Juli 1970 von Erzsebet (Pathologie eines Philologen) ================================================================================ Kapitel 5: Durch Wände zu gehen ------------------------------- Nach ein paar Sekunden faßte Michael sich ein Herz, trat näher an die Öffnung heran und spähte in den dahinter liegenden düsteren Raum. Soweit er in der allein durch die neue Wandöffnung etwas aufgehellten Düsternis erkennen konnte, standen hier keine Regale, sondern ausschließlich Kartons, offenbar alle dicht mit Staub bedeckt, ebenso wie der Fußboden des Raumes. Es war sicher eine halbe Ewigkeit her, daß diesen Raum zuletzt jemand betreten hatte. Michael machte noch ein paar Schritte vorwärts, stand schließlich ganz in dem unbekannten Raum und plötzlich wurde es dunkel um ihn. Die Wandöffnung hatte sich geschlossen, als Michael sie ganz durchschritten hatte. Doch an der Wand, in der sich im angrenzenden Raum die Fenster befanden, war hier und dort ein haarfeiner Lichtspalt zu erkennen. Michael mußte nur die Fensterläden öffnen... und zwischen den Kartons erst einmal bis zum Fenster gelangen, ohne alles zum Einsturz zu bringen oder größere Blessuren davonzutragen. Doch es gelang ihm schließlich sogar. Er öffnete die Fensterläden und klappte sie an die Wand. Die Scheiben waren dreckig, in den Ecken hingen ein paar Spinnweben, aber das Glas war intakt und durchsichtig genug, um die strahlende Sommersonne hineinzulassen. Auch die Luft unterschied sich in nichts von der in dem angrenzenden Magazinraum. Nur lag hier eben eine dicke Staubschicht auf dem Boden und allen anderen ebenen Flächen. Michael sah sich um. Unter dem zweiten, noch verschlossenen Fenster stand, völlig eingestaubt, einer jener typischen Bibliothekstische - dunkles Holz, die Platte durch eine Auflage aus dunkelgrünem Linoleum als Schreibunterlage geeignet. Der letzte Fürstbischof mochte schon an dieser Art von Tisch in der Bibliothek gesessen haben. Davor stand einer der ebenso typischen Bibliotheksstühle. Ansonsten waren 20 oder 30 Kartons überall im Raum verteilt, einzeln oder bis zu drei Stück hoch gestapelt, alle aus graubrauner Pappe und mit einem gleichfarbigen Deckel verschlossen. Offensichtliche Beschriftungen fand Michael an ihnen nicht. Neugierig aber vorsichtig, um den Staub nicht zu sehr aufzuwirbeln, öffnete Michael einen der am nächsten stehenden Kartons. Wie er schon vermutet hatte, befanden sich Bücher darin. Im Deckel klebte ein Blatt Papier, auf dem in altmodischer Schrift fein säuberlich notiert war: '[style type="italic"]O KLASSIZISTES, Vierteljahresschrift des Instituts für Klassizismusforschung und des Vereins zur Erforschung des europäischen Antikenerbes. Jahrgang 22, 23, 24, 25, 29, 30, 31, 32, 33 vollständig, sowie Hefte 1, 2, 4 des Jg.27; Hefte 2, 3 des Jg.28.[/style]' Michael nahm eines der obersten Hefte aus dem Karton, wie die anderen war es etwa schulheft-groß, einen guten halben Zentimeter dick und in dunkelblaue Pappe gebunden. Es trug bisher weder eine Signatur noch einen Bibliotheksstempel. Der Titel der Zeitschrift war auf den Pappdeckel gedruckt und auf die erste Seite des Heftes. Der erste Artikel war überschrieben: 'Die badischen Hellenen, die Hohenzeller Athene und der Baldus-Hügel als Oikisten-Heroen-Grab Aus Anlaß der sich in Kürze zum 175. Male jährenden friedlichen Revolution des badischen Volkes sei ein ordnender Rückblick auf die ebenfalls nahezu 175 Jahre Forschung zu diesem Gegenstand gestattet. Als Ergänzung zu den wegweisenden staatsrechtlichen Untersuchungen der Neuordnung Baden-Oberrheins, die Lohgerber und Bleyle um 1900 anstellten - sowie jüngst Holtzer - und den Untersuchungen zur eidgenössischen Kunstförderung - ich nenne hier, für viele stellvertretend nur A. Ruprecht: Das öffentliche Kunstwerk, in: C. Long-Llewellyn: Education and Scholarship in Western Europe, Part 2: German Speaking Countries, Vol.5: Baden-Oberrhein - fehlte bisher eine Übersicht über die reichhaltige Literatur zur Antikenrezeption in der Badischen Befreiungstat als Folge der Verinnerlichung des hellenischen Ideals. Als gliedernde Stichpunkte sollen hier dienen: Literatur, Architektur und bildende Kunst. Literatur: Am Anfang muß natürlich stehen: Y. Roman: "Baldus' Hinaufzug in den Schwarzwald" in der Tradition der xenophontischen Anabasis. Der Autor legte 1887 damit eine gründliche literaturkritische Untersuchung und Würdigung der autobiographischen Schrift unseres Freiheitshelden vor.' Michael hatte seinerzeit über die Kampflieder von Baldus' Genossen promoviert. Aber vor kurzem war doch erst der 150. Jahrestag der Revolution von 1816 begangen worden. Michael blätterte noch einmal zum Anfang des Artikels, suchte dann auf dem Deckblatt nach dem Datum des Bandes. Er hatte Heft 4 des Jahrganges 22 in der Hand - aus dem Jahre 1990! Der in dem Karton angeblich zu findende Jahrgang 33 müßte demnach noch weitere 11 Jahre in der Zukunft abgefaßt worden sein. Anscheinend hatte er hier einen Karton