Juli 1970 von Erzsebet (Pathologie eines Philologen) ================================================================================ Kapitel 8: Anna ist an allem schuld ----------------------------------- "Wie war das?" fragt Michael leicht irritiert. "Sie haben schon richtig gehört", versichert die Dame mit strahlendem Lächeln und geht am verdutzten Eigentümer vorbei ins Haus. Sie steuert zielstrebig auf die Wohnzimmertür zu, öffnet sie und dreht sich zu Michael um, der noch mitten im Flur steht. "Wissen sie, ich hatte einige Schwierigkeiten, sie zu finden. Sie wohnen doch sehr abgelegen." Höflich läßt sie Michael den Vortritt in sein eigenes Wohnzimmer. Michael setzt sich zum Bär seiner Enkelin aber ist doch geistesgegenwärtig genug, seiner Besucherin zuvor einen Platz anzubieten. "Was wollen sie denn von mir, Frau..." "Athena", fällt ihm die Schöne ins Wort. "Ich... das heißt, mein Vater hat ein Anliegen von einiger Dringlichkeit an sie: es geht um ihre Kreaturen. Sie werden durch mich von ihm in aller Form gebeten, sie zukünftig im Zaum zu halten." "Meine Kreaturen?" fragt Michael einigermaßen verdutzt. "Ja, so eine Art Gelee-Wesen, wie sagen sie... Amöben." Athena lächelt stolz über ihre Kenntnisse. "Soweit ich weiß, haben sie wohl eine Geschichte nicht zuende geschrieben, zumindest aber ihre Phantasiewesen in geradezu sträflicher Weise vernachlässigt. Sie haben sich verselbstständigt, befinden sich jetzt in unserer Welt und entwickeln sich zu einer Bedrohung für meinen Vater. Um da Abhilfe zu schaffen bin ich hier." "Aber wieso mischen sich die Götter der griechischen Antike in die Belange heute lebender Menschen ein?" Michael hat das Gefühl, aufs Glatteis geführt zu werden. "Wir sollten richtiger vom umgekehrten Fall sprechen. Wenn sie so unverantwortlich sind, sich jahrelang nicht mit ihren Geschöpfen zu beschäftigen, so daß sie einen unheilvollen Einfluß auf unser doch eher zurückgezogenes Leben auf dem Olymp auszuüben beginnen, müssen sie sich nicht über die Einmischung wundern." Athenas Stimme ist noch immer mehr als angenehm, aber ihr Lächeln nicht mehr ganz so freundlich. Michael verdreht die Augen. "Aber das ist doch alles Unsinn! Wer hätte denn je davon gehört, daß Phantasiewesen - gleich welcher Epoche - real Gestalt annehmen?" Athena starrt Michael an. "Aber jedes Phantasiewesen ist real", weist sie ihn scharf zurecht. "Für gewöhnlich tauchen sie nur nicht dort auf, wo sie erdacht wurden." Dann wird ihr Lächeln hinterlistig. "Sie glauben wohl nicht an die Realität der Phantasie, was?" "Nein, allerdings nicht", entgegnet Michael fest, der nun überzeugt ist, es mit einem dummen Scherz zu tun zu haben. "Dann werde ich wohl dafür sorgen müssen, daß sie die Realität der Phantasie einmal am eigenen Leibe zu spüren bekommen." Jetzt funkeln Athenas Augen fast bösartig. Michael lächelte. Das würde Cassandra gefallen. Und als Ausgangsmaterial für die Beweisführung wäre durchaus die Kurzgeschichte über Malfe geeignet. 