Musik 4Y von mikifou (Diese eine Person, die...) ================================================================================ Kapitel 6: Konzert zum 1. Juni ------------------------------ Kapitel 6: Das Konzert zum ersten Juni fand in drei Wochen auf einem Sonntag statt. Das ergab drei Freitage an denen Mikael zu den Proben kommen würde. Timothys Gedanken drehten sich hauptsächlich um diesen Winzling. Er wusste längst den Grund. Es sich einzugestehen, wagte er jedoch nicht. Timothy hasste Erkenntnisse und er hasste das, was nach ihnen folgte. Unwissenheit vorzutäuschen war der einfachere Weg und klappte in den meisten Fällen sehr gut. Es sollte als Kunstform anerkannt werden, die eigenen Gedanken soweit unter Kontrolle zu haben, dass man nur bis zu jener heiklen Linie dachte, ab welcher alles komplizierter wurde. Während der Seminare ahnte er es schon. Es war ein Gefühl, welches aufwallte und verschwand, wenn Mikael in der Nähe war. Wie ein Welle, die ihm durch seine Hände floss und wieder einholte. Nach jeder Begegnung blieb die mitgebrachte Flut und wurde höher und höher. Irgendwann würde Timothy sicher darin ertrinken. Trotzdem konnte er sich davon abhalten, diese gedankliche Linie zu überschreiten. Dahinter lag nichts, was er zum jetzigen Zeitpunkt haben wollte, selbst wenn er es tief in sich gerne besitzen wollen würde. Die Sache mit den Dingen, die man nicht verlieren wollte, war, dass man sie verlor, sobald man sie erhielt. Das war ein Gesetz, so natürlich wie der Tod und das Leben, das immer eintreten würde. Der Zeitpunkt war nicht vorgeschrieben. Manchmal hatte man Glück und konnte sich in seiner Errungenschaft suhlen, manchmal glitt sie einem durch die Finger, noch ehe man sich daran erfreuen konnte. Timothy wollte nichts verlieren. Er hatte die ihm wichtigen Dinge oft genug zu spät erkannt und verloren. Das Wenige, was ihm noch blieb, wollte er schützen. Er besaß dieses Pech nun mal und hatte gelernt damit zu leben. Trotzdem zählte er jede Begegnung bis zum Konzert, in der er diesen aufmüpfigen Gartenzwerg sehen konnte. Diese winzige Hüpfdohle zauberte ihm selbst in seiner Abwesenheit ein Schmunzeln ins Gesicht. Mikael konnte super Gitarre spielen. Ihre kleine Jamsession hatte viel ausgelöst. Jamil und Steven waren von Mikaels Können begeistert. Chris war gänzlich aus seinem Schneckenhaus herausgekommen und redete nun offen und gerade heraus mit Mikael. Die Jungs hatten den Zwerg sogar zu ihnen in die WG eingeladen, um nochmal zu jammen. Mikael lehnte ab, gab sich verhalten und negierte sein Talent. Eile mit Weile, mahnte sich Timothy. Er mochte die Art und Weise, wie sie sich in der Öffentlichkeit und im Beisein seiner Freunde runterputzten. Es war scherzhaft und nie ernst gemeint. Sie tickten in dieser Sache erstaunlich gleich. Umso vertrackter die Frage, warum sie in Bezug auf die Musik nicht ähnlich gleich tickten. Timothy war Feuer und Flamme fürs Singen, Komponieren und Musizieren. Er war sich sicher, dass es Mikael genauso ging. Nur stellte dieser sich querer als ein entgleister Zug. Nichtsdestotrotz würde Timothy dafür sorgen, dass es nicht mehr lange dauerte bis Mikael einknickte. Er musste es nur geschickt anstellen. Während der Rechtsseminare arbeitete Timothy an seinem Plan. Er triezte den Kleineren und säte hier und da den Gedanken an ein erneutes Spiel. Mikael war eine harte Nuss. Was auch immer früher gewesen war, hatte ihn beinahe resistent gegenüber Musik gemacht. Aber eben nur beinahe. Mikael war leicht zu lesen. Seine Augen und Mimik gaben viel wieder. Seine langen Locken ließen ihn wild wirken. Er band seine Haare selten zusammen oder nutzte Haarklemmen um sie aus seinem Gesicht zu halten. Timothys nächste Chance Mikael zu bearbeiten, war bei der vorletzten Probe. Er konnte den Freitag kaum abwarten. Sein Plan war perfekt. Mikael würde nicht ablehnen können. Aber alles der Reihe nach. Für diesen Freitag hatte Timothy ihn über die gesamte Woche hinweg bei jeder sich bietenden Gelegenheit in ein musikalisches Thema verwickelte. Mikael agierte und antwortete zeitweise akkurat auf seine Fragen, ehe er sich seines Verstandes bediente und abermals in sein zugeknöpftes Muster verfiel. Entfremdet von jeglichem Spaß durch Musik. Während der Freitagsprobe gaben die Tänzer alles, um perfekt zu tanzen. Timothy wusste, dass sie hart an sich arbeiteten, weil Chris und Nayla nur noch dieses eine Thema beim Essen kannten. Nachdem sie alle wichtigen Parts geprobt hatten, blieb noch genügend Zeit für etwas Entspannung. In Absicht dessen stupste Timothy das Thema Jammen leicht an und seine Freunde erledigten den Rest. Mikael war deutlich im Nachteil und konnte sich gegen die Übermacht an bittenden Augen nicht wehren. Er knickte grandios ein und schenkte dem Verursacher des Ganzen giftige Blicke. Wenn Blickte töten könnten, hätte Timothy mindestens ein Messer in der Stirn zu stecken. Davon unbeirrt, lächelte er amüsiert und zog wie zufällig einen Satz Noten aus seinem Rucksack. Jamil und Steven gingen mit Mikael die Noten durch. Das Lied selbst war vom letzten Jahr und auch Bestandteil eines Auftrittes gewesen. Mikael spielte zunächst alleine. Die Noten las er flüssig, mit nur wenigen Vorzeichenfehlern. Als Steven mit dem Bass einstieg, gewöhnte sich Mikael schnell an das Zusammenspiel. Als Jamil mit dem Schlagzeug dazukam, gab es keine weiteren Stolperer. Die Tänzer applaudierten. Wie beim letzten Mal saßen sie auf dem Boden und dienten als Publikum. Wenn