Juli 1970 von Erzsebet (Pathologie eines Philologen) ================================================================================ Kapitel 6: Schatten der Erinnerung ---------------------------------- "Ruth", entwich es ihm flüsternd, als er in dem scheinbar fremden Gesicht ansatzweise die Gesichtszüge einer jungen Frau von etwa zwanzig Jahren wiedererkannte, die er vor Jahrzehnten gekannt hatte. "Ja, richtig geraten." Ruth öffnete die Tür weit, um Michael eintreten zu lassen, wartete jedoch nicht darauf, sondern hatte sich schon umgedreht und ging wieder zurück in die Küche, aus der der Duft lange nicht genossener Speisen drang. "Komm rein, Mischa, das Essen ist gleich fertig." Michael stand wie vom Donner gerührt in der offenen Haustür. Ruth Mandelbaum - was hatte die in seiner Küche zu suchen? Was hatte sie in seinem Haus zu suchen? Wieso ging sie überhaupt aufrecht unter der Sonne? Sie war seit über dreißig Jahren tot! "Und denk daran, daß du meinem Vater versprochen hast, heute Abend mitzukommen", rief Ruth - zweifellos war sie es, denn ihre Stimme hatte sich weniger geändert als ihr Äußeres - aus der Küche. "Wohin mitkommen?" fragte Michael ganz automatisch. Ruths Kopf tauchte im Rahmen der Küchentür auf. "Na, in die Synagoge. Heute ist Freitag!" Und dabei klang sie fast wie Anna, wenn die fürchtete, ein ihrer Meinung nach längst zu ihren Gunsten entschiedenes Thema noch einmal durchfechten zu müssen. Ruth klang wie eine langjährige Ehefrau. Und der Blick auf das kleine dunkle Bild neben der Wohnzimmertür, gerahmt in einen vergoldeten Barockrahmen, bewies Michael, daß hier etwas definitiv nicht stimmte. Es war die sogenannte 'Beschneidung des Salomon', Michaels einziges Erbstück von seinem mütterlichen Großvater. Hier hatte es gehangen, seit Großvater Dumeloille vor gut zwanzig Jahren gestorben war - bis zu dem Zeitpunkt als auch seine Mutter starb und Anna mit dem Hausrat völlig frei walten konnte. Seit dem war das Bild verschwunden - gewesen. Michael ging näher heran. Es war wirklich dasselbe Bild, mit der gleichen kleinen Fehlstelle im Gewand des Hohepriesters, durch die man den hölzernden Malgrund sah. "Mischa, komm zu Tisch!" rief Ruth aus der Küche. "Cassandra?" rief Michael flüsternd in das Wohnzimmer, aber er rechnete gar nicht mit einer Antwort. Als er am Morgen in die Bibliothek gegangen war, war die Wand zum Garten noch ein Panoramafenster gewesen und der Raum möbliert mit Ledercouch und Ledersesseln, die Anna vor gut zwanzig Jahren angeschafft hatte. Nun sah er auf den doch längst abgerissenen Wintergarten und es standen hier, wie zur Zeit seiner Mutter, das Biedermeier-Sofa, das Anna Michaels jüngster Schwester überlassen hatte, und die Sessel, die Michaels Vater angeschafft hatte. Und an der Stelle des steinplattengedeckten Couchtisches stand wieder der hohe, runde Holztisch, bedeckt von dem an den Enden schon etwas ausgefransten Teppich, wie seit den Tagen des drake'schen Großvaters - bis eine aufstebende junge Designerin aus Basel die erstbeste Gelegenheit genutzt hatte, den 'altmodischen Plunder' zugunsten einer zeitgemässeren Innenausstattung aus dem Haus zu verbannen. Wie hatte er Anna nur jemals freie Hand lassen können? Wie hatte er sich überhaupt jemals einbilden können, eine gemeinsame Basis mit Anna zu haben? Es war merkwürdig, hier zwischen den Besitztümern seiner Altvorderen zu stehen, aber es fühlte sich an wie die Rückkehr in die eigene Kindheit - wie eine Rückkehr zu sich selbst. Fast erwartete Michael, den schlurfenden Schritt