zukünftiger Bücher vor sich! Es gab natürlich auch die Möglichkeit, daß sich irgendeiner den Spaß geleistet hatte, Bücher mit falschen Daten zu drucken - oder er ganz einfach über seinen Recherchen eingeschlafen war, nach der langen, schlaflosen Nacht, und nun träumte. Die dichte und bis zu Michaels Eintritt unversehrte Staubdecke im ganzen Raum sprach zumindest gegen einen kürzlichen Scherz. Aber andererseits, wenn es möglich war, durch Wände zu gehen, warum sollten dann nicht zukünftige Bücher schon fertig gedruckt und gebunden vorliegen? Michael schüttelte den Kopf, um die krausen Gedanken in dessen Innern wieder zurechtzurücken. Am einfachsten war, im Alphabetischen Katalog nachzusehen, ob sich dort überhaupt - und gegebenenfalls welche - Jahrgänge des 'Klassizistês' fanden. Und bei der Gelegenheit sollte er im Systematischen Katalog auch gleich Ausschau halten nach 'Phan.Graec.001-081'. Also folgte Michael seinen Spuren im Staub zurück zu der Stelle der Wand, an der er sie schon einmal durchschritten hatte. Diesmal wirkte er den Zauber auf Anhieb erfolgreich und trat zurück in 'sein' Magazin. Seinen Notizblock suchte er jedoch auf dem 'Phan.Graec.'-Regal vergeblich. Dabei war er fest davon überzeugt, ihn auf der Buchablage gelassen zu haben. Sicher hatte er ihn nicht mit in den verschlossenen Raum genommen, denn er hatte dort doch beide Hände frei gehabt. * Die halbherzige Suche im Magazinraum hatte den Notizblock nicht wieder zum Vorschein gebracht, und über die bekannten Flure und Treppen war Michael schließlich in den Katalograum im Erdgeschoß gelangt. "Professor Drake?" sprach ihn eine der Bibliotheksangestellten an, als er an der Ausgabetheke vorbei auf den Zettelkatalog zusteuerte. "Ja?" fragte Michael, etwas ungehalten über die zu erwartende Verzögerung. "Ihre Frau hat vor ein paar Minuten angerufen. Sie möchten bitte nach Hause kommen." 'Meine Frau?' war Michael versucht zu fragen. Anna war doch gerade erst abgerauscht. Oder hatte vielleicht Cassandra in der Bibliothek angerufen, weil sie etwas von ihm wollte? Die große Uhr über dem Durchgang in den Zeitschriftenlesesaal behauptete, daß es schon halb eins wäre. Sollte er tatsächlich so lange in dem verhexten Magazinraum zugebracht haben? Womöglich wollte ihn Cassandra nur an das Mittagessen erinnern. "Ich danke ihnen", sagte Michael schließlich, drehte sich auf dem Absatz um und ging. Am Eingang saß Lavaters Ablösung, schob Michael das Buch zum Austragen hin und verabschiedete ihn, als Michael schon die schwere Holztür aufschob. Michael erwiderte den Gruß nur flüchtig und ging durch das kühle, steingeflieste Treppenhaus des ehemaligen Klosters hinaus - um sich dem Atem der Hölle ausgesetzt zu sehen. Die heiße Luft, die über den Domplatz strich und Michael in Sekundenschnelle einhüllte, schien geradewegs aus einem Backofen zu kommen. Der Rückweg nach Hause war fast so anstrengend wie der Marsch durch eine Wüste, aber immerhin bot die Schloßallee den Schatten der alten Linden und Platanen. Und während Michael gemächlichen Schrittes seinem Heim und seiner auf ihn wartenden Muse zustrebte, überlegte er, wie weit er in seinem Roman wohl gehen könnte, ohne sich seinen Lesern zu sehr zu entfremden. Immerhin hatte ihn seine Muse nicht nur wieder zum Schreiben, sondern auch wieder zu Lust und Liebe inspiriert. Er würde eine milesische Geschichte schreiben - einen Roman voller Verwicklungen, verzehrender Liebe und ihrer glücklichen Erfüllung. Das bisherige Exposé war so vage abgefaßt, daß damit fast alles abgedeckt war, solange es nur im mediterranen Raum spielte, also sollte das keine Probleme geben. Aber spätestens in dem Moment, als er den Achilleus Tatios in der Hand gehalten und darin geblättert hatte - wieder einmal auf die schöne Stelle gestoßen war, an der dem Erzähler erstmals begegnet, wie einen die Liebe umtreiben kann - da war dem ganzen Romankonzept ein Schubs in die erotische Richtung gegeben worden. Michael lächelte zufrieden über seine Idee, die ersten Formulierungen, die er erwog und über das Gesicht, das sein Verleger machen würde, nach über fünf Jahren 'Funkstille' nun ein so pubertäres Werk angetragen zu bekommen. Aber damit mußte der gute Mann leben. Noch immer spielte ein Lächeln um Michaels Lippen, als er die Winifredstraße erreichte, sie entlangging und schließlich das drake'sche Grundstück betrat, die paar Stufen zur Haustür hinaufstieg. Er bekam den Schlüssel nicht ins Schloß! 'Ach, was soll's', dachte Michael fröhlich und drückte den Klingelknopf in einem beschwingten Rhythmus. "Ja, ja, ich komme ja", brummelte eine Frauenstimme gedämpft hinter der Tür. Dann wurde geöffnet und Michael fror das frivole Lächeln und die für Cassandra gedachten Zärtlichkeiten auf den Lippen fest. Eine völlig Fremde stand vor ihm, rundlich und etwa so alt wie er selbst, die grau durchzogenen schwarzen Haare zu einer Rolle auf dem Hinterkopf zusammengesteckt. * * * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)