jemand Fachfremdes, aber mit genügend Gespür für Musik und Takt anwesend war, war es nur logisch, dass man ihn auf die aufgedrehte Seite des Lebens ziehen wollte. Das ging hier allen so. Mikaels frühere musikalische Erfahrung erleichterte es ihnen nur. Timothy erhob sich von seinem Zuschauerplatz und schenkte Mikael im Vorbeigehen ein Lächeln. Es folgte ein zweiter Durchlauf. Jamil gab den Takt vor und Timothy griff nach dem Mikrofon. Der Bass kam dazu, der Text begann. Mikael sah überrascht zu Timothy auf. Was auch immer Mikael gerade durch den Kopf ging, hielt seine Hände nicht davon ab ein paar Takte verspätet einzusteigen. Der Text und die Melodie waren gut, wenngleich es eines von Timothys älteren Werken war. Als Thema bediente er sich des Vorankommens im Leben. Timothy hatte keine einfache Jugend gehabt. Am Rande der Stadt in einem der Armenviertel zu wohnen, bedeutete nicht viel. Die Menschen besaßen wenig und die meisten wollten nichts im Leben erreichen. Doch die ein oder anderen, wie seine Schwester und er, wollten mehr. Sie hatten dafür gekämpft und etwas erreicht. Davon handelte dieses Lied. Mikael hatte ein anderes Leben geführt, mit Hürden von denen Timothy nichts wusste. Nur Mikaels Zwiespalt bezüglich seines Verhaltens gegenüber Musik und wie er ständig versuchte sich von dieser zu distanzieren, erkannte Timothy mittlerweile spielend. Mikaels Gitarrenkünste, sein Noten- und Melodieverständnis und die Freude, die ihm deutlich im Gesicht stand, wenn er Teil der Musik war, zeigten den Kontrast zu dem was er sagte und wie er sich verhielt. Timothy war neugierig, was er noch alles am Anderen entdecken würde. Aufregung erfüllte ihn und seinen Gesang. Die dunklen Augen spiegelten die innere Freude wider. Nach der letzten Note klang der Verstärker einen Moment nach. Der Applaus folgte prompt. Timothy sah zu dem Neu-Gitarristen neben sich. Das Haselnussbraun war hell und klar. Freude, nein Spaß, stand Mikael übers ganze Gesicht geschrieben. Erst als er Timothys Blick auffing, verzog Mikael für einen flüchtigen Moment das Gesicht. Die Augenbrauen rutschten tiefer, der Blick wurde stechend und ein Mundwinkel zuckte nach unten. Es war als würde Mikael laut und deutlich sagen: „Ich hasse dich.“ Timothy lachte. Mit Hass konnte er arbeiten, dachte er und wusste zugleich, dass es abermals nicht ernstgemeint gewesen war. Die amüsanten Momente mit Mikael waren verschwindend gering im Gegensatz zum restlichen Alltag. Es war Montag und Timothy war in die Bibliothek gegangen, um sich einige Bücher für seine Hausarbeit auszuleihen. Sie schrieben im Vergleich zu anderen Studiengängen recht wenig Hausarbeiten, was nicht bedeutete, dass diese dann weniger gewichtet wurden. Um etwas Ruhe zu finden, hatte Timothy sich einen ruhigen Flecken auf dem Campus gesucht. Die sichelförmig angelegte Grünfläche war nicht die einzige grüne Oase. Unterhalb davon gab es einen kleinen, lichten Hain, der hauptsächlich aus Birken und Pappeln bestand. Ab und an standen Bänke verteilt oder man setzte sich direkt an einen Baum ins Gras. Timothy wählte letzteres. Es gab eine besonders alte Birke, mit dickem Stamm, an die er sich gerne setzte. Im Gras sitzend, hatte er die Bücher um sich verteilt und die aufgeschlagenen Seiten mit kleinen Steinen beschwert, damit der seichte Wind sie nicht umblätterte. Es war ein angenehm sonniger Tag für Mai. Die Blätter rauschten sanft und die Sonne malte Mosaike aus Licht und Schatten auf das Gras, die Bücher und ihn selbst. Es war angenehm warm. Eine Schale mit Obst stand neben ihm. In seine Arbeit vertieft, griff er ab und an hinein und mümmelte, was er gerade zu fassen bekam. Nayla war so nett gewesen und hatte Äpfel kleingeschnitten, Weintrauben hineingetan und ein paar Mandarinen geschält. Wer wäre er, wenn er die Mühen seiner kleinen Schwester nicht zu schätzten wüsste?! Vertieft in seine Thematik, nahm er die Hintergrundgeräusche kaum wahr. Erst als er angesprochen wurde, sah der junge Sänger auf. „Dich mal staubige Studentenarbeit erledigen zu sehen, ist wirklich ein Erlebnis.“ Mikael stand vor ihm, sein Handy in der Hand, welches er eilig in seine Tasche steckte und sich anschließend neben eines der aufgeschlagenen Bücher, links von Timothy, hockte. Eine seiner Augenbrauen hob sich. Stumm wundernd, fragend und bemitleidend. Ja, geschichtliche Themen waren nicht immer angenehm. „Was machst du hier?“, fragte Timothy und musterte den Architekten. Mikael trug eine enge dunkle Hose, welche seine Beine nur optisch länger machten. Dazu ein weißes Hemd. Die oberen Knöpfe waren offen und offenbarten die dezent hervorstehenden Schlüsselbeine. Seine Haare waren gebändigt worden. Die rechte Seite war nach hinten geflochten, sodass die losen Enden des Zopfes über seine linke Schulter fielen. Timothy schluckte unbewusst. „Hab dich gesucht.“ „Aha, und gefunden. Was ist mit deinen Haaren passiert?“, fragte er neugierig. „Ach, das… Ich dachte du wärst in der WG und bin dahin“, erklärte Mikael schulterzuckend. „Nayla und Chris haben mir verraten, wo ich dich vielleicht finden könnte und dabei hat sie mich als Versuchsobjekt zum Flechten benutzt.“ Mikaels Erklärung klang beiläufig, während sein Blick deutlich warnte einen Kommentare über seine Frisur zu geben. Timothy schmunzelte. Er fragte sich, warum Mikael ihn nicht einfach übers Handy gefragt hatte. Doch der Gedanken verfiel fast augenblicklich noch ehe er zu Ende gedacht war. „Sieht besser aus als sonst“, kommentierte Timothy die Frisur. „Und womit kann meine Wenigkeit dir behilflich sein?