'Also lassen wir Athenas Augen noch einmal funkeln.' "Denken sie an ihre Kurzgeschichte über Malfe, wenn es soweit ist. Guten Tag." Athena spricht's und verschwindet. Michael schüttelt den Kopf über seine Hirngespinste, aber vielleicht wird er ja verrückt. "All das würde nicht passieren, wenn Anna hier wäre", sagt er leise zu Evas Teddy. Und damit hätte die Geschichten auch einen Titel: Wieso Anna an allem schuld ist... nein, Anna ist an allem schuld! Und der Dichter träumt: von der Rückkehr seiner Frau: Nachts um zwei biegt ein Taxi mit Basler Kennzeichen um die Ecke, hält vor dem drake'schen Haus. Eine blonde Frau in hellem Reisemantel steigt aus, läßt sich den Koffer bis zur Tür tragen. Den Koffer stellt sie unter die Garderobe, den Mantel hängt sie an und geht hinauf ins Schlafzimmer. Dort liegt er, ihr Gatte, träumt - von ihr - sie lächelt, legt sich schließlich zu ihm und schläft ein. Michael wacht plötzlich auf. Seltsam, er friert am Gesicht - und an den Händen fühlt er Fellhandschuhe. Er öffnet seine Augen und erhebt sich staunend. Er steht auf einer endlos scheinenden, schneebedeckten Ebene. Ein rotes Glühen am Horizont bringt die winzigen Schneekristalle zum Funkeln, direkt über ihm ist der Himmel jedoch tiefschwarz, und die Sterne strahlen hell. Als er im Zwielicht an sich herunterschaut, entdeckt er eine Bekleidung, die einem Eskimo der vormissionarischen Zeit alle Ehre machen würde. Ist das nun ein ganz gewöhnlicher Traum oder befindet er sich - wie Athena androhte - in einer anderen, von ihm selbst erdachten Welt? Sonst träumt er allerdings nur von Anna. Er streckt sich und geht ein paar Meter auf und ab. Kein Lebewesen außer ihm in dieser Schneelandschaft, kein Laut außer seinen Atemzügen und dem Knirschen des gefrorenen Schnees unter seinen Füßen. Muß er nun, als Strafe für seine Ungläubigkeit, Langeweile in dieser kalten Einsamkeit erleiden? Nicht einmal die Beleuchtung ändert sich und er sieht, daß das beständige rote Glühen am Horizont zu seiner Linken ihn einen langen, dünnen Schatten werfen läßt. "Hai, Hai!" Der Ruf zerreißt die Stille. Ein heller Punkt nähert sich aus der zwielichtigen Dunkelheit. Dieser Punkt kommt rasch näher, anscheinend handelt es sich dabei um eine Laterne an einem Schlitten. Gezogen wird dieser Schlitten von zwei großen Tieren, die sich mit wieselartigen Wellenbewegungen voranbewegen, gerade auf Michael zu. "Kais!" ruft die Stimme herrisch, die Zugtiere bohren ihren zentimeterlangen Klauen in das Eis und kommen so einige Meter vor Michael zum Stehen. Der in dichten Wolken aufsteigende übelriechende Atem der großen Raubtiere trifft Michael wie eine Faust, und er weicht zurück, als eines der beiden Tiere die langen scharfen Zähne bleckt. Beide Viecher starren ihn aus gelben Raubkatzenaugen an, und ihre Klauen bewegen sich unruhig auf dem Eis. Die Schulterhöhe der graubepelzten Monster entspricht seiner eigenen. So groß hatte er sich die Schlittenzugtiere nie vorgestellt, als er sie vor fast vier Jahrzehnten in seiner Geschichte beschrieb. Ein unförmiger Schatten löst sich von dem Schlitten und kommt auf Michael zu. "Bist du lebensmüde, hier auf der Piste spazieren zu gehen?" fragt die Stimme vorwurfsvoll, in dieser moderaten Lautstärke nun aber sicher als die einer Frau zu erkennen. Die Schlittenführerin ist nur ein Stückchen kleiner als Michael und wie er in dicke Pelze gehüllt. Ihr Gesicht ist dunkel, ohne daß Einzelheiten zu erkennen sind. "Wie bist du denn hier in der Wildnis gelandet?" Sie kehrt zum Schlitten zurück, winkt ihm. "Komm, bis Malfe kann ich dich mitnehmen." Michael folgt der Einladung etwas zögernd, da das bedeutet, den Zugtieren näher zu kommen, als ihm lieb ist. Er macht einen großen Bogen um die Biester und die Frau hilft ihm die von angetautem und wieder überfrorenem Schnee rutschigen Stufen hinauf auf den Schlittenbock. Dann ruft sie: "Hai, Hai!", die Tiere ziehen kräftig an, und Michael wird gegen die Lehne der