde alles erst vor zwei, drei Jahren gebaut. Der Entwurf stammt von einem ehemaligen Architekturstudenten. Vielleicht darfst du auch deswegen hier wohnen“, meinte Niklas beiläufig und zuckte mit den Schultern. „Hier hinten sind die anderen WG’s. Die ersten waren wie Plattenbauten gehalten und können aus sechs bis acht Studenten bestehen. Die danach, findest du hier. Man ging dazu über es kreativer zu gestalten, darum bekam man mehr Platz im Einzelzimmer, aber zugleich passten auch weniger Studenten in eine WG. Ich wohne hier. Da ist Platz für vier bis fünf Studenten.“ Wir unterhielten uns noch eine Weile. Niklas wusste erstaunlich viel Allgemeines über die Uni und die Studenten. Seiner Aussage nach, lag das nur an seinem Nebenjob in der Verwaltung der Uni. Er studiere zwar Bühnentechnik und darstellendes Spiel, aber war deutlich begabter im Organisieren von Bürotätigkeiten. Nach zehn weiteren Minuten war ich froh, dass Niklas endlich ging. Er hatte sich ohnegleichen auf die Führung vorbereitet. Ich besaß endlos viele Flyer mit Markierungen und Notizzetteln. Allerdings war ich mir sicher, dass ich, sobald Niklas weg war, alles vergessen würde, was er mir gerade noch in den Schädel geprügelt hatte. Ich bedankte mich mehrfach für seine Zeit und die vielen Infos und konnte es kaum erwarten, dass er die Tür hinter sich schloss. Interessiert sah ich mich um, bis das ersehnte Klicken des Schlosses zu hören war. Augenblicklich hielt ich mit allem inne und lauschte in die Stille hinein. Nichts. Lautlos, beinahe ehrfürchtig, ging ich auf die Mitte des Raumes zu, nahm die einzelne Stufe und ließ meinen Rucksack auf den Zweisitzer fallen. Es war unvollkommen, chaotisch, geschmacklos und perfekt! Ich setzte mich auf den Dreisitzer und legte mich der Länge nach hin. Unweigerlich musste ich grinsen. Leise lachte ich für mich und streckte mich ausgiebig. So fühlte sich also „nach Hause“ kommen an. Gar nicht mal so schlecht. Zu faul aufzustehen angelte ich mir meine Tasche von der kleineren Couch und holte die vielen Flyer heraus. Das Universitätslogo wirke verworren, hatte aber Stil. Vor eineinhalb Jahren war ich auf diese Uni aufmerksam geworden. Damals war klar, dass ich meinen Bachelor an der Uni beendete, welche meine Eltern ausgesucht hatten. Aber danach konnte ich entscheiden. Ich musste nicht auf derselben Uni meinen Master machen und bei Gott, das wollte ich auch nicht. Eine Uni weiter weg, im Ausland wäre mir lieb gewesen, aber von den fünf, welche in der engeren Wahl gewesen waren, gewann diese hier. Die „freie Universität der Künste und ideellen Zukunftsgestaltung“ war quasi die „diverse Uni“ unter den Unis. Sie war eigentümlich, bunt und relativ günstig. Zwar lief viel über Stipendien, doch hauptsächlich die Studenten im Bereich Kunst und Musik mussten sich um Sponsoren bemühen. Es war hart verdientes Brot. Ich für meinen Teil zahlte fast zweihundert Glocken weniger als an herkömmlichen Unis. Noch erschloss sich mir nicht, was Architektur mit den Künsten der Zukunft wie Musik oder Kunst, Sport oder Theater zu tun hatte, aber ein wenig begann ich den Zusammenhang zu erahnen. Wenngleich die Zusammengehörigkeit der Fächer Sinn ergab, war ich mir nun unsicher, die richtig Wahl getroffen zu haben. Wie dem auch sei. Ich hatte noch ganze drei Tage, um mich hier einzurichten. Die nutze ich sogleich um das Chaos von geraden Möbeln zu runden Wänden zu lösen. Statt langen Sideboards stellte ich hohe, schmale Regale hin. Nicht breiter als dreißig Zentimeter, wodurch der Raum in seiner Höhe betont wurde. Immergrüne Pflanzen lockerten das steife Konzept auf. Kräuter kamen in die Küche, eine modische, tiefhängende Lampe ersetzte die kahle Glühbirne in der Raummitte. Alles was ich nicht brauchte, hortete ich zunächst im freien Zimmer oder ließ es von einem der vielen