“ Mikael löste seinen Blick von den Unterlagen und legte einen Arm lässig auf seinen Oberschenkel. „Und ich dachte, Eure Eminenz wäre nicht zu hause. Schwubs ist er wieder da“, lamentierte Mikael halbherzig. „Ich wollte wissen, wie es mit dem anderen Stück läuft.“ „Omphalos?“ „Mh.“ „Es ist grob fertig, aber nicht so, dass ich es dir zeigen könnte“, antwortete Timothy und lehnte sich gegen den Baum. Er griff sich ein Stück Mandarine und steckte es sich in den Mund. „Okay“, antwortete Mikael und verweilte in der Hocke. „Willst du?“, fragte Timothy und bot ihm ein Stück Mandarine an. Den Kopf amüsiert schief gelegt, hielt er sie Mikael vor die Nase. Dieser lehnte sich etwas vor und öffnete den Mund, biss aber in die Luft. Timothy hatte seine Hand zurückgezogen und sich das Stück selbst in den Mund gesteckt. „Hey, ich denke ich darf.“ „Zu langsam“, kommentierte Timothy und holte eine neues Stück Mandarine. „Du willst doch noch was. Spuck‘s schon aus, sonst bekommst du keine.“ Mikael seufzte schwer. „Ich kann nächste Woche vielleicht nicht zur Probe kommen.“ „Warum nicht?“, fragte Timothy überrascht nach, während ein Teil seines Hirns bereits an die gewonnene Wette dachte. „Besuch“, antwortete Mikael kurz. „Bring ihn mit.“ „Niemals!“ Es klang abwertender als es gemeint war. Timothy sah das flüchtige Zucken in Mikaels Mimik, dass ihm zeigte, dass dem Ton keine weitere Bedeutung beizumessen war. „Warum nicht? Wir sind gut. Oder … willst du nicht, dass man dich mit uns sieht?“ Mikael sah zur Seite, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengedrückt, hadernd. Ob es wegen der Worte oder seiner eigenen Gedanken war, war nicht klar zu erkennen. „Mach Ah“, sagte er und hielt Mikael das Stück hin. Leider wurde Timothy nur unbeeindruckt mit einem abwartenden Blick fixiert. „Wenn du nicht kommst, gewinne ich die Wette. Bring ihn mit oder lass ihn warten. Es findet sich sicherlich eine Möglichkeit, wie du dich zu uns stehlen kannst“, erklärte Timothy. Während er sprach, lockte er Mikael mit der Mandarine näher und näher, bis Mikael ein Knie am Boden und seine Hand am Stamm als Stütze nutze, um einen Rest Abstand zwischen sich und dem Sitzenden zu wahren. Erst jetzt drückte Timothy das kühle Stück Obst gegen die noch geschlossenen Lippen. Timothy sah hinauf in helles Braun. Ein ungewöhnliches Bild. Sonst war es umgedreht. Ebenso, dass sie normal miteinander gesprochen hatten, ohne zu streiten. Timothy war sich sicher, wenn hier noch jemand anwesend wäre, hätte Mikael spätestens beim Angebot des Obststückchens gewettert. Doch es kam nichts. Die Lippen des Anderen waren immer noch zusammengepresst. Die kühle Mandarine drückte sanft gegen die schmalen Lippen. Scheinbar widerwillig öffneten sie sich, sodass Timothy sie vorsichtig hineinschieben konnte. Wie weit Mikael ihn wohl gehen lassen würde, ehe er ihm in den Finger biss oder das Stück entriss? Würde er es wie beim Mikado machen? Timothy beobachtete gespannt, wie die Lippen sich teilten und weiße Zähne sichtbar wurden. Diese fassten die Mandarine nach der Hälfte vorsichtig ein. Timothy schob weiter, doch es tat sich nichts. Er übte etwas Druck aus, doch nichts. Die langen Finger lösten sich von der Mandarine, glitten über Mikaels Unterlippe hin zum Kinn. Ein Tropfen süßen Saftes sammelte sich an jener Unterlippe. Es wäre zu schade ihn fallen zusehen, dachte Timothy noch und gab dem Drang nach Nähe nach. Haselnuss starrte in dunkles Braun. Einen Moment geschah nichts. Nur zwei Augenpaare, die sich anstarrten. Timothy entspannte sich als erster, saugte leicht am Bauch der Mandarine und an der Unterlippe. Keine Sekunde später löste er sich vom Mikael und brachte die gewohnte Distanz zwischen sie. Mikael blinzelte und aß die Mandarine, ehe er sich aufrichtete. Seine Hände schoben sich zurück in die Hosentaschen und sein Blick wich zur Seite aus, in die Weite des Campus‘. Timothy hatte einen Moment nicht aufgepasst und sich seinen Träumereien hingeben. Dabei hatte er diese Grenze zwischen Freund beziehungsweise Bekannten hin zum „Plus“ nicht überschreiten wollen. Er schluckte die Süße herunter und presste seine Lippen aufeinander. Sie kribbelten und wollten nicht aufhören. „Ich melde mich, wenn ich fertig bin“, sagte Timothy schließlich auf das Musikstück bezogen. „Okay“, antwortete Mikael und warf einen flüchtigen Blick zurück. Timothy lehnte seinen Kopf gegen die Rinde und atmete tief durch. Er hatte wirklich keine Lust es sich einzugestehen. Noch nicht. Von dem kleinen Unfall angestachelt, drehten sich Timothys Gedanken um die Beziehungen, die er bisher gehabt hatte. Es waren nicht viele, aber auch nicht wenige. Normal für sein Alter, dachte er. Unter all jenen gab es viele Frauen. Einige mit denen er mehr gehabt hatte, andere für weniger körperliches, dafür aber gut zum Reden geeignet. Es hatte auch mal einen männlichen Verehrer geben. In seinem vorletzten Schuljahr kam ein Junge auf ihn zu, deutlich jünger, deutlich anders geprägt. Da der Junge ihn während der Hofpause gefragt hatte, war daraus ein kleines Spektakel geworden. Timothy erinnerte sich an die Schaulustigen und die gespannten Augen. Höflich, aber bestimmt, wies er den Jungen ab und machte damals deutlich, dass er am gleichen Geschlecht kein Interesse hatte. Davon ausgehend, sollte der Unfall mit der Mandarine nicht mehr als eine Randbemerkung wert sein. Sollte … denn es lungerte