seines väterlichen Großvaters im Flur zu hören, der ebenfalls auf den Ruf zum Essen reagierte. Aber natürlich war der ältere Michael schon seit vielen Jahrzehnten tot - ebenso wie Ruth... aber anscheinend war sie seine Frau geworden... und was sie da kochte, roch ganz wie die koschere Elsässer Küche, die seine Mutter so virtuos beherrscht hatte. * Nach dem Essen erkundete Michael sein Arbeitszimmer, das fast genauso aussah, wie vor fünfzig Jahren, als es noch Michael Drake seniors Reich war. Es hatte etwas von einer Zeitreise, den dunklen Raum, vollgestopft mit Büchern, Papieren und Erinnerungsstücken aller Art zu betreten. Michael setzte sich an den Schreibtisch, der nach den obersten Papieren zur badischen Erzähltradition, zur Überlieferungsgeschichte der Tausend-und-Eine-Nacht und einigen theoretischen Aufsätzen zur vergleichenden Literaturwissenschaft eindeutig sein Schreibtisch war - und doch war es nicht sein eigener. Es war der Schreibtisch seines Großvaters, auf dem kleinen Aufbau stand - wie zu Lebzeiten des Großvaters - noch die Sammlung von gläsernen paperweights und die bronzene Tintenkröte, daneben ein kleiner silberner Bilderrahmen, in dem ein Foto drei unbekannte, runde Kindergesichter zeigte. Mit einiger Phantasie konnte Michael gewisse Ähnlichkeiten zu sich und Ruth in den Gesichtern feststellen, aber das Bild war seiner Meinung nach zu neu, um ihre gemeinsamen Kinder zu zeigen. Hier hatte er es eher mit seinen Enkeln zu tun. Während Michael begann, in den Schubladen zu stöbern, wartete er eigentlich nur darauf, daß plötzlich die Tür in seinem Rücken geöffnet wurde, sein Großvater ihn hier unbefugt in seinem Allerheiligsten sitzen sah, mit seiner rasselnden Stimme einen knappen cornishen Tadel sprach, dem Lieblingsenkel mit der verstümmelten rechten Hand über den Schopf strich und ihn vor die Tür setzte. Nicht, ohne ihm, wie immer, eine Ermahnung mit auf den Weg zu geben, dies oder jenes nicht zu tun, was Michael dann natürlich doch tat und sich stets, wie vorgewarnt, den Fuß verstauchte oder sonstige Blessuren holte. Eine Zeitlang hatte Michael geglaubt, sein Großvater sähe die Zukunft, aber als er selbst älter geworden war, hatte er gemerkt, daß es eben die Lebenserfahrung eines fast achzigjährigen war, die diese Warnungen motivierte. Kurz nach Michaels zehntem Geburtstag war Großvater Drake gestorben, danach war der Schreibtisch und sein Inhalt auf den Boden geschafft worden, denn Michaels Vater - Gabriel Basil Drake - respektierte das Testament des älteren Michael, der den gesamten Inhalt seines Arbeitszimmers dem Enkel vermacht hatte. Anna hatte ihn veranlaßt, den Schreibtisch auf dem Boden zu lassen, als er selbst nach dem Tode seines Vaters dieses Zimmer als Arbeitszimmer übernommen hatte. Michael betrachtete die aus den Schubladen zusammengesammelten Beutestücke, die er auf der Tischplatte ausgebreitet hatte: ein Stapel Visitenkarten, die wohl seine eigenen, nicht die seines Großvaters waren; einige hübsch glänzende Badische Silbergroschen - Jubiläumsprägungen zur 125. Revolutionsfeier; der alte Kolbenfüllhalter, den er seit Jahren verloren glaubte; das Petschaft mit dem entenschnabligen, in sich verschlungenen Drachen, das sein Großvater sich in London hatte anfertigen lassen; ein ledernes Ringkästchen mit einem Siegelring, den jemals zuvor gesehen Michael sich nicht erinnern konnte. Das abgegriffene Kästchen schien schon sehr alt, war mit bereits stumpf gewordener Seide ausgekleidet und der Ring wirkte noch sehr viel älter. Der Goldreif