Juli 1970 von Erzsebet (Pathologie eines Philologen) ================================================================================ Kapitel 17: Über die Vergänglichkeit ------------------------------------ Auf dem Weg zurück zum Hotel nahm Michael einen etwas anderen Weg durch den Park und gelangte so an den Rand des Michaelis-Kirchhofes. Genau dem Friedhofseingang gegenüber lag ein Old-English-Style Inn, The Dancing Angel, der wirkte, als stünde er schon seit Tudor-Zeiten an dieser Stelle. Und auf dem Schild über seiner Tür da 'tanzte' ein Abbild des Michael vom Engelsturm der Michaelis-Kirche im leichten Wind. Über den Bäumen des Kirchhofes konnte man die Vorlage für dieses Wirtshausschild erkennen, und es sah tatsächlich aus, als tanze der Erzengel, denn das Schwert wurde aus dieser Perspektive von den Beinen des Engels verdeckt und auch von dem Drachen zu seinen Füßen war nichts zu sehen. Da ihn nun nur noch ein paar hundert Meter von der Kirche trennten, beschloß Michael, einen Abstecher dorthin zu machen. Er nahm den Weg über den Kirchhof und bewunderte die Riege trauernder Engel auf den gut hundertjährigen Familiengräber und das einem dorischen Tempel nachgebildete Grabmal des Herzogs Christian Albrecht zu Bannstedt. Das bronzene Portal der Michaelis-Kirche stammte von einem zeitgenössischen Merburger Künstler, der eine Flügel zeigte die Abstammung Marias, der andere die Josephs von David. Das Innere der um die Mittagszeit völlig verlassenen Kirche war erstaunlich hell und das Goldmosaik in der eigentümlich kleinen Apsis, der Weltenherrscher flankiert von den Engeln, erstrahlte geradezu im Sonnenlicht, das durch das einfache Glas der gotischen Maßwerk-Obergaden und durch Reflexion an strategisch angebrachten Spiegeln in das Allerheiligste fiel. Nur links, nahe dem Eingang, war ein buntes Glasfenster und geradeaus, rechts über der Apsis. Beide waren durch ihre Vereinzelung trotz des gleißenden Sonnenlichts auffällig. Ein Ritter war es, der in dem Glasfenster geradeaus zu sehen war, in Rüstung, schwarz und weiß der Wappenrock und auf dem dreieckigen, weißen Schild ein schwarzer, in sich verschlungener Drache. In seiner Rechten hielt er, nach rechts deutend, ein rot flammendes Schwert. Das grimmige Gesicht unter dem Helm war bartlos, von ein paar schwarzen Locken umgeben. Die zusammengefalteten, weißen Flügel des Erzengels waren vor dem hellblauen Grund des Fensters kaum zu erkennen. Das farbige Fenster in der Nordseite des Mittelschiffs zeigte den unter seiner Last gebeugten Jesus, mit der Dornenkrone auf dem blutigen Haupt, während er das Kreuz den Schädelberg hinaufschleppte. Aber insbesondere die eindrucksvolle Erzengeldarstellung, der man den Anführer der himmlischen Heerscharen, den Kriegsfürsten, wohl abnehmen konnte, machte Michael neugierig auf die Reste der anderen Glasfenster aus dem 19.Jahrhundert, die sich im Historischen Museum befinden sollten. Er ging durch das lichtdurchflutete Mittelschiff, vorbei an den düsteren Seitenschiffen hinter den von bunten Marmorsäulen getragenen romanischen Arkaden. Die kleinen runden Fenster der Seitenschiffe waren zum größten Teil mit Alabasterscheiben versehen, an einigen Stellen jedoch durch weißlichgelbes Milchglas ersetzt. Die brennenden Kerzen vor den Seitenschiffaltären sorgten dort für mehr Beleuchtung, als das stark gedämpfte Tageslicht. Der offene Durchgang neben dem Allerheiligsten, unter dem Fenster mit dem Ritter-Engel, führte nach rechts zum Engelsturm und nach links hinunter zur Krypta, in der die Gebeine der einstmals über Merburg herrschenden Häuptlinge lagen. Und über der Treppe nach unten war wieder der Namenspatron der Kirche dargestellt, diesmal als Wäger der Seelen der