immer wieder in seinen Gedanken herum. Die hellen Augen so nah, das hauchzarte Streifen des Atems oder der Geruch von kalter Luft und Blättern. Mikaels Lippe war weicher gewesen als gedacht... Hatte sich sein Geschmack in den letzten drei Jahren ohne eine Beziehung geändert? Nein, das war es nicht. Es musste an Mikael selbst liegen, denn andere männliche Wesen interessierten ihn nicht die Bohne. Leider stellte Timothy fest, dass auch die weiblichen Wesen in seinem Umfeld nicht ansprechend genug waren, als dass sie dauerhaft einen Platz in seinen Gedanken fanden. Indes nistete sich Mikael ein und ließ dem Sänger kaum eine ruhige Minute. Im ersten Rechtsseminar für diese Woche waren sie, wie üblich, nicht allein und keiner von ihnen wollte das gestrige Thema eröffnen. Es blieb bei ihrem gewohnten Stänkereien und Neckereien. Wenn Mikael ihn ignorierte, spielte Timothy so lange mit dessen Fingern, bis Mikael sich frustriert zu ihm umdrehte und er eine unschuldige Schnute ziehen konnte. Sein Coup gelang und Timothy kam erneut in den Genuss kurzer, aber eleganter Finger in seinen Haaren. Im zweiten Seminar stritten sie über eine Nichtigkeit so laut, dass der Dozent sie ermahnte. Timothy nahm sich vor, die Grenzen einzuhalten. Gedanklich und emotional. Zugleich spürte er, dass er seine gesetzten Grenzen jedes Mal ein wenig mehr dehnte, wenn es um Mikael ging. Dessen Finger waren weicher als erwartet und die Vorstellung diese Kuppen könnte eine Gitarrensaite zupfen, ließ seinen Magen kribbeln. Wenn Timothy glaubte einen Schritt erfolgreich zurück gemacht zu haben, lockte dieses Würmchen ihn zwei nach vorne. Ätzend. Nervend. Anstrengend. Das Einzige was derweil wirklich gut funktionierte, waren seine Liedtext- und Melodieideen. Ihre Probe am Freitag verlief ohne Probleme. Nach drei kompletten Durchgängen zog Timothy sich auf die Couch zurück und schrieb. Seine Hand flog über das Papier. Egal ob Text oder Noten. Wenn er doch mal stockte, sah er zu den Tänzern oder den anderen Dreien, welche Technikübungen an den Instrumenten machten. Seinen Gedanken wiedergefunden, schrieb Timothy weiter. Er war so gefangen, dass er die Zeit ganz vergaß. „Bis dann“, sagte Mikael in die Runde. „Du gehst schon? Dabei könnten wir heute noch zum Karaoke gehen“, sprach Chris ihn an. „Sorry, ich kann leider nicht“, sagte er nur und verschwand bereits durch die Tür. Timothy sah flüchtig auf und fühlte regelrecht wie seine Inspiration mit dem Gartenzwerg durch die Tür ging und „byebye“ winkte. Verdammt! Eine Muse zu haben war gut und schön, aber nicht, wenn man so fixiert auf sie war! Er musste das unterbinden und zwar schnell! Timothy lehnte seinen Kopf zurück und ließ die Hände neben sich fallen. Mist, sein Gedanke war weg… Einen Moment suchte er in seinem Hirn nach dem Anfang, gab es dann schließlich auf. Weg war weg, seufzte er und griff nach dem Stift, welchen er eben losgelassen hatte, als seine Hände auf die Couch gesunken waren. Stattdessen erfühlte er ein Handy und hob es auf. Sein Kopf neigte sich überlegend, ehe er auf den Anknopf drückte. „Gehört das jemanden?“, fragte er die noch übrigen Mitglieder. „Mir nicht.“ „Nicht meins.“ „Wer hat schon diese Marke?“ „Dann ist es Miks“, erklärte Timothy und ein Schmunzeln erschien auf seinen Lippen. „Willst du es ihm bringen?“, fragte Jasmine, welche sich mit verschränkten Armen vor ihn stellte. „Ehe er es noch vermisst“, summte Timothy. „Dann würde er zurückkommen und es holen. Du musst ihm nicht extra hinterherlaufen. Überhaupt, was soll das neuerdings?“, fragte Jasmine. „Warum hast du ihn hergeschleppt?“ „Weil er ein gutes Gespür für Musik hat und uns helfen konnte, wenn du dich erinnerst.“ Jasmine winkte ab. „Das kannst du auch.“ „Ich wollte nicht auf den letzten Drücker fertig werden. Es ist doch gut, wie es gelaufen ist“, argumentierte Timothy und stand auf. Ohne sich zu verabschieden, ging er hinaus und ließ die Tänzerin stehen. Wenn er sich dafür entschieden hatte, Mikael mitzubringen, war das eben so. Die anderen verstanden sich alle gut mit dem Architekten, nur Jasmine zog ein Gesicht, als würde er ihr die Butter auf dem Brot nicht gönnen. Das Handy in seine Hosentasche gesteckt, ging er auf geradem Weg zu Mikaels Unterkunft. WG konnte man es nicht nennen, da er noch alleine lebte. Kurz bevor er sein Ziel erreicht hatte, blieb er stehen und sah in Richtung Mensa, von wo ein eilender Mikael angelaufen kam. Er trug zwei Tüten. Sicher hatte er in der Mensa für sich und seinen Gast noch etwas zu essen gekauft. Wenn der Gast so anspruchslos war, dass Mensaessen reichte, handelte es sich vielleicht um einen Kommilitonen? Timothy schob beide Hände in seine Hosentasche und hielt das Handy fest. Der Gedanke erfreute ihn nicht sonderlich. Andererseits war es nur natürlich, dass Mikael andere Freunde hatte, die vielleicht auch noch in seinem Studienbereich versiert waren. Oder ihn von Früher kannten. Alte Freunde oder vielleicht ein Lover? Als Mikael nur noch wenige Meter entfernt war, entdeckte er Timothy und wurde langsamer. „Was machst du denn hier?“, fragte er etwas außer Atem. „Ich wollte mir deinen Besuch ansehen“, erklärte Timothy koket. „Ja, nee. Also ob. Ob ich Besuch habe und wer das ist, ist dir doch total egal. Was willst du hier?“ Timothy lächelte charmant und folgte Mikael auf den Schritt. „Aber du wolltest unsere Wette aufgeben für diesen Besuch. Jemand für dich so wichtiges, muss ich kennenlernen.“ „Musst du nicht.