war ganz schlicht, aber der durchscheinende, grüne Stein, den er umfaßte, war mit einem Pegasus graviert. Das kleine Pferd, der Hengst, war mit erstaunlicher Lebendigkeit dargestellt, die Schwingen waren ausgebreitet und es schien durch die Luft zu gallopieren. Ein wunderschöner Ring. Und dann hatte er noch ein Fotoalbum und ein dünnes Heft mit schwarzem Umschlag gefunden, auf dem außen mit Bleistift in etwas unbeholfener Handschrift 'Diary' stand und auf der Innenseite des Umschlages, ebenfalls in englisch: 'Begonnen auf ärztliche Anweisung zu Merburg im September des Jahres 1882 im britischen Militärhospital daselbst.' Der englische Text auf den linierten Seiten war zum Teil mit Kopierstift geschrieben. 'Es heißt, ich hätte vor zwei Monaten ein Schiffsunglück überlebt. Ich kann mich an diesen Unfall ebensowenig erinnern, wie an die ersten Wochen in diesem Krankenhaus. Auch meine eigene Geschichte, meine Daten, sind mir unbekannt. Die Ärzte erklärten mir, das läge an der Schwere meiner Verletzungen und dem daraus resultierenden Schock. Sie sagten weiter, ich sei gut vierzig Jahre alt und aller Wahrscheinlichkeit nach kein Einheimischer, sondern Brite aus dem Mutterland. Letzteres folgern sie allerdings aus meiner Kenntnis und Beherrschung der englischen Sprache. Meine Kleidung ist verbrannt, ebenso wie meine Haare. Meinen linken Arm habe ich verloren und meine rechte Hand wurde so schwer verletzt, daß sie bis vor einigen Stunden noch geschient war. Mein Rücken und meine Beine sind ebenfalls verletzt und bis heute kann ich nur das linke Bein bewegen, doch auch nur wenig. Zumindest wurde mein Gesicht nicht entstellt, doch es ist mir trotzdem so fremd wie das eines beliebigen Menschen. Die Art der Verletzungen und Verbrennungen, die ich erlitten habe, lassen zumindest auf ein Feuer und vielleicht auch auf einen Sturz schließen. Da es einen Tag vor meiner Auffindung einen Brand auf einem britischen Truppentransporter in der Nähe der hiesigen Küste gegeben hatte, glaubt man, daß ich dabei über Bord ging und wahrscheinlich auch von einer der Schiffsschrauben erfaßt wurde, bis ich schließlich nackt und verletzt an den Strand von Merburg gespült wurde. Meine Rettung aus den Fluten verdanke ich allein der Tatsache, daß der Sommer dieses Jahr schon früh begann und auch sehr warm wurde, so daß die Temperatur des Wassers auch bei langem Treiben ein Überleben gestattete. Ich habe mir gestern die Stelle zeigen lassen, an der ich gefunden wurde, aber auch der Anblick dieser Stelle am Strand weckte keine Erinnerung. Anders war es beim 'Gang' durch die Stadt. Die Michaelis-Kirche scheint mir vertraut und auch einige der Häuser der Innenstadt. Sicher kann ich sagen, daß ich Merburg bereits einmal gesehen und begangen habe. Hier erinnert sich jedoch niemand an mich. Ein Aufruf mit meinem Bild in der Zeitung und Umfragen in den Kasernen blieben bis heute ergebnislos. Die Nichterwähnung meiner Person in den Unterlagen der Streitkräfte lassen wohl den Schluß zu, daß ich kein Angehöriger der Besatzungstruppen bin, sondern ein ziviler Besucher der Besatzungszone. Als mich die Schwester heute vormittag wieder einmal für ein paar Stunden im Rollstuhl durch die Stadt schob, sah ich ein bekanntes Gesicht in der Menge. Ein junger Mann, sehr schlank und mit rötlichblondem, ingwerfarbenem Haar. 