Sitzbank gedrückt. Als der Schlitten wieder Fahrt aufgenommen hat und ruhig über das Eis gleitet, holt die Schittenführerin einen kleinen Korb unter der Bank hervor und stellt ihn zwischen sich und Michael, gerät so in den Lichtschein der Lampe und Michael kann ihr hübsches, kakaobraunes Gesicht sehen, mit dunklen Augen und vollen Lippen. Einige schwarze Löckchen kringeln sich unter ihrer Fellkaputze hervor. Sie ist wohl etwa Mitte dreißig und muß ihrem Aussehen nach aus der Tundra im Süden stammen, wenn Michael sich recht an seine Überlegungen erinnert. "Nun, wie bist du hier gelandet?" fragt die Frau noch einmal. "Wenn ich das nur wüßte", ist jedoch alles, was Michael dazu einfällt. "Du stehst also nicht immer so einfach mitten in der Eiswüste herum, jenseits jeder Zivilisation?" Die Frau lächelt Michael offenherzig an. "Nenn mich Cesavar", bietet sie an. Dieser Name bestätigt Michaels Vermutung über die Herkunft der Frau. Automatisch erwidert er: "Ich heiße Michael." Vielleicht befindet er sich wirklich in seiner eigenen Phantasie. Er fühlt eine gewisse Vertrautheit in der Gegenwart dieser Frau - diesem Produkt seiner Gedanken. Er kann sich aber nicht erinnern, Frauen auf die Transportschlitten zwischen Malfe und dem Rest der Welt gesetzt zu haben. "Hast du Hunger?" fragt die Frau nun wieder, klemmt die Zügel ihrer... Eiskraller - ja, das war der Name gewesen - unter den Oberschenkel und lüftet den Deckel des Korbes. Darin befinden sich das Viertel eines runden Brotleibs, ein großes Stück Käse und drei äpfel, außerdem eine Steingutflasche. "Greif' zu", bietet Cesavar an, reicht Michael die Flasche. Sie enthält eine streng schmeckende Flüssigkeit, die ihn von innen jedoch auf das Angenehmste wärmt. "Du kommst nicht aus der Gegend, nicht wahr?" fragt sie dann weiter. Michael schüttelt den Kopf, nimmt die großzügig mit Käse belegte Brotscheibe entgegen, die Cesavar ihm reicht, gibt die Flasche zurück. Trotz der Kälte ist die Schärfe des Käses zu schmecken. Das Essen fühlt sich außerordentlich real an. Er schluckt den Bissen, sieht, daß Cesavar ihn nach einem eigenen Schluck aus ihrer Flasche fragend ansieht, und erklärt: "Ich komme aus Hohenheim - Republik Baden-Oberrhein." Natürlich weiß er, daß Cesavar diese Namen ebenso fremd sein müssen, wie die Namen ihrer Welt Michaels Landsleuten - mit Ausnahme derer, die er in seiner Kurzgeschichte über Malfe damals erwähnte. "Und nun kommst du, um die Einsamkeit des Nordens zu erkunden?" fragt Cesavar mit einem breiten Grinsen. Nun muß auch Michael lächeln. "Nein... ich lerne gerade, daß die Phantasie real ist." "Das klingt nach einer interessanten Geschichte. Erzähl sie mir, Michael", fordert die Schlittenführerin ihren Gast auf, macht sich selbst ein Käsebrot. Michael beißt noch einmal von seinem Brot ab, streicht dann mit dem Handschuhrücken über das Kinn, versucht Zeit zu gewinnen, den richtigen Anfang zu finden. "Das Erzählen war zwar mal meine Leidenschaft", sagt er schließlich verlegen, "aber ich bin ziemlich aus der Übung." "Das macht gar nichts", ermuntert ihn Cesavar. "Fang nur an." Michael holt tief Luft und erzählt dann vom Auftauchen Athenas und seiner Skepsis bezüglich der Realität der Phantasie; daß dies Athena dazu veranlaßt habe, ihn in eine Phantasiewelt zu versetzen, und daß das anscheinend auch passiert sei. "Diese Welt - Malfe, die Eiswüste und alles was dazugehört - ist also eine erdachte Welt", sagt er schließlich mit gesenktem Blick, ohne