Toten, ein romanisches Relief aus dem 12.Jahrhundert. Doch die Bildung der Gestalten darauf erinnerten an die zeitgenössischen Reliefs der beiden Portalflügel. * Michael war auf dem Weg zurück ins Hotel durch den Anblick der zu Häuflein versammelten, zum Teil wie Reliquien geschmückten Häuptlingsknochen sehr nachdenklich geworden. Mit dem Anblick echter Knochen konnte es keine bildliche Vanitas-Darstellung aufnehmen. In zehn oder spätestens in zwanzig Jahren würde von ihm auch nicht mehr übrig sein als so ein Knochenhäuflein. Und daß der Verfall schon längst begonnen hatte, spürte er in seinem Alter ja bei jedem Schritt. Immerhin hatte Cassandras Gegenwart für eine emotionale Verjüngung gesorgt, doch die hatte er sich nun wohl verscherzt. Eigentümlich war, daß die Merburger Häuptlinge anscheinend enge Kontakte nach Cornwall gehabt hatten. Auf einer Tafel zur Geschichte des Hauptlingsgeschlechts, die in der Krypta nahe dem Eingang gehangen hatte, wurde sogar behauptet, ein in Paris ausgebildeter Abkömmling des Geschlechts sei im 13.Jahrhundert Abt des Klosters auf St.Michael's Mount geworden. Auch Großvater Drake hatte von dieser Insel nahe Penzance erzählt, und von dem mediterranen Klima, dessen der Westen Cornwalls sich erfreute. Michael war jedoch noch nie in Cornwall gewesen. Wenn Cassandra ihn allerdings allein gelassen hatte, sollte er vielleicht nach dem Kongress einfach mal nach dem Grabmal der Drakes aus dem 17.Jahrhundert suchen und nach sonstigen Spuren seiner Ahnen, die er dort vielleicht fand. Bis zum Beginn des Herbst-Trimesters hatte er dafür noch mehr als genug Zeit. Michael seufzte leise, als er endlich vor seiner Hotelzimmertür stand und sie aufschloß. Und da saß Cassandra auf einem Stuhl - im Badeanzug, einen hellblauen Kimono als Bademantel über die Schultern geworfen - und sah ihm entgegen. "Du bist ja gar nicht fort", rief er erfreut aus, eilte zu ihr und da sie in dem Moment gerade aufstand, umarmte er sie stürmisch. "Ich hatte es doch gar nicht so gemeint!" "Nein, ich bin gar nicht fort", bestätigte sie. "Aber weder der Besuch von Museen noch von Vorträgen ist so recht nach meinem Geschmack. Ich gehe Baden, überlasse dich deiner Wissenschaft und deinen Kollegen - und wenn du heute abend nach dem Vortrag und eurem geselligen Zusammensein zurückkommst, werde ich hier auf dich warten." Sie küßte ihren Dichter verheißungsvoll. Und sie verließ das Hotelzimmer. Nach dieser Begegnung war Michael mit sich und der Welt wieder etwas einiger, legte sich ins Bett und schlief fast sofort ein, nun doch merklich erschöpft von der halb durchwachten Nacht. Ohne Erinnerung an seine Träume wachte er ganz plötzlich wieder auf und fühlte sich um Jahre jünger. Offenbar hatte ihm wirklich nur der Schlaf gefehlt. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er gerade noch eine knappe Stunde hatte, bis der Eröffnungsvortrag über die keltischen Mythen und mythischen Kelten im Theatersaal des Freesthingh begann. Michael ging unter die Dusche, doch als er sich dann frisch gewaschen vor dem Badezimmerspiegel die Haare kämmen wollte, fiel ihm beinahe der Kamm aus der Hand bei dem Anblick, der sich ihm bot. Er fühlte sich nicht nur fünfzehn Jahre jünger, er sah auch fünfzehn Jahre jünger aus. Sein Gesicht war straffer, die Haare und der Bart deutlich dunkler geworden. Und als Michael an sich herunterblickte, merkte er, daß sein ganzer Körper betroffen war. Er schien sogar an Gewicht verloren zu haben. Dieser Eindruck bestätigte sich, als er in seine Anzughose stieg und den Gürtel kaum eng genug zurren konnte um sie nicht zu verlieren. Einen Moment fürchtete er tatsächlich, von einem Verjüngungszauber betroffen zu sein, aber es fühlte sich an, als sei