“ „Je mehr du es verneinst, desto mehr interessiert es mich.“ „Es ist nur ein alter Kommilitone“, erwiderte Mikael, seine Strategie wechselnd. „Was heißt alt?“, fragte Timothy nach und folgte ihm bis vor die Haustür - erleichtert, dass es sich um einen alten Kommilitonen handelte. „Von meiner alten Uni. Wir waren im Bachelor zusammen.“ „Richtig zusammen?“ Mikael zuckte zusammen und öffnete die Tür, nur um genervt zu Timothy zu sehen. „Nein! Wir sind gute Freunde.“ Die Erleichterung breitete sich warm in Timothy aus. Scheinbar war es niemand, den er fürchten musste. „Hey Ben, ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn ich die-“ „Dann stell ihn vor. Ich verspreche, ich benehme mich“, schlug Timothy fröhlich vor und unterbrach die Stimme, welche vom Sofa gekommen war. Mikael schnaufte und zeterte zurück. Wenngleich sein Ton schärfer wurde, hielt er Timothy nicht auf, als dieser durch die Tür schritt. „Du und dich benehmen? Du schaust dich um und lässt dann wieder einen Spruch los.“ „Glaube es ruhig, ich kann mich sehr gut benehmen.“ „Glaub ich nicht. Jeder dritte Satz zielt auf meine Körpergröße ab. Weißt du, wie nervig das ist?“ Timothy zuckte mit den Schultern. „Kleine Leute sind immer so schnell auf die Palme zu bringen. Dabei liegt es mir fern, deine Sicht noch mehr einzuschränken, als sie es sowieso schon ist.“ „Lass das!“ „Hast du nicht damit angefangen?“ Die Tür war längst ins Schloss gefallen. Beide Studenten standen im Eingangsbereich und ignorierten den Gast auf der Couch. Dieser besah sich das Spektakel schweigend. Mikael atmete tief durch und legte die Hände, die Tüten noch haltend, bittend aneinander. „Timothy, ein anderes Mal, ok? Würdest du jetzt bitte wieder gehen?“ Erstaunt hob Timothy eine Augenbraue. Sein Blick glitt zur Couch, von dem ihnen der fremde Besucher interessiert zusah. Straßenköter blondes Haar mit etwas Wachs gebändigt und in Form gebracht, graue Augen und ein leicht kantiges Gesicht. Er wirkte, als sähe er sich eine Soap an. Ein Normalo. Sicherlich Architekturstudent. Timothy maß Mikael mit einem entspannten, desinteressierten Gesicht und zuckte abermals mit den Schultern. „Dann willst du das hier nicht haben?“, fragte er und zog das Handy aus seiner Hosentasche. Überrascht tastete sich Mikael ab, ehe die Erkenntnis ihn traf. „Das hättest du mir draußen schon geben können“, knurrte Mikael und hielt die Hand auffordernd hin. Timothy entzog ihm das Handy und schaute gespielt zur Seite. „Nö. Du wolltest, dass ich gehe, also hol‘s dir später ab. Viel Spaß mit deinem Gast“, entkam es Timothy erstaunlich schnippisch. „Hey. Warte! Das ist meins. Lass es hier, wenn du schon hier bist!“ „Nur wenn ich bleiben darf“, forderte Timothy. „Darfst du nicht! Ich hab‘ dir gesagt, wer er ist.“ Timothy hielt das Handy höher, je gieriger Mikael danach zu greifen versuchte. „Langweilig. Das war kein richtiges Vorstellen. Wie kann jemand so Kleines überhaupt einen Freund haben?“ „Laber nicht rum, gib mein Handy her, du Lulatsch.“ „Sagte der Grashüpfer.“ „Klappergestell.“ „Laufender selektiver Nachteil.“ „Kulturloser Joghurt!“ „Knirps.“ „Egomane.“ Sie fingen gerade erst an ihren Streit auszubauen und in Fahrt zu kommen, als sie jäh unterbrochen wurden. „Timothy. Hier.“ Schnell wie ein weißer Blitz raste etwas auf ihn zu. Timothy ließ das Handy fallen und fing das Objekt gelassen ab. „Und das ist?“, fragte Timothy und besah sich die weiße Plastikkarte in seiner Hand. Fragend hob sich seine Augenbraue. Als er die Chipkarte erkannte, machte sein Herz einen kleinen Satz. „Haaaa~“, entkam es Mikael panisch. Eben noch erleichtert sein Handy gefangen zu haben, sah er ein neues Bild des Grauens. „Hannes!“ „Hahaha, bei ihm ist sie besser aufgehoben“, sprach Hannes, der Gast von der Couch, amüsiert. „Deine Chipkarte?“, fragte Timothy zwischendrin. „Ist sie nicht!“, jammerte Mikael an Hannes gerichtet. „Sie war für dich bestimmt. Er ist die vollkommen falsche Adresse!“ „Ohhh~ Es ist wirklich die Chipkarte zu dieser Wohnung hier“, stellte Timothy mit einem süffisanten Grinsen fest. „Denk nicht weiter und Gib. Die. Karte. Wieder. Her“, forderte Mikael eindringlich, während er nach der Chipkarte haschte. Ähnlich wie mit dem Handy hielt Timothy sie ohne große Mühe nach oben. Komplett aus Mikaels Reichweite. Das Rascheln der Tüten, ließ Mikaels Bewegungen umso hektischer erscheinen. „Er ist besser geeignet als ich“, argumentierte Hannes weiterhin amüsiert. „Ist er nicht“, meinte Mikael abwehrend und setzte zu einem besonders hohen Sprung an. „Nachdem was ich gesehen habe schon. Ben, mit ihm als Bekanntschaft bist du hier besser aufgehoben als mit mir. Ich wohne viel zu weit weg.“ Mikael sprang hoch, sodass Timothy die Karte in seiner Hand nach unten zog und einen Schritt zur Seite tat. Die Karte verschwand in der Hosentasche. Angefressen landete Mikael und sprang sofort wieder auf. Er ging zu seinem Gast und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Das ist doch egal. Hauptsache, sie wäre an einem sicheren Ort.“ „Und viel zu weit weg, um sie mal eben schnell zu holen. Was spricht dagegen, sie jemanden zu überlassen, der auch auf dem Campus wohnt und mit dem du dich gut verstehst?“ „Wir verstehen uns überhaupt nicht gut!“, kam es synchron von Timothy und Mikael. Einmal energisch, einmal abgeneigt. „Hahaha ja ja“, lachte Hannes. „Du wolltest also deine Ersatzkarte jemanden geben, falls du deine mal verlierst? Wäre es nicht einfacher sie unter der Fußmatte oder in einem Blumentopf zu verstecken?