Hausmeister netterweise abholen. Das Bad war ok wie es war. Doch mein neues Schlafzimmer stellte ich etwas um. Den Arbeitstisch ans Fenster, das Bett gegenüber der Tür, den Kleiderschrank auf die gegenüberliegende Seite, seines vorherigen Standortes. So hatte ich nicht mehr das Gefühl erschlagen zu werden, wenn ich das Zimmer betrat. Zufrieden mit mir begann ich mit dem vierten Tag mein Masterstudium zum Architekten. Student zu sein empfand ich schon immer als ferner der Realität zum Leben. Man lernte einfach nur, teilte sich den Tag selbstständig ein und tat grundlegend, was man wollte, wann man wollte. Das bisschen an Recherche für die Hausarbeiten, die Stunden am PC oder der Bibliothek, ebenso die scheinbar nicht enden wollenden Seminare waren reinste Hirnerholung. Während meines Bachelors hatte ich mitbekommen, dass meine Einstellung zu den Dingen eher ein Sonderfall war. Die meisten Studenten klagten und stöhnten unter der Last, die ihnen von den Dozenten, Doktoren und dem Staat auferlegt wurden. „Ben sprich! Wieso stört dich das nicht?“ Diese Frage stammt von einem guten Freund aus meinem Bachelorstudiengang. Wir belegten fast alles gemeinsam und entwickelten eine ziemlich gute und entspannte Freundschaft. Nachdem ich mich vorgestellt hatte und meinte, er könne mich nennen, wie er wollte, sprach er mich nur noch mit Ben an. Das war äußerst amüsant. Die meisten blieben bei Mikael oder nannten mich beim Nachnamen. Dass er mich wirklich neu benennen würde, machte ihn nur sympathischer. „Ich dachte, ein Hannes interessiert sich nicht für sowas.“ „Du hast grundsätzlich recht. Aber du bist einfach zu seltsam… Also, was steckt dahinter?“ Ich weiß bis heute nicht, ob meine Entscheidung von damals die richtige war oder nicht. Aber bis dato sind wir noch Freunde geblieben. Demnach war alles in Ordnung, oder? Für meinen Master und die neue Uni war ich schlauer. Ich konnte auch jammern, wenn es angebracht war. In Bezug auf die Rechtsseminare würde ich das vielleicht sogar tun. Die Rechtsseminare waren übergreifend für alle Studienfächer Pflicht. Dabei zählte nur, dass man zwei Seminare für die entsprechende Punktzahl abschloss. Das wurde für die Gesamtdauer der Studienzeit angerechnet. Wenn man hier also für vier Jahre und länger eingeschrieben war, war das nichts. Für mich, der bisher nur in Aussicht hatte zwei Jahre zu bleiben, bedeutete es unnötige Zusatzarbeit. Dabei könnte ich dieses Seminar selbst halten, bei meiner Erfahrung! Eine Qual wirklich. Der Saal fasste bestimmt an die hundertfünfzig bis hundertachtzig Menschen. Die Sitzreihen waren komplett gefüllt, einige standen sogar an den oberen Rängen. Der Raum war ähnlich einem Amphitheater gebaut worden. Der Dozent stand unten und hielt seine Reden, während die Studenten in einem Halbkreis um ihn herumsaßen. Die Reihen wurden länger je höher man saß. Eigentlich ein kleines Meisterwerk und mich interessierte brennend, wie es unter den Stühlen aussah. Doch wohl nicht alles hohler Beton oder? Gemurmel riss mich aus meiner Träumerei über die Bauleistung des Raumes. Einer der Gründe war, dass der Dozent gemütlich mit seiner Tasche unter dem Arm die Stufen hinab ging. Der andere Grund war, dass neben mir die Leute nach und nach entnervt aufstanden. Ich hatte gesagt, dass alle Sitze belegt waren. Nun, einer war noch frei gewesen. Neben mir. Der Sitz in der Mitte des Raumes und aller Reihen. So gesehen, das perfekte Zentrum des Raumes. „‘Tschuldige“, raunte der Student, der sich endlich bis zu mir vorgedrängelt hatte. Seine Stimme war angenehm und etwas gehetzt. War wohl gerannt, hm? Sein Glück, dass kein anderer sich diesen wertvollen Platz vor ihm ergattert hatte. Flüchtig sah ich mich um. Einige der Stehenden verzogen missmutig das Gesicht, andere schauten gelangweilt vor sich her. Scheinbar hätte der ein oder andere auch gerne gesessen, hatte sich nur nicht getraut alle anderen aufzuscheuchen. „Gerade noch so geschafft, was?