'Ginger' war auch der Name, der mir zu ihm einfiel, auf meinen Anruf jedoch erklärte er, er heiße David O'Sullivan und er sei schon 'Sandy' genannt worden, niemals jedoch 'Ginger'. Er war sehr freundlich und nahm sich die Zeit, mit der Schwester und mir einen Tee zu trinken. Er versicherte mir jedoch glaubhaft, daß er mich vor diesem Nachmittag niemals gesehen habe. Er ist der Sohn eines hiesigen Hotelbesitzers, gehört zur Jeunesse doreé von Merburg und sein Bild ist fast ebenso oft in den Zeitungen zu sehen, wie das des Prinzen oder die der jungen Lords und Peers, so daß er mir wohl daher bekannt vorkam. Heute war ich mit Schwester Blancheville in der Michaelis-Kirche. Während mir die Kirche von außen durchaus vertraut scheint, kam mir das Innere sehr fremd und düster vor. Die Glasfenster zeigen im Norden die Passion Christi und seinen Besuch im Totenreich zur Rettung der Gerechten früherer Geschlechter, im Süden die Schöpfung und die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies. Die die Zyklen im Osten jeweils abschließenden Fenster zeigen rechts über dem Allerheiligsten den Engel mit dem Flammenschwert, links davon die Himmelfahrt Christi. Über dem Altar thront Christus als Weltenherrscher in Mosaik, flankiert von den Seraphim und Cherubim, die Erzengel durch die Namensbezeichnung hervorgehoben. Von den Fenstern schienen mir nur der Engel mit dem Flammenschwert und der gemarterte Christus auf dem Weg zum Schädelberg bekannt. Und das Mosaik schien mir stumpf und altgeworden. Die griechischen Namen der Erzengel waren nur zu erahnen und ihre Gesichter und Gewänder waren eher grau denn weiß. Die lebhafteste Erinnerung kam jedoch angesichts des Namenspatrons auf dem Turm im Südosten der Kirche. Ein bronzener, im Laufe der Jahrhunderte grün angelaufener Barockengel, wie ein Ritter in Rüstung, das Schwert gesenkt, die riesigen Schwingen aufwärts gerichtet, den Drachen schon erschlagen zu seinen Füßen. Von unten glaubte ich beinahe, sein Gesicht erkennen zu können, glaubte zu wissen, der überlebensgroßen Figur schon Aug in Auge gegenübergestanden zu haben. Und natürlich hätte ein Sturz vom Kirchturm einige meiner Verletztungen wohl erklärt. Heute sprach ich mit Dr. Newman über meine Idee vom Kirchturmsturz, er wies mich jedoch darauf hin, daß dieser Sturz als Ursache für meinen Unfall gänzlich auszuschließen sei. Da ich nur wenige, sicher auf einen Sturz zurückführbare Verletzungen erlitten habe, sei der Sturz allenfalls aus sehr geringer Höhe auf den Strand erfolgt. Wahrscheinlicher sei jedoch, daß ich die entsprechenden Verletzungen beim Sturz vom Schiff ins Wasser erlitten hätte. Für mein rechtes Bein ist nun wohl nichts mehr zu hoffen, es wird weitgehend gelähmt bleiben. Immerhin habe ich nicht die Kontrolle über meine Ausscheidungsorgane verloren und habe durch lange Übung nun auch schon eine gewisse Selbstständigkeit mit dem Rollstuhl erlangt. Auch meine Befürchtungen, impotent zu bleiben, sind wohl verfrüht gewesen - ursprünglich hervorgerufen durch die reaktionslos gebliebenen Waschungen meines Unterleibs durch zarte Frauenhände - denn heute morgen reichte allein die freundliche Berührung meiner Beine durch die bezaubernde Esther Blancheville als sie mir in meinen Rollstuhl half, die bisher fehlende Reaktion auszulösen. Die Offensichtlichkeit meiner Erregung, die mich begreiflicherweise weit mehr erfreute als beschämte, sorgte für das allerliebste Erröten dieses hübschen Gesichtes, als sie schamhaft die Augen zur Seite wand. So hat mich doch - wenn auch mit gewissen Einschränkungen - das Leben nun endlich wieder. Ich stamme wohl aus Cornwall. So jedenfalls ist zu vermuten, nach der Sitzung bei Dr. Pembroke, der mir Tonaufzeichnungen der Mundarten