“, fragte Timothy. „Ich will bestimmt nicht dein Backup sein, nur weil du vergesslich bist.“ „Dann gib sie wieder her“, forderte Mikael und hielt seine Hand auf. Abschätzig sah Timothy auf den Kleineren hinab. Er wollte kein bloßes Backup sein. Das war eine Aufgabe, die wirklich jeder übernehmen könnte, sogar Chris oder Jamil. Es wunderte Timothy, dass Mikael diese beiden nicht in Betracht gezogen hatte. Sie würden es mit Freuden machen. „Ich denke ich behalte sie bis nächsten Freitag. Dann kannst du ja Chris oder sonst wen fragen, ob er dein Backup sein will“, erklärte Timothy abwinkend und ging Richtung Tür. Missmutig darüber, dass ein Fremder ihn zu diesem Schatz verholfen hatte. „Was soll das denn heißen? Hey, Tim, warte und lass die Karte hier!“, rief Mikael und folgte Timothy auf den Fuß. Dieser blieb wie gewünscht stehen und drehte sich zu Mikael um, welcher fast in den Größeren gerannt wäre. „Für einen Knirps bist du erstaunlich wankelmütig. Gehen, bleiben, such dir etwas aus“, meinte Timothy grimmig und hob sachte Mikaels Kinn an. „Etwas dazwischen gibt es nicht.“ Timothy verließ die fremde WG. Mikael hatte ihn nach dem bisschen an Hautkontakt freiwillig hinausgeworfen und hatte nun seinen Gast ganz für sich. Dieser alte Studienfreund, nein, sogar ein richtiger Freund von Mikael, schien ganz in Ordnung zu sein. Zumindest schien er Mikael zu kennen und wusste, was gut für den Architekten sein würde. Nur dass er ihn „Ben“ nannte… war dieser Hannes wirklich auf Mikaels Vorstellungsquatsch reingefallen und hatte ihm einen neuen Namen gegeben? War das nicht ziemlich albern, fragte sich Timothy und trottete langsam selbst nach Hause. Die Chipkarte in seiner Hosentasche gab ihm ein mulmiges Gefühl. Die Grenzen verwischten langsam. Das war nicht gut. Einerseits wollte Timothy nichts lieber, als das alles beenden und die Chipkarte zurückgeben, andererseits wollte er auch nicht nur der Backup-Plan sein. Es wäre etwas anderes, wenn Mikael ihm die Karte gegeben hätte, damit Timothy selbstständig die Wohnung betreten könnte, wann er wollte. Aber so etwas würde Mikael nicht einfallen. Wieso auch? Man konnte sie kaum als Bekannte bezeichnen, so oft wie sie sich stritten. Nur war es genau das, was Timothy an dem Kleineren so reizte. Es war einfach mit ihm. Stänkern, Streiten, Necken, dann normal reden und produktives musizieren. Es war leicht sich in seiner Nähe gut zu fühlen. Mikael war zu interessant, als dass ein Zug an der Reißleine noch wirken könnte. Wie eine Motte klebte Timothy an dessen dünn gesponnenem Netz und jeder Versuch sich davon zu lösen, verhedderte ihn nur noch mehr. Die Chipkarte landete in Timothys Zimmer auf seinem Schreibtisch neben den ausgebreiteten Noten von Omphalos. Die eigenen Studien riefen und der alltägliche Trubel in seiner WG verlangte seine gesamte Aufmerksamkeit. Zu Beginn der nächsten Woche erhielt er die E-Mail, dass die Rechtsvorlesung ausfallen würde, weil der Dozent krank war und es keine Vertretung gab. Ein glücklicher Zufall, der Timothy etwas mehr Zeit zum Nachdenken verschaffte. Bisher hatte er noch keine ruhige Minute gefunden, um seine Gedanken ordnen zu können. Ein Umstand der nicht weiter störte, solange man nicht daran erinnert wurde, dass da noch etwas war, was es zu erledigen gab. Mikael spukte ihm, wie ein Gespenst, im Kopf herum. Als Timothy Mikael um seine Hilfe gebeten hatte, geschah es aus einer Laune heraus. Seine Intuition sagte ihm, dass an Mikael mehr dran war, als der erste Blick erahnen ließ. Mikaels jahrelange Musikerfahrung hatte seine Vermutung untermauert. Allerdings wurde mit jedem Besuch der Proben und mit jedem Gespräch über Musik deutlich, dass Mikael nicht zur Musik zurückkehren wollte. Zumindest brachte er alles auf um sich schlecht zu machen oder sein Können zu verstecken. Wenn jemand versuchte etwas so sehr loszuwerden, war es nicht an Timothy ihn aufzuhalten. Wenngleich es Spaß gemacht hatte, Mikael beim Musizieren zu beobachten, konnte er nicht erzwingen, was nur er haben wollte. Trotzdem stimmte etwas nicht. Mikael hatte wenig von sich erzählt. Zehn Jahre Musikerfahrung warf man doch nicht einfach so weg oder verdrängte sie auf Teufel komm raus. Den Bleistift in den Mund nehmend, lehnte Timothy sich in seinem Bürostuhl zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Vor ihm lagen die Noten zu Omphalos. Ein erstes Demo, welches er letzte Woche aufgenommen hatte, spielte in einer Dauerschleife über sein Handy ab. Die Kopfhörer ließen nur ihn hören, was er sich erdacht hatte. Mikael war vorsichtig bei allem was mit Musik zu tun hatte. Er fasste Instrumente bedacht an, handhabte sie ordentlich und offenbarte ein geheimes Glimmen in seinen Augen. Er liebte Musik, soviel war klar. Timothy dachte an die Dinge, die Mikael gesagt hatte: „Ich will keine Musik mehr machen.“ „Ich mag kein Karaoke.“ „Hat es einen Namen?“ „Ich singe nicht.