seinen Beitrag zu ihrer Existenz zu erwähnen und mustert die Reste des Käsebrotes in seinen behandschuhten Händen. Die Frau kichert. Erstaunt, aber auch mit der Empfindlichkeit einer Respektsperson, die nicht ernst genommen wird, sieht Michael auf. Cesavar grinst ihn breit an. Hält sie ihn für verrückt oder begreift sie einfach nur nicht, was er gesagt hat. "Glaubst du mir nicht?" fragt er befremdet. Die Frau kann sich kaum zurückhalten, laut loszulachen, bringt es aber fertig, als Antwort auf Michaels Frage den Kopf zu schütteln. "Nein, nein, ich glaube dir. Aber du solltest mal dein Gesicht sehen. Du scheinst zu glauben, daß mich deine 'Offenbarung' in heillose Verwirrung zu stürzen hat." Michael nickt verstört. Amüsement über die Vorstellung, ein Phantasiewesen zu sein, verträgt sich nur schlecht mit seiner Vorstellung vom gesunden Menschenverstand. Cesavar hat nun wirklich zu lachen begonnen, beruhigt sich nach einer Weile jedoch wieder und versucht, Michael zu erklären, was so komisch ist. "Wir wachsen in der Gewissheit auf, daß jegliche Existenz der Phantasie ganz verschiedener Wesen entspringt - nicht nur unsere Welt, sondern auch jede andere, deine nicht ausgenommen." Michael erinnert sich dunkel, Hinweise auf entsprechende theologische Ansätze in seine Kurzgeschichte eingestreut zu haben. "Aber für jeden ist seine Welt natürlich real", fährt Cesavar fort, "schon allein dadurch, daß er an die Realität seiner Umwelt glaubt. Es ist ja auch gar nicht möglich, ein Wesen ohne die dazugehörige Umgebung zu schaffen. Das kann dir jeder Dimensionstheoretiker vorrechnen." Von dieser Profession hat Michael noch nichts gehört. Und er ist auch sicher, in seiner Kurzgeschichte keine Andeutung in der Richtung gemacht zu haben. Sollte das eine ins Wissenschaftliche gewendete, 'moderne' Version der von ihm gestrickten Theologie dieser Welt sein? Cesavar ißt inzwischen einen Apfel, sieht dabei sehr nachdenklich aus. Schließlich wendet sie sich wieder an Michael. "Du sagtest, du hättest dich lange nicht mehr mit deinen eigenen unfertigen Geschichten beschäftigt?" Michael nickt. "Weil meine Frau mich verlassen hat." Jetzt wird Cesavar ernst. "Das hieße ja, daß sich die von dir erdachten Wesen beliebig selbstständig machen können." Sie läßt den Apfelknust in den Korb fallen. "Etwas in der Art sagte auch Athena", gesteht Michael ein. "Ihren Worten nach haben sie sich sogar schon selbstständig gemacht. Ihr Vater - Zeus - sieht in ihnen eine Gefahr für sich." "Aber du bist doch in viel größerer Gefahr!" ruft Cesavar aus. "Bevor deine Wesen versuchen werden, sich in irgendeiner anderen Welt zu etablieren, werden sie sich erst einmal ihres Schöpfers entledigen, damit der sie nicht wieder unter seine Kontrolle bringt. Meine Oma sagt immer wieder, daß es einfach unverantwortlich sei, mächtige Wesen mit einer zweifelhaften Persönlichkeitsstruktur zu erdenken. Die könnte dir Sachen erzählen... naja. Du mußt dir jedenfalls schnellstens etwas einfallen lassen, um die Wesen wieder in ihre angestammte Welt zurückzuschaffen." "Aber wie?" fragt Michael hilflos. "Das ist im Prinzip ganz einfach. Du rekonstruierst den Weg der Wesen in deine Welt innerhalb einer Geschichte. Und dann läßt du die Wesen in dieser Geschichte in ihre eigene Welt zurückkehren, ohne großen Schaden anzurichten. So kannst du sie wieder unter deinen Willen zwingen, als ob nie etwas geschehen wäre." * * * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)