“, merkte ich an und sah ihn schulterzuckend an. „Da sagst du was. Letztes Jahr stand ich auch da oben. Aber alle die stehen, werden rausgeschickt“, sagte er und setzte sich. „Oh.“ „Liegt am Dozenten“, erklärte er weiter, während er seine Tasche auspackte. Doch das war nicht, was ich gemeint hatte. Jetzt, wo er direkt neben mir saß, erkannte ich ihn wieder. „Mh, ja, ist ja auch ok, aber das meinte ich nicht“, gab ich brabbelnd von mir. „Du bist der Musiker. Danke nochmal für die Zigarette.“ Fragend sah er endlich auf und es schien auch bei ihm klick zu machen. „Der Schnorrer.“ Missmutig verzog ich mein Gesicht. „Du hast mir eine angeboten, schon vergessen?“ „Ansichtssache. Du musst auch noch Recht belegen?“ Ich lehnte mich zurück und sah nach vorne. Wie angekündigt, schickte der Dozent alle Stehenden hinaus, was für kurzzeitiges Gemurmel sorgte. „Da ich erst mit studieren anfange, dachte ich, ich bring‘s gleich hinter mich.“ „Weise Wahl. Viele schieben es auf, weil es ein flexibles Fach ist und stehen dann am Ende unter Stress.“ „So wie du?“, fragte ich keck und hob eine Augenbraue. Er seufzte nur und stützte sein Kinn ab. „Leider ja. Obwohl ich sagen muss, dass ich meinen Werdegang nicht bereue.“ Ich beäugte ihn noch einen Moment, ehe ich mich dem Dozenten und seiner drögen Begrüßung widmete. Das Rechtsseminar fand jeweils Dienstags und Freitags statt. Nachdem die organisatorischen und notentechnischen Dinge erledigt worden waren, wurde es richtig langweilig. Wir begannen mit Definitionen und ersten Gesetzen. Ich stützte meinen Kopf ab und hätte einschlafen können. Ich hörte zwar zu, schrieb aber nichts auf. Gelangweilt sah ich mich um. Alle wirkten so eifrig. Vielleicht täuschte das auch. Mein Banknachbar ebenso. Seine Hand stand nicht einen Moment still. Erst als er umblätterte, sah ich, dass er nicht die edlen Worte des Dozenten aufschrieb, sondern Noten. Schmunzelnd sah ich weg. Musiker… Während ich mich in den letzten Tagen eingerichtet hatte, hatte ich mir die Zeit genommen und via Spaziergängen das Gelände erkundet. Meine Seminarräume fand ich leicht, die Wege zur Bibliothek und Mensa waren einfach und die Grünanlagen angenehm zum Erholen. Nach dem Gespräch mit Niklas zu den Lebensräumen der Studenten, war ich neugierig geworden, wie das alles in echt aussah. Gemütlich ging ich die alten Blockgebäude ab, kam zu den neusten gebauten WG’s und schließlich zu jenen in welchem irgendwo auch Niklas wohnen würde. Von außen sahen sie aus wie kleine Einfamilienhäuser im Doppelbungalowstil. Es gab keine Vorgärten, aber Terrassen auf der Rückseite. Zwischen den einzelnen Häusern waren vielleicht zehn Meter Abstand, der mit einem Weg und leicht vertrocknetem Rasen gefüllt worden war. Die Wege zogen sich durch die gesamte Anlage. Wirkliche Privatsphäre gab es dadurch nicht, aber immerhin kam man über diese Schleichwege schnell von A nach B. Ich ging auf der „Hauptstraße“ und passierte ein weiteres Haus, als etwas vor mir auf den Fußweg krachte. Das ehemals fliegende Objekt war ein nun demolierter MP3-Player. Eher ein älteres Model. Schade drum. Ich sah in die Richtung aus der das Flugobjekt gekommen war. Die Haustür war weit geöffnet und ein Student kam heraus gestürmt. „Genau! Hau ab! Stürm hinaus, wie immer! Da organisiert man für dich und“, die keifende Frauenstimme wurde von dem Studenten arg unterbrochen. „Ich habe dich nicht darum gebeten! Du bist doch die, die nie zuhört und einfach über meinen Kopf hinweg entscheidet!