verschiedener Gegenden des Mutterlandes vorspielte. Er erklärte, sich allein so behelfen zu können, da mein Englisch so frei von landschaftlichen Färbungen sei, daß zu vermuten wäre, ich hätte die Sprache gelehrt. Auch sei ich wohl lange im Ausland gewesen, denn einige Amerikanismen seien in meinem Englisch festzustellen, wie auch französische und deutsche Wendungen. Als ich das Cornish des Sprechers aus dem Schalltrichter vernahm, überkam mich ein solches Gefühl der Vertrautheit, wie ich es auch angesichts des bronzenen Michaels auf dem Kirchturm verspürt hatte, und ich entsann mich sicher, daß mein Vater in Penzance geboren wurde. Und auch mein Name kam mir in dem Zusammenhang wieder ins Gedächtnis zurück: ich heiße Michael Nigel Drake. Leider sind bis heute der spektakulären Wiederentdeckung meines Namens noch keine weiteren Offenbarungen über meine Person gefolgt. Und der Name brachte mich auch nicht weiter - ebensowenig wie der Hinweis auf die Herkunft meiner väterlichen Familie. Eine Anfrage in Penzance brachte nur zutage, daß sich dort auf einem Friedhof ein im 17.Jahrhundert errichtetes Familiengrab der Drakes findet; durch einen Großbrand vor zwei Jahrzehnten sind jedoch sämtliche Unterlagen wie Taufbücher, Heirats- und Geburtsregister des dazugehörenden Kirchenarchivs verloren gegangen. Weiteren 'heimatlichen' Klang vernahm ich heute aus dem Munde der lieblichen Esther. Während sie bisher mit den Ärzten und Schwestern, und auch mit mir stets Englisch sprach, mit einem entzückenden, mir bis dahin französisch scheinenden Akzent, hörte ich heute nachmittag, als ich auf der Veranda der Rehabilitationsstation saß und in der Zeitung las, wie Schwester Blancheville sich mit einer der einheimischen Bediensteten der Station auf Deutsch unterhielt. Während ich den schweren Zungenschlag der Einheimischen schon oft in der Stadt und auf dem Gelände des Krankenhauses gehört hatte, war diese Sprache aus dem Munde von Schwester Blancheville doch etwas ganz anders, verglichen mit dem spröden, etwas schleppenden Dialekt der Einheimischen so rollend und quicklebendig - wie Champagner im Vergleich zu saurem Weißwein. Ich erinnerte mich sogleich an meine Eltern, die beide viel öfter dieses eigentümlich französisch eingefärbte Deutsch als Englisch miteinander sprachen. Ja, ich selbst bin damit aufgewachsen, während ich Englisch vornehmlich von meinen Großeltern und später in der Schule lernte. Ich habe diese Nacht geträumt. Wohl auch schon in früheren Nächten, denn es hieß gelegentlich, ich hätte im Schlaf geschrien oder um Hilfe gerufen, aus den offensichtlichen Alpträumen geweckt jedoch von nichts mehr gewußt. Heute sah ich den von Grünspan bedeckten Bronzeengel im Schlaf, hoch oben auf seinem Turm, doch neben ihm stand ein zweiter, bronzefarbener Engel, der die Flügel entfaltete und aufstieg in den vom Mond erhellten Himmel. Über der Stadt flog er eine weite Kurve bis zu der großen Bucht, auf deren einander zugeneigten hornartigen Enden im Osten die Burgruine und im Westen der Leuchtturm stehen. Und dann flog er hinaus über das Meer und ich, so schien es mir, flog neben diesem Engel her, selbst wie ein Engel mit riesigen Schwingen anstelle meiner Arme, doch mein Gefieder blitzte weiß. Der andere, bronzefarbene Engel war ein Weib und im Fluge - irgendwie - paarten wir uns. So sollte ich wohl eher von Dämonen als von Engeln sprechen, doch ehrfurchtgebietend wie das eines Engels war das Antlitz dieser geflügelten Frau, in gar nichts ähnlich meiner lieblichen Esther. Schwarze Augen