“ Sein Name war Del Portas. Mikael… Timothy saß stocksteif in seinem Stuhl und rührte sich nicht. Vielleicht hielt er sogar die Luft an, während seine Gedanken den roten Faden fanden und ihn zu einer Idee zusammenlegten. Diese Entdeckung, sollte sie stimmen, ließ sein Herz schneller schlagen. War es wirklich so einfach? Wie hatte er es übersehen können? Timothy blinzelte und entließ seinen angehaltenen Atem. Er musste Mikael testen. Behutsam, ohne aufzufallen. Es hatte den Anschein, als sei dieses Thema durchaus delikat. Timothy evaluierte seine Pläne. Leider fiel die letzte Probe am Freitag vor dem Konzert aus. Timothy hatte Mikael übers Handy benachrichtigt, dass ihnen der Probenraum nicht zur Verfügung stehen würde. M: >Und die Wette? < 15:15 T: >Werden wir nie erfahren … < 15:16 M: >… < 15:16 T: >Komm einfach mit, wenn wir nach dem Auftritt einen Trinken gehen. Die anderen würden dich gerne dabeihaben und ich sehe die Wette damit als erfüllt an. < 15:34 M: >Ok. Schreib wann und wo < 15:43 Timothy schmunzelte und freute sich darauf. Um seinen Auftritt machte er sich keine Gedanken. Generalproben mussten schlecht sein, dann würde der Auftritt umso besser werden. Lieber stellte er die Weichen, sodass Mikael auf keinen Fall abspringen könnte, wenn er erfuhr, wohin sie ihre Siegesfeier verschlagen wird. Viel Zeit hatte er nicht und es gab einige „Schwachstellen“, die sich verplappern könnten. Timothy wäre nicht Timothy würde er solche kleinen Intrigen nicht mit Links meistern können. Entspannt sah er seinem Auftritt entgegen. Gekleidet in einer schwarzen, leicht zerfledderten Jeans, einem hellen Shirt mit V-Ausschnitt mit einer schwarzen Weste drüber. Sein rechter Unterarm war mit einer Stulpe bedeckt. Einige dünne Ketten hingen darüber und an den Fingern verweilten Ringe. Nayla versuchte wie immer seine Locken mit etwas Gel in eine bestimmte Richtung zu bringen, scheiterte aber kläglich. Es war Naylas erster, großer Auftritt und sie war nervöser als alle anderen zusammen. Timothy ließ sie machen. Kurz bevor sie auf die Bühne gingen, nahm er sie in den Arm und sprach ihr ein „Du packst das“ zu. Auch wenn sie sich oft stritten, er liebte seine kleine Schwester von Herzen! Die Bühne war wie immer auf einer der größeren Wiesen des Campus aufgebaut worden. Sie war schlicht, klein und überdacht. Bauzäune bespannt mit einer dunkelgrünen Sichtschutzplane verliefen links und rechts von der Bühne weg. Der Platz hinter diesen diente den Bands und Künstlern als schlichte Vorbereitungsfläche. Die Tontechniker wuselten umher, während vor der Bühne die Schaulustigen standen. Timothy ließ seinen Blick durch die jubelnden Studenten gleiten, welche bereits über eine Stunde verschiedenste Acts gehört hatten. Er sah ihn nicht, doch er wusste genau, dass Mikael irgendwo dort unten war und ihnen zusah. Ihr Auftritt begann. Jamil schlug die Sticks aneinander und gab den Takt vor. Der Bass spielte, die Tänzer bewegten sich. Timothy ließ seinen Blick schweifen und betrachtete die Masse an Zuschauern. Ihre Gesichter zu sehen, wenn er anfing zu singen, war am schönsten. Seine Stimme war ein Geschenk, hatte seine Lehrerin in einer seiner ersten Gesangstunden gesagt. Er empfand es ebenso. Dank seiner Stimme hatte sich ihm ein deutlich besseres Leben eröffnet und er war gewillt daran festzuhalten. Die Show verlief ohne Probleme. Die Übergänge klappten einwandfrei und es gab keine Patzer. Jeder Akteur konnte glänzen und sein Können zeigen. Als die letzte Note verklang, ging die Gruppe geschlossen von der Bühne. Der ausufernde Applaus begleitete sie und hob ihre Stimmung zusätzlich. Ein jeder von ihnen besaß dieses erleichterte, überglückliche Grinsen im Gesicht, dass pure Zufriedenheit bedeutete. Ihre Zensuren bezüglich ihrer Performanz und gestellten Seminaraufgaben würden sie später via E-Mail bekommen. Die Dozenten saßen in bester Position zur Bühne und schrieben mit ihren Stiften auf einem Klemmbrett. So glücklich sie waren und so gerne Timothy seiner Schwester weiter zugesehen hätte, wie sie sich überglücklich um sich selbst drehte, mussten sie ihren Platz räumen. Nach ihnen kamen noch fünf weitere Gruppen. Jede brachte ihre Instrumente mit, welche mit der Technik abgestimmt werden mussten. Etwas umständlich, aber die meisten Musiker spielten gerne auf ihren eigenen Instrumenten, als dass sie ein Voreingestelltes nahmen. Einzig das Schlagzeug wurde stehen gelassen. Steven verstaute seinen Bass im Koffer und die Tänzer räumten ihre Taschen zusammen. Erfahrungsgemäß nahmen sie so wenig wie möglich mit, um schnell beginnen und schnell gehen zu können. Timothy trug nichts, weshalb er mit den Händen in den Taschen zu einem der Seitenausgänge, eine schlichte Öffnung zwischen zwei Bauzäunen, schlich und sich gegen besagten Zaun lehnte. Gedankenverloren starrte er in die Masse. Er hatte Mikael seit über einer Woche nicht gesehen, auch jetzt hatte er ihn nicht in der Menge ausmachen können. Trotzdem war er sich sicher, dass Mikael da war. Nur was erwartete Timothy vom Architekten? Ein Lob? Was brachte es Timothy ihn jetzt sehnlichst zu erspähen? Die Unruhe in seinem Bauch war schuld. Er hatte darüber nachgedacht, wie er zu Mikael stand, was diesen Ausmachte und was er verbarg. Aber noch immer wollte Timothy sich nicht eingestehen, was er vermutete. Nein, er war sich sogar ziemlich sicher. Aber das wäre das erste Mal für ihn. Die anderen Male ging es von der anderen Person aus und er zog nur mit. Was würde passieren, wenn er den ersten Schritt machen würde? Würde es funktionieren? Es bestand auch die Möglichkeit, dass Timothy, so wie der Junge damals in der Schule, einen Korb bekam. Er wusste nicht, wie er all das einordnen sollte. Ganz gleich welcher Ausgang es sein würde, könnte er damit fertig werden? War jemand wie ER dazu in der Lage, nein, war er berechtigt damit umzugehen? Sich in eine solche süße Fantasie zu flüchten? „Tim.“ Timothy wandte sich der Stimme zu. Jasmine war ihm nachgegangen, die Tasche geschultert. Der nächste Act kündigte sich an, trotzdem war es hier draußen erstaunlich ruhig, da die Lautsprecher alle nach vorne rausgingen. „Jassi. Was gibt’s?