“ Es kam ein anderes Objekt geflogen. Mit gerader Flugbahn hielt es auf den Kopf des Studenten zu, der es mit einer Hand fing, ehe es seinen Kopf hätte treffen können. Diesmal war es ein Apfel. Unschuldig hob ich eine Augenbraue, da wurde bereits die Haustür ins Schloss geknallt. Der Student vor mir seufzte laut und lange. Dann kniete er sich hin und barg den MP3-Player. „Shit… der is‘ wohl hin.“ Ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich, dass alles ignorierend, weitergehen sollte oder einen Kommentar zum Besten geben würde. Beides wäre typisch Ich. Dieses Mal wurde mir die Entscheidung abgenommen, weil der Student aufstand und mich perplex ansah. Wie Rehe im Scheinwerferlicht starrten wir uns einige Sekunden lang an, ehe wir zeitgleich zu sprechen begannen. „Nice catch.“ „Sorry für den Krach.“ „…“ Ich zuckte mit den Schultern. „WG-Leben. Bleibt halt nicht aus. Geht der Player noch?“ „Weiß nicht“, antwortete er und steckte das kleine Gerät in seine Hosentasche. Mit seiner freien Hand zauberte er eine Zigarettenschachtel hervor und steckte sich eine von den Glimmstängeln in den Mund. Ich stand immer noch untätig vor ihm und starrte wohl etwas zu offensichtlich. „Willst du?“, fragte er mit Filter im Mund. Ich starrte auf die mir dargebotene Schachtel und überlegte einige quälende Sekunden. Schlussendlich griff ich doch zu. Es war Jahre her, dass ich zuletzt geraucht hatte. Der zerbrechliche Zylinder fühlte sich vertraut zwischen meinen Fingern an. Ich nahm das dargebotene Feuerzeug, steckte den Filter in den Mund und zündete die Zigarette. Das Feuerzeug zurückreichend, zog ich am Filter und ließ mir Zeit mit dem Ausatmen. Erst dann bemerkte ich die mich studierenden Augen. „Was?“ „Ich hatte irgendwie erwartet, dass du husten würdest“, gestand der Student schulterzuckend. Ich wollte zurücksticheln, doch mein Gegenüber wand sich um und ging die Straße entlang. Unhöflicher Geselle, dachte ich und folgte ihm trotzdem. Wir erreichten einen Kreisel. Einer von vielen, wie ich festgestellt hatte. Von oben betrachtet, waren diese Wohnblöcke in Quadraten angeordnet. Architektonisch so lala. Dieser Kreisel hatte eine kleine Grünfläche in seiner Mitte und abseits vom Rand standen zwei Bänke. Ein ziemlich ungewöhnlicher Ort für einen Bank, fand ich. Aber was an diesem Unigelände war nicht irgendwie „ungewöhnlich“? Der Student besetzte eine der Bänke und lehnte sich zurück. Er war etwas größer als ich, mit dunkelbraunen, leicht lockigen Haaren und ebenso dunklen Augen. Sein Kleidungsstil war legere. Lange, lockere Hose mit großen Taschen an den Seiten, ein Oversizedshirt mit einer Kapuzenjacke drüber. Er holte den Apfel aus seiner Jackentasche und biss hinein. Er hatte eine ungeschriebene Eleganz an sich, während mich zugleich das Gefühl beschlich, dass er nicht auf den Mund gefallen war. Sein Blick vorhin war ebenso durchscheinend wie stechend gewesen. Davon abgesehen: Schmeckte Apfel und Zigarette überhaupt zusammen? „Wo willst du hin?“, fragte er schließlich, da ich mich noch immer nicht vom Fleck bewegt hatte. „Verlaufen?“ Es schwang etwas amüsiertes in seiner Stimme mit, was mich sofort aufsehen ließ. Tatsächlich leuchteten die braunen Irden mit etwas Schalk. So was konnte ich ja leiden… „Nein, ich weiß, wo ich hin muss. Ich überlege nur, ob ich noch einen Umweg gehe“, meinte ich beiläufig und zog an meiner Zigarette. Etwas ungewohnt war es doch nach all der Zeit. Das Nikotin ließ meinen Kopf schwammig werden. „Bist du neu?“ „Hmhm“, gestand ich und schaffte es mich von dem Punkt an welchem ich mich festgeguckt hatte, loszureißen. „Welche Richtung?“ „Architektur. Und du?“ „Musik.“ Ungewollt zog ich eine Augenbraue hoch und maß ihn mit einem fragenden Blick. „Wirklich?“ „Ja. Probleme damit?“ Ich starrte ihn noch eine Sekunde länger an, ehe ich meinen Kopf schüttelte und noch einen Zug nahm. Musiker… natürlich musste es ein Musiker sein. „Hatte es nur nicht erwartet. Etwas, dass ich kennen sollte?