es ein Geschenk für ihn, kein böser Zauber. Es war schon ein kleinbißchen beunruhigend, wie gut er sich fühlte, aber er fühlte sich gut. Nur ein Jammer, daß Cassandra gerade nicht hier war, obwohl er doch noch etwas Zeit hatte, bis er im Theatersaal sein mußte... * Auf dem Weg durch den Park regnete es wieder ein wenig, aber es war kaum mehr als eine erhöhte Luftfeuchtigkeit, so daß es reichte, den Schritt etwas zu beschleunigen, um doch halbwegs trocken den Freesthingh zu erreichen. Der Theatersaal des Schlosses war durch die Haupthalle zu erreichen und Michael nutzte die Gelegenheit, dem gipsernen Antinoos im Vorbeigehen einen übermütigen Kuß zuzuwerfen. Vor dem Eingang des Theatersaales traf er dann auf Hiller, der ihn überschwänglich begrüßte. "Du siehst gut aus. Warst du beim Hotelfriseur und hast dich färben lassen?" Etwas schuldbewußt fuhr Michael sich durch das wieder deutlich schwärzere Haar. Er konnte Hiller kaum sagen, was er selbst glaubte, aber diese Geste interpretierte Hiller als Bestätigung der ausgesprochenen Vermutung. Sie setzten sich auf zentrale Plätze im Parkett und Michael sah sich um. Der Theatersaal war ein barocker Traum mit bemalter Holzdecke, stuckgeschmückten Wänden, einer reichverzierten umlaufenden Galerie und rotsamtener Bestuhlung. Die Bühne lag erhöht, davor ein kunstvoll durchbrochenes Gitterwerk, die Abgrenzung des Orchestergrabens. Der Graben war jedoch unbesetzt, dafür waren auf der Bühne, vor dem dunkelblau-sterngeschmückten Vorhang fünf Stühle im Halbkreis aufgestellt, davor wiederum Notenständer. Und auf der linken Seite der Bühne, hinter einem farbenprächtigen Blumenbouquet, stand ein hölzernes Rednerpult. Laut Programmheft gab es zunächst Begrüßungsansprachen der verschiedenen Gastgeber des Kongresses: vom Vorsitzenden des Philologenverbandes, dem Chefkurator des Freesthingh und dem Beauftragten der Protektoratsverwaltung, dazu gab es klassische und moderne Musik, dargebracht von einem Streichquintett der Merburger Musikhochschule und endlich den Vortrag von Professor Miroslav Jacice aus Galizien: 'Keltische Mythen und mythische Kelten - Die Faszination der Historie für die Phantasten der europäischen Romantik'. Der Theatersaal füllte sich langsam und Michael sah und begrüßte von ferne einige Kollegen, die er von anderen Kongressen, von Gastvorträgen in Hohenheim oder seinen eigenen an anderen Universitäten persönlich kannte. Es hatte durchaus etwas von einem Familientreffen. Hiller winkte derweil jemandem an der linken Seite des Saales, kommunizierte mit der Person durch Gesten und ausgeprägte Mundbewegungen und sagte dann zu Michael: "Da hinten sitzt D.B.Ashmody. Wenn ich sie richtig verstanden habe, schließt sie sich uns heute abend an." Hiller zeigte in die Richtung und Michael erhaschte den Blick auf den Kopf einer dunkelgelockte Frau, eine morgenländische Schönheit, wie es auf die Entfernung schien. Sie lächelte Michael zu. Das war also Danielle Ashmody, die erst kürzlich eine umfangreiche Monographie über die kabbalistischen Elemente in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts verfaßt hatte. Und als Michael den Blick noch einmal durch den Raum schweifen ließ, entdeckte er in einiger Entfernung rechts von sich einen auffällig rotblonden Schopf. Der Jüngling schien zu merken, daß Michaels Blick auf ihm ruhte, denn plötzlich drehte er sich von seinem schlanken, weißhaarigen Begleiter zu Michael und lächelte ihn kurz an, bevor er seinem... - Großvater? - etwas zuflüsterte. Was wollte dieser Bub von ihm? Aber es wäre verlogen gewesen zu behaupten, daß ihm dieses Interesse nicht schmeichelte. Dann kamen die Musiker auf die Bühne. * * * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)