und langes, schwarzgelocktes Haar hatte jenes Weib, bronzefarben wie die Flügel war auch die Haut ihres nackten Leibes und allein ihr Blick auf mir entfachte schon die Lust in meinen Lenden. Viel eher gab ich mich ihr hin, als sie sich mir. Über den Tag mußte ich immer wieder an diesen Traum denken, an das nächtliche Merburg aus der Luft gesehen, so ähnlich seiner jetzigen Gestalt und wieder so unähnlich. Und an jenes engelsgleiche - dämonenhafte Weib mußte ich denken. Ich werde mich heute abend Schwester Blancheville erklären, nun, da ich wieder einen Namen, wenn auch sonst kaum eine Vergangenheit habe. Vielleicht erhört sie mich, und ich wage zu hoffen, denn daß ich ihr nicht völlig gleichgültig bin, merkte ich doch in den vergangenen Monaten, in denen sie sich um meine Genesung so aufopfernd kümmerte. Sie hat mich erhört! Wir werden nicht in der Michaelis-Kirche heiraten, wie ich im ersten Überschwange vorschlug, denn sie ist Jüdin. Und - betrachtet man es genauer - kann ich von mir auch nicht mit Sicherheit behaupten, daß ich Christ bin, denn ich bin beschnitten. Doch es ist nicht auszuschließen, daß es sich dabei vielleicht um eine von dem Unfall herrührende Verstümmelung handelt. Allerdings erinnere ich mich dunkel an Besuche an Gräbern von Verwandten, deren Steine hebräische Buchstaben trugen. Meine Erinnerungen an jedwelchen Kultus aber sind so unpersönlich, als hätte ich sie nur als Erwachsener aus kulturhistorischem Interesse studiert, so wie man in Europa eben die Schrift liest, um die Kunstwerke in den Museen recht verstehen zu können, ebenso wie Ovids Metamorphosen. Sehr religiös war mein Elternhaus nicht, das glaube ich mit Sicherheit sagen zu können, wenn ich auch nicht sicher zu sagen weiß, welchen Glauben wir nicht streng verfolgten. Heute hörte ich zum ersten Mal, daß ich doch etwas außer der nackten Haut am Leibe hatte, als man mich fand. Ein Bäckergesell, auf dem Wege zu seinem Arbeitsplatz, hatte mich an jenem Morgen am Ufer entdeckt und den Ring, den ich an der Rechten trug - sonst wäre er wohl auf immer verloren gewesen - als selbstgewählte Belohnung für die Rettung meines Lebens mir vom Finger gezogen, nachdem er die Krankenstation der Garnison verständigt hatte. Nun, nach Monaten plötzlich in Geldnot geraten, wollte er eben diesen Ring versetzen. Der Pfandleiher, dem die Erzählung, der Goldring mit dem geschnittenen Stein habe einer verstorbenen Tante gehört, merkwürdig vorkam, verdächtigte nun den Mann einer Straftat, erbat sich Zeit, angeblich um den Wert des Ringes von einem Fachmann schätzen zu lassen, und so konnte er - ohne Argwohn zu erwecken - die Polizei auf den Ring hinweisen. Ein Diebstahl war nirgends gemeldet worden, unwahrscheinlich blieb jedoch die Behauptung, er habe der Tante des Bäckers gehört, denn der Ring war sichtlich für eine Männerhand gemacht, dazu sehr alt, der Stein wohl antik, die Fassung nur unwesentlich moderner. Also wurde der Bäckergesell zum Verhör einbestellt und schließlich gestand er die Wahrheit. Mir will man den Ring morgen vorlegen, ob ich ihn wohl als mein Eigentum erkenne. Doch ich weiß ja noch nicht einmal etwas Genaues über meine Kindheit zu sagen, wie sollte ich da mit dem Ring etwas anfangen können. Aber ich habe zugesagt - und vielleicht ist ja mit einer solchen Offenbarung zu rechnen, wie schon einige Dinge sie hervorriefen. Es ist in der Tat mein Ring, und ich wünschte, er wäre einfach verloren gegangen. Ich erinnere mich nun an alles.' * * * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)