“ „Wir haben zwar Praktika, aber veröffentlichen dürfen wir erst im letzten Jahr. Selbst ein Demo ans Radio zu schicken ist verboten.“ Interessant. „Nachvollziehbar“, antwortete ich schlicht. „Findest du? Viele finden es ungerecht“, argumentierte er. Ich sah ihn noch einen Zug nehmend an und er tat selbiges. Das war das erste Mal, dass ich mich an diesem Braun festguckte. Die Spannung die sich kurzzeitig aufbaute, schien mich aufzuladen. „Sicherlich gibt es Talente, welche darauf warten entdeckt zu werden. Aber mit diesem Studium habt ihr einen sicheren Weg, um es ins harte Musikbusiness zu schaffen. Ich finde, die Zeit hier solltet ihr besser nutzen, als auf Teufel komm raus etwas nach außen zu tragen.“ Ich wandte meinen Blick ab und überlegte, ob ich vielleicht direkt nach Hause gehen sollte. Ich spürte seinen Blick noch auf mir und ehrlich gesagt, reichte mir diese Interaktion mit Menschen für diesen Tag. Seine Art war auch komisch. Wie ein Kratzen unter dem Nagel, machte es mich nervös. „Wie heißt du?“, fragte er mich schließlich. „Nenn mich wie du magst“, kam meine Standardantwort. Fragend und abschätzend sah er mich an. „Ist dein Name so peinlich?“ Ich schmunzelte flüchtig. „Nein“, sagte ich direkt und sah ins Braun. „Wie heiß du?“ „Timothy.“ „Dann, Timothy, Danke noch mal für die hier“, meinte ich und hob die restliche Zigarette hoch, ehe ich mich abwendete und zu meinen eigenen vier Wänden ging. Neugierig sah ich zurück und konnte die Noten diesmal genauer sehen. Augenblicklich verband mein Hirn die Töne miteinander und mein Finger tippte den Takt automatisch mit. Ich verlor mich etwas in der Melodie. Sie war anders und etwas erfrischend. Bevor ich am Ende der Seite angekommen war, bemerkte ich eine Hand auf meinem Heft, die ungefragt hineinschrieb. >Kannst du Noten lesen? < Ich nickte stumm und verfluchte mich innerlich. Aber ruhig Blut, ruhig Blut. >Als Architekt? < Ohh, wie ich den Hohn in seiner Stimme heraushörte. Das wissende Grinsen brauchte ich dazu nicht mal sehen. Ich griff nach meinem Stift und antwortete: >Na und? < Timothy tippe stumm mit dem Stift auf das Blatt. Sein Blick reichte aus, die Frage klar zu erkennen. Also fügte ich hinzu: >Hatte als Kind Unterricht. < Das schien ihm zu reichen. Seine schlanken Finger bewegten sich wieder. Seine Hände waren nicht nur groß, sondern auch schlank und lang. Wahrscheinlich spielte er Gitarre oder andere Saiteninstrumente. Ich konnte zwar auch etwas Gitarre spielen, aber mit meinen kurzen Fingern bekam ich bei langen Stücken immer schnell einen Krampf. >Wie findest du’s? < Ich sah von der Frage zu ihm, dann zu seinen Noten, auf die er stumm deutete. Abermals las ich die Noten und tippte den Takt mit. >Intro? < >Ja. < >Ist gut. < Timothy schnaufte leise neben mir, begleitet von einem amüsierten Grinsen. Es wirkte mehr als selbstironisch. >Wofür ist das? < >Weiß nicht… < >Hat es einen Namen? < >Bisher noch nicht. < Überlegend tippte ich mit dem Stift auf mein Heft, dass schon ziemlich vollgekritzelt war. Namen für Lieder kamen spontan. Manchmal fand sich schnell einer, manchmal wrang man seinen Kopf aus und es passierte nichts. Es war auch nicht meine Aufgabe mir einen Namen auszudenken, aber irgendwas an der Melodie fesselte mich, sodass ich alle Vorsicht beiseite schon. Schmunzelnd neigte ich meinen Kopf und schrieb einen Namenvorschlag auf. >Omphalos? < Falls Timothy überrascht war, zeigte er es nicht. Er neigte fragend seinen Kopf und sah mich über seinen Handrücken hinweg Stirnrunzelnd an. „Warum?“ stand in seinem Gesicht. Stumm blickte ich nach oben, dann auf Timothy, er überlegte. Ich sah es in seinem Braun, dass er mich verstanden hatte. Trotzdem schrieb er ein Fragezeichen in mein Heft. Genervt verdrehte ich die Augen. Timothys Grinsen dazu machte es nicht besser. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)