“, fragte der Sänger und wandte sich ihr zu. „Gratulation zum Auftritt. Du warst super da oben“, sagte sie und zeigte ein seltenes, sanftes Lächeln. „Danke. Dir auch. Ihr wart super. Und ich danke dir, dass du Nayla unter deine Fittiche genommen hast. Sie hat viel Spaß.“ „Ach. Nayla ist wirklich talentiert. Sie muss nur dranbleiben“, erklärte Jasmine. Sie trat näher und lunschte hinter der Absperrung vor. „Es sind wirklich viele gekommen, hm? Das habe ich von da oben kaum bemerkt.“ „Ihr solltet euch mal die Zeit nehmen. Es ist ein toller Anblick“, schlug Timothy vor. Sein Blick glitt zum Publikum vor der Bühne. Nun, da seine Gedanken jäh unterbrochen worden waren, brachte es nichts weiter hier zu bleiben. Seine Laune war zu gut, um sich in sinnloser Trübsinnigkeit zu verlieren. Die Hände noch in den Taschen, wollte Timothy zurück zu den anderen gehen, als Jasmine ihn an seiner Weste griff und zurückhielt. „Warte“, bat sie. Timothy blieb stehen und sah zurück. „Tim … ich“, begann sie und zeigte sich unerwartet unschlüssig, beinahe schüchtern. Timothy wandte sich ihr gänzlich zu. „Was gibt’s?“, fragte er nach. Jasmine schüttelte ihre Unsicherheit ab und atmete tief durch. Als sie aufsah, waren ihre Wangen gerötet und ihr Blick eisern. Sie trat näher, legte ihre Hände an Timothys Wangen und ihre Lippen auf seine. Es geschah so schnell, dass Timothy überrumpelt auf die Tänzerin hinabsah, unfähig seine Augen zu schließen. Erst als sie ihre Lippen zu bewegen begann, schob er sie von sich weg. „Was soll das?“, fragte er etwas forsch. „Geh mit mir!“ „Wohin?“ „…“ „Ah. Entschuldige“, sagte Timothy, sah verlegen zur Seite und schollt sich innerlich für seine unsensible Art. Zu seiner Verteidigung gesprochen, er hatte nicht damit gerechnet. Jasmine sah zur Seite, dann auf ihre Hände, welche nervös an ihren Nägeln näselten. „Ich weiß. Du achtest wenig auf mich. Ich habe schon ein paar Mal versucht mit dir zu flirten, aber-“ „Hast du?“, fragte Timothy nach und merkte im selben Moment wie unsensibel es klang. Jasmine schenkte ihm einen bitteren Blick. „Ja. Ach vergiss das. Was sagst du?“, fragte sie mit verlegenem Blick nach oben. Auch sie war um wenige Zentimeter kleiner als Timothy. Ihre Stirn war etwa auf Höhe seiner Lippen. Würde er mit ihr gehen, boten sich Stirnküsse geradezu an. „Jassi…“, begann Timothy unschlüssig. „Ich denke nicht, dass es klappen würde.“ „Das weißt du doch erst, wenn du es probierst.“ Timothy blinzelte. Mikael hatte ähnliches gesagt. Würde er seinen Worten von damals treu bleiben, dann müsste er Jasmine jetzt fragen, ob sie bereit wäre ihn umzubringen. Aber … Sie war Teil einer Gruppe, welche Timothy gerne um sich hatte, wie ein Heimathafen. Gerade ihr wollte er es nicht offenbaren, sie nicht in seine Gedankenwelt miteinbeziehen. Sie sah ihn als guten Sänger und vielleicht sogar als guten Menschen. Er wollte ihre Illusion nicht auf so grausame Art zerstören. „Ich kann nicht“, gab er schließlich Preis. „Du bist für mich mehr wie ein Teil meiner Familie. Wie eine Schwester im gleichen Alter, die mir Parole bietet und mir den Kopf zurechtrückt. Ich kann mir keine romantische Beziehung mit dir vorstellen.“ Jasmine blinzelte, ehe sie den Kopf hängen ließ und ihre Lippen aufeinander presste. „Das ist bitter. Ich freue mich ja schon irgendwie, wenn du mich so siehst, aber …“ Aber sie war verliebt, dachte Timothy. War man verliebt, war alles irgendwie anders und man wollte sicher nicht als Schwester oder Familienmitglied angesehen werden. Nicht als solches! Man wollte die eine besondere Person sein, welche so wichtig war, dass sie für die geliebte Person zum Nabel der Welt würde. „Trotzdem musste ich mein Glück versuchen“, sprach Jasmine weiter. Timothy hielt einen Moment seinen Atem an, während er seinen eigenen Gedanken folgte. „Du warst immer so souverän und verlässlich. Ich glaube nicht, dass ich mich nicht in dich verlieben konnte. Ich musste es versuchen… um Klarheit zu haben. Aber … mh … du bist schon vergeben oder?“, fragte sie, als sei das die einzige Erklärung, warum er sie abgewiesen hatte. Timothy legte seinen Kopf von rechts nach links und spürte das Kribbeln in seinen Fingerkuppen. „Nein“, antwortete er. Nein, aber … er hoffte es bald sein zu können. „Wer ist es?“, fragte Jasmine nach. Verwirrt sah Timothy sie an. Erst jetzt bemerkte er, dass er zu seiner Verneinung gegrinst hatte. Klar, dass sie glaubte, er hätte gelogen. Timothy riss sich zusammen und sah sie geradeheraus an. „Ich bin in keiner Beziehung. Aber es gibt da vielleicht jemanden.“ „… Du musst mich für schrecklich Eifersüchtig halten, dass ich dich das frage, oder? Es ist nicht so, dass ich es der Person nicht gönne, ich … hach, ich glaube ich wollte nur wissen, gegen wen ich verloren habe. Was diese Person hat, was ich nicht habe, dass du sie mir vorziehst.“ Timothy hob eine Augenbraue. Er verstand nicht wirklich was Jasmine mit ihren Worten bezweckte. Wollte sie sich selbst verletzten oder war das nur die Art, mit der Frauen ihre Gefühle beruhigten? So oder so wirkte Jasmine geknickt und enttäuscht. Timothy legte seine Hand auf ihren Scheitel und strich zärtlich darüber. „Mach dich nicht selbst klein. Du bist eine schöne und taffe Frau, nur die Person, welche … mich interessiert, ist genauso verdreht wie ich selbst.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)